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âJETZT MĂSSEN WIR DRANBLEIBEN!â â ZUVERSICHT ZUM ABSCHLUSS DES 3. KONGRESSES âZUKUNFT DEUTSCHER FILMâ

100 Jahre Frankfurter Positionen â dieses Motto des dritten Kongresses âZukunft Deutscher Filmâ, der vom 19. bis 21. April in Frankfurt am Main stattfand, mochte irritieren. Vor allem aber machte es im Zusammenspiel mit der vorab erschienenen Publikation Not und Zerstreuung neugierig. Edgar Reitz, Dominik Graf, Irene von Alberti, Saralisa Volm, Sebastian Höglinger, Peter Schernhuber, Cornelia GrĂŒnberg, Anna de Paoli und viele weitere Persönlichkeiten der deutschsprachigen Filmszene reisten in die Mainmetropole, um die Zukunft der hiesigen Filmkultur zu diskutieren.
Mit den Frankfurter Positionen zur Zukunft des deutschen Films, einem Papier, das eine grundlegende Erneuerung des deutschen Filmsystems fordert, erzielte 2018 der erste Kongress âZukunft Deutscher Filmâ bundesweite Aufmerksamkeit. Damals wie heute veranstaltet durch das Lichter Filmfest Frankfurt International. Damals formulierten etwa 100 Expertinnen und Experten VorschlĂ€ge, wie der allseits bedauerte Reformstau im deutschen Film ĂŒberwunden werden kann. Es folgten Debattenrunden bei den Filmfestivals in MĂŒnchen, Hof, SaarbrĂŒcken und Berlin; zahlreiche Gruppen und VerbĂ€nde schlossen sich zur Initiative Zukunft Kino + Film (IZK+F) zusammen. Zugleich zeigte sich: Filmpolitik ist zwar Angelegenheit der Nationalstaaten, die Zukunft des Films muss aber auch ĂŒber die Grenzen hinweg diskutiert werden, um sich auszutauschen und voneinander zu lernen. In vielen LĂ€ndern Europas sieht sich der Film und seine Förderung mit Ă€hnlichen Problemen und Herausforderungen konfrontiert. Dennoch schlagen die einzelnen Staaten sehr unterschiedliche Wege ein â mit unterschiedlichem Erfolg.
100 JAHRE FRANKFURTER SCHULE
Mit dem diesjĂ€hrigen Kongress jĂ€hrte sich zugleich die GrĂŒndung des Frankfurter Instituts fĂŒr Sozialforschung (IfS) zum 100. Mal. Es ist die Geburtsstunde einer Theorieschule, die spĂ€ter unter dem Namen âFrankfurter Schuleâ weltweite Bekanntheit erlangte und mit ihrem Denken, Frankfurter Positionen anderer Art, einen Grenzgang zwischen Theorie und Praxis erprobt. Der Kongress nahm das JubilĂ€um der Frankfurter Schule deshalb zum Anlass, Fragen der Filmkultur auch aus der Perspektive der Kritischen Theorie zu diskutieren â in Kooperation mit dem Institut fĂŒr Sozialforschung. Bereits im Vorfeld hatte der Kulturtheoretiker Georg SeeĂlen einen filmtheoretischen Essay zur Kritischen Theorie bei epd Film veröffentlicht, der auf den Kongress vorbereitete. Dort zeigte sich dann die Relevanz der Frankfurter Schule fĂŒr die Gegenwart und Zukunft des Films â zur SchĂ€rfung des Blicks als auch zur Reflexion von Stoffen und Formen. Gerade durch die Offenheit ihrer Methoden und GegenstĂ€nde bietet die Kritische Theorie vielfĂ€ltige Angebote und unterstreicht die QualitĂ€t des Films als eigenstĂ€ndiger Erkenntnisform.
DAS SPRECHEN UND SCHREIBEN ĂBER FILM
Kritische Theorie heiĂt auch Kritik der Kultur und ihrer Medien. Das Panel âKracauers Erbenâ fragte in diesem Zusammenhang nach der Zukunft der Filmkritik. Vertreterinnen und Vertreter aller Formen und Generationen diskutierten ĂŒber das, was vom Erbe eines Siegfried Kracauer, der die Filmkritik in Deutschland begrĂŒndete und sie immer auch politisch dachte, ĂŒbrig geblieben ist. Und darĂŒber, wozu die Gesellschaft auch heute (Film-)Kritik braucht. Wolfgang M. Schmitt beispielsweise, der mit seinem YouTube-Kanal Die Filmanalyse ĂŒber 100.000 Follower erreicht, verwies auf Tik-Tok-Videos mit 50 Millionen Views, um daraufhin zu fragen, wer sich nur einen Tag spĂ€ter an all diese Bewegtbilder wirklich noch erinnern kann. Dagegen könne jeder sagen, was er letzte Woche im Kino oder im Fernsehen gesehen hat. Deshalb seien der Film und auch die Serie ganz wichtige popkulturelle PrĂ€gungen, und deshalb habe auch die Filmkritik weiterhin eine Relevanz.
EDGAR REITZ ZUR ZUKUNFT DES KINOS
Einer der Höhepunkte des Kongresses war der Vortrag des Regisseurs Edgar Reitz zu den Chancen des Kinos als Ort und zur Zukunft des Filmsehens. Die 90-jĂ€hrige Autorenfilmlegende, bereits vor fĂŒnf Jahren Mitinitiator des Kongresses, beschrieb die Allgegenwart des Streamings von Bewegtbildern: Die moderne Gesellschaft leide unter dem Irrglauben, âdass zuhause alles und drauĂen nichts mehr zu haben ist.â FĂŒr Reitz eine groĂe Gefahr fĂŒr die demokratische Ăffentlichkeit: Menschen mĂŒssten sich auch physisch begegnen und austauschen â und eine lebendige Gegenwart teilen. DafĂŒr brauche es neue KinorĂ€ume, die mit völlig neuen Architekturen Kino wieder zu einem âLive-Ereignisâ machten. Reitz schlug den Bau eines modellhaften Experimental-Kinos vor.
EINE NEUE KINOBEWEGUNG
In den vergangenen Jahren sind in Deutschland verschiedene Konzepte fĂŒr neue Orte des Bewegtbildes entstanden. In Hamburg etwa wurde im Kontext der dortigen Kinemathek ein âZentrum Audiovisueller Kulturenâ konzipiert, auf einem MĂŒnchner Symposium zur Zukunft der Film- und Kinokultur ein âFilmhausâ angedacht und in Frankfurt seitens des Lichter Filmfests ein Konzept fĂŒr ein âHaus der Filmkulturenâ veröffentlicht. In Berlin ist das Arsenal â Institut fĂŒr Film und Videokunst e.V. in der Planung fĂŒr einen neuen Ort und das biâbak-Kollektiv erprobt mit seinem Kino-Experiment Sinema Transtopia schon seit einigen Jahren ein âneues Kino in der transnationalen Gesellschaftâ. In Leipzig wird die CinĂ©mathĂšque wohl bald den lang gesuchten festen Ort beziehen können. Und in Stuttgart schlieĂlich hat man bereits einen europaweiten hochbaulichen Realisierungswettbewerb fĂŒr ein Haus fĂŒr Film und Medien durchgefĂŒhrt, dessen Siegerentwurf inmitten der Innenstadt bis 2027 realisiert werden soll. In Frankfurt kamen Vertreterinnen und Vertreter dieser Projekte erstmals zusammen. Sie tauschten sich ĂŒber ihre Vorhaben im Hinblick auf Realisierbarkeit und stĂ€dtebauliche QualitĂ€ten aus und verstĂ€ndigten sich auf eine kontinuierlichere Zusammenarbeit. Vielleicht war es der Beginn einer neuen Kinobewegung fĂŒr den kulturellen Film.
ANGST ESSEN KINO AUF
âEure Angst tötet unsere KreativitĂ€t, unsere Ideen, unsere Lust am Schaffen.â So wandten sich ĂŒber 300 Filmschaffende mit einem Appell zu Beginn des Kongresses an die Ăffentlichkeit und zielten insbesondere auf die Finanzierungs- und Denklogik der Branche. Die Jung-Regisseurinnen Pauline Roenneberg und Eileen Byrne stellten, gemeinsam mit anderen Initiatorinnen und Initiatoren der Kampagne, den âAppell des jungen deutschen Filmsâ unter tosendem Applaus vor. Seither wurde er von ĂŒber 1000 Personen unterzeichnet. âDaraus erwĂ€chst Mut!â, so die beiden Vertreterinnen, die auf eine Reaktion der Kulturpolitiker und Förderer hoffen.
5 JAHRE FRANKFURTER POSITIONEN
FĂŒr viele aus der Filmbranche sind die âFrankfurter Positionenâ Impulsgeber fĂŒr das jĂŒngst von Kulturstaatsministerin Claudia Roth zur Berlinale vorgestellten Acht-Punkte-Papier zur Reform der Filmförderung. Der Berliner Regisseur RP Kahl resĂŒmierte ironisch zum Kongressabschluss: âAuch wenn die Referenten Roths eine direkte Verbindung zu den Frankfurter Positionen sicherlich verneinen, haben sie sogar einige deren Kommafehler ĂŒbernommen.â Gregor Maria Schubert, der neben Johanna SĂŒĂ das in diesem Jahr bemerkenswert gut besuchte Lichter Filmfest leitet und den Kongress ins Leben gerufen hat, gab die Losung aus: âJetzt mĂŒssen wir dranbleiben!â Der politische Betrieb ziele durch Absichtsbekundungen oftmals nur auf das Ruhigstellen neuer politischer Impulse. Deshalb mĂŒssten die Anstrengungen der vergangenen Jahre, die auf eine grundlegende Erneuerung des bisherigen Filmfördergesetzes drĂ€ngen, weiter intensiviert werden. Dazu gehöre auch das Finden neuer Formen. Der Kongress solle in Zukunft verstetigt werden, sagte Johanna SĂŒĂ, um den Austausch wĂ€hrend der drei Kongresstage zu intensivieren Es brauche einen Rahmen, um das Potential des Kongresses auszuschöpfen und seine Anregungen nachhaltig zu verfolgen â etwa die GrĂŒndung einer Gesellschaft zur Förderung der Filmkultur.
Bericht fĂŒr das Juni-Heft der KINEMA KOMMUNAL
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DIE LIEBE IM FILM, DIE LIEBE ZUM KINO

âIch verabscheue die Vorstellung, dass eine Liebe zwischen zwei Menschen zur Erlösung fĂŒhren könne. Mein ganzes Leben lang habe ich gegen diese repressive Beziehungsform angekĂ€mpft. Vielmehr glaube ich an die Suche nach einer Art Liebe, die auf irgendeine Art und Weise die gesamte Menschheit mit einbezieht.â â Rainer Werner Fassbinder
Denkt man an die Liebe im Film, denkt man gemeinhin an den Liebesfilm. Sein klassischer Gegenstand ist die Liebe zwischen zwei Menschen. Zumeist erfĂŒllt sich ihre Liebe, es kommt im Film zum sogenannten Happy End. Seltener bleibt ihre Liebe unerfĂŒllt, der Film gerĂ€t zum Melodram. Was auffĂ€llt: Der klassische Liebesfilm erzĂ€hlt vom Sich-Verlieben und Verliebt-Sein und endet an der Stelle, an der so etwas wie Liebe ĂŒberhaupt erst beginnen kann. âLiebe ist eine AktivitĂ€t und kein passiver Affektâ, notierte der Frankfurter Psychoanalytiker Erich Fromm, âsie ist etwas, das man in sich entwickelt, nicht etwas, dem man verfĂ€llt.â Einer der bekanntesten Regisseure, die ihre Filme erst dort beginnen lassen, wo das Leben fragt: âKommst Du mit in den Alltag?â, ist Ingmar Bergman. In Filmen wie âSzenen einer Eheâ (1973) zeigt er, wie sich Liebespaare in Beziehungen um sich bemĂŒhen und mit sich abmĂŒhen, um sich kĂ€mpfen und sich bekĂ€mpfen, die Widrigkeiten des Alltags meistern und daran scheitern. Nach seinen experimentellen AnfĂ€ngen brauchte es jedoch einige Jahrzehnte, bis das Kino fĂŒr alle sichtbar die Grenzen des klassischen Liebesfilms ĂŒberschreitet, mit ihnen spielt oder aber sie gĂ€nzlich sprengt.
Am Anfang der Filmgeschichte steht William Heises âThe Kissâ. Bereits 1896 zeigt dieser in einer einzigen Kameraeinstellung, wie eine Frau und ein Mann sich innig umarmen und dabei kĂŒssen. Was damals zum Skandal geriet, gilt heute als der berĂŒhmteste US-amerikanische Film des 19. Jahrhunderts. In den folgenden Jahrzehnten produzierte vor allem Hollywoods Studiosystem unzĂ€hlige Liebesgeschichten fĂŒr die KinoleinwĂ€nde. Dabei ging es zumeist weniger um die ErzĂ€hlmuster von romantischer oder tragischer Liebe, die als eingeschliffene ohnehin austauschbar waren. Sie dienten vor allem der Ăberhöhung berĂŒhmter Leinwandpaare. Ab den 1960er Jahren wurde im groĂen Stil immer öfter mit Kitsch und Klischee gebrochen, vor allem im europĂ€ischen Kino. Es ging nicht mehr allein um die Beziehung zwischen zwei Menschen, Liebe wurde wie in âJules et Jimâ (1962) fortan auch als Dreierkonstellation erzĂ€hlt. Zudem bewegten sich filmisch erzĂ€hlte Beziehungen nun auch jenseits der heteronormativen Mann-Frau-Konstellation: Nachdem bereits 1958 Romy Schneider in âMĂ€dchen in Uniformâ eine InternatsschĂŒlerin verkörperte, die GefĂŒhle fĂŒr ihre Lehrerin entwickelt, spielt âThe Boys in the Bandâ (1970) erstmals fast ausschlieĂlich unter Homosexuellen und avancierte zum Kultfilm der amerikanischen Schwulenszene. Ferner wird mit âLâultimo tango a Parigiâ (1972) die SexualitĂ€t eines Liebespaares explizit auch in ihrer GrenzĂŒberschreitung gezeigt oder in âHarold and Maudeâ (1971) die Liebe als generationsĂŒbergreifende Verbindung aufgegriffen. Rainer Werner Fassbinder konfrontiert in âAngst essen Seele aufâ (1974) die Liebe einer Frau zu einem sehr viel jĂŒngeren auslĂ€ndischen Mann schlieĂlich mit den Konflikten, die aufgrund einer latent rassistischen Gesellschaft entstehen.
Wenngleich sich der klassische Liebesfilm in seiner Wiederholung immer gleicher Muster bis heute erhalten hat, es offenkundig ein sozialpsychologisches BedĂŒrfnis nach Kitsch und KomplexitĂ€tsreduktion gibt, ist die Filmkunst der Liebe in immer vielschichtigere ZusammenhĂ€nge und Formen gefolgt. So skizziert Spike Jonze mit seinem Science-Fiction-Filmdrama âHerâ (2013) die verhĂ€ngnisvollen Projektionsmechanismen der Liebe in Anbetracht des Fortschritts kĂŒnstlicher Intelligenz. Filme spĂŒren der Liebe in all ihren SphĂ€ren und Abseitigkeiten nach: Als Thriller, der eine toxische Liebe entwickelt, als Science-Fiction-Abenteuer, bei dem die Liebe zwischen Mutter und Tochter die GefĂŒge der Universen durcheinanderbringt oder als Dokumentarfilm, der von spirituell-erotischer Liebe zu den BĂ€umen erzĂ€hlt.
Neben der Liebe im Film darf die leidenschaftliche Liebe zu ihm nicht vergessen werden: die Liebe zum Kino. Das, was als Cinephilie einst eine Lebenswelt um den Kinosaal herum schuf â bei der das Leben zwischen den Kinobesuchen zur reinen Zwischenzeit gerann, die vermisste, ersehnte und das Gesehene schreibend verarbeitete â drang zunehmend in den Projektionsraum selbst vor. Die den Film abgöttisch Liebenden tauschten ihre zuvor gegrĂŒndeten Filmzeitschriften mit dem Regiestuhl ein, produzierten in den 1960er Jahren fortan ihre eigenen Filme: leidenschaftlich, euphorisch, verrĂŒckt. Im Fortgang ergriff die Liebe zum Kino auch die UniversitĂ€ten. Die Kultur- und Medienwissenschaften nahmen sich dem Film umfassend an, dachten, diskutierten und schrieben ĂŒber den Film, wie es die Cinephilen ohnehin schon taten: als ernstzunehmende Kunstform. Mit der durch die technischen UmwĂ€lzungen einhergehenden Auflösung des Kino-Dispositivs entgleitet der Film dem Kino zunehmend, zerstreut sich in alle digitalen Richtungen und mit ihnen auch die Cinephilie. Manchen ist es möglich, den Film zu lieben, ohne sich dafĂŒr mit anderen in einen physischen Raum zu begeben, andere brauchen fĂŒr ihre Liebe zum Film das Kino.
Auszug aus dem Konzept fĂŒr das 16. Lichter Filmfest Frankfurt
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DIE FREIHEIT IM FILM, DIE FREIHEIT DES KINOS

âDer Film ist eine wunderbare und gefĂ€hrliche Waffe, wenn ein freier Geist ihn handhabtâ â Luis Buñuel
Blickt man auf die Liste der Filmklassiker, ist das Motiv der Freiheit allgegenwĂ€rtig: In Germaine Dulacs âLa souriante Madame Beudetâ (1923) als eine Sehnsucht, um dem beengenden Alltagstrott der Ehe zu entkommen, in Charlie Chaplins âModern Timesâ (1936) als Pendant zur repressiven Arbeitswelt oder in âCasablancaâ (1942) als Grund, vor der Besatzung der deutschen Wehrmacht zu fliehen. Schon im Namen trĂ€gt sie Richard Attenboroughs Biopic âCry Freedomâ (1987), mit dem er dem Anti-Apartheids-Aktivisten Steve Biko ein filmisches Denkmal setzte. Die Science-Fiction-Trilogie âThe Matrixâ (1999-2003) verhandelt den Topos der Freiheit gar in seiner erkenntnistheoretischen Dimension.
DIE DYNAMIKEN DER FREIHEIT SIND ABER AUCH IN DER FILMPRODUKTION SELBST VIRULENT. IMMER WIEDER HABEN VERKRUSTETE STRUKTUREN UND BEENGENDE ERZĂHLFORMEN FREIHEITLICHE PHASEN DES AUFBRUCHS, DES EXPERIMENTS UND DADURCH NEUER PRODUKTIONSFORMEN GERADEZU PROVOZIERT. ZUMEIST HABEN SICH DIESE DANN AUCH INHALTLICH NIEDERGESCHLAGEN UND IN DEN FILMEN EINE AUF DIE GESELLSCHAFT ABZIELENDE KRITIK FORMULIERT. DARĂBER HINAUS IST DER FILM IMMER WIEDER EIN WICHTIGER KATALYSATOR POLITISCHER BEFREIUNGSBEWEGUNGEN GEWESEN.
Einer der groĂen cineastischen AufbrĂŒche ist zweifelsohne die französische Nouvelle Vague, die sich anfĂ€nglich gegen eine dem Film Ă€uĂerliche Drehbuchproduktion wandte und forderte, die Filmstoffe aus den Logiken des Films selbst heraus zu entwickeln. Als ihr BegrĂŒndungsfilm gilt François Truffauts Jugenddrama âLes Quatre Cents Coupsâ (1959), das mit seinem jugendlichen Helden, der in Widerstreit mit den ihn einschrĂ€nkenden Instanzen aus Familie, Schule und Erziehungsheim gerĂ€t, gewissermaĂen das Coming-of-Age-Genre vorwegnimmt und in der Schlussszene das offene Meer als Sinnbild ersehnter Freiheit inszeniert. In der Folgezeit wurden Truffauts Filme zunehmend experimenteller und brachen immer radikaler mit den ErzĂ€hlkonventionen des Films. Sein Mitstreiter Jean-Luc Godard arbeitete vor allem mit neuen Schnitttechniken, Schrift-Parolen und dem Einsatz von Dokumentarmaterial und Musik gegen die Sehgewohnheiten des Kinopublikums an und ĂŒberfĂŒhrte den Bruch mit den Konventionen auf eine gesellschaftskritische Ebene. Bereits 1960 bekam er mit seinem Film âLe petit soldatâ, der die BrutalitĂ€t des französischen Algerienkrieges gegen die dortige UnabhĂ€ngigkeitsbewegung thematisiert, Probleme mit der französischen Zensurbehörde, die den Film erst einmal verbot.
In den USA war es das New-Hollywood-Kino, das dem Film neue Freiheiten brachte und das gesellschaftliche Freiheitsversprechen zugleich hinterfragte. Einen der gröĂten Erfolge feierte New Hollywood mit dem Road-Movie âEasy Riderâ. Weil zunĂ€chst â wie so oft bei grundlegend neuen AnsĂ€tzen â keiner an den Film glaubte, produzierte ihn Regisseur Dennis Hopper unabhĂ€ngig. Erst nach Fertigstellung wurde er von der Filmindustrie aufgekauft und sodann zum Kultfilm. âEasy Riderâ war frei von allem, was das alte Hollywood ausmachte. Er erzĂ€hlt von Menschen, die sich ein Leben unabhĂ€ngig von der Gesellschaft aufbauen wollen, die Freiheit in Drogen, Rockmusik und mit selbstgebauten MotorrĂ€dern in der Provinz suchen. Doch wenngleich der Film die Freiheit beschwört, die Suche nach ihr zeigt er als eine ausweglose: Auch fernab der US-amerikanischen Metropolen ist die Freiheit des alten Pioniergeistes nicht zu mehr finden. Allen, die sie suchen, schlĂ€gt Aggression und Intoleranz entgegen; sie stoĂen auf unbegrenzte Unmöglichkeiten.
In Deutschland war es das Oberhausener Manifest, das sich 1962 gegen die kĂŒnstlerische Einengung des bestehenden Kinos wandte und damit den Neuen Deutschen Film begrĂŒndete. Darin heiĂt es: âDieser neue Film braucht neue Freiheiten. Freiheit von den branchenĂŒblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen. [...] Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.â
Ebenfalls mit einem Manifest (Dogma 95) begrĂŒndeten die dĂ€nischen Regisseure Thomas Vinterberg und Lars von Trier Mitte der 1990er Jahre die Neuausrichtung des Films und legten damit die Dialektik der Freiheit offen: Sie schrĂ€nkten die Filmproduktion durch zehn Regeln rigoros ein, um so wiederum neue Freiheiten des Filmschaffens zu erzwingen. Auch im Falle der beiden Manifeste wirkten deren kĂŒnstlerische Auswirkungen zugleich gesellschaftspolitisch.
Noch radikaler war dies in SĂŒdamerika (u.a. Grupo Cine LiberaciĂłn), in Teilen Afrikas und Asiens mit dem âTercer Cineâ der Fall, das sich dezidiert politisch verstand und im Kontext verschiedener revolutionĂ€rer Befreiungsbewegungen verortete. Dessen Filme dienten allesamt der politischen AufklĂ€rung und Agitation, weshalb sie nur in eigens dafĂŒr eingerichtete klandestinen Kinos gezeigt werden konnten. Zur fragen wĂ€re, inwiefern die digitale Revolution mit ihren neuen VertriebskanĂ€len zumindest in Teilen ebenfalls in dieser Tradition stehen kann.
Lange versuchte der politische Film die Massen zu erreichen. Mittlerweile bewegen die Massen die Filmkameras ihrer Mobiltelefone selbst durch die Welt. Welche kĂŒnstlerischen wie politischen Impulse der Freiheit können damit einhergehen?
Auszug aus dem Konzept fĂŒr das 15. Lichter Filmfest Frankfurt
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Herr Bachmann und seine Klasse

