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Märchenletter
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Der Märchenletter ist vom Inhalt mal ein bisschen anders als die normalen, denn hier gibt es jede Woche ein Märchen. Und das kostenlos...
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maerchenletter · 4 years ago
Text
Das Märchen von dem Witzenspitzel
Es war einmal ein König von Rundumherum, der hatte unter seinen vielen andern Dienern einen Edelknaben, der hieß Witzenspitzel, und er liebte ihn über alles und überhäufte ihn mit tausend Gnaden und Geschenken; weil Witzenspitzel ungemein klug und artig war und alles, was ihm der König zu verrichten gab, mit außerordentlicher Geschicklichkeit ausrichtete. Wegen dieser großen Gunst des Königs waren alle die andern Hofdiener sehr neidisch und bös auf Witzenspitzel;
Denn wurde seine Klugheit belohnt mit Gelde, So wurde ihre Dummheit bestraft mit Schelte; Und erhielt Witzenspitzel vom König großen Dank, So erhielten sie von ihm großen Zank; Kriegte Witzenspitzel einen neuen Rock, So zerschlug er auf ihnen einen neuen Stock; Durfte Witzenspitzel des Königs Hand küssen, So traktierte der König sie mit Kopfnüssen.
Darüber wurden sie nun gewaltig zornig auf Witzenspitzel und brummten und zischelten den ganzen Tag und steckten überall die Köpfe zusammen und überlegten, wie sie den Witzenspitzel sollten um die Liebe des Königs bringen. Der eine streute Erbsen auf den Thron, damit Witzenspitzel stolpern und den gläsernen Szepter zerbrechen sollte, den er dem König immer reichen musste; der andere nagelte ihm Melonenschalen unter die Schuhe, damit er ausgleiten sollte und dem König den Rock begießen, wenn er ihm die Suppe brachte; der dritte setzte allerlei garstige Mücken in einen Strohhalm und blies sie dem König in die Perücke, wenn Witzenspitzel sie frisierte; der vierte tat wieder etwas anderes, und so versuchte jeder etwas, den Witzenspitzel um die Liebe des Königs zu bringen. Witzenspitzel aber war so klug und behutsam und vorsichtig, dass alles umsonst war und er alle Befehle des Königs glücklich zu Ende brachte.
Da nun alle ihre Anschläge nichts fruchten wollten, versuchten sie etwas anderes. Der König hatte einen Feind, mit dem er nie fertigwerden konnte und der ihm alles zum Possen tat. Das war ein Riese, der hieß Labelang und wohnte auf einem ungeheuren Berg, wo er in einem dicken dunkeln Walde in einem prächtigen Schlosse hauste, und hatte außer seiner Frau, die Dickedull hieß, niemand bei sich als einen Löwen Hahnebang und einen Bären Honigbart und einen Wolf Lämmerfraß und einen erschrecklichen Hund Hasenschreck, das waren seine Diener. Außerdem hatte er auch ein Pferd im Stall, Flügelbein genannt.
Nun wohnte in der Gegend von Rundumherum eine sehr schöne Königin, Frau Flugs, die hatte eine Tochter, Fräulein Flink; und der König Rundumherum, der gern alle andern Länder um sein Land herum auch gehabt hätte, hätte die Königin Frau Flugs gar gerne zu seiner Gemahlin gehabt. Sie ließ ihm aber sagen, dass noch viele andere Könige sie auch gerne zur Gemahlin hätten, dass sie aber keinen nehmen wolle als den allergeschwindesten, und dass der, welcher am nächsten Montag, morgens um halb zehn Uhr, wenn sie in die Kirche gehe, zuerst bei ihr wäre, sie zur Gemahlin und mit ihr das ganze Land haben sollte.
Nun ließ der König Rundumherum alle seine Diener zusammen kommen und fragte sie: »Wie soll ich es doch anfangen, dass ich am Montag zuerst in der Kirche bin und die Königin Flugs zur Gemahlin bekomme?« Da antworteten ihm seine Diener: »Ihr müsst machen, dass Ihr dem Riesen Labelang sein Pferd Flügelbein bekommt; wenn Ihr darauf reitet, kömmt Euch niemand zuvor; und um dieses Pferd zu holen, wird niemand geschickter sein als der Edelknabe Witzenspitzel, der ja alles zustande bringt.« So sagten die bösen Diener und hofften schon, der Riese Labelang werde den Witzenspitzel gewiss umbringen. Der König befahl also dem Witzenspitzel, er solle das Pferd Flügelbein bringen.
Witzenspitzel erkundigte sich um alles recht genau, wie es bei dem Riesen Labelang beschaffen sei, und dann nahm er sich einen Schiebekarren und stellte sich einen Bienenkorb darauf und nahm einen Sack, da steckte er einen Gockelhahn hinein und einen Hasen und ein Lamm, und legte ihn auch auf den Karren; weiter nahm er einen Strick mit und eine große Schachtel voll Schnupftabak, hängte eine Kurierpeitsche um, machte sich ein paar tüchtige Sporen an die Stiefel und marschierte mit seinem Schiebekarren ruhig fort.
Gegen Abend war er endlich den hohen Berg hinauf, und als er durch den dicken Wald kam, sah er das Schloss des Riesen Labelang vor sich. Und es ward Nacht, und er hörte, wie der Riese Labelang und seine Frau Dickedull und sein Löwe Hahnebang und sein är Honigbart und sein Wolf Lämmerfraß und sein Hund Hasenschreck gewaltig schnarchten; nur das Pferd Flügelbein war noch munter und scharrte mit den Füßen im Stall.
Da nahm Witzenspitzel leise, leise seinen langen Strick und spannte ihn vor die Schloßtüre von einem Baum zum andern und stellte die Schachtel mit Schnupftabak dazwischen; dann nahm er en Bienenkorb und setzte ihn an einen Baum in den Weg, und ging in den Stall und band das Pferd Flügelbein los und setzte sich mit dem Sack, worin er den Hahn, das Lamm und den Hasen hatte, drauf und gab ihm die Sporen und trieb es hinaus.
