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#renovierungen zug
16.03.2022: Julian schreibt an Helen und Aline II
Liebe Helen und Aline,
Emma und ich nahmen also ziemlich früh morgens den Zug von Paddington Station (wir hätten auch zum Institut gehen und fragen können, ob wir ihr Portal benutzen dürfen, aber das erschien uns zu umständlich, und außerdem ist es nicht unsere erste Zugreise in England).
Wir stiegen in Exeter aus dem Zug, einer weitläufigen Stadt mit einer großen gotischen Kathedrale. Tessa wartete schon in einem renngrünen[1] Mini Cooper auf uns, mit Mina hinten in einem Kindersitz angeschnallt und eine Schutzbrille tragend. Sie erinnerte mich an Tavvy, als er noch ganz klein war. Emma stieg hinten ein und spielte mit Mina Guck-Guck, und ich plauderte mit Tessa, während wir durch die wunderschöne grüne Landschaft fuhren. Ich hasse es, wenn die Leute sagen: „Es sah aus wie im Film“, aber irgendwie war es so. Ich wollte ständig aussteigen und die Landschaft malen.
Wir fuhren durch ein großes Tor und dann eine lange Straße entlang, die von Eichen und Pappeln gesäumt war. Ich dachte, wir wären in einer Art Nationalpark – es gab Wanderwege und viel Grün und Blumen. Tessa erklärte mir, dass die violetten Blüten Glockenblumen seien (man sollte meinen, sie seien blau)[2] und die gelben das Schöllkraut. Wir kamen an einem großen Glashaus vorbei, und dann standen wir vor einem Gebäude, das ich für ein Schloss hielt.
Ich glaube, ich wusste, dass Cirenworth mondän ist, aber ich glaube, mir war nicht klar, wie mondän. Es ist ein riesiger Haufen aus goldfarbenem Stein mit kleinen Türmchen und Fenstern voller Bleiglas. Dorthin führt eine große runde Auffahrt, und wir parkten dort vor einer Treppe, die aussah, als könnte sie zu einem Museum gehören. Jem und Kit warteten oben auf uns, und Mina quietschte vor Freude, als sie die beiden sah. Das war ziemlich niedlich.
Wir bekamen eine Führung durch das Haus – es stellte sich heraus, dass sie nur etwa die Hälfte des Gebäudes nutzen und die andere Hälfte geschlossen ist, weil die Pflege zu groß ist. Ich fragte, ob sie das Haus renovieren mussten, und Jem verneinte, weil es nie so zerfallen sei wie Blackthorn Hall. Tessa sagte, sie hätte umdekorieren müssen, weil es ziemlich dunkel „und ein bisschen schimmelig“ gewesen sei, als sie einzogen, aber sie sagte, sie habe so etwas schon früher gemacht – anscheinend hat sie das ganze Institut damals in Ordnung gebracht. Ich fragte sie nach Renovierungen, aber sie wies darauf hin, dass Sanitäranlagen eine absolute Neuheit waren, als sie das Institut renovierte.
Kit sagte, dass sie das Internet in Cirenworth eingebaut hätten (baut man das Internet in Dinge ein? Emma sagt, man „verkabelt Dinge für das Internet“. Ich denke, nichts davon ist wahrscheinlich richtig), weil er es für die Schule braucht. Ich glaube, er ist hier glücklich. Er zeigte auf Dinge in den verschiedenen Zimmern, die ihm gefielen – und es gab eine Menge verschiedener Zimmer. Eine große Bibliothek mit goldenen Teppichen, ein Spielzimmer mit einem Pooltisch (nur dass sie es anders nennen), ein Schwimmbecken, eine Reihe von Büros, ein Musikzimmer, ein Nähzimmer, ich meine, sie haben wahrscheinlich einen Raum nur zum Anlecken von Briefmarken und zum Aufkleben auf Briefumschläge.
Mir wurde klar, dass ich Kit so gut wie nie gesehen hatte, seit er zu Tessa und Jem gezogen ist. Ich zog mich zurück, um mit ihm zu reden, während Tessa Emma die Porträtgalerie der Carstairs-Ahnen zeigte. Er ist jetzt viel größer, fast so groß wie ich, und seine Stimme klingt tiefer. Und mir ist aufgefallen, dass er älter aussieht, so wie Ty älter aussieht; ich hatte ihn gedanklich weiterhin für genauso alt gehalten, wie er war, als ich ihn zum ersten Mal sah. Aber nein, er wird erwachsen. Ist vielleicht erwachsen. Fast.