Rezension zu dem Dokumentarfilm âHerr Bachmann und seine Klasseâ
Maria Speths Dokumentarfilm âHerr Bachmann und seine Klasseâ begleitet ĂŒber ein halbes Jahr den Lehrer Dieter Bachmann und dessen 6b der Georg BĂŒchner Gesamtschule im hessischen Stadtallendorf. FĂŒr Bachmann ist es das letzte Schuljahr vor dem RentenĂŒbertritt, seine SchĂŒlerinnen und SchĂŒler stehen vor dem einschneidenden Ăbertritt in das dreigliedrige Schulsystem. So ĂŒblich die Vielzahl der Migrationsgeschichten, Sprachen und Kulturen, die Bachmanns Klasse mitbringt, fĂŒr die Stadt im Landkreis Marburg-Biedenkopf ist, so unĂŒblich ist Bachmanns Person und Methodik fĂŒr den Schulbetrieb. Er nutzt den Klassenraum als Bandproberaum, trĂ€gt AC/DC-Shirt und WollmĂŒtze, relativiert die Bedeutung von Noten, ohne aber den Leistungsdruck zu leugnen, und ermutigt seine Klasse bei der Suche nach der eigenen Persönlichkeit. Um die unorthodoxe wie einfĂŒhlsame PĂ€dagogik Bachmanns zu zeigen, erlaubt sich die Regisseurin gute dreieinhalb Stunden Spielzeit, die verblĂŒffend kurzweilig vergehen.
Die Zeit, die sich die Regisseurin Maria Speth fĂŒr ihren Film nimmt, fĂŒhrt zur groĂen QualitĂ€t ihres Films. Sie ermöglicht, die SchĂŒlerinnen und SchĂŒler in ihren EntwicklungssprĂŒngen und VerĂ€nderungen nachzuvollziehen, auch die gewachsene Bindung zwischen ihnen und ihrem Klassenlehrer Dieter Bachmann wirklich zu verstehen. Nicht zuletzt weil man nach den gut dreieinhalb Stunden feststellt, wie sehr man sich selbst auf sie emotional eingelassen hat, so dass man am Ende des Films sorgenvoller Hoffnung ist, dass sie ihren Weg finden werden, dass es ihnen gut geht.
Neben dem Portrait dieses besonderen Lehrers und seiner ebenso besonderen Klasse ist Maria Speths Dokumentarfilm auch ein Portrait des von Migration stark geprĂ€gten Ortes Stadtallendorf. Er zeigt StraĂenjzĂŒge und Luftaufnahmen der Stadt und gibt Einblicke in ElterngesprĂ€che und damit Familiengeschichten. Auch die Geschichte des Ortes wird erzĂ€hlt, indem sie Gegenstand einer Unterrichtseinheit ist, an der man gleichsam teilnimmt. So ist zu erfahren, in welchem Zusammenhang der Zuzug zahlreicher sogenannter Gastarbeiter in den sechziger und siebziger Jahren und der vorherige Bau zweier Sprengstofffabriken stehen, in denen in der Zeit des Nationalsozialismus mehr als fĂŒnfzehntausend Zwangsarbeiter arbeiten mussten.
Am Ende ist âHerr Bachmann und seine Klasseâ auch so gelungen, weil er sich dem Thema der Migration hintergrĂŒndig annĂ€hert, ihre Herausforderungen und Chancen facettenreich zeigt. Denn die lange Spielzeit erlaubt es, auch eine junge Kollegin und einen jungen Kollegen Bachmanns kennenzulernen, die beiderseits einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Und als in einer Szene Dieter Bachmanns Klasse ihn auf seinen Nachnamen anspricht, erzĂ€hlt dieser anekdotisch, dass noch seine Eltern einen polnischen Nachnahmen trugen, der dann Anfang der vierziger Jahre behördlich âeingedeutschtâ wurde. Unklar bleibt, ob seine SchĂŒlerinnen und SchĂŒler in diesem Moment verstehen, wie nah er ihnen dadurch rĂŒckt.
Die Rezension erschien im Rahmen des 14. LICHTER Filmfestivals Frankfurt International
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Street line

Rezension zu dem Dokumentarfilm âstreet lineâ
âStreet lineâ ist die Fortsetzung des Dokumentarfilms âKleine Wölfeâ, in dem der Mainzer Regisseur Justin Peach den ElfjĂ€hrigen Sonu portrĂ€tierte. Ein elternloses StraĂenkind aus Kathmandu, das sich Tag fĂŒr Tag mit etwa zehn weiteren Kindern durch die StraĂen der nepalesischen Hauptstadt schlĂ€gt â auf der stĂ€ndigen Suche nach Nahrung und Drogen, zwischen Gewalt und KriminalitĂ€t, manchmal aber auch mit kindlichen Momenten des GlĂŒcks. Ein gutes Jahrzehnt spĂ€ter ist Peach gemeinsam mit seiner LebensgefĂ€hrtin, der Filmemacherin Lisa Engelbach, erneut nach Katmandu gereist, um Sonu wiederzufinden und ihn ein weiteres Mal mit der Kamera zu begleiten. Der heute ZweiundzwanzigjĂ€hrige hat mittlerweile eine dreijĂ€hrige Tochter, Sona, die mit ihrer besonderen Ausstrahlung nicht nur Ă€uĂerlich an ihren Vater im Kindesalter erinnert, sondern mit ihm auch das gleiche Lebensschicksal teilt: Auch Sonas Mutter hat sie wenige Monate nach ihrer Geburt verlassen, und auch ihr Vater Sonu kann sich wegen seiner DrogenabhĂ€ngigkeit und Obdachlosigkeit nicht um Sona kĂŒmmern, weshalb sie bei Sonus Schwestern gemeinsam mit deren Kindern aufwĂ€chst.
Der Film zeigt, wie Sonu mithilfe einer Drogenentzugsklinik versucht, sein altes Leben endlich hinter sich zu lassen, um fĂŒr seine Tochter da sein zu können und ihr ein besseres Leben, als er es hatte, zu ermöglichen. Zugleich bereitet der Film auf das mögliche Scheitern Sonus vor, denn immer wieder wird auch sein ebenfalls drogensĂŒchtiger und obdachloser Bruder Bikash gezeigt. Mit ihm ist zu verstehen, wie stark die FĂ€nge der StraĂe, der street line, wirken, wie viel schwieriger es ist, sich den Wunden der eigenen Lebensgeschichte zu stellen, wĂ€hrend man sich fortwĂ€hrend ums Ăberleben zu kĂŒmmern hat, anstatt die Wunden weiterhin zu betĂ€uben.
âStreet lineâ fasziniert vor allem durch die besondere Konstellation, die sich zwischen Vater und Tochter aus deren so Ă€hnlichem Lebensschicksal ergibt. Immer wieder sieht man in der dreijĂ€hrigen Sona ihren Vater und andersherum; erkennt man in Sonu, wenn auch vom Leben ĂŒbel gezeichnet, seine Tochter. Man könnte sogar sagen: Mit Sona sieht man das Wirklichkeit gewordenen innere Kind Sonus, das es zu heilen gilt. Gelungen ist auch Justin Peachs KamerafĂŒhrung, die sich immer wieder auf die Augenhöhe der Kinder begibt und so Bilder fĂŒr die widrigen Bedingungen findet, unter denen die Kinder aufwachsen mĂŒssen â beispielsweise in einer Szene, in der sich die dreijĂ€hrige Sona gemeinsam mit einem gleichaltrigen MĂ€dchen durch das StraĂengewirr Kathmandus schlĂ€gt, zwischen den kreuz und quer fahrenden Motorrollern und den sie ĂŒbersehenden Erwachsenen. Neben all den berĂŒhrenden und schockierenden Szenen und Bildern von âstreet lineâ ist der Dokumentarfilm aber auch ein eindrucksvolles Dokument der ungeheuren Resilienz und des unbedingten Lebenswillens von uns Menschen. Ohne die widrigen VerhĂ€ltnisse dadurch legitimieren zu wollen: Es grenzt an ein Wunder, dass Menschen wie Sonu, trotz allem, was ihnen wĂ€hrend ihrer Kindheit widerfahren ist und weiterhin widerfĂ€hrt, noch am Leben sind.
Die Rezension erschien im Rahmen des 14. LICHTER Filmfestivals Frankfurt International
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Should I

Rezension zur Doppel-Single âShould Iâ von âDas weltweite Netzwerk fĂŒr ein bedingungsloses Grundeinkommenâ
âTo be, or not to be, that is the answer!â beschreibt, pointiert gesagt, was âDas weltweite Netzwerk fĂŒr ein bedingungsloses Grundeinkommenâ auf seiner digitalen Doppel-A-Seite betreibt. Diese ist nach vielen Jahren erfolgreicher Live-Performances und Konzerte die erste reine Audio-Veröffentlichung des KĂŒnstlers. Die Doppel-Single bringt Tracks zusammen, die einschlĂ€gige Bonmots der Popgeschichte umformulieren und so ins Ohr bringen, dass man wiedererkennt, aber dann auch wieder nicht. Auch verkĂŒnden beide StĂŒcke: Vermeintliche GegensĂ€tze dĂŒrfen nebeneinander stehen bleiben, ja, sie brauchen sich! Yin und Yang ick hör dir trapsen. Provokant verdichtet sich die einst im Refrain gesungene Frage der Band âThe Clashâ nach dem Bleiben oder Gehen im StĂŒck âShould Iâ: Sie wiederholt sich nahezu durch das gesamte StĂŒck und wird so zur Antwort. Mehr Text dann gibt es im zweiten StĂŒck namens âMy body is a weaponâ. Der Titel lĂ€sst an Peter Gabriels âMy body is a cageâ denken. Bei Gabriel ist der Körper jedoch ein Hindernis, das uns vom Tanzen mit denen abhĂ€lt, die wir lieben. Aus ihm befreien könne uns nur der Verstand. âDas weltweite Netzwerk fĂŒr ein bedingungsloses Grundeinkommenâ schieĂt auf diese cartesianische Trennung: Unser Körper ist alles, ist Bluten wie Denken, und damit auch eine Waffe. Er zĂ€hlt auf, was das leibliche Leben bedeutet, um schlieĂlich die Sprache an ihre logische Grenze zu fĂŒhren: âI dance until I never become oldâ. Damit gelingt ihm zugleich die Radikalisierung von Alphaville's âForever youngâ zur Tanzhymne!
Auch musikalisch verhalten sich die beiden Tracks zueinander wie ein sich bedingendes Gegensatzpaar. Die KontinuitĂ€t und Klarheit, die âDas weltweite Netzwerk fĂŒr ein bedingungsloses Grundeinkommenâ seiner Stimme bei âMy body is a weaponâ durch den Pitch verwehrt, ĂŒbernimmt stattdessen der gerade Four-to-the-foor-Beat des StĂŒcks, der sodann in einen ebenso klaren Wechsel aus Bassdrum und Snare ĂŒbergeht. Bei âShould Iâ braucht es hingegen seine Zeit, um in den unruhigen und vorspringenden Rhythmus zu finden, wĂ€hrend der Gesang gröĂtenteils unbearbeitet bleibt und dabei â es darf ruhig gesagt werden â in seiner Zartheit und Raffinesse an die klanglichen QualitĂ€ten Thom Yorkes erinnert. Doch um zum Bild von Yin und Yang zurĂŒckzugehen: So wie in dem Symbol WeiĂ und Schwarz nicht nur ineinandergreifen, sondern ein weiĂer Punkt auch mitten ins Schwarze trifft und andersherum, klingt in âShould Iâ das einleitend gepitchte und den Track daraufhin rhythmisierende âshouldâ mehr nach dem âshootâ aus der âweaponâ. In âMy body is a weaponâ wiederum schlĂ€gt die rhythmische Verspieltheit seines Gegenparts kurzzeitig durch, indem der Beat aus- und wieder eingefadet wird, wodurch der gepitchte Gesang mitten auf dem Dancefloor plötzlich zur Radiomoderatoren-Stimme mutiert.
An einer geheimen Stelle des Internets findet man auf der Doppel-Single zusĂ€tzlich einen Hidden Track, der ganz wie beilĂ€ufig als eine weitere versteckte Korrektur der Pop- bzw. Rockgeschichte daherkommt. Hier entwendet âDas weltweite Netzwerk fĂŒr ein bedingungsloses Grundeinkommenâ den âfĂŒnf Noten, die die Welt erschĂŒttertenâ (âNewsweekâ) und auf die Mick Jagger einst âI can't get no satisfactionâ sang, ihre âtoxische MĂ€nnlichkeitâ, um sie in ihrer fragilen und widersprĂŒchlichen Verzweiflung hörbar werden zu lassen. Und diesmal â ich muss es einmal mehr sagen â klingt es sogar so, als sĂ€nge Thom Yorke selbst.
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Timm Ulrichs: Ich, Gott & die Welt. 100 Tage â 100 Werke â 100 Autoren

Text zu âPast â Present â Future (Die drei Lebensaltersstufen)â
Die Konsequenz inhaltsreicher Titel: Man sieht das Betitelte vor lauter Titel nicht. Kaum anders verhĂ€lt es sich im Fall von Ulrichsâ Sequenz aus drei SchwarzweiĂ-Fotografien mit dem Titel âPast â Present â Future (Die drei Lebensaltersstufen)â, die ihn dabei zeigen, wie er mit geradezu absurd-pathetischer Ernsthaftigkeit auf einem Stuhl sitzend stufenweise ins Erdreich schreitet, sich gleichsam sein Grab âersitztâ. Im RĂŒckgriff auf die Titel-Trias wĂ€re auf Ulrichsâ zum Zeitpunkt der Ablichtung gegenwĂ€rtiges Lebensalter von 37 Jahren zu verweisen, um daraufhin ĂŒber den Zeitpunkt der Lebensmitte und deren Eigenarten zu sinnieren. WĂ€hrend man sich am Lebensanfang noch unbeschwert ganz an der ErdoberflĂ€che befindet, von der eigenen Endlichkeit nichts ahnend, ist das Lebensende vom Tod bestimmt und man damit gröĂtenteils im Erdboden versunken. Das Bewusstein der Lebensmitte befindet sich nun genau zwischen den vorgenannten Polen. Weil aber Ulrichs auf allen drei Abbildungen gleichen Alters ist, könnte man interpretieren, dass dem Lebenden alle drei Zeitformen gleich zugĂ€nglich sind. Frei nach Augustinus: Es gibt drei Zeiten, nĂ€mlich die Gegenwart vergangener Unbeschwertheit, die Gegenwart zukĂŒnftiger Schwere und die gegenwĂ€rtige Gegenwart als ein Sitzen im Spannungsfeld von Heiterkeit und Depression. Ebenso kann die Arbeit mit der im Titel eingeklammerten ErgĂ€nzung als Persiflage gĂ€ngiger Stufenmodelle des Lebens gedeutet werden. Stellen diese das Leben doch weitgehend als aufsteigende SinnanhĂ€ufung dar. Ulrichs hingegen dreht die Logik des Stufenmodells um und gibt sie damit der Ironie preis. Aus dem Blick gerĂ€t dabei allerdings die formale Ausgestaltung der Arbeit, ja ihre affizierende Sinnlichkeit diesseits des deutbaren Inhalts. Timm Ulrichs ist ein Ăsthet, seine sogenannte Konzeptkunst komponiert und formverliebt. Warum also nicht die der Arbeit beigestellten Angaben fĂŒr den Titel der Arbeit eintauschen und noch einmal auf die drei Fotografien schauen? âPast â Present â Future (Die drei Lebensaltersstufen)â hieĂe dann â3 dunkelbraun gestrichene Sperrholz-StĂŒhle, 100 x 50 x 50 cm, und 2 Erdgruben, 50 bzw. 100 x 50 x 100 cm; im GesamtmaĂstab: 200 x 50 x 400 cm.â
Veröffentlicht im Rahmen der Timm Ulrichs-Ausstellung: Ich, Gott & die Welt. 100 Tage â 100 Werke â 100 Autoren. Erschienen im Katalog zur Ausstellung
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Srach|er|neu|er|ung!