Das Pferd Flügelbein aber konnte sprechen und schrie ganz laut:
Dickedull und Labelang! Honigbart und Hahnebang! Lämmerfraß und Hasenschreck! Witzenspitzel reitet Flügelbein weg!
und dann galoppierte es fort, was gibst du, was hast du!
Da wachte der Labelang und die Dickedull auf und hörten das Geschrei des Pferdes Flügelbein; geschwind weckten sie den Bären Honigbart und den Löwen Hahnebang, den Wolf Lämmerfraß und den Hund Hasenschreck auf, und alle stürzten zugleich aus dem Schloss heraus, um den Witzenspitzel mit dem Pferd Flügelbein zu fangen.
Aber der Riese Labelang und seine Frau Dickedull stolperten in der Dunkelheit über den Strick, den Witzenspitzel vor der Türe gespannt hatte, und perdauz – da fielen sie mit der Nase und den Augen gerade in die Schachtel voll Schnupftabak hinein, die er dahin gestellt hatte, und rieben sich die Augen und niesten einmal über das anderemal, und der Labelang sagte: »Zur Gesundheit, Dickedull!«
»Ich danke«, sagte Dickedull; dann sagte sie: »Zur Gesundheit, Labelang!« und »Ich danke«, sagte Labelang, und bis sie sich den Tabak aus den Augen geweint und aus der Nase geniest hatten, war Witzenspitzel schier aus dem Wald.
Der Bär Honigbart war zuerst hinter ihm drein, als er aber an den Bienenkorb kam, kriegte er Lust zum Honig und wollte ihn fressen; da schnurrten die Bienen heraus und zerstachen ihn so, dass er halb blind ins Schloss zurücklief. Witzenspitzel war schon weit aus dem Wald, da hörte er hinter sich den Löwen Hahnebang kommen; geschwind nahm er den Gockelhahn aus seinem Sack, und als der auf einen Baum flog und zu krähen anfing, ward es dem Löwen Hahnebang sehr angst und er lief zurück. Nun hörte Witzenspitzel den Wolf Lämmerfraß hinter sich. Da ließ er geschwind das Lamm aus seinem Sack laufen, und dem sprang der Wolf nach und ließ ihn reiten. Schon war er nahe der Stadt, da hörte er hinter sich ein Gebelle, und wie er sich umschaute, sah er den Hund Hasen schreck angelaufen kommen. Geschwind ließ er nun den Hasen aus dem Sack laufen, und da sprang der Hund dem Hasen nach, und er kam mit Flügelbein glücklich in die Stadt.
Der König dankte dem Witzenspitzel sehr für das Pferd; die falschen Hofdiener aber ärgerten sich, dass er so mit heiler Haut wiedergekommen war. Am nächsten Montag setzte sich der König gleich auf sein Pferd Flügelbein und ritt zur Königin Flugs, und das Pferd lief so geschwind, dass er viel früher da war und schon mehrere Tänze auf seiner Hochzeit mit der Königin Flugs getanzt hatte, als die andern Könige aus der Gegend erst ankamen. Da er nun mit seiner Königin nach Hause ziehen wollte, sagten seine Diener zu ihm: »Ihro Majestät haben zwar das Pferd des Riesen Labelang; aber wie herrlich wäre es, wenn Sie auch dessen prächtige Kleider hätten, die alles übertreffen, was man bis jetzt gesehen, und der geschickte Witzenspitzel wird dieselben ganz gewiss herbeischaffen, wenn es ihm befohlen wird.«
Der König bekam gleich eine große Lust nach den schönen Kleidern des Labelang und gab dem Witzenspitzel abermal den Auftrag. Als dieser sich nun auf den Weg machte, dachten die falschen Hofdiener, er würde diesmal dem Riesen Labelang gewiss nicht entgehen.
Witzenspitzel nahm diesmal nichts mit als einige starke Säcke, und kam abends wieder vor das Schloss des Labelang, wo er sich auf einen Baum setzte und lauerte, bis alles im Schlosse zu Bette sei.
Als alles still geworden war, stieg er vom Baum herunter, da hörte er auf einmal die Frau Dickedull rufen: »Labelang, ich liege mit dem Kopf so niedrig, hole mir doch draußen ein Bund Stroh.« Da schlüpfte Witzenspitzel geschwind in das Bund Stroh, und Labelang trug ihn mitsamt dem Bund Stroh in seine Stube, steckte ihn unter das Kopfkissen und legte sich dann auch in das Bett.
Als sie ein wenig eingeschlafen waren, streckte Witzenspitzel die Hand aus dem Stroh und raufte den Labelang tüchtig in den Haaren und dann die Frau Dickedull auch, worüber beide erwachten und, weil eines glaubte, das andere habe es gerauft, sich einander gewaltig im Bette zerprügelten, während welchem Streit Witzenspitzel aus dem Stroh herauskroch und sich hinter das Bett setzte.
Da sie wieder ruhig eingeschlafen waren, packte Witzenspitzel alle Kleider des Labelang und der Dickedull in seinen Sack und band diesen leise, leise dem schlafenden Löwen Hahnebang an den Schwanz; dann band er den Wolf Lämmerfraß und den Bären Honigbart und den Hund Hasenschreck, welche alle da herum schliefen, an die Bettlade des Riesen fest und machte die Türe weit, weit auf. Er hatte alles so in der Ordnung, da wollte er aber auch dem Riesen seine schöne Bettdecke noch mitnehmen und zupfte ganz sachte, sachte an dem Zipfel, bis er sie herunter gezogen, wickelte sich hinein und setzte sich auf den Sack voll Kleider, den er dem Löwen an den Schwanz gebunden hatte. Nun wehte die kalte Nachtluft durch die offene Türe der Frau Dickedull an die Beine, sie wachte auf und rief: »Labelang! du nimmst mir die Decke weg, ich liege ganz bloß.« Da wachte Labelang auf und rief: »Nein, ich liege ganz bloß, Dickedull, du hast mir die Bettdecke genommen.« Darüber fingen sie sich wieder an zu schlagen und zu zanken, und Witzenspitzel fing laut an zu lachen. Nun merkten sie etwas und riefen: »Dieb da! Dieb da! Auf, Hahnebang! Auf, Lämmerfraß! Honigbart und Hasenschreck! Dieb da! Dieb da!« – Da wachten die Tiere auf, und der Löwe Hahnebang sprang fort; weil er aber den Bündel angebunden hatte, worauf der Witzenspitzel in die Bettdecke gewickelt saß, fuhr der wie in einem Wagen hinter ihm her und fing einige Male an, wie ein Hahn kikriki, kikriki zu schreien; da kriegte der Löwe eine solche Angst, dass er immer, immer zulief, bis an das Stadttor, wo Witzenspitzel ein Messer herauszog und hinten den Strick abschnitt, so dass der Löwe, der im besten Ziehen war, auf einmal ausfuhr und so mit dem Kopf wider das Tor rannte, dass er tot an die Erde fiel.
