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muster-kind · 3 years ago
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1_Der Mitternachtssnack
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Alles was Bertram wollte, war zurück in sein Häuschen zu gehen. Nach Hause. Er hatte sich so lange dagegen gewehrt einen Fuß in diese Anstalt zu setzen. Doch als Ignaz vor einem halben Jahr gestorben war, hatte Nick sich schon bald in den Kopf gesetzt, dass Bertram allein in dem Haus nicht mehr zurecht kommen würde. Was wusste der denn schon! ‚Wir hätten dem Burschen nicht immer seinen eigenen Kopf lassen dürfen.‘ grummelte Bertram in sich hinein. In dem Moment fiel ihm auf, dass er schon wieder mit sich selbst redete und er verstummte abrupt und sah sich um. Naja hier störte das keinen.
Bertram seufzte. Eigentlich war er ja gar nicht sauer auf seinen Sohn. Er wusste ja, dass Nick recht hatte. Das Häuschen, das schon eher ein Haus war, machte viel Arbeit und es war schrecklich leer ohne seinen Ignaz, der stundenlang Posaune übte.
Gerade mal eine knappe Woche war er nun hier und sein Zimmer war groß und einigermaßen gemütlich. Aber es war nun einmal nicht zu Hause. Er konnte seine Zimmernachbarn hören, Lutz auf der rechten Seite und Frederik auf der linken Seite. Und sogar Lydia aus dem Zimmer gegenüber konnte er manchmal telefonieren hören. Immerhin waren alle nett.
Das einzige, was wirklich toll war, war das Essen. Wenn Nick ihn fragte, wie er sich einleben würde (und das tat er jeden Tag, weil er entweder anrief oder vorbeikam) erzählte Bertram als erstes, was es an dem Tag zum Essen gegeben hatte.
Aller Anfang ist schwer
Für heute Abend hatte er sich zum Halma spielen mit Albin aus dem Erdgeschoss verabredet. Da Albin mit dem Rollstuhl lieber nicht in den Fahrstuhl wollte, würden sie sich im Gesellschaftsraum treffen. Zugegebenermaßen war der Gesellschaftsraum ziemlich heimelig und schön. Neben der Bibliothek, war das der Ort an dem sich Bertram die meiste Zeit aufhielt. Auch, wenn er es Nick gegenüber nicht zugeben wollte: seit Ignaz gestorben war, fühlte er sich unendlich einsam und auch all die Besuche von Nick oder dessen Frau Ronja oder sogar seiner allerliebsten (da einzigen) Enkelin Irma konnten die Stille füllen, die ihm die Luft nahm, sobald er allein in seinem Zimmer war.
Bisher hatte er jeden Abend in einem der gemeinschaftlichen Räume der „Seniorenresidenz Goldener Bär“ verbracht und schon einige Bekanntschaften geschlossen. Mit Albin hatte er sogar schon an seinem ersten Tag eine große Gemeinsamkeit entdeckt: Sie waren beide immer die ersten im Speisesalon.
Sie hatten sich daher für ihre heutige Spielrunde sicherheitshalber für den „Mitternachtssnack“ um neun Uhr am Abend eingetragen. Schon das allein, munterte Bertram etwas auf.
Lasset die Spiele beginnen
Da Albin und Bertram beide schon kurz vor dem Gong für das Abendessen vor dem Salon standen, waren sie als eine der ersten mit dem Abendessen fertig. Mit vollen Bäuchen stahlen sie sich daher noch vor dem Ende der Abendessenszeit in den Gesellschaftsraum, um endlich auch einmal an den wohligen Plätzen am Kamin sitzen zu können. Die bisherigen Abende hatte sich keiner von ihnen rechtzeitig vom Abendessen loseisen können, sodass die Sessel am knisternden Feuer schon immer belegt gewesen waren. Aber heute würden sie es sich so richtig gut gehen lassen. Während Albin die mitgebrachten Snacks aus seiner Tasche am Rollstuhl räumte (die die Zeit bis zum „Mitternachtssnack“ überbrücke sollten), holte Bertram das Halma Spiel aus dem riesigen, wunderschön verzierten alten Holzschrank und trug es zum Platz am Feuer, wo er es aufbaute.