Einige Gedanken, Beobachtungen und Fragen zur Ausstellung in der ACC Galerie Weimar (22. August - 8. November 2019)
WĂ€hrend das Lesen mit den Augen die Illusion ermöglicht, ĂŒber einen Text verfĂŒgen zu können, indem der Blick ihn abtasten, rĂŒckverfolgen und rĂ€umlich neu zusammenfĂŒgen kann, gibt ein vorgelesener Text Geschwindigkeit, Rhythmus und Modulation vor und fordert eine zurĂŒckgenommene âLektĂŒreâ in zeitlicher KontinuitĂ€t.
Unter dem Titel âSpracherneurerung!â wurde die ACC Galerie Weimar zum hundertjĂ€hrigen Bauhaus-JubilĂ€um von August bis November 2019 zu einer âGalerie der Spracheâ. Ausgestellt wurden Manifeste, ZeitungsaufsĂ€tze und Texte aus den 1920er Jahren â jedoch nicht als Schau- oder Leseerlebnisse: In den RĂ€umen der Galerie entstand vielmehr ein groĂes Hörspiel. Die Besucher*innen gingen nicht wie ĂŒblich an Bildern oder Objekten entlang. Von Raum zu Raum wanderten sie durch eine âakustische Rauminstallationâ â so auch der Untertitel der Ausstellung.
Jedem der ausgewĂ€hlten Texte war ein Raum zugeteilt, die verwinkelte Raumfolge der Galerie war durch halbdurchsichtige StoffvorhĂ€nge in einzelne KlangrĂ€ume unterteilt. Dabei erschienen die VorhĂ€nge wie Zellschichten, sie trennten und blieben durchlĂ€ssig, Kommunikation und Austausch zwischen AuĂen und Innen anregend. Das Motiv von DurchlĂ€ssigkeit und Trennung bezog sich auf den Text âDer Raum als Membranâ von Siegfried Ebeling, selbst Teil der Installation und vielleicht dessen Mitte. 1926 veröffentlicht, entwirft der Autor ein fĂŒr die Zeit ganz ungewöhnliches VerstĂ€ndnis von Architektur: Er spricht von atmenden WĂ€nden, Temperaturen, vom Wachsen ins Licht und in Begriffen aus dem Kreislauf der Natur und Kosmologie, in einer Sprache, die an Beschreibungen biologischer und ökologischer Prozesse erinnert. Mehr jedenfalls als an Begriffe wie âTechnikâ, âMechanikâ und âRationalitĂ€tâ, die wir heute mit dem Bauhaus verbinden.
Vielleicht war damit auch das zentrale Motiv der Ausstellung benannt. Hier war eine Sprache zu entdecken, die zu der aus dem Bauhaus bekannten Sprache von Technisierung und Rationalisierung nicht recht passen wollte. Sie suchte sich stattdessen ihre Vokabeln, ihre Sprachbilder, ihre Metaphern und sprachlichen Vergleiche im Feld der Biologie, der Ăkologie und des organischen Wachstums.
âDas Endziel aller bildnerischen TĂ€tigkeit ist der Bauâ â hatte Walter Gropius im Manifest zur BauhausgrĂŒndung 1919 geschrieben. Nicht von UngefĂ€hr also behandelten die ausgestellten Texte mögliche neue Wege zum Bauen und zur Architektur. Vor allem aber behandelten sie auch die Bereiche, die das Nachdenken ĂŒber Architektur umgeben â wie Bildung und Gestaltung und das in den 1920er Jahren neu entstehende SelbstverstĂ€ndnis der modernen Menschen. Die Installation âSpracherneuerung!â zeigte sich wie ein riesiger âBauplatz der Spracheâ, auf dem â eben sprachlich â Stein fĂŒr Stein, Sprachbaustein fĂŒr Sprachbaustein das moderne Leben, der moderne und utopische Bau errichtet wird.
Weitere Autoren der Installation waren Ernst Fuhrmann, BegrĂŒnder der Biosophie als einer organisch-ökologischen Grundwissenschaft, der Architekturkritiker und frĂŒhe Gropius-Vertraute Adolf Behne und der Schriftsteller und Journalist Frank Matzke mit seinen Gedanken zur âSachlichkeitâ aus dem Manifest âJugend bekennt: So sind wir!â. Sie alle waren aus der Perspektive der Ausstellung Architekten, Ingenieure, Gestalter einer Sprache, die nach neuer Orientierung und nach neuen Begriffen suchte.
Immer neue Worte, SĂ€tze, Wendungen und Sprachbilder ertönten, die komplexe Absichten und Impulse in die Welt zu tragen hatten und bisweilen ĂŒberforderten. Vielleicht formte der KĂŒnstler Matthew Lloyd auch deshalb in mehreren RĂ€umen der Galerie hell leuchtende Neonröhren zu runden, eckigen und geschweiften Klammerzeichen, die sich öffneten und schlossen, ohne etwas zu enthalten. Die Texte fanden in ihnen keinen Platz, so dass man ihre Worte, wenn man denn wollte, zur Form entkleiden, d.h. zu Musik werden lassen konnte â fĂŒr mich ein VergnĂŒgen Dank der sonoren Lesestimme von Olaf Helbing.
Worte atmen
âEin Sprachbeispielâ von Ernst Fuhrmann leitet die Ausstellung ein. Ernst Fuhrmann verfolgt anhand des Wortes âAtemâ die Sprache zurĂŒck zum Anfang und erklĂ€rt ihre Geschichte zur Naturgeschichte. Worte wie Nebel, Rauch, Dampf, Dunst, selbst Wolke â PhĂ€nomene, die mit der Luft in Zusammenhang stehen â verweisen auf den Ursprung des Sprechens als ein Ein- und Ausatmen (eine Art Stoffwechsel von Innen und AuĂen) â ein faszinierender Gedanke. Fuhrmann mutmaĂt: Die Sprache hat ihren Ursprung in der Nachbildung der LuftphĂ€nomene.
Fuhrmanns Argumenten zu folgen, gleicht einer heiteren Meditation. Schöpft Sprache nur, was bereits in der Welt ist? War Sprache gar nicht Beginn einer âWeltspaltungâ, sondern brachte den Menschen mit dem âAuĂenâ zusammen? âAtmen heiĂt Sprechenâ â stellt Fuhrmann fest. Anders formuliert: Wer nicht atmen kann, keinen Atem hat, kann nicht sprechen.
Von gebauter und gepflanzter Architektur
Ein sinnhaftes Leben kann, so Siegfried Ebeling, erst dann wieder gelingen, wenn der Mensch in seinem Körper fundiert wird. DafĂŒr braucht es eine âUmwertungâ hin zu einer âbiologischen Architekturâ, die nicht mehr reprĂ€sentativ oder monumental ist. Die WĂ€nde dieser Architektur konzipiert Ebeling als Membranen. Mit ihnen wird die Architektur zum Medium zwischen Mensch und Umwelt. Sie ermöglicht eine Korrespondenz zwischen âlatent gegeben, aber noch nicht biostrukturell erfaĂten FeinkrĂ€ften der SphĂ€renâ und âunserem Körper als plasmatisch labiler Substanz.â Die GebĂ€ude richten sich dann ganz nach dem Licht, filtern dessen Energien, werden zu ihrer eigenen Energiezufuhr, erwachsen aus den Landschaften, in denen sie stehen, und dem Klima, das sie umgibt. âIm Gedankenkreis der biologischen Architektur wird dem Begriff ,Bauâ der Fundamentalcharakter einer transparent-negativen Funktion entwunden und dafĂŒr [âŠ] eine psychisch indifferente, unsymbolische, pathoslose Funktion intentional untergeschoben.â
Ebelings Strategie der Bedeutungsverschiebung erinnert mich an Wittgensteins Leiter: Oben angekommen, mĂŒssen wir die Leiter wegstoĂen, weil uns das zurĂŒckliegende VerstĂ€ndnis â hier von Architektur â plötzlich unverstĂ€ndlich erscheint. Warum Architektur weiterhin noch bauen, wenn man sie mit allem technischen Knowhow pflanzen kann?! Das Abwegige wird zur Notwendigkeit. âDas neue Ursymbol der Architektur wird die lebende Pflanze seinâ, prophezeit Siegfried Ebeling.
Das Innere der Sprache
Adolf Behne ruft zur ânaturorganischenâ Besinnung auf. âDiese Besinnung auf die Wurzel ist gerade fĂŒr uns wichtigâ, bekennt er 1921 in âDie Zukunft unserer Architekturâ: âUnser Schaffen muss aus einer Urzelle naturorganisch wachsen. Wir werden unsicher im Schaffen, wenn wir, statt zu lauschen und zu pflegen, zwingen wollen.â
âLauschenâ verstehe ich als eine besondere QualitĂ€t von Hören, als ein bewusstes Anstrengen des Hörsinns. Zur Spracherneuerung gehört wohl auch die Hörerneuerung. Behne meint hier, dass man das âModerneâ erst âhörenâ muss und plĂ€diert fĂŒr eine gewisse âRuheâ, Beobachtung, Vorsicht gegen falsche und vorschnelle Schlussfolgerungen, eben fĂŒr eine Art des âbiologischenâ Wachsens, das man kaum abkĂŒrzen, verschnellern, durch Technik ĂŒberspringen kann. Die Dinge werden wieder ineinandergreifen, wenn wir KomplexitĂ€t beschrĂ€nken und uns gleich mit â so Behnes Utopie. Interessant finde ich, dass Behne den Jugendstil als eine âoptimistisch am Grundproblem vorbei empfindende Zeitâ beschreibt. Weshalb das Ă€sthetische GefĂŒhl, wie er formuliert, eine Revolution durchgemacht hat, warum das Zweckhafte plötzlich schön und der Dekor verpönt war, vermag er nicht zu erklĂ€ren. Man könnte ihn so verstehen: Der Jugendstil verwirft die geschichtlich ĂŒberlieferten Formen, richtet seinen Dekor jenseits der Geschichte an der Natur aus, an Pflanzen und Insekten â er empfindet damit âoptimistischâ. Doch bleibt das florale Ornament Dekor, wirkt sich nicht auf die technische Baustruktur aus und berĂŒhrt damit nicht das âGrundproblemâ der Architektur. Erst mit dem Neuen Bauen wandert das Biologische in das GebĂ€ude selbst. Erst jetzt entsteht eine âbiologische Architekturâ (wie Ebeling sie in der Schrift âDer Raum als Membranâ ausformuliert.) Könnte man es Ă€hnlich vielleicht auch fĂŒr die Spracherneuerung formulieren? Es geht ihr um das âInnereâ der Sprache, ihre Struktur, nicht um deren Dekor?
Natur als Denkmedium
Erzwingt ein verĂ€ndertes Denken und Wahrnehmen ein neues Sprechen? Ernst Fuhrmann sieht seine Zeit vor die Aufgabe gestellt, das gesellschaftliche Leben grundlegend zu erneuern. DafĂŒr muss die Struktur der Zelle zur Struktur des Denkens werden. Seine Argumentationen sind bereits ein Sprechen in Biologie. Fuhrmann vollzieht, was er beabsichtigt. Auch in der Vergangenheit habe es immer wieder revolutionĂ€re Absichten gegeben, so Fuhrmann, doch mussten diese stets scheitern, weil sie unmittelbar auf VerĂ€nderung zielten, âstatt der Natur die Vermehrung des Wesentlichen zu ĂŒberlassenâ. Es fehlte ihnen das biologische Wissen. Mit ihm ist zu verstehen: Jeder Mensch ist eine soziologisch fixierte Zelle in Verbindungen mit anderen. Finden sie sich nach einen Umbruch allzu schnell wieder zusammen, fallen sie notwendig in alte, ihnen noch innewohnende Staatsgebilde zurĂŒck. Es braucht einen abseitigen Neuanfang, keine Intervention: âEin neuer Kern kann nicht immer gleich eine ganze Struktur durchdringen.â Jenseits jedes etablierten Organismusâ muss also gesprochen werden, auf dass daraus langfristig ein von Altem befreites, neues System erwĂ€chst.
Wichtig: Fuhrmann appeliert an eine UrsprĂŒnglichkeit, die allerdings nicht nur zurĂŒck zur Natur, sondern hin zur Natur will. Die Einfachheit (âauf einer kleinen LandflĂ€che eine ,neue, freigesetzte Zelleâ seinâ) ist fĂŒr Fuhrmann nicht das Ziel, sondern die Voraussetzung, um ein neues gesellschaftliches Zusammenleben zu ermöglichen. Die Natur ist kein Zielort, sondern Medium, in das wir ins sprachlich einfinden mĂŒssen.
Sprachliche Bedeutungsverengung
Franz Matzkes Manifest âJugend bekennt: So sind wir.â stellt am Ende der Ausstellung alle Ăberlegungen der Vorherigen auf den Kopf. Matzke will Seismograph seiner Generation sein und deren Haltungen dokumentieren. âDann kamen wir und mit uns der Umschlag!â, heiĂt es in seinem Manifest. Matzke moniert: Das Denken und FĂŒhlen der Menschen habe sich in der Vergangenheit verselbststĂ€ndigt und sich in ausufernder SelbstreferenzialitĂ€t verloren. Die Dinge und Sachen seien in den Hintergrund getreten.
Matzke dokumentiert eine Spracherneuerung, die nicht mehr das organische Wachstum, sondern den starren Zustand beschwört. Die Sinnkrise der von Ornamenten und Geschichte ĂŒbervollen Welt, die es zu entstucken und zu entkleiden galt, soll durch eine âVerdinglichungâ ĂŒberwunden werden. Natur ist zur unbelebten Sache geworden. Tote Natur?
Die Erde als Metapher
âWir mĂŒssen die Erde öffnen, um unsere Bauten in sie zu sĂ€enâ, schreibt Adolf Behne, um daran anzuschlieĂen: âaber wir wollen nicht vergessen, daĂ die Erde auch wir selbst sind.â
Wie die betonierte Bodenplatten unserer HĂ€user die Erde und damit uns von dem unter ihnen liegenden Erdreich trennen, so ist auch unsere Sprache als sogenannte zweite Natur von der ersteren abgetrennt. Behne scheint diese Trennung durchbrechen und uns unserer Natur radikal öffnen zu wollen. Die Zukunft kann nicht lĂ€nger der RĂŒckgriff auf die zurĂŒckliegende Kulturgeschichte sein, sondern ein Neuanfang in âplanetarischer Gesinnungâ. Wir sollen nicht mehr bestimmen, fĂŒhren, herrschen, sondern zur Voraussetzung dafĂŒr werden, dass sich neue Ideen eigendynamisch entfalten können.
Daran schlieĂt Behne seine Bildungstheorie an: Die âunwissendeâ Masse soll nicht durch eine Avantgarde aufgeklĂ€rt werden. Er propagiert dagegen eine âGemeinschaft der Schaffendenâ: âUnd daher haben wir nicht dem Volk Kunst und Wissenschaft zu bringen, daĂ es sie konsumiere; sondern wir haben zu verlangen (und die Voraussetzungen zu schaffen), daĂ es sie produzieren.â
Erschienen im Journal "Sprach|er|neu|er|ung + Wort|bild|kunst" der ACC Galerie Weimar
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Die Blitze kommen zwar, aber sie sind gut vorbereitet

Timm Ulrichs im GesprĂ€ch ĂŒber das Wetter als Kunst, das Bauhaus als KĂ€lte und das Verschwinden von sich selbst beim AufrĂ€umen der Dinge
âDer Schauerromantik drauĂen korrespondiert unser wetterleuchtend bewegtes Innereâ, schreibt Timm Ulrichs in einem Essay ĂŒber den Blitz. Seit Anfang der 1960er Jahre hat Ulrichs die PhĂ€nomene der AtmosphĂ€re behandelt und erforscht. Dabei hat er Tendenzen verdichtet und Extreme ausbalanciert â ohne zu glauben, die KĂ€lte der Unendlichkeit mache vor der WohnungstĂŒr halt. Im Gegenteil: Er hat, wie auch das Bauhaus, das Wetter zu einer Seite des Gestaltungsprinzips erklĂ€rt, um den Menschen andererseits durch das Medium der Kunst in Kontakt mit seinen inneren Wetterkapriolen zu bringen. Timm Ulrichs lebt heute in Hannover, ich in Frankfurt. Ende Mai treffe ich ihn zu einem Interview im Offenbacher Wetterpark.
Als wir losziehen, beginnt es zu regnen.