Die andern Tiere, welche Witzenspitzel an die Bettstelle des Riesen gebunden hatte, konnten diese nicht zum Tor hinausbringen, weil sie zu breit war, und zerrten die Bettlade so in der Stube herum, dass Labelang und Dickedull herausfielen und aus großem Zorn den Wolf und den Bären und den Hund totschlugen, welche doch gar nichts dafür konnten.
Als die Wache in der Stadt den großen Stoß, den der Löwe gegen das Stadttor getan hatte, hörte, öffnete sie das Tor, und Witzenspitzel brachte dem König die Kleider des Labelang und der Dickedull, worüber dieser vor Freuden aus der Haut fahren wollte, denn niemals waren noch solche Kleider gesehen worden. Es war dabei ein Jagdrock, von den Pelzen aller vierfüßigen Tiere so schön zusammengenäht, dass daran die ganze Geschichte des Reineke Fuchs zu sehen war. Weiter ein Vogelstellerrock, von den Federn aller Vögel der Welt: vorn ein Adler, hinten eine Eule und in der Tasche eine Drehorgel und ein Glockenspiel, welche wie alle Vögel durcheinandersangen. Dann ein Bade- und Fischfängerkleid, aus allen Fischhäuten der Welt so zusammengenäht, dass man einen ganzen Walfisch- und Häringsfang darauf sah. Dann ein Gartenkleid der Frau Dickedull, worauf alle Arten von Blumen und Kräutern, Salat und Gemüs abgebildet war. Was aber alles übertraf, war die Bettdecke; sie war von lauter Fledermauspelzen zusammengenäht, und alle Sterne des Himmels mit Brillanten darauf gestickt.
Die königliche Familie wurde ganz dumm von lauter Betrachten und Bewundern. Witzenspitzel wurde geküsst und gedrückt, und seine Feinde platzten bald vor Zorn, dass er wieder so glücklich dem Riesen Labelang entgangen sei.
Doch ließen sie den Mut nicht sinken und setzten dem König in den Kopf, jetzt fehle ihm nichts mehr als das Schloss des Labelang selber, dann hätte er alles, was ihm zu wünschen übrig sei, und der König, der ein rechter Kindskopf war und alles haben wollte, was ihm einfiel, sagte gleich zu Witzenspitzel, er solle ihm das Schloss des Labelang schaffen, dann wolle er ihn belohnen.
Witzenspitzel besann sich nicht lange und lief zum dritten Mal nach dem Schloss des Labelang. Da er dahin kam, war der Riese nicht zu Hause, und in der Stube hörte er etwas schreien wie ein Kalb. Da guckte er durchs Fenster und sah, dass die Riesin Dickedull einen kleinen Riesen auf dem Arm hatte, der bleckte die Zähne und schrie wie ein Kalb, während sie dabei Holz hackte.
Witzenspitzel ging hinein und sagte: »Guten Tag, große, schöne, breite, dicke Frau! Wie mögt Ihr Euch nur bei dem allerliebsten Kinde so viele Arbeit machen, habt Ihr denn keine Knechte oder Mägde? Wo ist denn Euer lieber Herr Gemahl?« – »Ach!« sagte die Dickedull, »mein Mann Labelang ist ausgegangen, die Herrn Gevatter einzuladen, wir wollen einen Schmaus halten; und nun soll ich alles allein kochen und braten, denn mein Mann hat den Wolf und Bären und Hund, die uns sonst geholfen, totgeschlagen, und der Löwe ist auch fort.«
»Das ist freilich sehr beschwerlich für Euch«, sagte Witzenspitzel; »wenn ich Euch helfen kann, soll es mir lieb sein.«
Da bat ihn die Dickedull, er solle ihr nur vier Stücke Holz kleinmachen, und Witzenspitzel nahm die Axt und sagte zu der Riesin: »Haltet mir das Holz ein wenig!« – Die Riesin bückte sich und hielt das Holz: da hob Witzenspitzel die Axt auf, und ratsch hieb er der Dickedull den Kopf ab, und ritsch dem kleinen Riesen Mollakopp auch, und da lagen sie.
Nun machte er ein großes tiefes Loch gerade vor die Türe des Schlosses, und warf die Dickedull und Mollakopp hinein und deckte das Loch oben ganz dünne mit Zweigen und Blättern zu; dann steckte er in allen Stuben des Schlosses eine Menge Lichter an und nahm einen großen kupfernen Kessel, da paukte er mit Kochlöffeln darauf, und nahm einen blechernen Trichter, darauf blies er die Trompete und schrie immer dazwischen: »Vivat! es lebe Ihro Majestät, der König Rundumherum!«
Als Labelang abends nach Hause kam und die vielen Lichter in seinem Schloss sah und das Vivatgeschrei hörte, ward er ganz rasend vor Zorn und rannte mit solcher Wut gegen die Türe, dass er, da er über das mit Zweigen bedeckte Loch laufen wollte, durchfiel und mit großem Geschrei in der Grube gefangen lag, welche Witzenspitzel dann mit Erde und Steinen über ihm zufüllte.