Er sagte, er wolle mir etwas im Garten zeigen, also folgte ich ihm durch eine Fenstertür nach draußen. Es war ein überwuchertes Fleckchen Erde – es gab Erdbeerbüsche, allerdings keine Erdbeeren (es war nicht die richtige Jahreszeit), und in der Mitte stand eine zerbrochene Sonnenuhr. Kit sagte, ohne mich anzusehen, wenn ich mich in seiner Nähe unwohl fühlte oder ihn nicht sehen wollte, könne er behaupten, er hätte Kopfschmerzen und ins Bett gehen.
Ich war verwirrt. Ich fragte ihn, warum es mir etwas ausmachen sollte, wenn er da wäre. Er kickte mit seinen Stiefeln im Dreck herum und sagte schließlich: „Wegen – wegen ihm.“
Zuerst sagte ich gar nichts. Ich hatte ein wenig Angst davor. Kit hatte drinnen ganz normal gewirkt, er lachte und scherzte und hob Mina hoch, damit sie auf seine Schultern klettern konnte. Jetzt erinnerte er mich eher daran, wie er gewesen war, als wir ihn zum ersten Mal trafen, oder sogar wie Mark war, als er von der Wilden Jagd zurückkam ... Zerbrechlich.
„Du meinst Ty?“, fragte ich.
Er nickte steif. „Du bist sein Bruder“, sagte er. „Ich meine, ich rede mit Dru, und sie ist seine Schwester, aber – du warst immer mehr als nur sein älterer Bruder. Du warst wie sein Vater. Ich weiß, dass du ihn aufgezogen hast. Ich schätze, ich meinte nur, wenn du auf seiner Seite wärst – ich würde es dir nicht verübeln.“
Ich sagte: „Ty hat mir gegenüber nie angedeutet, dass es eine Seite gibt, auf der man stehen könnte.“
Kit sah auf. „Hat er nicht?“
„Ich weiß, dass ihr beide nicht miteinander redet“, sagte ich. „Ich weiß nicht, warum. Ty hat es mir nie gesagt. Aber er hat dir nie die Schuld gegeben oder gesagt, dass es an etwas liegt, das du getan hast. Menschen streiten“, fügte ich hinzu. „Das kommt vor. Ich wünschte, ihr wärt wieder Freunde, denn als ihr es wart, war es etwas ganz Besonderes.“ Ty war so glücklich, aber das habe ich nicht gesagt. „Aber egal, was mit dir und Ty passiert, wir haben alle so viel zusammen durchgemacht. Du wirst immer einer von uns sein. Teil der Familie.“
Er sagte mit heiserer Stimme: „Das bedeutet mir sehr viel.“
Danach gingen wir alle zum Abendessen, und es wurde über vieles gesprochen – unter anderem darüber, dass Tessas Sohn James Herondale einmal eine Waffe besaß, die auf Dämonen wirkte, wovon Kit ziemlich begeistert war –, aber dieser Brief wird ziemlich lang, und ich wollte euch vor allem von Kit erzählen. Mir war wohl nicht klar, wie unglücklich er über die Situation mit Ty war. Ich frage mich, ob unsere ganze "Hände weg"-Haltung wirklich funktioniert? Ich meine, ich weiß, es ist ihre Sache, aber was ist, wenn Ty auch unglücklich ist? Gibt es etwas, was wir tun sollten?
Jules
[1] British Racing Green: https://de.wikipedia.org/wiki/British_Racing_Green
[2] Im Englischen heißen Glockenblumen ‚bluebells‘, deswegen geht Julian auf die Farbe ein. Auch wenn sein Kommentar durch die Übersetzung nicht viel Sinn ergibt, habe ich ihn trotzdem übersetzt. Glockenblume: https://de.wikipedia.org/wiki/Glockenblumen
Originaltext: © Cassandra Clare
Deutsche Übersetzung: © Cathrin L.
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