Anfang der 1960er haben Sie den Wetterdienst in Offenbach kontaktiert und Isothermenkarten erfragt, die sie daraufhin als Readymades publizierten. Was hat Sie daran so interessiert?
Ich war damals ein manischer Leser, bin es zum Teil noch heute, und so habe ich mich 1962 als Student der technischen Hochschule Hannover auch durch die VDI-Nachrichten geblĂ€ttert. Dabei bin ich auf eine Wetterkarte gestoĂen oder besser: auf einen Ausschnitt, der mir von seinem Erscheinungsbild sehr imponierte â als Bild, aber auch als eine Art Zahlengedicht. Daraufhin habe ich dem Deutschen Wetterdienst in Offenbach geschrieben und weitere Karten angefragt. Ich muss gestehen, dass ich die Karten technisch gar nicht ganz verstanden habe. Ich fand sie mit ihren Höhenlinien einfach ungeheuer Ă€sthetisch. Etwas Besseres hĂ€tte ich nicht zeichnen können. Noch immer finde ich es faszinierend, wie man solch groĂrĂ€umige LuftdruckverhĂ€ltnisse in derlei Karten niederlegen kann, also wie sich das Unsichtbare auf Papier materialisiert.
âAlle reden vom Wetter. Wir nicht.â titelte der SDS 1968 unter den Konterfeis von Marx, Engels und Lenin als Replik auf eine Werbung der Bundesbahn. Sie hingegen kontaktierten den Wetterdienst. Was war das fĂŒr eine AtmosphĂ€re, die von der AtmosphĂ€re nichts wissen wollte, und inwieweit waren Sie dem Zeitgeist entkoppelt?
Die Studiogalerie der Frankfurter UniversitĂ€t, in der ich manchmal ausstellte, musste beispielsweise 1968 schlieĂen, weil das, was in den AusstellungsrĂ€umen verhandelt wurde, plötzlich als irrelevant, ja als reaktionĂ€r gedeutet wurde, da es von der Revolution abhalte. NatĂŒrlich galt das Wetter als Synonym fĂŒr alles Belanglose. Meine Haltung wiederum war und ist es noch immer, dass es nichts Belangloses gibt, weil unter bestimmten Aspekten alles Interesse verdient. Man muss den damaligen Zeitgeist jedoch differenziert betrachten. Generell hatte ich Sympathien fĂŒr die linke Szene. Lassen Sie es mich am Beispiel der Frankfurter Studentenzeitschrift Diskus erklĂ€ren, deren Abonnent ich jahrelang war. Mich interessierte vor allem das Feuilleton, das damals ĂŒberaus avanciert war. Es beherbergte experimentelle Autoren wie Franz Mon, Helmut HeiĂenbĂŒttel, Ludwig Harig oder die Stuttgarter Schule um Max Bense. Auch ich habe mich beteiligt mit dem Manifest Was ist Kunst, mit Kanaldeckeln, die ĂŒber eine ganze Seite abgebildet wurden, oder in Zusammenarbeit mit Konrad Balder SchĂ€uffelen mit âSeriellen Formationenâ als Zeichnungen. Diese experimentellen RĂ€ume gab es zuvor so nicht, und sie wĂ€ren ohne jenen politischen Zusammenhang wohl nicht entstanden.
Als ich zum Beispiel 1965 anlĂ€sslich der âJuryfreien Kunstausstellung Berlinâ mich selbst ausstellen wollte, wurde die Aktion kurzerhand verboten. Die GrĂŒnde dafĂŒr waren allesamt fadenscheinig, so dass das Verbot offenkundig seiner BegrĂŒndung voranging. Es wurde argumentiert, ich hĂ€tte keinen Einlieferzettel auf dem RĂŒcken gehabt. Zudem hatte ich einen Spiegel zur Ausstellung des Publikums angemeldet, was als âEingriff in das Recht des eigenen Bildesâ beanstandet wurde. Der Stern machte daraus dann eine Story und schickte dafĂŒr eigens einen Fotografen, der mich im Depot, wo der Glaskasten fĂŒr meine Selbstausstellung lagerte, heimlich ablichtete. Das Foto ging um die Welt und machte die Sache publik. Erst daraufhin wurde mir die Selbstausstellung als erstes âlebendes Kunstwerkâ im Folgejahr in der Frankfurter Galerie Patio ermöglicht.
Vorher studierten Sie an der Technischen Hochschule Hannover Architektur. Warum Architektur?
Ich hĂ€tte meinen Eltern nicht sagen können: Ich möchte Kunst studieren und konstruktivistische Bilder malen! Das Studium der Architektur hat zwar einerseits mit Kunst zu tun, andererseits ist es durch Vernunft ein wenig gegĂ€ngelt oder sagen wir gezĂŒgelt. Es war also ein Kompromiss. Meine Eltern haben es gebilligt â der bĂŒrgerlichen Perspektive wegen.
In einem Interview haben Sie einmal das Bauhaus als kĂŒnstlerisches Vorbild genannt. Heute wollen wir es genauer wissen: Was bedeutet Timm Ulrichs die Lehre des Bauhaus, und welche Rolle nimmt Ihr Architekturstudium dabei ein?
Zweifellos, gĂ€be es zwei Seelen in meiner Brust, die eine wĂŒrde fĂŒr den Dadaismus und den Surrealismus, die andere fĂŒr das Bauhaus und den Konstruktivismus schlagen. Wobei: Mittlerweile habe ich ohnehin einen Herzschrittmacher, aber gehen wir einfach einmal davon aus, dass dieser fĂŒr beide Pole verantwortlich sei. Dem Mythos Bauhaus bin ich regelrecht aufgesessen, ja verfallen. Neue Technologien, rationale Fertigungsprozesse, der Gedanke der Vernunft, das hat mir alles sofort sehr eingeleuchtet und imponiert. William Morris, Walter Gropius, der Architekturhistoriker Nikolaus Pevsner oder der Kunstkritiker Wend Fischer mit Bau, Raum, GerĂ€t â all diese Personen habe ich wĂ€hrend des Studiums mit Hingabe gelesen. Als Architekten fand ich Erich Mendelsohn besonders beeindruckend. Zu seinem Columbus-Haus am Potsdamer Platz in Berlin, das ich als Ruine noch aus eigener Anschauung kannte, habe ich mich prĂŒfen lassen. Letztlich war die Grundlehre des Architekturstudiums in Hannover stark vom frĂŒhen Bauhaus beeinflusst und diese Grundlehre habe ich dann fĂŒr mich ausgebaut. So bin ich zu meinen frĂŒhen Zeichnungen gekommen, zu âSeriellen Formationenâ, âVisuellen Konstruktionenâ, âInterferenzenâ, MoirĂ©-Effekten und anderen Dingen, die ich auch heute noch nicht leugnen muss. Selbst meine konkrete Poesie ist gewissermaĂen als deren analoge Methode innerhalb der Sprache zu verstehen, mit ihrer Tendenz statt Stein auf Stein Wort an Wort zu setzen.
Könnte man das Bauhaus mit einem Thermometer messen, welche Temperatur wĂŒrde es anzeigen?
Ich meine, es ergĂ€be eine gewisse Varianz an Gradzahlen. Wenn man die frĂŒhen Manifeste und Holzschnitte betrachtet, mit denen Gropius um die ersten Studenten und KĂŒnstler geworben hat, dann hat das noch sehr expressionistische, ja, hitzige Anmutungen. Nach und nach wurde es dann stetig rationalistischer â bis hin zum Architekten Hannes Meyer, der sicherlich schon eine sehr tiefe, kalte Temperatur erreicht. Freilich ist das Bauhaus insgesamt ein Projekt der KĂŒhle, doch unterliegt es Temperaturschwankungen â je nach zeitlichem Entwicklungsstand.
Ist dieses Hitze-KĂ€lte-Modell auch auf Ihre Arbeitsweise ĂŒbertragbar?
Das GefĂŒhlsintensive, das Expressionistische hat es bei mir nie gegeben. Ich bin nicht gefĂŒhllos, aber ehe ich etwas auf andere loslasse, wird es gefiltert. Nie sind meine Dinge aus einem spontanen Impuls heraus gemacht. Der Einfall kann ja ganz plötzlich kommen, mitten auf der StraĂenkreuzung, so dass ich aufpassen muss, nicht ĂŒberfahren zu werden. Schnell schreibe ich ihn mir dann stichwortartig auf die Hand, die Jahrhundertidee könnte ja auch unmittelbar wieder aus dem Kopf verschwinden. Georg Christian Lichtenberg sprach hierbei von âPfennigs-Weisheitenâ. In ruhigen Stunden lasse ich mir meine Ideen dann durch den Kopf gehen und sehe, ob sie sich halten. Manchmal schaue ich mir die Sachen nach einer Woche, manchmal erst nach Jahren wieder an. Dann ĂŒberlege ich, ob die Menschheit das braucht, wie viel Geld es zur Realisierung benötigt und inwieweit sich der Aufwand insgesamt lohnt. Das alles sind mĂŒhsame Schritte. Wenn die Arbeit fertig ist, muss es so sein, dass sie die Ăberraschung des Moments hat, dass jemand tatsĂ€chlich glaubt, sie sei ein Geistesblitz, der aus heiterem Himmel gekommen sei, was aber eben nicht so ist. Diese Blitze kommen zwar, aber sie sind gut vorbereitet. Auch die Entladung eines wirklichen Blitzes kommt ja nicht aus heiterem Himmel, sondern auch da hat sich schon vorher etwas zusammengebraut. Meine Werke sollen bis zum Witz zugespitzt sein, aber das heiĂt nicht, dass die Pointe ihr eigentlicher Sinn ist. Sie ist nur die Zusammenfassung, die Synopsis, die in Blitzform aufscheint.
Diese Form des Witzes ist bisweilen, was man Ihnen an Ihrer Arbeit vorwirft. Nun wird das Bauhaus auch als pĂ€dagogische Unternehmung verstanden, den Menschen an die KĂ€lte zu gewöhnen, die aus dem Universum auf uns niedergeht, anders als die groĂen ErzĂ€hlungen des 20. Jahrhunderts, die ihn in einer Gemeinschaft erneut zu erheben versuchten. Soll auch Ihr Witz abseits der groĂen ErzĂ€hlung erziehen?
Mein Problem war immer nur die Unmöglichkeit beziehungsweise unsere UnfĂ€higkeit, die Unendlichkeit zu fassen. Mich macht fast krank, dass wir unser Leben auf dieser kleinen Erde eingestellt haben und es nicht danach aussieht, als könnten wir unser Denkvermögen und unseren GefĂŒhlshaushalt auf andere Dimensionen im All beziehen. Meine Arbeit in aller Bescheidenheit versucht sich in Begrenzungen zu organisieren; der Witz, so verstanden, ist die pointierte Versöhnung mit dem beschrĂ€nkten Leben. Schauen Sie, entgegen der Unendlichkeit beginne ich mit meinen frĂŒhen Arbeiten bei mir, bei meinem Körper, den ich befrage, vermesse, ausstelle. Von dort ziehe ich weiter und widme mich meiner unmittelbaren Umgebung, den Dingen, die mich umgeben wie etwa den Möbeln, auf denen ich sitze.
Ihr sitzender Stuhl! Ein schlichtes Sitzmöbel, dessen hintere Beine mit Scharnieren versehen sind, so dass sie zu den vorderen Stuhlbeinen hin sich kippen und den Stuhl sich setzen lassen. Eine Ent-funktionalisierung, die man auch als Kritik des Funktionalismus deuten könnte.
Klar. Eigentlich sind alle Möbel Extensionen des menschlichen Körpers, ihre MaĂe sind unseren Körpern angeglichen: Die UnterschenkellĂ€nge entspricht der LĂ€nge des Stuhlbeins, die SitzflĂ€che entspricht der HinterngröĂe, die RĂŒckenlehne nimmt den RĂŒcken auf; manchmal gibt es auch noch Arm- lehnen. Wir haben es also mit abstrahierten Körperformen des Menschen zu tun. Das gilt natĂŒrlich auch fĂŒr das Bett, den Tisch und so weiter. Mein âSitzender Stuhlâ nun hat nicht zufĂ€llig die schlichte Form eines Bauhaus-Stuhls. Er ist weiĂ gestrichen und aus Vierkantholz gefertigt, ist durchweg funktional. Von eben dieser seiner dienenden Funktion will er sich nun emanzipieren, will nicht lĂ€nger Knecht sein. Fortan ist er ein Gegenstand, der IndividualitĂ€t beansprucht, der dem Betrachter gegenĂŒbersteht, anstatt dass man ihm einfach den RĂŒcken zuwenden kann, um auf ihm zu sitzen. Man muss ihm fortan aufrecht begegnen, ihm dabei seine Ruhe gönnen.
WĂ€re das Kunst oder Design?
Man könnte sagen, es ist Kunst, die Design in seiner Funktion begreiflich macht. Aber sehen Sie, meine Arbeit erschöpft sich nicht in einem einfachen Witz, es geht mir, wenngleich pointiert, um die Seinsbedingungen eines PhÀnomens.
Mir kommt an dieser Stelle Albert Camusâ populĂ€re Mythos-Deutung des Sisyphos in den Sinn, mit der er seine Philosophie des Absurden entwickelt. Auch Sie fordern scheinbar ein, sich Sisyphos als glĂŒcklichen Menschen vorzustellen, nur dass er bei Ihnen nicht den schweren Stein hinaufzurollen hat, sondern es genĂŒgt, wenn er in unserer Vorstellung mit leichten BĂ€llen jongliert.
Ich mochte Camusâ Buch sehr, in den 1950ern war es ein wichtiger Text fĂŒr mich. Aber diese KĂ€rrnerarbeit, dieses Sich-Abschleppen bei gleichzeitiger Illusionslosigkeit braucht es meiner Ansicht nach tatsĂ€chlich nicht, es sei denn als Bild. Mir fĂ€llt hierzu eine Arbeit von mir ein: âDer Findlingâ. Zehn Stunden habe ich in einem ausgehöhlten Stein gelegen und den Stein gewissermaĂen verlebendigt, wĂ€hrend der Stein mich sozusagen hat versteinern lassen, weil ich absolut unfĂ€hig war mich zu bewegen. Manche Mythen scheinen da noch auf, aber ich habe sie bewusst nicht benannt, das Bild ist krĂ€ftig genug. Ich habe die Arbeit âDer Findlingâ genannt, weil der Findling eben nicht nur der solitĂ€r liegende Stein ist, der mit der Eiszeit aus dem Norden angeschwemmt wurde und dadurch so abgeschliffen ist, sondern âFindlingâ meint ja auch das Findelkind, das alleingelassene Kind, was verloren in der Welt sich finden und zurechtfinden muss, und in diesem Fall in eine steinerne Geborgenheit zurĂŒckkriecht. Mir geht es dabei, wohlgemerkt, primĂ€r nicht um eine existentielle Sinngebung, sondern um den kĂŒnstlerischen Akt selbst.
Wie war das GefĂŒhl, diese Stunden im geschlossenen Stein zu verbringen? Gab es ein GefĂŒhl der Geborgenheit?
Wenn man das oft publizierte Foto sieht, kann man aufgrund meiner embryonalen Stellung dieses GefĂŒhl durchaus assoziieren. Von der körperlichen Lage wĂ€re es aber eigentlich besser gewesen, wenn ich mich mehr zusammengezogen und die Beine zusammengehalten hĂ€tte. Aber dann hĂ€tte ich einen Klumpen abgegeben und die Form des ausgehöhlten Steins wĂ€re mitnichten so interessant gewesen, wie man sie jetzt noch immer â einer Unfallskizze gleich â im Nordhorn sehen kann, wo der geöffnete Stein mit seinen beiden HĂ€lften liegt. Es war schon verdammt eng im geschlossenen Stein. Hinterher hatte ich BlutergĂŒsse in den Schultern, weil die Aushöhlung nicht exakt genug war. Wir hatten jedoch zuvor keine Möglichkeit zu proben, weil ich fĂŒr die Aktion extra einen Kran anmieten musste, mit dem der Deckstein dann senkrecht sehr vorsichtig heruntergelassen und spĂ€ter wieder hochgehoben wurde. Zu allem Ăbel hat ein Fernsehteam den Stein um Mitternacht der besseren Kamerabilder wegen noch mit Wasser abgespritzt. Dabei hat man voll in die Fuge des Steins hineingespritzt, so dass ich in einer PfĂŒtze lag. Es war also alles in allem nicht sehr gemĂŒtlich. Aber das Ganze war insofern entschĂ€rft, als ich ja wollte und wusste, was ich da mache. Kaum auszudenken, wie es den Bergleuten in Lengede ergangen sein muss, die in einigen hundert Metern Tiefe verschĂŒttet wurden. Die im Dunkeln Eingeschlossenen konnten nicht wissen, ob sie lebend wieder herauskommen wĂŒrden, ob man annehmen wĂŒrde, dass sie das GrubenunglĂŒck ĂŒberlebt hĂ€tten und man versuchen wĂŒrde, sie zu bergen. Sich in einem solchen Zweifel zu befinden, muss entsetzlich sein.
In MĂŒnchen haben Sie einmal 20 GehĂ€use, deren Sinn und Zweck es ist, Skulpturen wĂ€hrend des Winters vor KĂ€lte und Niederschlag zu schĂŒtzen, zu einem kleine HĂŒttendorf formiert. Wo ist das KĂŒnstlerische dieser HĂŒttenarchitektur?
Es handelt sich um eine merkwĂŒrdige Hybridform anonymer Architektur, die man anders oder besser gesagt gar nicht erfinden kann. Diese GehĂ€use formen das darunter Verborgene ja nur im Groben nach. Dadurch haben sie immer etwas Kubistisches an sich. Auch hĂ€ngt dieser verbretterten Welt etwas Theaterhaftes an. Ihr Wert ergibt sich zudem aus der Konfrontation mit dem, was sie schĂŒtzen. Oft sind die GehĂ€use um LĂ€ngen spannender und interessanter, als die unter ihnen liegenden altmodischen Skulpturen, so dass man eigentlich auch wieder eine Ummantelung fĂŒr die Ummantelung finden mĂŒsste. Es herrscht ein absurdes VerhĂ€ltnis zwischen dem zu schĂŒtzenden Gut und der Schutzform.
Manche dieser HĂŒtten haben ein Satteldach, andere ein Flachdach. Ist die Dachform einzig das Ergebnis einer funktionalen Notwendigkeit oder zeigt sich an ihr auch die Person des GehĂ€usebauers?
Das ist die Frage. Sie ist nicht aufzulösen. Selbst wenn der uns unbekannte Handwerker der Meinung ist, rein funktional gebaut zu haben, kann ihm sein Schönheitsempfinden dennoch ganz erheblich âhineingepfuschtâ haben. Gerade weil er kein Designer, sondern erst einmal Handwerker ist, und sich die Frage nach der Ă€sthetischen Form nicht explizit stellt, ist sie umso stĂ€rker implizit anwesend.
Ich habe als KĂŒnstler, als TotalkĂŒnstler, nie so eindimensional gedacht, dass partout das Flachdach oder der rechte Winkel herrschen mĂŒsse. Was in meinem Kopf stets herrschen sollte, war eine gewisse RationalitĂ€t und Vernunft â das Chaos kam ohnehin ungerufen hinzu. Ein religiöses GefĂŒhl habe ich in mir nie gefunden, es scheint mir so ĂŒberflĂŒssig wie der Blinddarm, den ich schon lange nicht mehr besitze; und weil ich mich nicht einmal anstrengen musste, irgendetwas Transzendentes zu verlieren, blieb nicht einmal eine innere Narbe, wie ich sie seit der Blinddarm-Operation Ă€uĂerlich habe. Ich bin auch nie bilderstĂŒrmerisch gewesen oder kĂ€mpferisch in nur eine FuĂstapfe getreten â weder in die konstruktivistische noch die dadaistische. Ich habe mir immer alles vorurteilsfrei angeguckt. NatĂŒrlich hat mich das Neue Bauen sehr interessiert. Aber dass sich die kĂŒnstlerische Moderne doch auch ĂŒber die Arts-and-Craft-Bewegung und den Jugendstil entwickelte, Art DĂ©co und noch weitere Tendenzen sie begleiteten und sie schlieĂlich zum Internationalen Stil fĂŒhrten, kann fĂŒr mich nur bedeuten, dass man ein Nebeneinander der Stile zulĂ€sst. Es gab fĂŒr mich nie das Entweder-Oder, sondern immer das Sowohl-als-Auch. Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen. Als SchĂŒler bin ich gerne am Niederwalddenkmal oder am Hermannsdenkmal gewesen, weil an diesen Orten ganz fremde MentalitĂ€ts-Geschichten zutage treten, die ich emotional und gedanklich ĂŒberhaupt nicht nachvollziehen kann. Auch diese merkwĂŒrdigen AuswĂŒchse der Fantasie und der GefĂŒhlswelten, denen ich selber nie angehört habe, ĂŒben eine Faszination auf mich aus.
Welche Faszination war es, die Sie dazu brachte, mit einem umgeschnallten Blitzableiter ĂŒber ein offenes Feld zu laufen. Ging es dabei um eine Grenzerfahrung?
Das habe ich, salopp gesagt, allein des Fotos wegen gemacht. Schauen Sie, ich war nackt, dem Blitz ist das indes herzlich egal; er schlĂ€gt ein, wenn er einschlagen will, egal ob man bekleidet ist oder nicht. Ein bildkompositorischer Trick ohne Wirkung: Ich zeige mich entblöĂt, als isolierter Mensch, allein auf der Welt und unbehaust. Ich habe ja gewusst, wie selten Blitze einschlagen; die Statistik vermeldet so gut wie keine Blitz- toten. Nehmen wir an, jetzt wĂ€re ein Gewitter, dann wĂ€re es egal, ob wir hier so sitzen, wie wir hier gerade sitzen, oder mit einem an uns befestigten Blitzableiter. Selbst wenn ein Blitz einschlagen wĂŒrde, trĂ€fe er stets die nahegelegenen sehr viel höheren BĂ€ume. Der Wahrscheinlichkeit nach ist die Gefahr des eigenen Blitztodes so gering, dass man ihn vernachlĂ€ssigen kann. Dessen ungeachtet ging ich zum Schlosser und lieĂ einen richtigen Blitzableiter aus Edelstahl und Kupferstange bauen.
Diese Aussagen bringen ein gĂ€ngiges Narrativ ĂŒber Ihre kĂŒnstlerische Arbeit ins Wanken. Es heiĂt, sie haben den Tod herausgefordert, ihn aufgesucht. Weiterhin gibt es noch Ihre TĂ€towierung âThe Endâ auf ihrem Augenlid oder Ihr bereits existierendes Grab in der KĂŒnstler- Nekropole in Kassel. Ist Ihre Kunst zumindest auch ein Sterben-Lernen?
Das schon, an der ars moriendi bin ich schon lange dran. Bereits 1969, mit 29 Jahren, habe ich mir ja meinen Grabstein anfertigen lassen â mit dem Epitaph âDenken Sie immer daran, mich zu vergessen!â. Doch hatte ich nie Angst vor dem Ende. Ebenso bin ich absolut sicher, dass nach unserem Ableben nichts mehr âkommtâ. Mich interessiert ausschlieĂlich der Akt, das Sterben-Können, nicht die Vorbereitung auf ein âDanachâ. In meinem bisherigen Leben ist mir der Tod nicht fremd geblieben; durch den vergleichsweise frĂŒhen Tod meiner Eltern oder den meines jĂŒngeren Bruders. Ich selbst hatte 1952 einen Autounfall, bei dem ich mir einen schweren Leberriss zuzog; ich war fast verblutet, konnte mich nicht mehr bewegen. Das, was mich bedrĂŒckt, ist nicht mein Tod, sondern dass ich vor seinem Eintreten noch Ordnung schaffen muss. Ich habe noch so viel Zeugs, das kein Mensch auĂer mir in seiner Herkunft und Bedeutung ermessen kann; Manuskripte oder Briefe von Autoren, von denen die Erben nicht mal die Unterschrift entziffern könnten. Auch will ich nicht, dass meine arme Frau jahrelang meinen ganzen MĂŒll sortieren muss. Das kann ich ihr nicht antun. Also hoffe ich, noch zehn Jahre durchzuhalten, um sie dem AufrĂ€umen widmen zu können. Ich will mein Leben âbesenreinâ verlassen.
Schauen wir uns doch einmal um. Wir sitzen die ganze Zeit ĂŒber mit dem RĂŒcken zu einer Wettermessstation. Gibt es das objektive Wetter?
NatĂŒrlich versuchen wir ein ĂŒberindividuelles VerhĂ€ltnis zum Wetter zu entwickeln, so dass nicht Sie oder ich sagen, wie das Wetter ist, sondern dass ein allgemeines, statistisches Mittel gefunden wird, das dann in diesen Apparaten gewissermaĂen sich objektiviert. Es ist doch erstaunlich, wie unabhĂ€ngig wir uns von den Messungen dann wiederum machen, wenn wir uns dem Wetter direkt aussetzen, wie sehr der Mensch doch von den WetterverhĂ€ltnissen in seinem Verhalten und in seiner Laune konditioniert ist, wie extrem abhĂ€ngig unsere Stimmungen vom Wetter sind. Deshalb auch suchen wir ja diese wohl temperierten RĂ€ume, die moderaten Temperaturen unserer Zimmer auf, weil wir da weniger zu GemĂŒtsausbrĂŒchen neigen und uns gegenseitig anfallen. In unseren Zimmern bei Zentralheizung und mehr oder minder konstanter Temperatur können wir uns bestĂ€ndig und âzivilisiertâ verhalten. Das war schon ein groĂer zivilisatorischer Akt, dass sich der Mensch von den tageszeitlich, jahreszeitlich und sonst wie wechselnden Wetterbedingungen unabhĂ€ngig machen konnte. Dank des elektrischen Lichts sind wir nichteinmal mehr an Tag und Nacht gebunden, wenngleich wir den Rhythmus ĂŒber Jahrtausende noch in unserem Körper verankert haben.
Vor uns stehen 20 rote Windfahnen. Zur Verwunderung der Parkbesucher signalisieren sie manchmal voneinander abweichende Windrichtungen. Ein Schild klĂ€rt auf, dass es in der bodennahen Luftschicht oft zu Verwirbelungen kommt, weshalb an der automatischen Station der Wind in zehn Metern Höhe gemessen wird. Von Ihnen gibt es ebenfalls eine Arbeit, bei der der Wind zweier Ventilatoren zu einem unerwarteten wie verblĂŒffenden Verhalten fĂŒhrt.
Sie spielen auf meine Wippe âSegnung: Mit Wind und Wellenâ mit zwei oszillierenden Ventilatoren an. Ich hatte sie fĂŒr eine Jahresausstellung des Deutschen KĂŒnstlerbundes angemeldet. Allerdings war sie noch gar nicht gebaut, als die Jury sie annahm. Als wir meinen Plan dann realisierten, eine Wippe zu bauen, an deren Enden Ventilatoren befestigt sind, deren Köpfe sich in horizontaler Richtung drehen, passierte bei der ersten Inbetriebnahme zu meiner EnttĂ€uschung zunĂ€chst gar nichts. Es hat einige Zeit gedauert, bis wir verstanden, den Waagbalken so in die starre Achse zu hĂ€ngen, dass sich der Drehpunkt oberhalb des Schwerpunktes befindet. Nur so bleibt die Wippe erst einmal in der Waage und kippt nicht gleich zu einer Seite. Dann haben wir zusĂ€tzlich noch mit Gewichten gearbeitet, um eine gute Austarierung zu erzielen. Auch bauten wir ein Kugellager ein, um die WiderstĂ€nde zu reduzieren. Wie von Zauberhand begann sich die Wippe nach erneutem Anschalten der Ventilatoren langsam auf und ab zu bewegen; die Horizontalbewegung der Ventilatoren wird transformiert in eine Vertikalbewegung des Balkens. Manchmal lĂ€sst die Bewegung zwar kurzfristig nach, doch bleibt die Wippe in fortwĂ€hrender Bewegung. Die Ventilatoren bewegen sich ja unabhĂ€ngig voneinander, wie zwei Uhren ja auch nie hundertprozentig gleich gehen. Irgendwie trifft sich die Luft, neutralisiert sich oder bildet einen RĂŒckstoĂ. Nehmen Sie eine Jacke und halten sie dazwischen, kommt die Wippe prompt zum Stehen. Wie sich das strömungstechnisch genau verhĂ€lt, weiĂ ich wohlgemerkt bis heute nicht. Mir wurde immer wieder unterstellt, ich hĂ€tte im Balken heimlich einen Motor eingebaut, was aber nicht stimmt. Zwar fĂŒhrt ein Kabel hinein, aber nur zu dem Zweck, die Ventilatoren mit Strom zu versorgen. Ansonsten ist nichts da. Das Werk funktioniert, ich weiĂ nicht wie â aber wunderbar.
Kann man das Wetter ausstellen?
In einem gewissen Sinne vielleicht: In Krefeld habe ich einmal einen weiĂen Thermohygrografen allein zur Ausstellung gebracht. Das ist ein GerĂ€t, wie es in den Museen meistens ein wenig versteckt in jedem der AusstellungsrĂ€ume steht und die Lufttemperatur und relative Luftfeuchtigkeit misst und zur gleichen Zeit aufzeichnet. Solch ein MessgerĂ€t stellte ich in die Mitte eines ansonsten leeren Raums, dessen Fenster geöffnet blieben. Die Ausstellung und damit die Aufzeichnung lief ĂŒber sechs Wochen. Mir ging es zuerst darum, das, was den Ausstellungsbesucher eigentlich nicht kĂŒmmert, in den Mittelpunkt einer Ausstellung zu rĂŒcken. Denn das, was zum weitlĂ€ufigen Inventar eines Museums gehört, hat mich wiederum oft mehr interessiert, als die eigentlichen Exponate â wie zehnmal gesehene Bilder von Gerhard Richter, die man so Ă€hnlich wiederum schon hundertmal gesehen hat, und an denen man dann einmal mehr respektvoll vorbeilaufen muss. Letztlich habe ich aber nicht nur den Thermohygrografen zum Ausstellungsobjekt mit eigener Ausstellungsnummer gemacht. Durch das offene Fenster wurde indirekt auch das Wetter selbst fortwĂ€hrender Ausstellungsgegenstand. Und da man in solch einen Thermohygrografen jeden Tag ein neues Blatt zur Aufzeichnung einlegen muss, entstanden letztlich 42 Seiten, die ich nach Ende der Ausstellung eigens zu einem Klima-Tagebuch in weiĂes Leinen einbinden lieĂ.
Könnte es sein, dass viele Ihrer Arbeiten aus jener Zeit trotz ihrer prĂ€genden Impulse erst noch wiederentdeckt werden mĂŒssen?
Vieles aus den 1960er Jahren â und das betrifft keineswegs nur meine Arbeiten â ist dem heutigen Publikum gewiss nicht mehr gegenwĂ€rtig. Ich habe manchmal gar das GefĂŒhl, als wĂŒrde ich aus der Steinzeit berichten. Nicht, dass alles gleichermaĂen vergessen wĂ€re: JĂŒngere Kuratoren und Kunsthistoriker kolportieren, was einige wenige zentrale Figuren jener Zeit erzĂ€hlen, so dass nach und nach eine immer verzerrtere RĂŒckschau entsteht. Es schleifen sich so gewisse geschichtliche Entwicklungslinien ein, wie bei einer Schallplatte ein Kratzer den Tonabnehmer auf ewig in dieselbe falsche Rille ĂŒberspringen lĂ€sst. Dagegen ist leider wenig zu machen. âWhen the legend becomes fact, print the legendâ heiĂt es in John Fords SpĂ€twestern âThe Man Who Shot Liberty Valanceâ.
Ein weiteres, moderneres MessgerĂ€t der Thermografie ist die WĂ€rmebildkamera. Sie ermöglicht, die fĂŒr das menschliche Auge unsichtbare WĂ€rme- bzw. Infrarotstrahlung von Objekten sichtbar zu machen. Dieses bildgebende Verfahren haben Sie sich bei Ihrer âThermografischen Wandmalereiâ kĂŒnstlerisch angeeignet.
Ich kannte diesen Teil der Thermografie bereits durch das Architekturstudium. Weil ich immer unorthodoxe Selbstportraits von mir wollte, habe ich die Thermografie auch dazu genutzt, eine WĂ€rmebildaufnahme meines Gesichtes anzufertigen. Andere Selbstbilder sind etwa ein Messerwurf-Portrait oder die Tatortzeichnung meines Körpers. Bei meiner âThermografischen Wandmalereiâ also habe ich die WĂ€nde einer Kölner Galerie mit einer Infrarot-Kamera aufnehmen lassen, um die entstandenen WĂ€rmebilder im nĂ€chsten Schritt als Diapositive wieder auf die WĂ€nde zu werfen. AnschlieĂend pinselte ich tausende von Pixeln mit den ihnen eigenen Farben aus, was nebenbei bemerkt eine wahnsinnige Arbeit war. So wurden die Temperaturbedingungen der Galerie zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Tag zu ihrem eigenen Bild gemacht. Man hat also nichts anderes gesehen als Farben, die ihrerseits mithilfe einer Farbskala in ihren jeweiligen Bedeutungen erlĂ€utert wurden.
Ob Kandinsky oder Itten: Das Bauhaus steht auch fĂŒr den Versuch, die Aura der Farben zu ermitteln. Gibt es eine objektive Bedeutung solcher Farbskalen?
Ich meine, Farbbedeutungen sind stets Konventionen, die allerdings oft auch einleuchten. Dass Gelb beispielsweise komisch ist, zackig sein darf oder dreieckig, kann ich nachvollziehen. Es war Van Gogh, der in seinem knallgelben Zimmer den Wahnsinn fand. Dass Krankenzimmer grĂŒnlich sein sollen, hat mir andererseits nie eingeleuchtet. Ich finde das GrĂŒnliche eher abstoĂend und fĂŒr mich als Kranken inakzeptabel. Vielleicht hat es ja die heimliche Aufgabe, sedierend zu wirken. Bei der thermografischen Farbskala sind es an den Enden die Farben Rot und Blau. Auch da gibt es eine gewisse Anschaulichkeit durch das Rötliche des Feuers oder das den Himmel spiegelnde Wasser. Dennoch bleibt immer ein Rest, der nicht aufgeht, weshalb alles letztlich auch anders sein könnte.
Erschienen im Ausstellungskatalog âEin Archiv von Hitze und KĂ€lteâ zur gleichnamigen, dreiteiligen Ausstellung im Rahmen des Kunstfests Weimar 2018
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Die Anwesenheit des Wetters