Hierauf nahm Witzenspitzel den Schlüssel des Riesenschlosses und brachte ihn dem König Rundumherum, der sich sogleich mit der Königin Flugs und ihrer Tochter, der Prinzessin Flink, und dem Witzenspitzel nach dem Schloss begab und alles betrachtete. Nachdem sie vierzehn Tage an allen den vielen Stuben, Kammern, Kellerlöchern, Dachluken, Ofenlöchern, Feueressen, Küchenherden, Holzställen, Speisekammern, Rauchkammern und Waschküchen und dergleichen betrachtet hatten und fertig waren, fragte der König den Witzenspitzel, was er zur Belohnung für seine treuen Dienste haben wollte: da sagte er, die Prinzessin Flink, und die war es auch zufrieden; da wurde Hochzeit gehalten, und Witzenspitzel und die Prinzessin Flink blieben auf dem Riesenschloß wohnen, wo sie bis auf diesen Tag zu suchen sind.
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maerchenletter · 4 years ago
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Die Bescherung
Der Weihnachtsmann putzte seine großen schwarzen Stiefel so blank, dass sich sein lächelndes Gesicht darin spiegelte. „Heiligabend muss ich sehr gut aussehen“, sagte der Weihnachtsmann. „Auch wenn ich am Weihnachtstag ganz mit Ruß beschmiert bin.“ Er zog sich die Stiefel und den roten Mantel an. „Los geht’s“, sagte er.
Herr Grün war sein Helfer. Er war groß und dünn und trug ein Gewand aus Stechpalmenblättern. Herr Grün suchte seinen Hut. Wo war der nur? Er hob Schneeflöckchen, die Katze, hoch. Da war sein Hut! Schnell bürstete er ihn und setzte ihn auf. „Los geht’s!“ sagte Herr Grün.
Draußen warfen die Rentiere die Köpfe hin und her und stampften mit den Hufen. Sie konnten es nicht erwarten! So aufregend war es in keiner anderen Nacht. Der Weihnachtsmann und Herr Grün beluden den Schlitten mit Spielzeug. Bald war der Schlitten vollgepackt. „Los geht’s!“ sagten alle.
Herr Grün saß neben dem Weihnachtsmann und sah auf die Karte. Endlich schüttelte der Weihnachtsmann die Zügel, und der Schlitten erhob sich in die Nacht. Es war Vollmond, die Sterne blinkten hell am Himmel. „Ein richtiger Heiligabend“, sagte der Weihnachtsmann. Die Rentiere nickten, und die Schlittenglöckchen klingelten in der eisigen Luft.
Bald erreichten sie das erste Haus. Der Weihnachtsmann kletterte den Schornstein hinunter. Er lass den Wunschzettel, der am Kamin hing. „Anna wünscht sich einen Teddy und eine Uhr“, rief er den Schacht hinauf. Herr Grün suchte in den Säcken und fand die richtigen Geschenke. Er reichte sie hinunter, und der Weihnachtsmann steckte alles in die Strümpfe.
Als der Weihnachtsmann Peters Schornstein hinabkletterte, fiel er in einen riesigen Sack, der vor den Kamin gespannt war. „Nanu!“ rief der Weihnachtsmann überrascht. Er strampelte sich frei und verwickelte sich dabei in die längste Wunschliste, die er je gesehen hatte. „Na, so ein gieriger Junge“, sagte er. „Wenn ich ihm alle Wünsche erfülle, bekommen andere Kinder gar nichts.“
„Gib mir mal den Sack“, sagte Herr Grün. Er fand ein Nähkästchen und machte sich ans Werk. Schnipp, schnapp, machte die Schere. Rein und raus ging die Nadel. Endlich hielt Herr Grün einen winzigen Strumpf hoch, den er aus dem riesigen Sack geschnitten hatte. „Der ist bestimmt gerade groß genug für ein einziges Geschenk“, sagte er.
Dann landete der Schlitten auf einem krummen Häuschen. Die Tür bog sich in eine Richtung, das Fenster in die andere. Sogar der Schornstein war verdreht, so wie ein Korkenzieher. Bevor der Weihnachtsmann hinunterging, holte er tief Luft. Doch schon bald steckte er fest. „Hilfe! Hilfe!“ schrie er.
Herr Grün zog. Die Rentiere zogen. Wie einen Korken zogen sie den Weihnachtsmann heraus. „Was sollen wir tun?“ fragte er. Herr Grün holte eine Angelrute vom Schlitten. Er warf die Schnur den Schornstein hinab, dann fischte er einen gelben Strumpf heraus. „Paul wünscht sich eine Uhr“, sagte Herr Grün. Der Weihnachtsmann füllte den Strumpf und ließ ihn hinunter.
Weiter ging es durch die Nacht, von einem Kamin zum nächsten, von Strumpf zu Strumpf. Endlich kamen sie zum letzten Haus. Da wohnten die Zwillinge Karin und Jan. Herr Grün suchte zwischen den Säcken. „Weihnachtsmann“, rief Herr Grün den Schornstein hinunter, „die Geschenke sind leider ausgegangen!“
Der Weihnachtsmann half suchen. „Das gibt es doch gar nicht!“ sagte er. „Dem Weihnachtsmann dürfen die Geschenke nicht ausgehen. Herr Grün, was sollen wir machen? Karin und Jan finden morgen nichts im Strumpf.“ Beide setzten sich auf das Dach und dachten angestrengt nach.
„Was wünschen sich die Zwillinge denn?“ fragte Herr Grün. Der Weihnachtsmann las den Wunschzettel und klatschte in die Hände. „Lesen Sie mal, Herr Grün!“ Herr Grün setzte sich die Brille auf. „Lieber Weihnachtsmann“, las er, „unser Vater hat einen Spielzeugladen, wir brauchen nichts. Aber dürfen wir bitte einmal mit dem Schlitten fahren? Von Karin und Jan.“
Das war ein Spaß für Karin und Jan! Sie hielten abwechselnd die Zügel und fuhren dreimal um die Stadt. Sie sahen die Häuser ihrer Freunde und Omas Häuschen am See. Zum Schluss landeten sie auf dem eigenen Dach. Die Zwillinge winkten zum Abschied und klingelten mit den Schlittenglöckchen, die der Weihnachtsmann ihnen gegeben hatte. Diesen Heiligabend würden sie nie vergessen.