Sie spielten Partie um Partie und schmiedeten Pläne, wie sie die Küchenchefin davon überzeugen könnten, ihre Leibgerichte in den Geschmackskanon der Residenz aufzunehmen. Keiner der beiden hatte das Bedürfnis über mehr als Belangloses zu plaudern, obwohl sie bisher außer ihren Vornamen und Essensgewohnheiten nichts voneinander wussten. Trotzdem verflog die Zeit bis zum Snack.
Snacktime
Mit dem Stand Halma 4:3 für Bertram und Dame 3:2 für Albin öffneten sich schließlich die Türen und die Abendschicht kam mit dem Wagen, auf dem sie die letzte Mahlzeit des Tages herein bugsierten. Das Beste an dieser Mahlzeit war ganz bestimmt, dass man vorher nicht wusste, was es geben würde, dachte Bertram bei sich. Eine Überraschung also. Und auch, wenn er sonst Überraschungen nicht so gerne mochte, war diese hier eine, an die er sich würde gewöhnen können. Da das Personal um diese Uhrzeit nicht mehr so voll besetzt war, übernahmen alle die noch da waren, egal ob Pflegekräfte, Küchenleute oder Sicherheitsdienst, diese Aufgabe, wenn sie gerade Zeit hatten. Denn, wie Bertram im Laufe der Woche erfahren hatte, der Mitternachtssnack war kein „offizielles“ Angebot.
Je nachdem, ob die Küche an dem Tag noch Überbleibsel los werden wollte oder angebrochene Lebensmittel aufbrauchen musste oder auch, ob an diesem Abend die Pflegekräfte zu viel zu tun hatten, wurde am Abend noch eine Kleinigkeit gezaubert. Bertram hatte sich schon ein wenig gewundert. Denn das wusste doch jeder, dass essen so spät auf die Nacht nicht gesund war.
Eine Köchin namens Agathe
Albin hatte ihm jedoch erklärt, dass sie diese Aufmerksamkeit der Küchenchefin zu verdanken hatte, die fand, dass die Alten es ja wohl schwer genug hatten, hier im Heim zu sitzen. Als Albin ihm erzählte wie der ganze Salon während einer Mittagszeit den Streit zwischen Küchenchefin und Heimleitung mithörte (die eine wollte ihre Idee den Bewohner:innen vorstellen und die andere sah sich in der Verantwortung für die Gesundheit der „Residierenden“), musste er immer noch schmunzeln.
„Die zwei sind richtig aneinander geraten und wir haben alles mitgekriegt. Die Leitung ist aber auch eine Spielverderberin. Agathe hat ihr richtig die Meinung gegeigt.“
Agathe war die Küchenchefin und eine große und breitschultrige Frau Mitte 50, mit riesigen Händen, der man ansah, dass sie selbst genoß, was sie kochte. Die Alten liebten sie ausnahmslos. Nun, da der Wagen hereinfuhr, wurde Bertram auch klar warum. Ja, das Essen bisher war wirklich gut gewesen, aber das was hier ankam war nicht für den Magen, das war fürs Herz. Zwei große, glasige Hefezöpfe mit kristallenem Zucker, dazu Butter, Marmelade und mehrere Thermoskannen mit heißer Schokolade.
Albin war schon losgerollt, als Bertram sich beeilte aufzustehen.
Der Abend endete, indem alle die zum Snack geblieben waren, mitsamt den Angestellten, die vielleicht einen Moment Zeit hatten, um durchzuschnaufen am großen, runden Tisch in der Raummitte zusammen kamen, aßen, tranken und sich unterhielten.
Als Bertram später in seinem Bett lag klangen all die neuen Eindrücke nach. Die Gesichter der anderen, ihre Worte, Albins freundliche Art, das Gebäck, die Schokolade und die Gemeinschaft, die an diesem Abend entstanden war. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er keine Einsamkeit bevor er einschlief.
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