Im Moment, in dem ein GebĂ€udeentwurf anstatt von der Fassade wesentlich von seiner FunktionalitĂ€t her gedacht wird, wird er zum augenscheinlich moderierten Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen und der Witterung. Ob Regenrinne oder Dachform, Balkonausrichtung oder Fensterzahl, RolllĂ€den oder Zentralheizung â wohltemperiert und lichtdurchflutet reduziert der Wohnapparat die Ă€uĂeren Wetterextreme und verhilft zugleich zu ihrem PlĂ€sier. Jedoch geht die AtmosphĂ€re darin nicht auf, wie auch die Meteorologie nur eine spezifische Anverwandlungsweise des Wetters bleibt. âDenn der Schauerromantik drauĂen korrespondiert unser wetterleuchtend bewegtes Innereâ, schreibt Timm Ulrichs in einem Essay ĂŒber den Blitz. Seit Anfang der 60er Jahre behandelt und erforscht der KĂŒnstler die PhĂ€nomene der AtmosphĂ€re. Dabei hat er Tendenzen verdichtet und Extreme ausbalanciert - ohne dem Irrglaube aufgesessen zu sein, die KĂ€lte der Unendlichkeit mache vor der WohnungstĂŒr halt. Im Gegenteil: Er hat wie auch das Bauhaus, das Wetter zu einer Seite des Gestaltungsprinzips erklĂ€rt, um den Menschen andererseits durch das Medium der Kunst in Kontakt mit seinen inneren Wetterkapriolen zu bringen.
Ende Mai treffe ich Timm Ulrichs zu einem Interview in Frankfurt. Wir sind fĂŒr zwölf Uhr an einem Hotel in der NĂ€he des Hauptbahnhofs verabredet. Von dort wollen wir gemeinsam den Wetterpark im nahegelegenen Offenbach aufsuchen. Geplant ist ein Spaziergang entlang der einzelnen Parkstationen, die den vielgestaltigen PhĂ€nomenen des Wetters gewidmet sind. Neben allgemeinen Fragen zum Bauhaus, zu dessen âKĂ€lteschachtelnâ im Besonderen und Ulrichs Haltung dem Wetter und den Göttern gegenĂŒber, sollen die einzelnen Stationen als Impulsgeber dienen, um so manche kĂŒnstlerische Arbeit Ulrichs der letzten 50 Jahre assoziieren und kartografieren zu können. Dass diese sich von Beginn an bemerkenswert zahlreich mit den Dingen der AtmosphĂ€re beschĂ€ftigen, stellt Ulrichs im Laufe unseres GesprĂ€chs selbst scheinbar erstaunt fest.
Doch kommt es bekanntlich erstens anders und zweitens als man denkt: Den ersten Teil unseres GesprĂ€chs verbringen wir mit dem RĂŒcken zu einer Wetterstation auf einer Bank noch vor dem eigentlichen Beginn des Wetterparks, die zweite HĂ€lfte ĂŒber sitzen wir weitestgehend vor dem Eingangspavillon, wohin wir alleine aufbrechen, um einen Kaffee zu trinken. Dass wir zuvor in der glĂŒhenden Sonne saĂen, bemerken wir erst im Schatten des Pavillons. WĂ€hrend sich Timm Ulrichs ansonsten nicht wirklich um die Witterung schert, schiele ich mehr und mehr gen Himmel, nachdem ich mir schon am Vorabend Sorgen machte, ob das geplante GesprĂ€ch im Freien ĂŒberhaupt stattfinden könne. Ein heftiges Gewitter entlud sich ĂŒber dem Rhein-Main-Gebiet und meine Wetter-App kĂŒndigte fĂŒr den Folgetag Regen an. Zwar hatten sich die prophezeiten Regenwolken schon im Laufe des Morgens wieder verzogen, so dass ich erleichtert auf Ulrichs treffen konnte, doch braut sich im Laufe unseres GesprĂ€chs ein neues Gewitter zusammen. Es windet zunehmend, blitzt daraufhin entfernt und beginnt schlieĂlich zu regnen. Zu diesem Zeitpunkt haben wir bereits drei Stunden gesprochen, sind jedoch keinen einzigen Schritt unseres geplanten Spaziergangs gegangen. Ulrichs scheint nicht nur von allem wenig bis nichts mitzubekommen, sondern stört sich auch nicht an der wachsende Anzahl Regentropfen auf seinem schwarzen Sakko. Bevor ich vorschlagen kann, ins Innere des Pavillons zu wechseln, um von dort ein Taxi fĂŒr den RĂŒckweg nach Frankfurt zu ordern, erinnert mich Ulrichs daran, dass wir doch noch die Stationen des Wetterparks zu besichtigen haben. Und so ziehen wir bei Regen los â allein um festzustellen, dass wir wie von Geisterhand den Park im GesprĂ€ch in Ă€hnlicher Chronologie bereits durchschritten haben. HinfĂ€llig war der Ortsbesuch gleichwohl nicht. Weniger seine einzelnen PhĂ€nomene als vielmehr das Wetter selbst ist es, das mir mit der Wahl des Ortes schon Stunden vor, wĂ€hrend und nach dem Interview ins Bewusstsein rĂŒckt. Mit Ulrichs Anwesenheit ist zudem zu verstehen: Wetter zu fĂŒhlen und zu begreifen, heiĂt nicht zuletzt, nicht stĂ€ndig vor ihm davonlaufen zu mĂŒssen.
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Zwischen Hashtags und Erzeugerschemata

Philipp Simon in der Galerie âSchiefe ZĂ€hneâ
Das Denken hat bei denjenigen, die von Berufs wegen denken, bekanntlich nicht den besten Ruf. Kunstproduktionen vergangener Jahrzehnte flankieren die intellektuelle Kritik an der menschlichen Ratio, die sich die Welt und ihre PhĂ€nomene durch Klassifikationssysteme und Ordnungsprinzipien gewaltsam Untertan macht. Wie das Denken seine GegenstĂ€nde ĂŒberschreitet, so ĂŒberschreitet die kĂŒnstlerische Revolte der Unvernunft fortan das Denken. Viel zu oft blieb jedoch nicht viel mehr als billige Polemik jenseits jeder Ă€sthetischen Erfahrung.
Philipp Simon ordnet auf wenigen Metern mit seiner Ausstellung âDie dritte Personâ, die derzeit in der Berliner Galerie âSchiefe ZĂ€hneâ zu sehen ist, die kĂŒnstlerische Kritik an den Ordnungsprinzipien selbstkritisch. An den zwei lĂ€ngeren und sich damit gegenĂŒberliegenden WĂ€nden des Ausstellungsraums hĂ€ngen insgesamt vierzehn Bleistiftzeichnungen. Notabene nicht in blöder Symmetrie: eine Wand zĂ€hlt sechs, die andere acht seiner Zeichnungen. Eine jede zitiert dabei einen anderen Stil und damit ein anderes, bereits bestehendes Erzeugerschema. Das zur Ausstellung ausliegende Papier, auf dem jeder Zeichnung eine AufzĂ€hlung zugeteilt ist, reflektiert diesen Sachverhalt: Wenngleich nicht konsequent, so tauchen bei einigen AufzĂ€hlungen Stilrichtungen und KĂŒnstlernamen auf. Die AufzĂ€hlungen selbst folgen keiner festen Logik. Zwar beginnen sie allesamt mit der Trias âimage, natural, dramaâ, daraufhin jedoch fĂŒgen sich Adjektive ohne erkennbares System an StĂ€dtenamen und WĂ€hrungseinheiten, Geschlechterzuschreibungen an Tageszeiten und Zeitformen. Anders als zu vermuten eröffnen die Aneinanderreihungen neue Ebenen und erweitern die Wahrnehmung anstatt sie zu verengen. Nur an einer Stelle wird der offene Charakter der Enumeration gleichsam ironisch gestört. Das aufgezĂ€hlte âdaskindwillnichtzumimpfengehenâ verknappt die Wahrnehmung der Zeichnung nachhaltig und erinnert uns dadurch an den Rubrizierungscharakter millionenfacher Hashtags unserer digitalen Gegenwart. Bilder und Fotos vollkommen zu verstehen bedeutet ihr Ende. Eben dies bringt Simon zur Einsicht, indem er nicht die Kategorien an sich verneint, sondern deren Gebrauch differenziert.

Nicht nur durch die ihnen gemeinsamen Listen korrespondieren die Zeichnungen miteinander. Statt einzeln werden sie durch eingeschnittene Wellpappen gerahmt, die ihrerseits aneinanderhĂ€ngen. Durch die kleinen Fugen, die sich zwischen den groĂflĂ€chigen Pappen ergeben, entsteht ein Raster â und damit ein visuelles Ăquivalent zur Klassifizierungsleistung des Denkens. Doch taugt das Raster nicht zum Ordnungsprinzip der Ausstellung, da sich die einzelnen Zeichnungen ihrerseits ordnen, indem sie in gleichem Abstand zueinander gehĂ€ngt sind und dadurch an manchen Stellen die Fugen der Pappen ĂŒberschreiten. So ergibt sich ein formaler Widerstreit der verschiedenen Ebenen. Die Grenzen des Rasters sind durchlĂ€ssig.
Mitten durch den Ausstellungsraum â parallel zu den beiden WĂ€nden mit den Zeichnungen â hat Simon ein horizontales Gitter aus Spanplatten eingezogen, das das Durchschreiten seiner Ausstellung kontrolliert. Es zwingt zur fixen Chronologie. Man muss zuerst eine der WĂ€nde ablaufen, um zur gegenĂŒberliegenden Wand zu gelangen. Bei letzterer angekommen, entdeckt man hinter der Gitterwand, deren Ende vollstĂ€ndig verkleidet ist, jeweils zwei rechtwinklig ineinander gesteckte Pappen, auf die Simon Gesicht bzw. Hinterkopf und Profil zweier Menschen gezeichnet hat. WĂ€hrend die Bleistiftzeichnungen an den WĂ€nden allesamt den Charakter von Vorstudien noch zu realisierender Bilder haben, sind die beiden Köpfe Abstraktionen. Bewegen sich die Zeichnungen hin zu etwas, bewegen die Pappgestelle der Köpfe sich von ihrem Bezugspunkt weg. Gleichzeitig erinnern die beiden abstrahierten Köpfe an die Erkenntnis der Wahrnehmungstheorie, dass man stets nur einen Teil einer Sache sehen kann. Schaute man aus allen möglichen Perspektiven gleichzeitig auf den Kopf, fiele er in sich zusammen. So wĂ€ren auch die Zeichnungen selbst dann noch vorlĂ€ufig, wenn sie zu Bildern wĂŒrden. Es gibt kein Ankommen, keine Endpunkte, kein An-sich, wie auch jede AufzĂ€hlung genuin unvollstĂ€ndig, stets weiterfĂŒhrbar ist.
In seiner VorlĂ€ufigkeit ist auch das Denken zu retten, als behutsame Hypothese behĂ€lt es sein Recht. Dass ĂŒber Philipp Simons Zeichnungen an dieser Stelle nicht mehr geschrieben steht, bedeutet die Einsicht in die Grenzen der Theorie. Deshalb lohnt ein Besuch der Ausstellung umso mehr.
Erschienen in der einunddreiĂigsten Ausgabe des Kunstmagazins âvonhundertâ
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Sie sind jetzt!

Vier mögliche Wege in Richtung Bauhaus-JubilÀum
Mit dem Bild des Konzerts beschreibt Stephan Dorgerloh, Kultusminister des Landes Sachsen-Anhalt, die zahlreichen Veranstaltungen, die das im Jahr 2019 anstehende hundertste GrĂŒndungsjubilĂ€um des Bauhauses begleiten. Das Verbundprojekt âGroĂe PlĂ€ne!â im vergangenen Jahr sei der Auftakt, schreibt er im Vorwort fĂŒr den Ausstellungskatalog der zentralen Verbund-Ausstellung âModerne Typen, Fantasten und Erfinderâ, die im Bauhaus Dessau gezeigt wurde. Ein Auftakt, der â um im musikalischen Bilde zu bleiben â willentlich allerlei Dissonanzen erzeugt, die so einfach nicht mehr aufzulösen sein werden. Denn die Verbundausstellung macht durch ihre rĂ€umliche Zerstreutheit deutlich, was sie zugleich auch inhaltlich allerorten aufzeigt: Die Zeit des Bauhauses war mehr als dieses, ja sie bleibt bei all ihren Synergien zwischen den Akteuren in ihrer Vielschichtigkeit und DezentralitĂ€t unverstanden, solange man sie auf das Bauhaus reduziert. Letztlich ist der âMythos Bauhausâ fĂŒr das Land Sachsen-Anhalt Fluch und Segen. Zweifellos exponiert er durch seine nicht nur kunstgeschichtliche Prominenz den Standort Dessau als Marke. Zugleich aber verstellt er den Blick auf das weitmaschige Geflecht zwischen zahlreichen Orten und Akteuren, mit dem erst zu verstehen ist, welch bedeutende Rolle die Region Sachsen-Anhalt als âLand der Moderneâ geschichtlich einnimmt. Es ist fĂŒr die Kulturpolitik des Landes im Hinblick auf das anstehende JubilĂ€um also ein schmaler Grad, im Versuch, die Strahlkraft des Bauhauses auf weitere StĂ€dte, Institutionen und Einzelpersonen auszuweiten, jenes dabei schlussendlich nicht zu schwĂ€chen.
Die einleitend beschriebenen Dissonanzen ergeben sich nicht nur aus dem Widerspruch zur bisher beengten Wahrnehmung der klassischen Moderne. Auch untereinander fĂŒgen sich die einzelnen Ausstellungskonzepte keineswegs harmonisch ineinander. Vielmehr ermöglicht ihr Kontrast, Möglichkeiten und Grenzen des Ausstellens auszuloten. Vor allem interessiert hierbei die zentrale Verbundausstellung âModerne Typen, Fantasten und Erfinderâ, die gegen den Strich des Musealen rettet, was sie ausstellt, indem sie es dem Schleier der Vergangenheit entreiĂt. Was das vielfĂ€ltige Angebot des Verbundprojekts âGroĂe PlĂ€ne!â anbetrifft, erhebt der Text keinen Anspruch auf VollstĂ€ndigkeit: teils zufĂ€llig, mehr dem eigenen Interesse und Kalender geschuldet, besuchte der Autor dieses Artikels Anfang Dezember vier Ausstellungen. Neben der vorgenannten im Bauhaus Dessau waren dies zwei Ausstellungen in Magdeburg â zum einen zur Baukunst von Carl Krayl mit dem Titel âBunte Stadt â Neues Bauenâ , zum anderen zu Magdeburg als Reklame und Ausstellungsstadt der Moderne unter dem Namen âMarammâ â und eine Ausstellung in Merseburg ĂŒber die hundertjĂ€hrige Geschichte der Leuna-Werke.
Formal in einem engeren Zusammenhang stehen die Ausstellungen zu Carl Krayl und den Leuna-Werken. ErzĂ€hlt letztere die Geschichte einer Institution, schildert die Ausstellung ĂŒber Krayl die Biographie eines Architekten. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Chroniken: Krayls Schaffen ist begrenzt durch seine Lebenszeit, zudem durch die politischen UmstĂ€nde, die ihn in seiner Arbeit mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten schlagartig beschneiden, wĂ€hrend die Leuna-Werke je nach politischer Ideologie wirtschaftlich und propagandistisch genutzt werden und als Medium der Systeme diese stets ĂŒberdauern. D.h. wĂ€hrend Carl Krayl im Jahr 1890 geboren wird und 1947 stirb, wovon die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen fĂŒr ihn als Akteur des Neuen Bauens die entscheidenden sind und zugleich den Mittelpunkt der Ausstellung bilden, dauert die Geschichte der wĂ€hrend des ersten Weltkriegs gegrĂŒndeten Leuna-Werke bis in die Gegenwart an und reflektiert damit ein Jahrhundert deutscher Geschichte. Bei beiden Ausstellungen wird der Raum genutzt, um die Geschichte Schritt fĂŒr Schritt und damit chronologisch zu erzĂ€hlen. Doch unter verkehrten Vorzeichen: Krayl wird mit seiner Biographie eingefĂŒhrt und erst daraufhin je nach dokumentierter Schaffensperiode zeitgeschichtlich eingeordnet, indem man seine Verbindungen zur jeweiligen Kulturströmung herausstellt. Bei den Leuna-Werken hingegen wird in einem Vorraum kein umfassender Ăberblick geboten, sondern lediglich die zeitgeschichtlichen UmstĂ€nde der WerksgrĂŒndung dokumentiert. Es sind zwei mögliche Antworten auf die immer gleiche Frage nach dem VerhĂ€ltnis zwischen Allgemeinem und Einzelnem. Paradoxerweise nĂ€hert sich die Merseburger Ausstellung ĂŒber die Leuna-Werke ihrem eng mit der Schwere und Tragik des 20. Jahrhunderts verbundenen Gegenstand zumeist anekdotisch, wĂ€hrend in der Ausstellung zu Krayl die kĂŒnstlerische ProduktivitĂ€t einer Einzelperson, die zwischen den GrĂ€uel der Kriege erblĂŒht, nĂŒchtern und sachlich geschildert wird.
100 Jahre Leuna Werke: Ungleichzeitigkeiten zwischen Alltag und Politik
Im Vorraum der Merseburger Ausstellung finden sich Plakate, die vor den alliierten Fliegerangriffen in Ludwigshafen warnen, ein Brief an die Werksleitung, in dem sich ein Landpfarrer ĂŒber die seine Ăpfel stehlenden Wanderarbeiter beschwert und ein Foto, auf dem Ingenieure vor einem Ammoniak-Zug posieren, der mit Tannenzweigen geschmĂŒckt ist und auf den man mit Kreide âGlĂŒckauf! Franzosentod!â geschrieben hat. Es sind teils abwegige, teils verstörende Dokumente, die da in Konstellation gebracht werden, um den Zeitgeist zur GrĂŒndung der Leuna-Werke zu erfassen. Der skizzenhafte Charakter im Vorraum der Ausstellung bereitet in seiner formalen Verdichtung aber auch auf den Ausstellungscharakter selbst vor: Die Geschichte der Leuna-Werke â und damit verbunden die Wirren der Weimarer Republik, der Wahn des Nationalsozialismusâ, die GrĂ€uel des zweiten Weltkriegs, schlieĂlich der Hochmut des Realsozialismusâ â zersplittert zu unzĂ€hligen Geschichten aus Alltagsfetzen, Eigensinn, Produkten, Paraden, NebensĂ€chlichkeiten, naturwissenschaftlichem Know-How und Pointen. Eine ZapfsĂ€ule, Illustrationen der IG-Farben, die fĂŒr die Autarkie des 3. Reichs werben, Dederon-Kittel, GrillanzĂŒnder, Werbetafeln fĂŒr Kopfschmerzmittel, ein Caprolactam-Sack, Werbe-Postkarten fĂŒr DĂŒngemittel, amerikanische Luftaufnahmen der Leuna-Werke wĂ€hrend ihrer Bombardierung und eine Granate der MĂ€rz-KĂ€mpfe folgen auf Modelle des Zollinger-Daches oder einer Raffinerie. Bei manchen verdichteten Zeitdokumenten gerĂ€t man ins Stocken, ob ein Foto eines grinsenden Göring vor einer Abbildung der Leunawerke oder eines, das drei Zwangsarbeiter zeigt, oder ein Brief, der âFremdarbeiternâ das Baden untersagt, eingedenk der allumfassenden Katastrophe nicht pietĂ€tlos ist. Es ist ein schmaler Grad, den der Kurator Niklas Hoffmann-Walbeck beschreitet, da seine sehr speziellen Zeitdokumente gegenĂŒber dem gesellschaftlichen Ganzen inadĂ€quat erscheinen. Doch indem er die Leuna-Werke in launige, absurde und sperrige Reminiszenzen ausfranzen lĂ€sst, umgeht er gleichsam das vermeintliche Potential, anhand eines spezifischen Ortes das kollektiv verankerte GedĂ€chtnis durchzuspielen. So bewahrt er seinen Gegenstand davor, einzig zum affirmativen Instrument des je eigenen Geschichtswissens zu degradieren. In den Diskrepanzen zwischen Ort und Zeitenwenden werden die Ungleichzeitigkeiten zwischen Alltag und Politik bemerkbar. Nur so sind die Leuna-Werke in ihren Lebenswirklichkeiten und Eigenheiten zu erfassen.
Carl Krayl: Mit Taut aus dem Schatten von Taut
Ein durch Jahreszahlen und in kurze AbsĂ€tze gegliederter Werdegang eröffnet die Ausstellung zu Carl Krayl. Immer wieder fĂ€llt der Name Bruno Taut, der Krayl 1921 schlieĂlich an das Hochbauamt der Stadt Magdeburg als Leiter des neugeschaffenen EntwurfsbĂŒros berufen sollte. Auch Walter Gropius, die GebrĂŒder Luckhardt, Hans Scharoun oder Max Taut finden ErwĂ€hnung, mit denen Krayl sich in der von Bruno Taut initiierten KĂŒnstlergruppe âGlĂ€serne Ketteâ organisiert. Zudem taucht der Name des fĂŒr die Entwicklung des Neuen Bauens in Deutschland einflussreichen Architekten und Rotterdamer Stadtbaumeisters J. J. P. Oud auf. An der MailĂ€nder Triennale âEsposizione internazionale delle arti decorative e industriali moderne e dellâarchitettura modernaâ, die eine Ăbersicht ĂŒber die europĂ€ische Architekturmoderne lieferte, nahm Krayl noch im Jahr 1933 teil. Zahlreiche wegweisende GebĂ€ude in Magdeburg aus der Feder von Krayl werden genannt. Es sind Referenzen, die zu verstehen geben, was der in die Ausstellung einfĂŒhrende Text wie folgt formuliert: âSo steht es immer noch aus, Carl Krayl als einen fĂŒr ganz Deutschland bedeutenden Architekten der Zwischenkriegsmoderne wiederzuentdecken und als einen der wichtigsten Akteure der Magdeburger Moderne der 20er Jahre anzuerkennen. Erst dann wird Carl Krayl endgĂŒltig aus dem Schatten von Bruno Taut herausgetreten sein.â Doch wie Krayl zu Lebzeiten erst durch Taut zur eigenen Karriere kam, braucht es diesen zu Beginn der Ausstellung einmal mehr als Referenz, um Krayl zur notwendigen Aufmerksamkeit zu verhelfen â mit dem Ziel ihn schlieĂlich emanzipieren und zu einer eigenstĂ€ndigen Wahrnehmung verhelfen zu können. Nicht weniger als ein Wahrheitsstreben kennzeichnet dieses kuratorische Motiv, aus einem Erkenntnisinteresse heraus ĂŒber die Geschichte wahrhaftig aufzuklĂ€ren. Dieses Streben ist eng verbunden mit einer Moral, die vor den Toten nicht halt macht, sondern auch ihnen Gerechtigkeit wiederfahren lassen möchte. Ăber das Prinzip der Ausstellung klĂ€rt diese indirekt selbst auf. Sie zeigt gegen Ende Aufnahmen des 1936 fertiggestellten Oli-Kinos (âOlvenstedter Lichtspielâ) â das letzte Projekt, das Carl Krayl in Magdeburg zur AusfĂŒhrung bringen konnte. Man erfĂ€hrt, dass das GebĂ€ude ursprĂŒnglich eine sehr viel modernere Fassadensprache aufwies, zudem ein flaches Pultdach erhalten sollte. Doch war Krayl durch die mittlerweile nationalsozialistische Baupolitik zu einer Ăberarbeitung mit vielen Konzessionen gezwungen. Beispielsweise wurde das flachgedeckte Dachgeschoss zu einem Vollgeschoss mit aufgesetztem Walmdach erweitert. Nach der teilweise erfolgten Zerstörung im zweiten Weltkrieg erlebte es zu DDR-Zeiten weitere Modifikationen. 1997 wurde das Kino schlieĂlich geschlossen. Ein Filmenthusiast nahm sich dem GebĂ€ude daraufhin an, lieĂ es sanieren und die Schauseite dabei so umgestalten, wie es Krayls ursprĂŒnglicher Entwurf vorsah. So konnte das Kino im Jahr 2002 erstmals im Antlitz des neuen Bauens wieder in Betrieb gehen. Wie Krayls Kino-Bau wurde auch sein Wirken durch die politischen Systeme korrumpiert und spĂ€ter schlichtweg ĂŒbergangen. Die Ausstellung möchte es gleich jenem Filmenthusiasten in seiner einstmaligen Bedeutung freilegen. Aus dieser Motivlage heraus ist ihre Konzeption verstĂ€ndlich, ja strukturell nahezu notwendig, auf dass Krayl so hoffentlich zu verdienter WĂŒrdigung findet, damit zukĂŒnftig weitere, experimentellere Ausstellung folgen können.
Moderne Typen, Phantasten und Erfinder: Die Melancholie verlorener Wirklichkeiten
Experimentell, ja geradezu subversiv war zweifellos die zentrale Verbundausstellung âModerne Typen, Phantasten und Erfinderâ. Ihr eigentlicher Gegenstand waren dabei weder Protagonisten noch Institutionen der Zwischenkriegsmoderne, sondern letztlich der dieser eignende Geist des Aufbruchs. Ein Geist, der alle Lebensbereiche umfasste und in seiner radikalen âJetzt-Zeitlichkeitâ ZukĂŒnfte entdeckte. Aus Robert Musils Mann ohne Eigenschaften kennen wir die anthropologische Unterscheidung zwischen einem Wirklichkeits- und einem Möglichkeitssinn. WĂ€hrend jener einzig wirkliche Möglichkeiten sieht, eröffnen sich diesem mögliche Wirklichkeiten. VerkĂŒrzt gesagt unterscheidet Musil zwischen einem sogenannten realistischen Denken, das immer ausgeht von dem was ist, und einem utopischen Denken, fĂŒr das die Welt auch anders sein könnte. Zwischen den Weltkriegen ergab sich nun scheinbar eine ganz besondere geistige Konstellation: Beide von Musil diagnostizierten Sinnesweisen fanden in dieser kurzen Phase zusammen, so dass die möglichen Wirklichkeiten selbst zur wirklichen Möglichkeit wurden. Utopische Planungen, Vorstellungen, EntwĂŒrfe und TrĂ€ume ergaben sich im Spannungsfeld zwischen Industrie und Arbeit, zwischen Maschinenzeitalter und junger Demokratie, aus dem heraus sich alles damit in Beziehung stehende entwickelte â Architektur, Design, materielle Strukturen ebenso wie Lebenswandel, AttitĂŒde und Sentiment. Oder anders formuliert: Die technischen Möglichkeiten und Innovationen standen kurzzeitig in keinem Gegensatz zum objektiv VernĂŒnftigen. Dass Janek MĂŒller und Torsten Blume mit ihrer Ausstellung âModerne Typen, Fantasten und Erfinderâ diesen Geist der Moderne begreiflich machen â in einer disparaten Zeit ohne eigene Gegenwart, in der mancher sich hinter die verstuckten Fassaden der GrĂŒnderzeit sehnt, um dort sodann die Tapeten von den WĂ€nden zu reiĂen â ist ihnen nicht hoch genug anzurechnen. Dies gelingt ihnen wie einleitend beschrieben, indem sie gegen den Strich der Geschichte ausstellen. Nach gebauten Bauten, hergestellten Produkten und gewesenen Ereignissen sucht man vergebens. Die Ausstellung verzichtet auf die heutigen DenkmĂ€ler, Designklassiker und Ergebnisbeweise der klassischen Moderne. Stattdessen zeigt sie EntwĂŒrfe, Skizzen, Planungen und trĂ€umerische Vorstellungen, und insinuiert so das âvergangene Neueâ einmal mehr zum Denkraum des ZukĂŒnftigen.
Gleich zu Beginn sind es die allen Exponaten vorgestellten Rohstoffe Braunkohle, Galenit und Kupferschiefer, die als Metaphern des Industriezeitalters zugleich auf ihre Gegenwart verweisen, weil sie als âungeformteâ frei davon sind, historisiert zu werden. Sie sind mögliche Wirklichkeiten â sind hier und jetzt. Auch die auf sie folgenden Exponate werden durchweg dem Schleier der Geschichte entrissen. Grund dafĂŒr sind die sie umgebenden GegenstĂ€nde: orangefarbene AbwasserschĂ€chte, Schraubzwingen, Holzstreben, schwarze Zurrgurte und mitteldichte Faserplatten arrangieren zusammen mit seriell angeordneten prominenten HL 99-Pendelleuchten die vielzĂ€hligen PlĂ€ne, Skizzen, Modelle und EntwĂŒrfe. Diese provisorische Ausstellungskulisse, die uns in ihrer heutigen Ăsthetik erinnert, dass die Anfang des vergangenen Jahrhunderts um sich greifende Produktionsweise fortbesteht, tritt nicht in Differenz zu den Exponaten, sondern provoziert den kaum ertrĂ€glichen Gedanken: sie waren genauso gegenwĂ€rtig wie wir es sind, ja sie entstammen der gleichen bestĂ€ndig fortwĂ€hrenden Gegenwart. Blochs Einsicht, jeder Verwirklichung eines Traums folge eine Melancholie der ErfĂŒllung, wird auf die Gegenwart des Ausstellungsbesuchs selbst ĂŒbertragen. Das gewesene Neue, das in ModernitĂ€t und Ă€sthetischem Neuerungswert das Jetzige weit hinter sich lĂ€sst, weil es auf eine andere, eine neue Wirklichkeit abzielte, fĂŒhrt zu der ernĂŒchternden Erkenntnis, dass etwas verloren ging, weil gegenwĂ€rtig unmöglich ist, was doch möglich wĂ€re.
Melancholie dort, MaterialfĂŒlle hier: Erkenntnisdialoge zwischen den Orten
Bereits durch manche von MĂŒller und Blume ausgestellten Objekte â wie ein rekonstruiertes mechanisches Schaufenster zur Produktplatzierung nach PlĂ€nen von Franz Ehrlich â wird deutlich, dass die Ă€sthetischen Formbildungen der zwanziger Jahre zwar auf ein gesellschaftliches Ganzes zielten und das auf der Höhe ihrer Zeit, ohne dabei aber in eine Frontstellung gegen die entwickelten ProduktivkrĂ€fte zu geraten. In ihrer politischen PluralitĂ€t sind sie keineswegs auf die abstrakte Negation der kapitalistischen Wirklichkeit verpflichtet. Deutlicher noch wird diese Erkenntnis beim Besuch der Ausstellung zu Magdeburg als Reklame- und Ausstellungsstadt der Moderne. Ob Bruno Tauts Aufruf zur farbigen Stadt oder die Reproduktion seines Kiosk-HĂ€uschens, Fotos der weltweit beachteten Deutschen Theater-Ausstellung im Jahr 1927, Firmenzeichen Wilhelm Deffkes oder die ReklamesĂ€ulen und Plakate Walter Dexels â in ĂŒberbordender FĂŒlle wird die Verflechtung zwischen entstandener Konsumkultur und kĂŒnstlerischer Avantgarde dokumentiert. Werbung war ĂŒber den Kaufanreiz hinaus auch immer ein mögliches Erziehungsmittel in der Kommunikation mit dem modernen Menschen.
Zur vorgenannten Einsicht in die ideologisch nicht zu vereinnahmende Utopie jener Zeit verhilft die zentrale Verbundausstellung aus Dessau im Hintersinn. Dies ist nur ein Beispiel fĂŒr die möglichen Erkenntnisdialoge zwischen den einzelnen Verbundausstellungen, die in ihrer örtlichen Versprengtheit nicht nur die geographische Ausdehnung der Moderne im heutigen Sachsen-Anhalt nachvollziehbar werden lassen, sondern auch genĂŒgend Zeit zur Besinnung geben. AbschlieĂend bleibt aber festzuhalten, dass einzig die zentrale Verbundausstellung âModerne Typen, Fantasten und Erfinderâ das VerstĂ€ndnis jener vergangenen möglichen Wirklichkeiten ermöglicht â auch im Dissens zu allen anderen Verbundausstellungen. Weil sie die Zeugnisse der klassischen Moderne nicht als historische Zeugnisse ausstellt. In ihrer Bedeutung sind sie bloĂ zu verstehen, wenn man die Menschen mit der kaum zu begreifenden Wahrheit konfrontiert: sie sind jetzt!
Auftragsarbeit fĂŒr die Stiftung Bauhaus Dessau
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Unterirdische Unendlichkeiten:

Der Frankfurter U-Bahnhof Bockenheimer Warte
Denkt man an Frankfurt, kommen einem gemeinhin die Wolkenkratzer der Mainmetropole in den Sinn. So sind die zusammenhĂ€ngenden Hochhauspulks der amerikanischsten aller deutschen StĂ€dte etwas Besonderes â fĂŒr die Bundesrepublik, aber auch fĂŒr den gesamten europĂ€ischen Kontinent. Wenngleich nicht weithin sichtbar und ohne Breitenwirkung ist aber auch die unterirdische Stadtarchitektur Frankfurts vielerorts bemerkenswert. Gerade weil U-Bahn-Stationen ein StĂ€dtebild sehr viel weniger prĂ€gen und zumeist nur hastig durchschritten werden, ist es umso beachtlicher und damit ebenfalls eine Frankfurter Besonderheit, dass viele ihrer Stationen von hohem architektonischen Wert sind. Vor allem die Haltestellen der Linien U4 und U6 beziehungsweise U7 sind hierbei zu erwĂ€hnen. Ob Messe, Willy-Brandt-Platz, Dom/Römer oder Ostbahnhof, Zoo, Alte Oper und Westend: alle Stationen bezeugen architektonische Raffinesse und setzen die oberirdischen Lebenswelten der Stadt vielgestaltig fort. Ihre Gestaltung ist dabei weder so prunkvoll wie die altehrwĂŒrdigen Hallen der Moskauer U-Bahn, noch so effekthascherisch wie die als âKunstâ sich geradezu aufdrĂ€ngenden Metrostationen Neapels. Aber allein, dass sie in hoher Dichte einen sensiblen Gestaltungswillen aufweisen, unterscheidet sie von den meisten U-Bahnhöfen anderer deutscher GroĂstĂ€dte.

Die wohl herausragendste aller Frankfurter Stationen, die als Umsteigestation vorgenannte Linien zusammenfĂŒhrt, ist der U-Bahnhof Bockenheimer Warte unweit des alten Campusâ der Goethe UniversitĂ€t. Bereits einer ihrer EingĂ€nge weiĂ zu beeindrucken. Ăhnlich den surrealistischen Bildern RenĂ© Magrittes steht man bei diesem vor einer bildgewordenen ErzĂ€hlung, deren Interpretationen allesamt ins Leere laufen. Ein StraĂenbahnwagon des spĂ€ten 19. Jahrhunderts hat aus dem Untergrund kommend den Gehweg schrĂ€g nach oben hin aufgebrochen und scheint nur so allererst zum Stillstand gekommen. Etwa die HĂ€lfte des Wagons liegt frei und geleitet in die Tiefen der Station, drumherum Geröll und durchbrochenes StraĂenpflaster. Doch was hatte eine StraĂenbahn um Himmelswillen untertags verloren, fragt sich der Deutende. Und warum sehen wir einen Wagon und nicht den immer vorneweg fahrenden Triebwagen? So wirklich zusammen passt das nicht. Marx notierte einmal, Revolutionen seien die Lokomotiven der Geschichte. Vielleicht sieht so ja das Ergebnis der gescheiterten 68er-Revolte aus, die neben Westberlin bekanntlich in Frankfurt ihr Zentrum hatte. Mancher könnte sich in seinem Vorwurf bestĂ€tigt sehen, dass man versuchte, der Gegenwart mit veralteten Begriffen von Imperialismus und Klassenkampf Herr zu werden â so unpassend wie ein alter StraĂenbahnwagon auf U-Bahngleisen â andere erkennen in der fehlenden Lok vielleicht die den Studierenden damals fehlende Massenbasis.

Dass etwas zum Stillstand gekommen ist, vergangene Impulse verloren gegangen sind, macht einem das Innere der Umsteigestation verstĂ€ndlich. Die Bahnsteige der hier auf gleichen Gleisen verkehrenden Linien U6 und U7 sind mit zahlreichen Schwarz-WeiĂ-Aufnahmen der Fotografin Barbara Klemm gesĂ€umt, die den universitĂ€ren Alltag der Goethe-UniversitĂ€t Mitte der 80er Jahre zeigen â zu einer Zeit als noch keiner wissen konnte, dass dreiĂig Jahre spĂ€ter die meisten Institute den an die Station angrenzenden Campus lĂ€ngst gerĂ€umt haben werden, um fortan auf dem IG-Farben-GelĂ€nde im Westend zu residieren. Ein gut besuchter Lesesaal ist zu sehen oder ein kniender Student vor einem vollgehĂ€ngten Anzeigenbrett. Eine andere Aufnahme zeigt den mittlerweile verstorbenen Adorno-SchĂŒler Alfred Schmidt bei einem seiner Seminare â mit Aktenkoffer und verbissenem Blick. Weitere Motive sind ein ĂŒberfĂŒllter Hörsaal wĂ€hrend einer studentischen Vollversammlung, die sich bloĂ modisch von denen der spĂ€ten 60er unterscheidet, eine vor ihren Staffeleien sich selbst ĂŒberlassene Malklasse im Fachbereich Kunsterziehung, die DDR-Schriftstellerin Christa Wolf bei ihrer Poetik-Gastvorlesung, oder aber ein neugeborenes Kind im Kreis forschungswĂŒtiger Akademiker.
Ihnen allen gemeinsam ist ihre uns heute merkwĂŒrdig erwachsen erscheinende Physiognomie. Es fĂ€llt auf, dass keiner hinter die Architektur des Raums zurĂŒcktritt, dass keines ihrer LĂ€cheln fĂŒr die Institution wirbt, die sie beherbergt, und damit instrumentell entmĂŒndigt wĂ€re. Ja, sie alle stehen bemerkenswert souverĂ€n im eigenen Leben. Der Kniff der Station ist, dass sie uns mit dieser Wahrnehmung nicht unbedarft in den gleich einfahrenden Zug steigen lĂ€sst â denn plötzlich erblicken wir uns selbst. Links und rechts jeder Aufnahme sind Spiegelstreifen angebracht, in denen wir uns beim Betrachten der Fotografien mit einem Mal selbst zu Gesicht bekommen. Gleichsam werden auch wir im Spiegel zur Momentaufnahme und damit wird nicht weniger als die gĂ€ngige Illusion zerstört, Aufnahmen einer anderen Zeit seien gewissermaĂen auch Aufnahmen aus einer anderen Welt und damit weit weg von uns. Augenblicklich gehen uns die fotografierten Menschen ganz unmittelbar etwas an, weil wir uns vor uns selbst abgebildet sehen und damit zu begreifen gezwungen sind: Diese Situationen waren genauso gegenwĂ€rtig wie wir jetzt es sind. So verstörend der Gedanke ist: es gibt nur diese eine bestĂ€ndig fortwĂ€hrende Gegenwart. Die Menschen, die da waren und so nicht mehr sind, fehlen, weil sie hier und jetzt waren.

Die Einsicht, dass jeder gegenwĂ€rtige Moment unwiederholbar vergeht, obzwar das Leben in seiner physischen und damit fotografierbaren RealitĂ€t einzig aus diesem besteht, lĂ€sst das Denken kurzerhand ins Leere laufen, in die leere Unendlichkeit. Bereits in der Verteilerhalle konfrontiert Architekt Udo Nieper die Passanten seiner Station mit der rĂ€umlichen Unendlichkeit, indem er sie durch einen scheinbar nicht enden wollenden SĂ€ulenwald laufen lĂ€sst. Rund 65 SĂ€ulen und HalbsĂ€ulen sind zu zĂ€hlen, die keinerlei tragende Funktion haben. Als raumbildende Elemente aber schaffen sie die Illusion des nicht enden wollenden Raums, die zusĂ€tzlich noch von den groĂen SpiegelflĂ€chen an den WĂ€nden der weitlĂ€ufigen Verteilerhalle gestĂŒtzt wird. Wie jeder Sinn aus der ins Unendliche aufgesprengten Zeit zerrinnt, so geht auch jede rĂ€umliche Ordnung ohne Begrenzung verloren. Um diesen Gefahren von Raum und Zeit zu entkommen, erfand der Mensch laut Nietzsche einst die Schrift. Das ureigenste Medium von Religion und Wissenschaft, die beiderseits einen jenseitigen Halt versprechen.

Ob Zufall oder nicht: Ein integraler Bestandteil der Station ist die angrenzende UniversitĂ€tsbibliothek. So gab es lange Zeit einen direkten, unterirdischen Zugang zu dieser, gar eine BĂŒcherausleihe auf der Verteilerebene. Die mittlerweile leeren Glasvitrinen dienten zur PrĂ€sentation neuer Publikationen. Architektonisch bestimmender noch war die Einbeziehung der Bibliothek bei der Gestaltung der Bahnsteighalle der U4, deren Bau im Jahr 2001 abgeschlossen wurde. UrsprĂŒnglich zum Ausbau fĂŒr ein spĂ€teres Buchlager gedacht, zog man eine fĂŒr U-Bahn-Stationen ungewöhnlich hohe Decke ein. Doch weil auch die UniversitĂ€tsbibliothek eines Tages auf dem neuen Westend-Campus unterkommen wird, verzichtete man schlieĂlich auf die noch fehlende Zwischendecke. Und so ist zumindest an dieser Stelle das Verschwinden der Bibliothek aus dem Stationsleben zu begrĂŒĂen. Wenngleich nicht intendiert, ist die weitlĂ€ufige Bahnhalle der U4 zu einem weiteren, imposanten Gestaltungselement geworden. Vor allem bei der Fahrt hinunter mit dem glĂ€sernen Lift, entfaltet die neuere der beiden Hallen eine fast sakrale Wirkung. Direkt an den Bahnsteigen sind zudem weitere, jĂŒngere Schwarz-WeiĂ-Aufnahmen des Fotojournalisten Mirko Krizanovic angebracht. Abgebildet ist erneut das studentische Leben der Goethe-UniversitĂ€t, beispielsweise die Umrisse einer Frau, die abseits allen Trubels aus einem der obersten Stockwerke des mittlerweile gesprengten AfE-Turms schaut â entrĂŒckt und doch mittendrin im Himmelreich der BankentĂŒrme. Der GroĂteil der Fotografien beider Bahnsteige jedoch ist farbig und zeigt Motive aus der Tier- und Pflanzenwelt. Hintergrund sind das sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindende Naturkundemuseum Senckenberg und der nahegelegene Palmengarten.