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maerchenletter · 4 years ago
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Die Bescherung
Der Weihnachtsmann putzte seine großen schwarzen Stiefel so blank, dass sich sein lächelndes Gesicht darin spiegelte. „Heiligabend muss ich sehr gut aussehen“, sagte der Weihnachtsmann. „Auch wenn ich am Weihnachtstag ganz mit Ruß beschmiert bin.“ Er zog sich die Stiefel und den roten Mantel an. „Los geht’s“, sagte er. Herr Grün war sein Helfer. Er war groß und dünn und trug ein Gewand aus Stechpalmenblättern. Herr Grün suchte seinen Hut. Wo war der nur? Er hob Schneeflöckchen, die Katze, hoch. Da war sein Hut! Schnell bürstete er ihn und setzte ihn auf. „Los geht’s!“ sagte Herr Grün. Draußen warfen die Rentiere die Köpfe hin und her und stampften mit den Hufen. Sie konnten es nicht erwarten! So aufregend war es in keiner anderen Nacht. Der Weihnachtsmann und Herr Grün beluden den Schlitten mit Spielzeug. Bald war der Schlitten vollgepackt. „Los geht’s!“ sagten alle. Herr Grün saß neben dem Weihnachtsmann und sah auf die Karte. Endlich schüttelte der Weihnachtsmann die Zügel, und der Schlitten erhob sich in die Nacht. Es war Vollmond, die Sterne blinkten hell am Himmel. „Ein richtiger Heiligabend“, sagte der Weihnachtsmann. Die Rentiere nickten, und die Schlittenglöckchen klingelten in der eisigen Luft. Bald erreichten sie das erste Haus. Der Weihnachtsmann kletterte den Schornstein hinunter. Er lass den Wunschzettel, der am Kamin hing. „Anna wünscht sich einen Teddy und eine Uhr“, rief er den Schacht hinauf. Herr Grün suchte in den Säcken und fand die richtigen Geschenke. Er reichte sie hinunter, und der Weihnachtsmann steckte alles in die Strümpfe. Als der Weihnachtsmann Peters Schornstein hinabkletterte, fiel er in einen riesigen Sack, der vor den Kamin gespannt war. „Nanu!“ rief der Weihnachtsmann überrascht. Er strampelte sich frei und verwickelte sich dabei in die längste Wunschliste, die er je gesehen hatte. „Na, so ein gieriger Junge“, sagte er. „Wenn ich ihm alle Wünsche erfülle, bekommen andere Kinder gar nichts.“ „Gib mir mal den Sack“, sagte Herr Grün. Er fand ein Nähkästchen und machte sich ans Werk. Schnipp, schnapp, machte die Schere. Rein und raus ging die Nadel. Endlich hielt Herr Grün einen winzigen Strumpf hoch, den er aus dem riesigen Sack geschnitten hatte. „Der ist bestimmt gerade groß genug für ein einziges Geschenk“, sagte er. Dann landete der Schlitten auf einem krummen Häuschen. Die Tür bog sich in eine Richtung, das Fenster in die andere. Sogar der Schornstein war verdreht, so wie ein Korkenzieher. Bevor der Weihnachtsmann hinunterging, holte er tief Luft. Doch schon bald steckte er fest. „Hilfe! Hilfe!“ schrie er. Herr Grün zog. Die Rentiere zogen. Wie einen Korken zogen sie den Weihnachtsmann heraus. „Was sollen wir tun?“ fragte er. Herr Grün holte eine Angelrute vom Schlitten. Er warf die Schnur den Schornstein hinab, dann fischte er einen gelben Strumpf heraus. „Paul wünscht sich eine Uhr“, sagte Herr Grün. Der Weihnachtsmann füllte den Strumpf und ließ ihn hinunter. Weiter ging es durch die Nacht, von einem Kamin zum nächsten, von Strumpf zu Strumpf. Endlich kamen sie zum letzten Haus. Da wohnten die Zwillinge Karin und Jan. Herr Grün suchte zwischen den Säcken. „Weihnachtsmann“, rief Herr Grün den Schornstein hinunter, „die Geschenke sind leider ausgegangen!“ Der Weihnachtsmann half suchen. „Das gibt es doch gar nicht!“ sagte er. „Dem Weihnachtsmann dürfen die Geschenke nicht ausgehen. Herr Grün, was sollen wir machen? Karin und Jan finden morgen nichts im Strumpf.“ Beide setzten sich auf das Dach und dachten angestrengt nach. „Was wünschen sich die Zwillinge denn?“ fragte Herr Grün. Der Weihnachtsmann las den Wunschzettel und klatschte in die Hände. „Lesen Sie mal, Herr Grün!“ Herr Grün setzte sich die Brille auf. „Lieber Weihnachtsmann“, las er, „unser Vater hat einen Spielzeugladen, wir brauchen nichts. Aber dürfen wir bitte einmal mit dem Schlitten fahren? Von Karin und Jan.“ Das war ein Spaß für Karin und Jan! Sie hielten abwechselnd die Zügel und fuhren dreimal um die Stadt. Sie sahen die Häuser ihrer Freunde und Omas Häuschen am See. Zum Schluss landeten sie auf dem eigenen Dach. Die Zwillinge winkten zum Abschied und klingelten mit den Schlittenglöckchen, die der Weihnachtsmann ihnen gegeben hatte. Diesen Heiligabend würden sie nie vergessen.
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maerchenletter · 4 years ago
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Der fliegende Holländer
Heinrich Smidt
Hoch auf den Wellen bewegte sich still und unheimlich der mächtige Rumpf eines Ostindien-Fahrers, der sich der Tafelbai gegenüber befand.
Seit drei Tagen kämpfte er vergebens mit einer Windstille. Die kaum gefüllten Obersegel brachten ihn nur wenig von der Stelle, und die heftige Strömung des Meeres trieb ihn unwiderstehlich seitwärts.
Hundert Augen hingen an der blauen Himmelsdecke, ob nicht irgendwo ein Wölkchen zu erspähen sei, von dem man die Rettung aus der stets wachsenden Gefahr erhoffen könne; aber die war klar und durchsichtig und spiegelte sich in dem glatten Meer wider.