Zu klĂ€ren bleibt, wie der Unendlichkeit zu entkommen ist, wenn die unterirdische Pforte zur Bibliothek fortan geschlossen bleibt. Die mögliche Antwort liefert eine wuchtige SĂ€ule mit einem zweieinhalb mal zweieinhalb Meter groĂen und 550 Kilo schweren, aus Bronze gegossenen Kissen. Sie ist der optische Mittelpunkt der Verteilerebene, den wir bisher verschwiegen haben. Die von dem Bildhauer Richard HeĂ geschaffene SĂ€ule steht auf der Lichtung in dem von Nieper geschaffenen SĂ€ulenwald. Auf sie geht die Beleuchtung zu. Radial angeordnete FĂŒhrungsgitter betonen in strenger Geometrie ihren zentralen Charakter. Ein architektonischer Witz: Anstelle eines Kapitells mit seinen Voluten und floraler Ornamentik, erscheint die Nachbildung eines Sofakissens, das an seinen Seiten groĂe AuĂenwulste aufweist, so als quetsche die Last der Decke die Polsterung zu Seite. Damit wird nicht weniger als der Glaube vorgefĂŒhrt, es gĂ€be eine natĂŒrliche, ja ursprĂŒngliche Architektursprache, aus der man sich auf alle Zeit zu bedienen habe. FĂŒr diese steht das Kapitell prototypisch. Einst als formale Lösung zur Ăberleitung vom Rund der SĂ€ule zur quadratischen Deckplatte gestaltet, geriet es in seinen klassischen Ausformungen schlieĂlich zur zweiten Natur. Kein Wunder, dass die âgroĂen ErzĂ€hlungenâ vergangener Jahrhunderte sich baulich derart schmĂŒckten, meinten sie doch auf ewig zu bestehen. Aus vermeintlicher Geschichtlichkeit wurde so leere Unendlichkeit. Das gequetschte Kissen aus Bronze anstelle des Kapitells entlarvt die groĂen ErzĂ€hlungen ohne selbst eine zu sein. Als Witz begnĂŒgt es sich mit der Gegenwart. Die SĂ€ule ist gleichwohl dekonstruktiv wie aufklĂ€rerisch. Sie gibt Auskunft ĂŒber ihre tragende Funktion und weil sie spezifisch gestaltet ist, uns zu verstehen: Alles ist profan, weil von Menschen gemacht und nicht natĂŒrlich gewachsen. Das Leben ist verĂ€nderlich, die Gegenwart qualitativ verschieden; nicht zuletzt weil der Witz in seiner Wiederholung schal wird.
Doch bleibt Niepers Station keineswegs bei der bloĂen Ironisierung stehen. Der Einsicht in die Konstruiertheit jeder ErzĂ€hlung stellt er ein Korrektiv zur Seite. An mehreren Ein- beziehungsweise AusgĂ€ngen der Station hĂ€ngen historische Stadtaufnahmen. Sie zeigen die Architektur des Vor- und Nachkriegs-Frankfurt. Die drastischen VerĂ€nderungen sind als Wunden, aber auch als Lehren der Zeit zu lesen. Sie dokumentieren, dass die Geschichte eine Ethik verlangt, die nicht schreiben kann, wer sich auf Dauer mit dem Witz begnĂŒgt. Der Architekt Ferdinand Kramer, der vor den Nazis geflohen war und auf Betreiben des zuvor ebenfalls emigrierten und 1951 zum Hochschulrektor gewĂ€hlten Max Horkheimer zurĂŒck nach Frankfurt kam, um schlieĂlich 23 UniversitĂ€tsbauten zu entwerfen, schrieb an dieser Ethik auf seine Weise mit. Das neobarocke Portal des vom Krieg weitestgehend unversehrten HauptgebĂ€udes der Goethe-UniversitĂ€t mit seinen SĂ€ulen und allegorischen Figuren lieĂ Kramer abschlagen und durch einen groĂen, glĂ€sernen Eingangsbereich ersetzen, der im Inneren auf das ins Erdgeschoss verlegte Rektorat ausgerichtet war. So machte er baulich bereits Ernst mit dem, was von Hamburger Studierenden spĂ€ter mit dem berĂŒhmt gewordenen Transparent âUnter den Talaren â der Muff von 1000 Jahrenâ angeprangert werden sollte. Seine GebĂ€ude und Möbel sind von der Absicht durchdrungen, keine ArbeitsatmosphĂ€re schaffen zu wollen, sondern eine AtmosphĂ€re, um zu arbeiten, in der der Einzelne sich nicht im Angesicht mĂ€chtiger Geschichte klein zu fĂŒhlen hat, sondern demokratisch an Geschichte mitwirken kann. Vielleicht erklĂ€rt diese Haltung auch das Zustandekommen der weiter oben im Text beschriebenen SouverĂ€nitĂ€t, die Barbara Klemm mit ihren Fotografien vor und in Kramers Bauten vielfach eingefangen hat â eine SouverĂ€nitĂ€t, die die Station Bockenheimer Warte ĂŒber Umwege auch von ihren Besuchern einfordert, schon allein um die nĂ€chste U-Bahn nicht zu verpassen.
Erschienen in âNARANGO. Jahrbuch fĂŒr die urbane Debatteâ
â Das verwendete Bildmaterial sind Videostills aus der Kurzfilm-Dokumentation âUnterirdische Unendlichkeitenâ von Nea Gumprecht
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âMain ins Dunkle bringenâ

Oder: Mehr Licht fĂŒr Frankfurts Untergrund
Wer in Frankfurt kennt ihn nicht, den Eingang der U-Bahn-Station âBockenheimer Warteâ? Ein StraĂenbahnwagon des spĂ€ten neunzehnten Jahrhunderts ist schrĂ€g in den Erdboden eingelassen und ebnet den Weg in die Tiefen des Untergrunds. Abseits aller weitlĂ€ufigen Deutungen ist er auch ein Sinnbild fĂŒr das teilweise Verschwinden des öffentlichen Nahverkehrs aus dem oberirdischen GroĂstadtbild, seitdem man mit dem aufwendigen Bau von U-Bahn-Tunneln begann. Die verkehrspolitischen Vorteile dieser Entwicklung liegen auf der Hand. Doch brachte sie fĂŒr die Passagiere einen entscheidenden Nachteil mit sich: Den Verlust aller SinneseindrĂŒcke, die man wĂ€hrend einer Fahrt mit der StraĂenbahn oder dem Bus vom StĂ€dteleben gewinnen kann. In Frankfurt hat man frĂŒh versucht, durch eine abwechslungsreiche Architektur der U-Bahnhöfe, diesem Verlust entgegenzuwirken. Zumeist orientiert sich die Gestaltung hierbei an den oberirdisch liegenden Quartieren oder Institutionen und ermöglicht so zugleich eine Orientierung im Stadtraum. Weil U-Bahn-Fahrten aber vornehmlich aus der Durchfahrt dunkler Tunnel bestehen, bleiben ihre FahrgĂ€ste weiterhin arm an SinneseindrĂŒcken und von der oberirdischen Stadt gröĂtenteils abgetrennt.
Das Projekt âMain ins Dunkle bringenâ setzt genau an dieser Stelle an. Es will den Frankfurter Weg einer vielgestaltigen U-Bahnhofs-Architektur an einer fĂŒr die Stadt ganz entscheidenden Stelle auch auf das Tunnelgewölbe ĂŒbertragen. Zwischen den Stationen Willy-Brandt-Platz und Schweizer Platz, dort wo die ZĂŒge der Linien U1, U2, U3 und U8 den Main unterqueren, sieht es eine Lichtinstallation vor. Entlang der 154 Meter, die direkt unter dem Flussbett des Mains liegen, sollen an den WĂ€nden des Doppeltunnels LED-Module angebracht werden, die mithilfe einer Lichtschranke durch die passierenden ZĂŒge angeschaltet werden. In einem gewissen Abstand zueinander gehĂ€ngt und mit weitstrahlenden Blautönen ausgestattet, ergeben sie ein zusammenhĂ€ngendes Lichterspiel, das die Monotonie der Tunnelfahrt unterbricht. Ăhnlich der U-Bahnstation des Essener Hauptbahnhofs wird der Tunnelabschnitt mit einem Mal zu einer Art Unterwasserwelt. Nach erstmaligem RĂ€tselraten um deren Sinn, das möglicherweise auch zum Austausch zwischen den FahrgĂ€sten einlĂ€dt, schafft die Lichtinstallation in gleich zweifacher Hinsicht Bewusstsein. Sie ermöglicht, sich stets aufs Neue in der oberirdischen Stadt zu verorten, und verdeutlicht eindrĂŒcklich, was es eigentlich heiĂt, U-Bahn zu fahren. Ganz einfach, weil das plötzliche Wissen, sich gerade unter einem Fluss zu befinden, verlangt, das âUâ von U-Bahn in seiner ganzen Dimension auszubuchstabieren.
Was einst prominent mit dem Begriff der Entfremdung fĂŒr die immer komplexer werdenden ProduktionsablĂ€ufe der industrialisierten Welt beschrieben wurde, nĂ€mlich das Auseinanderfallen der Arbeit in eng begrenzte TĂ€tigkeitsfelder, die blind fĂŒreinander sind, keinen Blick mehr fĂŒr ihren gesellschaftlichen Zusammenhang zulassen, ist auch auf die Stadt der Moderne ĂŒbertragbar. Um ihre auswuchernden FlĂ€chen in einer ĂŒberschaubaren Fahrzeit weiterhin zusammenzuhalten, forcierten die schnellwachsenden StĂ€dte den unterirdischen Transit. Gleichzeitig fielen die Stadtteile in unzusammenhĂ€ngende Bereiche auseinander, auch weil sie durch die unterirdischen Wegeverbindungen fortan punktuell beschritten werden konnten. Die moderne Stadt geriet zum fragmentierten Gebilde und die Stadt als Ganze fĂŒr ihre Bewohner zum leeren Begriff, ja zur privilegierten Disziplin weniger BildungsbĂŒrger. Selbstredend ist der U-Bahn-Bau mehr Metapher als alleiniger Grund dieser Entwicklung. Anstatt die Erfindung der U-Bahn anzufeinden, gĂ€lte es, sie als Chance zu begreifen. Durch eine vielseitige Gestaltung ihrer Bahnhöfe kann sie neue, alogische VerknĂŒpfungen schaffen, lebensweltliche Eigenarten der Oberwelt verdichten und ĂŒber die Stadttopographie aufklĂ€ren. Nicht ohne Grund spricht man beim Streckennetz der U-Bahn auch vom Unbewussten einer Stadt, das zu erhellen, einen differenzierten Blick auf das Wesen der oberirdischen Stadt allererst freilegt.
Die Lichtinstallation im Maintunnel geht sogar noch einen Schritt weiter. Sie klĂ€rt ĂŒber das U-Bahn-Fahren selbst auf. Nicht nur ermöglicht es ihr Verweis auf den oberirdischen Fluss, sich einen Begriff von der Tiefe der Fahrt zu verschaffen, ihre Beleuchtung setzt auch die fĂŒr die U-Bahn entscheidende Architektur in Szene: den Tunnelbau. FĂŒr gewöhnlich ist dieser gar nicht wahrnehmbar und damit ebenso wenig die eigene Fortbewegung. Ohne als sich verĂ€ndernder Raum wahrgenommen zu sein, spuckt der Tunnel den Fahrgast in aller Unvermitteltheit an einem anderen Ort aus. Durch den Lichteinfall der Installation wird mit dieser gĂ€ngigen Raumwahrnehmung der U-Bahn-Fahrt gebrochen. Plötzlich wird der Innenraum der Wagons durchlĂ€ssig und damit der Blick nach auĂen möglich - und mit ihm Erfahrungen von Raum und Geschwindigkeit.
Mit der Vorbereitung und Realisierung des Projekts âMain ins Dunkle bringenâ bietet sich zudem die Möglichkeit, das kollektive GedĂ€chtnis an den Bau des 26 Meter unter der Erde liegenden Tunnels und seine Fertigstellung vor gut 30 Jahren zu erinnern. Damals kamen zur Eröffnung des 327 Millionen teuren Neubaus sage und schreibe eine Viertelmillion Menschen zusammen, um den mittlerweile selbstverstĂ€ndlich gewordenen Streckenabschnitt zu feiern, der baulich durchaus ein Wagnis war. Der Fluss selbst hingegen war fĂŒr das Leben der Stadt zu jener Zeit nur eine Randnotiz. Man hĂ€tte ihn am liebsten zubetoniert, wĂ€re da nicht der Schiffsverkehr gewesen, so der Autor und Theatermacher Michael Herl. Anders als damals, ist der Main dank Uferpromenade und Museumsufer mittlerweile zur zentralen Lebensader Frankfurts und damit zu einer Institution geworden. Es ist also an der Zeit, dem Main neben der Alten Oper oder dem Schauspielhaus, dem Zoo oder dem Palmengarten unterirdisch ebenfalls zu einer ReprĂ€sentation zu verhelfen!
Erschienen in âNARANGO. Jahrbuch fĂŒr die urbane Debatteâ
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Drei Versuche zur IdentitÀt
Aufatmen. Erster Versuch
Im plötzlichen Bewusstsein der eigenen Biographie kann es nicht darum gehen, sich gĂ€nzlich mit ihrem Hergang zu identifizieren. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, die Gegenwart als deren Resultat ernst zu nehmen, indem man sich in ihr organisiert. Dazu gehört auch das erleichterte Aufatmen darĂŒber, dass manches nicht mehr so ist, wie es einmal war.
Kindheit und IdentitÀt. Zweiter Versuch
Wenn die Kindheit als «Kindheit» auffĂ€llt und damit entrĂŒckt, schlieĂt sich ein Kreis und mit ihm die Möglichkeit, anzugeben, welcher Zeitpunkt ihr Ende markiert. Eben weil ein Kreis keinen Anfang und kein Ende hat, sprechen wir ĂŒberhaupt von Kindheit. Wir meinen damit etwas Fernes, etwas, das eigenartig fĂŒr sich steht, anderen Logiken und GesetzmĂ€Ăigkeiten folgt. Unvorstellbar, dass binnen eines Jahres Schuhe nicht mehr passten, man als SchĂŒler, noch halb Analphabet, plötzlich um seine Fehler zu fĂŒrchten lernte. Trotz radikaler Zeitlichkeit aber verzichtet die kindliche Logik auf KausalitĂ€t und Zeit. Kein «in einem Jahr werde ich», kein «und deshalb entschied ich mich damals fĂŒrâŠÂ», kein Sich-aus-den-Augen-Verlieren. Werden wir erwachsen, entwachsen wir notwendigerweise unserer Kindheit. Sie scheint in unseren Erinnerungen nicht von dieser Welt. Dass wir sie hinter uns lassen, trotzdem wir zeitlebens in ihrem Schatten stehen, eröffnet das Spannungsfeld unserer melancholischen IdentitĂ€t.
Es gibt einen Aphorismus von Nietzsche, in dem er ĂŒber die Erfahrung des Erwachsenen schreibt, der in das Dorf seiner Kindheit zurĂŒckkehrt. Das Gartenhaus, die Kirche mit den GrĂ€bern, der Teich und der Wald â das alles sehen wir immer als Leidende wieder, schreibt er. Denn wĂ€hrend die Umgebung unserer Kindheit nahezu unverĂ€ndert ist, selbst das Verhalten der Menschen, ja diese selbst es sind, wissen wir um unsere VerĂ€nderungen. Es erschĂŒttert uns, eine scheinbar ewig fortbestehende Welt zu sehen, die verschweigt, was wir zigmal erfahren haben: Das Leben ist ein Taubenschlag. Soll heiĂen: Die Musiken und Menschen, die wir mochten, die Wohnungen, in denen wir lebten, die Freundschaften, die wir einmal schlossen und die sich spĂ€ter teils verliefen oder aus Zwist auseinandergingen, die Zeiten, in denen wir litten oder das Verliebtsein, das mehr als einmal war und dann plötzlich nicht mehr ist â all das gibt uns zu verstehen, dass wir mit jedem Augenblick ein klein wenig sterben, zumindest der, der wir waren. So sind Kindheit und Erwachsensein nicht nur zwei Welten, sondern zwischen dem, der wir waren, der wir sind und dem, der wir werden liegen gleichsam tausend Welten. Jenes Spannungsfeld besteht also auch in unserer Gegenwart selbst: Wir Ă€ndern uns stetig und bleiben doch der stets Gleiche, weil wir fortwĂ€hrend das Kind waren, das so hieĂ, wie wir heiĂen.
Bei Nietzsche ist die ErschĂŒtterung des Ins-verlassene-Dorf-ZurĂŒckkehrenden â er beschreibt sie auch als Selbstmitleid â unweigerlich bloĂ demjenigen vorbehalten, der einst in die Welt aufbrach. Denn wĂ€re er geblieben, wĂ€re eine ErschĂŒtterung ob der scheinbaren BestĂ€ndigkeit in Allem nur schwerlich vorstellbar. Denn im Dorf zu bleiben hieĂe, tagtĂ€glich mit dem identifiziert zu werden, der man vortags war, so dass in der fortwĂ€hrenden Abgleichung aller durch alle etwaige BrĂŒche nahezu ausgeschlossen sind. Was fĂŒr Nietzsche einzig UnglĂŒck bedeutet, wenngleich er es als Teil der «höheren Cultur» versteht, nĂ€mlich die Trauer um die VergĂ€nglichkeit in Allem und die erfahrene RelativitĂ€t der jeweiligen Gegenwart, scheint mir die Möglichkeit einer gelingenden IdentitĂ€t zu bergen. Das anfĂ€nglich beschriebene Spannungsfeld zwischen Kindheit und Erwachsensein, dem wiederum ein weiteres zwischen den verschiedenen Zeiten des Erwachsenseins selbst folgt, provoziert die Einsicht in besagte RelativitĂ€t aller Gegenwart und damit verbunden in die RelativitĂ€t der eigenen IdentitĂ€t. Das muss aber keineswegs den poststrukturalistischen Abgesang auf die IdentitĂ€t als solche zur Folge haben. Vielmehr birgt es das Konzept einer offenen IdentitĂ€t, bei der die ĂuĂerung «Ich bin Friedrich Nietzsche» mit einer bestĂ€ndig zu aktualisierenden Hypothese verbunden ist, wer ich denn nun bin. So sind WidersprĂŒche gewĂ€hrleistet, ohne dass man das Kind verschweigt, das man einmal war, und das bei allem Wandel auf ewig das gleiche bleibt, weil es ohne Anfang und Ende einer Welt entstammt, in der man die Zeit noch nicht kannte.
Es gibt keine richtige IdentitÀt im Falschen. Dritter Versuch
Selten erinnere ich Stunden nach dem Erwachen eine Traumsequenz so prĂ€zise und eindeutig in ihrem Hergang, wie die aus vergangener Nacht. Ăberhaupt bleiben mir nur wenige Erinnerungen an meine TrĂ€ume, seitdem ich wieder angefangen habe, zum Schlafengehen den Wecker zu stellen, der alles kaputt macht, weil er, statt der VerschrĂ€nkung von Erwachen und Dösen, die strikte DualitĂ€t von Schlaf und Wach erwirkt. Erst auf dem Weg zur UniversitĂ€t, die ich in den letzten Wochen mied wie der Teufel das Weihwasser, sprang es mir in den Sinn: Unterwegs in einem Autobus bangte ich um meine knallrote Kreditkarte, die auffallend aus meiner Jackentasche strahlte. Sie zu verdecken, hatte ich nur mĂ€Ăig Kraft. Nach einer ruckartigen Bewegung des neben mir stehenden Jungen war sie plötzlich verschwunden. Blitzschnell griff ich nach seinem Arm und entriss ihm daraufhin aus seiner Hand, was eben noch Objekt meiner Besorgnis war. Der halb verschĂŒchterte, halb entrĂŒstete Junge und ich waren kaum zur Besinnung gekommen, da schaltete sich eine Ă€ltere Frau ein. Sie verdrĂ€ngte zuerst den Jungen, um daraufhin mit aller Kraft meinen rechten Arm zu ergreifen, in dessen Hand ich meine zurĂŒckeroberte Kreditkarte hielt. «Ihren Ausweis, los, weisen Sie sich aus, sofort!», schrie sie und hatte mit ihrer Forderung, so schien es, sogleich auch alle anderen FahrgĂ€ste hinter sich. Ich kam nicht umhin, nach meinem Pass zu suchen, um der aufgebrachten Horde zu beweisen, dass ich ich bin und mir damit meine Karte gehört. Nachdem der Name auf meinem Ausweis dem der Kreditkarte entsprach, lieĂ die Frau von mir ab, verlor sich auch die Aufmerksamkeit der Anderen wieder, war der Junge verschwunden. Mir ging es schlieĂlich noch mĂ€Ăiger als zuvor. Trotz oder gerade wegen des verteidigten Zugriffsrechts auf meine kontingenten Euro.
Jene Traumbegebenheit vollzieht sehr plastisch, was mir seit Jahren ein Problem und dieser Tage ein Verderben ist.
Vorgestern besuchte ich eine Ausstellung zu Aleksandr MichajloviÄ RodÄenko, der eine Ausstellung zu sozialistischen Realismen unter dem Titel Grande pittura sovietica 1920â1970 beigestellt war. Prompt stand ich vor Isaak Brodskis GemĂ€lde zur Eröffnung der Dritten Internationale. Wenngleich Brodskij manches ideologisch verzerrt haben mag und zudem Lenin, nicht Trotzki spricht, wird etwas in Erinnerung gerufen, das mir unbegreiflich weit entfernt scheint. Fast unvorstellbar ist uns ein Gedanke, der vor ĂŒber hundert Jahren mit der ersten Internationale und eigentlich bereits mit dem Bund der Kommunisten ab 1847 RealitĂ€t besaĂ: Der Gedanke des Internationalismus, der ohne Internet und Telefon weite Teile der revolutionĂ€ren Massen verzahnte und der faschistischen Hatz des verdinglichten Menschenverstands opponierte. In der Einsicht, das Gewaltmonopol des Staates gehöre zerschlagen, weil dieser bloĂ Instrument kriegstreibender IrrationalitĂ€t sei, in seiner formierten Legitimationsgrundlage nationaler SubjektivitĂ€t nur im Krieg seinen Frieden kriege, erschien jenseits des republikanischen Topos bloĂer ReprĂ€sentation die Möglichkeit einer Assoziation freier Individuen in Europa und der Welt.
GegenwĂ€rtig ist Europa bei dem angekommen, was einmal die Metapher vom Platz an der Sonne verlangte: Der deutsche Staat hat endgĂŒltig die europĂ€ische Vormachtstellung eingenommen und ist in der Welt mĂ€chtiger als wohl je zuvor. Und wĂ€hrend Europa einzig das institutionalisierte GeplĂ€nkel unzĂ€hliger Staaten ist, die von Eurobonds reden und möglicher Fiskalunion, und keine Assoziation, titelt BILD: «Alle wollen an unser Geld». Derweil hetzt der deutsche Mob gegen «faule Griechen» und bald wohl auch gegen andere «Parasiten» und sieht sich zudem bedroht von Kopftuch und Islamismus, den er ohne laizistisches Bewusstsein mit dunklerer Haut identifiziert.
Letzte Woche, zu Besuch bei einem Freund in Mailand, wurde ich Zeuge von dem, was hier in Rom wohl noch verdeckt ist, weil wir schon halb nicht mehr zu Europa gehören. In den Köpfen geistert der unsĂ€gliche Satz «Das Boot ist voll», den betonend die deutsche Mehrheitsgesellschaft im Rekurs auf den sog. demographischen Wandel gar schamlos ergĂ€nzt mit der Forderung nach familienfreundlicherer Politik zur Erhöhung der Geburtenrate. Mailand, das offenkundig sehr viele migrantische Einwohner zĂ€hlt, ist voll von Konflikt und Hass, die zum ersten Mal, so der italienischer Freund, Italien vereinen â eben durch den gemeinsamen Hass auf Migranten, derentwegen man sich nachts nicht mehr auf die StraĂe traue, ganze Metro-Linien meide und sich nicht mehr zuhause fĂŒhle. In Rom wiederum ist es «La Merkel», die das Bild des hĂ€sslichen Deutschen derart anempfiehlt, das auch ich mich auf Anfragen in Bars nicht zu sagen getraue: Vengo dalla Germania. Weil ich als imperialer Staat gedacht werde, wie die Migranten als Ratten.
Und weil alle aufgehetzt sind und die Internationale lĂ€ngst begraben, ist mir zwischen Rassismus und nationalen IdentitĂ€ten ein Gedanke gekommen, den ich im Widerspruch zum Vorgenannten zu schreiben habe: Gut, dass es das staatliche Gewaltmonopol gibt! Wenn das nicht so wĂ€re, wĂŒrden alle ĂŒber alle herfallen. Wie der Staat zwar erst die Spielregeln garantiert, die in der psychischen Verarbeitung zu dem fĂŒhren, was er wiederum â zumindest offen â verhindert, so produziert er den Mangel und verteilt die GĂŒter, derentwegen kriminell ist, wer sich aneignet, was ihm nicht gehört. Doch bewahrt er davor, dass alle nichts haben, weil Mord und Totschlag droht, weil mit «falschem Bewusstsein» ihn abzuschaffen, alles noch schlimmer wĂŒrde. Damit bin ich exakt in der Rolle desjenigen, der seine Kreditkarte zu verteidigen hat, und sich mit seinem Pass ausweist. Weder habe ich mir meinen Namen selbst gegeben, noch das verdient, was mir der Bundesadler beschwört. Und auch wenn der Pass Staatseigentum ist, mache ich ihn mir zu Nutzen, berufe ich mich auf ihn, um Ich zu sein und zufĂ€lligen Besitz und IdentitĂ€t zu verteidigen. Kein Polizist ist dabei anwesend, aber der Staat in allen Köpfen.
Wir werden zusammengehalten und sogleich unterschieden, von etwas, das uns weder zusammenbringt, noch besonders macht, ja im emphatischen Sinn eigen, und das doch die Ahnung schĂŒtzt, dass Max Mustermann ein liebenswerter Mensch sein könnte, wĂ€ren die Dinge um seinetwillen da.
Erschienen in der fĂŒnften Ausgabe des Kulturmagazins 'Quottom'Â
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Wem einmal die dĂŒnne Schicht zerriss, die uns Leben heiĂt
Oder: Fortschritt und Chaos sind das GleicheÂ
Wenn der Mensch aus dem Horizont seiner Biografie fĂ€llt, er vergangenheitslos zugleich keine sinnhafte Zukunft mehr vor sich hat, spricht die Psychoanalyse gemeinhin von Depersonalisierung. Zumeist bringen ihn narzisstische KrĂ€nkungen dahin. So auch in Peter Greenaways Film «The Belly of an Architect». Der Film schildert Aufstieg und Fall des amerikanischen Architekten Stourley Kracklite, der mit seiner Frau nach Rom kommt, um dort eine Ausstellung ĂŒber Ătienne-Louis BoullĂ©e auszuarbeiten. Nach ersten Wochen voller Glamour und Zuversicht leidet Kracklite zunehmend an unerklĂ€rlichen Bauchschmerzen, seine bereits von ihm schwangere Frau beginnt ein VerhĂ€ltnis mit einem anderen Mann, er verzweifelt spĂ€terhin an dieser AffĂ€re, verliert so die Kontrolle ĂŒber sein Ausstellungsprojekt und stĂŒrzt sich schlussendlich in den Tod. Die Eigenheit seiner Verzweiflung ist in einer Szene des Films wunderbar ins Bild gesetzt. Kracklite betritt das Atelierzimmer einer Fotografin, die ihn und seine Frau ĂŒber Monate unbemerkt abgelichtet hat. Eine der weiĂen WĂ€nde, die er nach und nach abschreitet, hĂ€ngt voll mit Momentaufnahmen der vergangenen Monate und zeigt ihre fortschreitende Entfremdung voneinander. Sein Leiden steht ihm mit jedem Schritt deutlicher ins Gesicht geschrieben. Am anderen Ende der Wand angekommen, ringt er um Luft und sackt in sich zusammen. Die Gegenwart selbst ist ihm problematisch geworden.
Eine aktuelle Videoarbeit des Hamburger Kollektivs Rutschberg greift eben diese Szene auf und ĂŒberfĂŒhrt sie in einen weniger biografisch als vielmehr geschichtlichen Zusammenhang. In Auseinandersetzung mit dieser Arbeit möchte ich das Begriffspaar Chaos und Fortschritt konstellieren. Konkret handelt es sich um ein Musikvideo, das in Rom im Sommer 2012 zu dem zehnminĂŒtigen StĂŒck «2 Seconds» der ebenfalls aus Hamburg stammenden Band Jenana gedreht wurde. So untypisch die Dauer fĂŒr einen «verfilmten» Rocksong, so untypisch ist auch das Musikvideo selbst: An keiner Stelle taucht die Band auf, nirgendwo sind sublimierte Ejakulationen zu sehen, soll heiĂen: kein blödes Gitarrengepose, keine rockistischen GebĂ€rden. Alleinige Protagonistin ist eine junge Frau, mit Brecht gesprochen: eine StĂ€dtebewohnerin. Zu Beginn steht sie auf einem Dach, mit dem RĂŒcken zur Kamera. FĂŒr den Betrachter ist sie gesichtslos, so wie die Stadt noch unbestimmt ist, auf die sie schaut. Erst mit den folgenden Bildern bekommt die Heldin ein Gesicht, und es wird klar: ihr Blick gilt Rom, der Stadt der StĂ€dte, der ewigen, der exemplarischen Stadt.
Glauben wir Rolf Dieter Brinkmann, bedeutet Stadt einzig eine unĂŒberschaubare Ansammlung von Mauern; sortiert nach StraĂennamen und versehen mit Hausnummern. Stadt meint aber immer auch und zuallererst die AnhĂ€ufung von Menschen und damit die Vertausendfachung menschlicher Kraft. Als umbauter Raum ist jede Stadt eine Kulisse menschlichen Alltags und zugleich Zeugnis sozialer VerhĂ€ltnisse. Doch wird zu Stein stets nur die herrschende Klasse, nicht die Vielheit jenes Alltags. Ob GebĂ€ude oder Parks, urbane Architektur ist immer Monument politischer Macht.
Die Eigenheit von Rom besteht nun darin, dass sie als ewige auch immer geschichtete Stadt ist, Stadt auf Stadt. An das, was sie war, erinnern uns Ruinen. So gerinnt Geschichte zur MĂŒllhalde, so wird die Stadt zur AusgrabungsstĂ€tte. Die Ruinen jedoch zwingen danach zu fragen, welche unabgegoltenen WĂŒnsche es in jedem einzelnen Haus und jeder StraĂe gab. Die Stadt rĂŒckt das in den Mittelpunkt, was ihre Architektur eigentlich verschweigt: Was bedeutet das jetzige Leben mit dem Wissen um die VergĂ€nglichkeit in allem? Was bedeuten all diese vergangenen Zeiten, wenn sie doch genauso Gegenwart waren? Was bedeutet das Leben in der KontinuitĂ€t von Stadt?
Wir folgen der jungen Heldin durch Rom. Sie scheint der Stadt merkwĂŒrdig entrĂŒckt â zu FuĂ oder wĂ€hrend einer Busfahrt. Ihr Blick ist Eingedenken. Hin und wieder wird der Streifzug von einer dĂŒsteren Nahaufnahme unterbrochen. Bei dieser sehen wir sie an einem Tisch sitzend und staunen nicht schlecht: sie sitzt sich selbst gegenĂŒber. Man fĂŒhlt sich an Thomas Braschs Film «Domino» erinnert. Auch dort sitzt die Filmheldin vis-Ă -vis von sich selbst. Hier wie dort schwenkt eine Deckenlampe unaufhörlich hin und her und beleuchtet abwechselnd die beiden Frauen, die doch die gleiche sind. Diese Szene, die immer wieder eingeblendet wird, ist sogleich die einzige direkte Verbindung zur Musik: Die Stimme des SĂ€ngers singt sich durch unsere Heldin hindurch. Mit dem Fortgang des Videos begegnet sich die einsame StĂ€dtebewohnerin auch in der Handlung selbst. Nachdem sie in einen Palazzo eingetreten und mit dem Lift hinauf gefahren ist (sie steht dabei mit dem RĂŒcken zum eigenen Spiegelbild), hastet sie auf einen Balkon und schaut hinab. Hierbei erblickt sie sich selbst â bei ihrem vorigen Streifzug durch die Stadt. Die Umherstreifende bleibt stehen und schaut hinauf â ebenfalls zu sich selbst. Ihre beiden Körper erstarren. Es folgt die Anlehnung an die einleitend genannte Szene aus «The Belly of an Architect» und es ist anzunehmen, dass diese der störrischen Flucht auf den Balkon chronologisch vorangeht. Unsere Heldin betritt einen kargen Raum, um wie bei Greenaway eine weiĂe Wand mit unzĂ€hligen SchwarzweiĂfotografien zu entdecken. Nach und nach schreitet sie diese Aufnahmen ab. Am anderen Ende der Wand angekommen, verzweifelt sie ebenso wie Greenaways Architekt. Doch ist auf keiner der Aufnahmen sie selbst abgebildet, keine stammt aus ihrer eigenen Biografie. Was sie sieht und wir mit ihrem Blick zu Gesicht bekommen, sind vornehmlich Aufnahmen der italienischen Frauenbewegung aus den 70er Jahren: Frauen auf DemonstrationszĂŒgen durch Rom mit Fahnen und gereckten FĂ€usten, Frauen in RedaktionsrĂ€umen und CafĂ©s oder auf Kongressen, auch PortrĂ€ts einzelner Feministinnen.
Brach der Verlassene ĂŒber den Fotos einer gemeinsamen Vergangenheit zusammen, so verzweifelt unsere Heldin an den fremden Zeugnissen vergangenen Lebens. Sie sieht Menschen sich an Orten sammeln, an denen auch sie unlĂ€ngst vorbeikam. Und wie das einstige Bekenntnis zweier Liebenden wahr war, hatte auch der Kampf fĂŒr ein anderes Leben sein Recht auf Wirklichkeit. Doch was bleibt? Wie weitermachen, wenn von dem, was war, scheinbar nichts bleibt? Wie sich selbst noch sinnvoll in seiner Gegenwart einrichten, wenn allem letztlich das gleiche Verschwinden droht? War doch jener fotografisch dokumentierte Sit-In vor dem Kolosseum genauso Gegenwart wie der soeben beendete Streifzug, bei dem man den gleichen Ort passierte, ja war er genauso jetzt wie jetzt jetzt ist. In der KontinuitĂ€t der Stadt ist die KontinuitĂ€t der Zeiterfahrung brĂŒchig geworden. Fortschritt gerinnt zum leeren Fortschreiten, zum Diktat der Zeit, immerzu weitermachen zu mĂŒssen. Der Glaube, in geschichtlichen Verbindungslinien zu stehen, die zum Guten hin sich wenden, ist verloren gegangen. Und aus dem entlarvten Fortschritt als bloĂem Fort-schritt folgt notwendig das Chaos, der Verlust der sinnhaften Ordnung, ja ist der Fort-schritt das Chaos selbst.
Wie der Liebende nichts mehr als die Zeit zu fĂŒrchten hat, weil sie stets ein mögliches Ende mit sich fĂŒhrt, wird die Zeit fĂŒr den erinnernden Menschen zum kalten Gegenspieler. Wenn die Zukunft einzig die Gegenwart spiegelt, alle Verbindung zur Vergangenheit abreiĂt, weil sich ihre Impulse nicht in die Gegenwart retten, fĂ€llt letztere in sich zusammen und wird zum bloĂen Punkt. Nicht zufĂ€llig gibt es eine Szene im Video, in der die Heldin versucht, sich einem steinernen Monument einzuverleiben, um der Zeit zu entkommen. Siegfried Kracauer, seines Zeichens nicht nur Filmtheoretiker und Sozialphilosoph, sondern studierter Architekt, schreibt in seiner ErzĂ€hlung «Der Gast» von «jenem Abgrund des Schweigens, des Vergessenwerdens, der Untreue, der das Lebendige frisst. Wem einmal nur die dĂŒnne Schicht zerriss, die uns Leben heiĂt, er allein kann ermessen, was die Hoffnung auf ein Jenseits bedeutet.»
Ist das Leben auf einen bloĂen Punkt geschrumpft, zerfĂ€llt aller Sinn, verfĂ€llt der Mensch dem Chaos, gerade weil er weiterhin am Leben ist und sinnlos weitermachen muss. Es kommt zum Verlust der eigenen IdentitĂ€t und notwendig zur Frage: Warum ist Jetzt jetzt, und was soll das ĂŒberhaupt? Dann wird Gestern auch zu Heute, aber nicht als KontinuitĂ€t, sondern, weil alle Zeiten plötzlich austauschbar, also beliebig geworden sind. Eben diese psychologische Reaktionsweise ist im Video von «2 Seconds» formal gestaltet, wenn verschiedene Lebenszeiten der Heldin zu gleicher Gegenwart werden. Alle Augenblicke auf der Zeitlinie werden Ă€quivalent und damit allesamt bedeutungslos â die Crux von Entropie. Deshalb erstarrten beide Körper. Dann fĂ€ngt der Himmel scheinbar zu weinen an: es regnet weiĂe Luftballons.
Der Lift befördert die Heldin nicht nur von der StraĂe in die Wohnung, sondern auch auf das Dach des Hauses, wo wir sie zu Beginn des Videos bereits sahen. Wieder gleitet ihr Blick ĂŒber die Stadt. Doch ist sie sich ein zweites Mal auf das Dach gefolgt und geht hinterrĂŒcks auf sich zu. Kurz bevor es zum Aufeinandertreffen kommt, bricht die Szene ab.
Derweil setzt sie ihren Streifzug durch Rom fort. Abseits des centro storico sieht man sie inmitten der glĂ€sernen PalĂ€ste unserer Gegenwart; inmitten von Einkaufszentren und BĂŒrogebĂ€uden auf dem GelĂ€nde von CinecittĂ , der römischen Traumfabrik. Es folgt die wohl einschneidendste Szene. Eine Fensterfassade passierend sieht sie sich in dieser gespiegelt und bleibt ruckartig stehen. Ihr Spiegelbild hat sich verselbstĂ€ndigt, hat aufgehört sie zu spiegeln. Es ist das verstörende Bild jener vorgenannten IdentitĂ€tskrise. Langsamen Schrittes bewegt sie sich auf ihr Spiegelbild zu, das beginnt, ihren weiblichen Körper mit den HĂ€nden anzudeuten. So, als wolle es sie an âdas andere Geschlechtâ erinnern. SchlieĂlich reichen sich beide die Hand.
Es wird Nacht, die Stadt liegt im Dunkeln. Ăberall Monumente und versehrte BĂŒsten, totes Leben. Eine weitere Allegorie auf den Verlust aller Bedeutsamkeit: Die steinernen Gesichter werden von Ameisen bevölkert, denen die menschliche Physiognomie nichts weiter ist als SteinwĂŒste.
Mit dem erneuten Anbruch des Tages folgt schlieĂlich der Befreiungsschlag, schlĂ€gt der bisherige Hergang um. Als ob sie ihre innere Unordnung zur Ă€uĂeren werden lassen wolle, dreht sich die Heldin im Kreis. Die Stadt gerĂ€t dabei ins Taumeln, und sodann stehen erste GebĂ€ude in Flammen: Rom brennt. Es ist der Kampf gegen eine StĂ€dtearchitektur, die alles vergangene Leben der Erniedrigten, Beleidigten und GeĂ€chteten verschweigt. Wir sehen die Heldin, wie sie sich ein letztes Mal folgt, die Treppenstufen vor dem sogenannten quadratischen Kolosseum hinabsteigend â ein bauliches Synonym fĂŒr die Transformation des Immergleichen. Ihr zu FĂŒĂen liegt die brennende Stadt. Und wie Rom exemplarische Stadt ist, so ist das Aufbegehren unserer Heldin gleichsam ein Kampf gegen alle StĂ€dte, ist es ein exemplarischer Kampf.
Hat sie sich aus ihrer Ohnmacht gelöst, löst sich zugleich auch die Spannung der Handlung. Mit einem Mal sitzt sie allein am Tisch, wo sie zuvor noch gegen sich angesungen hatte. Vor der spiegelnden Fassade wiederum sehen wir sie ebenfalls nicht mehr. Ăbrig bleibt ihr Spiegelbild. Sie scheint durch den Spiegel hindurchgegangen. Möglich sind mindestens zwei Weisen der Interpretation. Entweder sie ist aus aller Geschichte ausgestiegen, hat sich aus der Logik der Zeit befreit oder aber sie hat jenseits der alten IdentitĂ€tslogik zu sich zurĂŒckgefunden und damit zurĂŒck in die Gegenwart. Das Video legt letztere Lesart nahe: Weiterhin an die aus dem Himmel regnenden Luftballons zu glauben, erlaubt es kaum, sehen wir diese doch als vorbereitete Requisite auf dem Dach. Ein Sinnbild fĂŒr die ErnĂŒchterung, die mit jedem ZurĂŒck-ins-Leben-Finden einhergeht. Ăber den Ballons trocknet die auf die Leine gehĂ€ngte WĂ€sche des Alltags.
Die letzte Einstellung zeigt verschwommen einen Schrei in die Welt â zwischen Munch und Pavarotti, zwischen Angst und Heiterkeit. Was bleibt, ist das geheime Wissen um das Chaos, das fortschreitend weitertobt.
Erschienen in der dritten Ausgabe des Kulturmagazins 'Quottom'Â
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Soliloquies