Ein trüber Geist des Unmuts, der noch eine verborgenere Ursache als den der Windstille hatte, beherrschte das Schiff, das den stolzen Namen ›Gelderland‹ führte und der Stolz der holländisch-ostindischen Handelsflotte war. Der böse Geist, der den Frieden aus seinen Kajüten und von seinem Verdeck verjagt hatte, war der Kapitän desselben, Mynheer Claas van Belem, ein stolzer, herrschsüchtiger Mann mit einem versteinerten Herzen und einem belasteten Gewissen. Die Offiziere gingen lautlos auf und ab und warfen verstohlene Blicke nach dem Eingang der Kajüte, fürchtend, dass ihr Oberhaupt erscheinen werde. Die Matrosen ließen sich gar nicht sehen; sie hockten hinter den Booten, dem Spill und den Wasserfässern und flüsterten sich scheu und verstohlen ihre Bemerkungen und Befürchtungen zu.
Ein alter, bärtiger Matrose, der dreimal sieben Jahre auf Ostindien gefahren war, lag auf dem Bugspriet in dem Netz des Stagsegels und schaute auf einen jüngeren Genossen, der dicht unter ihm auf der blinden Rah saß. »Wir gehen hier vielem Unglück aus dem Wege«, sprach der junge Seemann von unten herauf. »Der Dienst auf dem Bugspriet hat sein Gutes. Das auswehende Jacksegel macht, dass wir vom Deck aus nicht gesehen werden können, und das Rauschen vor dem Bug übertönt unsere Worte. Wir können ohne Scheu miteinander reden.«
»Bis uns einer über den Hals kommt, der stark genug ist, uns das Maul zu stopfen: uns hier vorne und denen auf dem Quarterdeck. Hier in der Tafelbai ist nimmer etwas Gutes für einen Seemann zu hoffen und der soll seinen Gott preisen, der sie mit leicht gerefften Segeln rasch durchschneidet. Wir liegen nun schon drei Tage darin, ohne von der Stelle zu kommen, und wenn der erscheint, dessen Namen ein frommer Seemann nicht aussprechen soll, ohne ein Gebet herzusagen –«
»Ich weiß schon«, unterbrach ihn jener. »Ihr meint Vanderdecken, den Fliegenden Holländer.«
»Still, du Unglücksbursche!«
»Nun? Ich werde doch wohl von ihm reden können? Ist sein Name so gefährlich, dass er Euch vergiftet, wenn Ihr ihn in den Mund nehmt? Alles Glück mit Hollands Flagge! Sie wird ebenso ungestört von unserer Gaffel wehen, wenn Kapitän Vanderdecken sich tausend Meilen von uns befindet, als wenn er auf Kanonen-Schussweite in unser Kielwasser steuert; denn, mein guter Schiffsmaat, ich muss Euch nur sagen, dass ich von der Geschichte nicht sonderlich viel glaube und sie eher für altes Weibergeklatsche als für Wahrheit halte.«
Der bärtige Matrose ward blutrot vor Zorn und richtete sich halb auf: »Die Pest auf deinen Leib, du Hund! Noch einmal stoße solche Lästerung aus, und ich gebe dir einen Fußtritt, dass du rücklings in die See fällst!«
Der junge Seemann eilte mit großer Schnelle nach dem Außenende der Rah und rief: »Seht zu, ob Ihr mich hier mit Eurem Fuß zu erreichen vermögt!« Er hielt einige Augenblicke in seiner gefährlichen Stellung aus, dann aber schwang er sich wieder einwärts und sagte: »Meine Ration Genever sollt Ihr zwei Tage hintereinander haben, wenn Ihr mir sagt, ob etwas an dieser Geschichte mit dem Fliegenden Holländer ist, und was Ihr von der Geschichte eigentlich wisst. Denkt nur, zwei Rationen!«
Dieser Versuchung konnte jener nicht widerstehen; er überwand seine Furcht vor dem Gespensterschiff und begann: »War der Kapitän eins großen und mächtigen Schiffs, dieser Vanderdecken; reiches Gut im Raum und böses Volk in seinen Kojen. Er selbst war der Ärgste an Bord und raste und tobte während einer ganzen Reise mit und ohne Ursache. Wenn er aber in seine Kajüte hinabstieg, schloss er sich ein.
Kein Mensch durfte versuchen, hereinzukommen, wenn ihm sein Leben lieb war, und dann gingen die Gräuel erst recht an. Er lärmte und tobte, stampfte mit den Füßen und sprach laut vor sich hin, doch so undeutlich, dass man nicht eine Silbe verstehen konnte. Oft erhielt er auch Antwort von einem Dritten, dessen Gegenwart niemand bemerkte, und wenn dieser sprach, war es ein Lärmen, als ob alle Geister der Hölle zugleich losgelassen würden. Manche wollen sogar gespürt haben, dass es nach höllischem Feuer roch. Gewiss ist es, dass nach einem solchen Versuch jedes Mal ein heftiger Sturm folgte, der das Schiff in die größte Gefahr brachte. Ging nun Kapitän Vanderdecken nach einer solchen, vom Teufel unterstützten, Reise vor Anker, dann begab er sich sogleich ans Land und brachte dort alle Teufeleien an, die er unterwegs von dem alten Höllenburschen gelernt hatte.«
»So trieb er es wohl nicht besonders in Zucht und Ehren«, fragte der junge Matrose, »und es ist am Ende wahr, dass er dem Weibsvolk absonderlich mitgespielt haben soll?«
»Der Teufel lasse ihm seine Niederträchtigkeiten wohl bekommen«, brummte jener. »Er büßt sie jetzt ab und wird büßen müssen bis an das Ende aller Tage. Hoch auf den Dünen der Nordsee und fern von jedem bewohnten Ort hatte er ein großes Haus zum Eigentum, darin trieb er sein Unwesen. Innerhalb der wohlverschlossenen Pforte saß ein altes Hexenweib als Wächterin, die war ihm treu ergeben und mit allen boshaften Ratschlägen schnell bei der Hand. Brachte ihm sein Gevatter Pferdefuß aus den Töchtern des Landes einen fetten Bissen zur Büßung seiner bösen Lust, dann nahm die Alte sie erst vor und richtete sie gehörig ab, damit der gestrenge Gebieter keinen Anlass zur Klage haben sollte. Dafür soll der Teufel dieser Alten besonders geneigt gewesen sein und hat versprochen, ihr den ganzen reichen Nachlass des Gebieters zuzuwenden, wenn er diesem eines Tages den Hals umdrehen werde.«
»Und hat die Hexe diese Erbschaft bekommen?«
»Nichts hat sie bekommen. Der Teufel sagte, sie solle erben, sobald er dem Vanderdecken den Hals umgedreht habe; aber dieser lebt gewissermaßen heute noch, und das ist ja eben die Teufelei, dass der Teufel seine eigene Base bei dieser Gelegenheit betrogen hat. Sie ging leer aus und er braucht das erbeutete Gold nun dazu, um unschuldiges Blut in seinen Schlingen zu fangen. Alle Goldstücke, welche die ostindische Compagnie uns zeigt, sind solche Teufels-Lockspeise, und das ehrliche Seemannsblut geht richtig in die Falle. Ich für mein Teil bin nun schon viermal hineingeplumst, denn eine Reise nach Batavia ist nichts anderes als ein Kreuzzug nach der Hölle, von dem Ihr mit leeren Taschen heimkehrt, und der ärgste Streich, den Euch der Teufel spielt, ist der, dass bei der Abrechnung jedes Mal Null mit Null aufgeht und Ihr von Glück sagen könnt, wenn Ihr eine Handvoll Silbergulden kriegt. Aber um wieder auf den Vanderdecken zu kommen und damit ich meinen Genever ehrlich verdiene: Es wurden in dem alten Hause arge Dinge angestellt und die Mädel waren dir so gelehrig, dass sie das tollste Zeug trieben, was nur von ihnen verlangt wurde. Nun dauerte aber eine solche Freude nicht lange, und wenn er einer Dirne satt war, gab er ihr nicht etwa eine Handvoll Gold und schickte sie fort; nein, er drehte ihr den Hals um, damit sie nicht ausplaudern sollte, wie es bei ihm zugehe. Brach dann die Nacht herein, so steckte er, mit Hilfe seiner Hexe, die Leiche in einen großen Sack; sie schleppten diesen an den Strand und warfen ihn in die See. Wenn nun der Sack hineinplumpste, und die See darüber zusammenschlug, lachten die beiden Bösewichter laut auf, und der Teufel antwortete ihnen von ferne.
Einstmals aber nahm das Ding ein unerwartetes Ende. Der Teufel hatte wieder ein kostbares Stück für seinen Freund ausgesucht und brachte es ihm. Es war ein Mädchen wie Milch und Blut und das Schönste, was Vanderdecken bisher gesehen hatte. Der Teufel hatte sie geraubt, als sie aus der heiligen Messe kam, in demselben Augenblick, als sie dem harrenden Diener das Messbuch zu tragen gab, denn vorher hatte er keine Macht über sie. Man sagt, die Jungfrau habe in jenem Augenblick an ein großes Kirmesfest gedacht, wo sie ihren Herzallerliebsten treffen sollte; darüber sei ihr Gemüt in weltliche Dinge versenkt und die Messe vergessen worden. Dies benutzte der Teufel und führte sie ungesehen nach dem Hause Vanderdeckens. Die alte Hexe gab sich mit dem schönen Kind die allererdenklichste Mühe, aber es wollte ihr nicht gelingen. Alles war vergebens, und wenn die Alte ihr das Sündenleben in den schönsten Farben malte, fiel die Jungfrau auf die Knie und betete um Erlösung aus diesem Elend. Da erwachte der Zorn der Alten und brach maßlos über das arme Kind herein. Sie schlug es und eilte zu Vanderdecken, die widerspenstige Dirne bei ihm zu verklagen. Dieser geriet ebenfalls in Wut und rannte nach dem Flur, wo sich das fromme Mägdelein befand, um sie auch zu züchtigen. Als er ihrer jedoch ansichtig ward und den Heiligenschein bemerkte, der von ihr ausging, bemächtigte sich seiner ein sanfteres Gefühl, und er suchte sie durch freundliche Worte zu kirren. Aber welche Künste er auch versuchen mochte, alles blieb fruchtlos, denn lieber wollte sie ihren Leib mit ihren Nägeln zerfleischen als zugeben, dass er ihn mit seinen unheiligen Händen berühre. Da wurde Vanderdecken noch dreimal zorniger und außer sich rief er: ›Wenn du der Bitte eines Mannes widerstehst, der sich zum ersten Male zu solcher Feigheit erniedrigte, so wollen wir sehen, was die Gewalt über dich vermag. Steh mir bei, Hexenweib! Wir wollen ihr zeigen, wie dem geschieht, der sich dem Willen Vanderdeckens widersetzt!‹ Und kaum hatte er diese Worte gesprochen, als beide über das arme Geschöpf herfielen und sie jämmerlich schlugen. Lange ertrug sie diese barbarische Behandlung nicht, sondern sank tot zu den Füßen ihrer Peiniger nieder. Darüber verzehrte sich Vanderdecken fast vor Zorn und goss all seine Wut auf den Nacken seiner Hexe aus; dann aber nähten sie auch dies Mägdelein in einen Sack und trugen es zum Meer.«
»Das ist eine grauenhafte Geschichte, Schiffsmaat«, sprach der junge Matrose, sich schüttelnd; »wie ward es denn weiter?«
Der Bärtige fuhr fort: »Ich will es zu Ende bringen. Sie schleppten also den Leichnam nach dem Strand und stürzten ihn in die See. Diesmal lachten sie nicht dabei, aber desto lauter lachte der Teufel: denn das ist ein feiner Bursche und er mochte wohl merken, dass er seinen Freund Vanderdecken jetzt beim Schopf habe. Kaum aber war das Gelächter des Teufels verhallt, als man ein helles Klingen vernahm, und obgleich der Himmel von düsteren Wolken eingehüllt war, verbreitete sich doch ein so heller Schein auf dem Meer, als ob es vom Mond beschienen würde. Und in diesem Augenblick tauchte auch die Leiche der frommen Jungfrau aus den Wellen auf, das bleiche Antlitz zu Vanderdecken gewendet und ihm unaufhörlich die Worte zurufend: ›Folge mir! Folge mir!‹ Das brachte ihn so sehr außer sich, dass er sich kopfüber in die See gestürzt hätte, wenn ihn die Hexe nicht mit Gewalt zurückgehalten hätte, wobei sie vom Teufel tüchtig unterstützt wurde, denn der hatte ihm ein weit schlimmeres Ende zugedacht. Darum flüsterte er dem halb besinnungslosen Kapitän zu, die Jungfrau sei gar nicht tot, und er könne sie für seine Lust retten, wenn er nur wolle.