Liner note zum Album âOne Word: Wordsâ
Mehrere Monate waren nötig, bis wir uns schlieĂlich sicher waren, wie die RĂŒckschau auf unser kleines Band-Oeuvre am klĂŒgsten kompiliert ist. Bei all den Telefonkonferenzen, die wir zu diesem Zweck fĂŒhrten, war eines unserer StĂŒcke jedoch jedem Zweifel erhaben: Soliloquies sollte den Anfang machen. Nicht nur hatten wir in Berlin am zwölften Juni 2010 unseren vorerst letzten Auftritt mit Soliloquies begonnen, sondern bereits unser allererstes Konzert im Januar 2006 mit eben diesem eingeleitet. Wohlgemerkt in Hannover und nicht in Hamburg. Dort gaben wir erst einige Wochen spĂ€ter in der sagenumwobenen Schilleroper unseren Einstand, um â mit einer Generalprobe im Hintersinn â dem armverschrĂ€nkten und in Skepsis getrĂ€nkten Pop-Publikum der Hansestadt nicht völlig ausgeliefert zu sein. Wir verstanden Soliloquies immer Ă€hnlich einem Vorwort. Durch seinen von Wiederholungen und zunehmender Verdichtung geprĂ€gten Aufbau leitet es wunderbar ein und fasst textlich bĂŒndig zusammen, was uns wichtig war: Das authentische Ich ist eine Farce, einzig bei den Anderen sind wir auffindbar! Oder knapper: Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag! "Soliloquies about you, I about me. How wants to please himself: I or me. For hours and hours: forms of expression, for hours and hours: speech aspect. Understanding comprehension means thinking in terms of him who knew nothing. For hours and hours: who is what? Obviously the case is different than you think." Was das zu bedeuten hat, machte dieses StĂŒck nicht zuletzt uns selbst verstĂ€ndlich. Weder mit sturer Logik noch mit herrischer Kontrolle war ihm beizukommen. Ja, es machte mehr mit uns als wir mit ihm. Die KlĂ€nge und RĂŒckkopplungen, die sich bei seinem Spiel auftĂŒrmten, waren weder den einzelnen Instrumenten klar zuzuordnen, noch als gleiches Klangereignis wiederholbar. Und so ist 'Soliloquies' von all unseren Kompositionen am wenigsten Lied und am meisten StĂŒck. GewissermaĂen ein Leib ohne Skelett. Denn wenn man einmal versucht, es allein mit Gitarre und Gesang zu mimen, bleibt schlechterdings nichts ĂŒbrig. Soliloquies war eines unserer frĂŒhesten StĂŒcke und wenn ich mich recht erinnere, das Erste, das wir gemeinsam und nahezu rauschhaft bei einer einzigen Probe geschrieben haben. Anders als zuvor brachte ich keine ausgearbeitete Skizze mit in den Ăbungsraum, der sich zu dieser Zeit in einem alten Bunker im wohlbehĂŒteten Hamburger Stadtteil Winterhude befand, sondern das erste Album der Band Kante: Zwischen den Orten. Ich wusste, dass wir es alle sehr mochten und so hörten wir gemeinsam die uns bereits vertrauten KlĂ€nge, um dann, mit Lust zur Imitation, munter drauflos zu spielen. Vor allem reizte uns dessen Ă€hnlich Legobausteinen zusammengesetzte Struktur und rhythmische Gestaltung. Dass einige Wochen spĂ€ter jene Band nur wenige RĂ€ume weiter Nummern fĂŒr ein neues Album einstudierte, schien einzig mich in Begeisterungswut zu versetzen. Noch kein Jahr in der Stadt, waren eben diese Begebenheiten das, was Hamburg als ProjektionsflĂ€che jahrelang versprach und die anderen wiederum nur noch mĂŒde lĂ€chelnd als AlltĂ€glichkeit aufmerkten. Nach Hamburg gezogen waren wir wohl alle irgendwie auch wegen der Musikszene, die Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre ebendort entstand. Gleichwohl verfassten wir unsere Texte schlieĂlich auf Englisch und suchten die musikalischen Referenzen eher bei amerikanischem Post- und Indie-Rock. Ich glaube, in dieser Entscheidung reflektierte sich verdeckt ein Unbehagen gegenĂŒber den Begebenheiten der Zeit. Hochglanzmagazine hieĂen auf einmal "Deutsch", CD-Veröffentlichungen stellten stolz unter dem Titel "Neue Heimat" Musik "deutscher Bands" zusammen und im Fernsehen liefen Kampagnen fĂŒr ein neues deutsches Selbstbewusstsein. Und auch wenn die KĂŒnstler jener Szene sich zum GroĂteil gegen die Vereinnahmungen zu wehren versuchten und Sprache per se nicht revanchistisch ist, sang unsere Generation plötzlich mehrheitlich mit geschichtsvergessener Stimme auf Deutsch und vermeinte "frische Spuren im weiĂen Sand" â gar stolz auf den eigenen Staat als "Friedensmacht". Zudem verschob sich die Hamburger Szene stark: Statt androgynem Slackertum dominierte zunehmend Kumpelei und Schulterklopfen, MĂ€nnerschweiĂ und AuthentizitĂ€t. Festzuhalten ist, dass der Klassenunterschied, der uns von 'Kante' trennte, nicht nur ein musikalischer war. WĂ€hrend der Probepausen suchten wir stets einen nahegelegenen Supermarkt auf, diese saĂen unweit des Bunkers auf der Terrasse eines AltherrencafĂ©s.
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