Kaum hatte der Teufel das gesagt, als auch ein großes Schiff sichtbar wurde, das Vanderdecken bis dahin nicht gesehen hatte, und als er genauer hinsah, entdeckte er, dass es sein eigenes war. Jetzt trieb es ihn an Bord und kaum war er über das Fallreep, so stiegen alle Segel am Mast wie von selbst in die Höhe. Er aber befahl, dem hellen Schein nachzusteuern, der um das Haupt des jungen Mädchens strahle, und den nur er ganz allein erblickte. So trieb er durch die Nordsee, durch den Kanal, am Pic von Teneriffa vorüber, durch den weiten Atlantischen Ozean. Die Mannschaft war nicht wenig über eine so schnelle Abreise verwundert gewesen, und die Offiziere wagten es, bescheiden darum zu fragen. Sie aber erhielten keine andere Antwort als Verwünschungen und dass ein Mädchenhaupt vor ihnen auf der See herumtanze, das von einem Heiligenschein umgeben sei und das er haben müsse. Wenn die Männer solche Äußerungen vernahmen, zuckten sie die Achseln und gingen auf die Seite, denn sie konnten nicht anders glauben, als dass ihr Kapitän um seinen Verstand gekommen sei, und dachten schon daran, ihn abzusetzen. So erreichten sie nun die Tafelbai, eben den Punkt, wo wir uns befinden und wo –«
Die Furcht übermannte den Erzähler abermals; er hielt inne und blickte nach allen Seiten um sich.
»Die Sonne sinkt immer tiefer und bald wird es stockfinster sein; dann ist die Zeit, wo der böse Vanderdecken sich sehen lässt, darum laß uns rasch enden. Er erreichte nun die Tafelbai und hier ging das Ungemach erst recht an; der Wind blies ihm heftig entgegen. Wochen und Monate vergingen, ohne dass er die Bai zu durchschneiden vermochte; bald lag das Schiff über Steuerbords-, bald über Backbords-Halsen, aber immer trieb es während des einen Ganges ebenso viel rückwärts, wie es im vorigen gewonnen hatte, und alle Mühe und Arbeit war vergebens gewesen. Da ergriff den Vanderdecken eine ungeheure Wut. Er lästerte den Namen Gottes und rief: ›Nun will ich hier segeln bis an das Ende aller Tage! Soll ich mir selbst ein Schrecken und Grauen sein, will ich es auch für alle diejenigen werden, die in mein Kielwasser steuern, solange der Wind weht und der Hahn kräht!‹ Und kaum hatte er diese Worte gesprochen, als der Hahn, der sich in den Hühnerhocken befand, überlaut zu krähen anfing. In demselben Augenblick brach ein heftiger Sturm aus und das Schiff raste, fast auf die Seite geworfen, mit einer solchen Schnelligkeit dahin, wie es noch jetzt die Unglückskinder sehen, die das Schicksal haben, sein Kielwasser zu schneiden.«
Der junge Seemann, der ein sehr aufmerksamer Zuhörer gewesen war, schüttelte sich vor Furcht, denn er hatte schon anderswo gehört, dass derjenige, der des Fliegenden Holländers Kielwasser kreuzt, sich selbst den Lebensfaden durchschneidet und leise wiederholte er sich die Worte Vanderdeckens:
»Solange der Wind weht,
Und der Hahn kräht.«
Die Pfeife des Bootsmanns unterbrach das Gespräch der beiden Maaten. Der Wind hatte etwas geraumt, und die Rahen wurden aufgebraßt. Kaum war die Ordnung wieder hergestellt, als Kapitän Claas van Belem das Deck der ›Gelderland‹ betrat. Er grüßte seine Offiziere mit einem mürrischen Kopfnicken und begann dann nach seiner Gewohnheit das Quarterdeck auf- und abzuschreiten. Überall war sein Auge und überall fand er etwas zu tadeln. Die Offiziere erhielten entweder offene Verweise oder ironische Lobsprüche, und die Matrosen wurden bis in die höchsten Toppe geschickt, um die Launen des Kapitäns auszuführen. Die rascheste Befolgung der Befehle reichte nicht aus, den Unmut des Gebieters zu besiegen, sondern dieser wuchs, und wer in seine Nähe kam, war gewiss, die nachdrücklichsten Beweise seiner Unzufriedenheit zu empfangen.
Auf der Bramsahling des Fockmastes trafen zwei junge Toppgasten zusammen, die hierher auf den Udkiek geschickt waren.
»Hörst das Donnerwetter unter uns, Jantje?«
»Höre es. Ist gerade so, als ob du auf einem Berg stehst; da blitzt und donnert es auch unter dir.«
»Mag sein. Bin niemals auf einem Berg gewesen, außer auf dem Hamburger, da hat es aber nicht gedonnert und geblitzt, wohl aber gepaukt und trompetet. Was, zum Teufel, ist denn wieder los?«
»Weißt es nicht? Der Kapitän trägt in seiner Brust eine Art Ding, das man Gewissen nennt. So groß er auch ist, so ist das kleine Ding doch größer und will subtil behandelt sein, darum hat er es am liebsten, wenn es ruhig schläft. Nun aber wacht das unverschämte Ding mitunter auf und dann soll es ihn unbarmherzig zwicken und zwacken. Sage mir doch, was tat deine Mutter, als du ein kleines Kind warst, und sie dich in den Schlaf bringen wollte?«
»Sie sang mir etwas vor vom weißen Gänschen.«
»So macht's der da unten auch. Er singt seinen Leuten so viel vom Teufelholen und vom Donnerwetter vor, bis das Gewissen die Kneifzange ruhen lässt.«
»Was hat es denn mit dem bösen Gewissen auf sich? Ist es wahr, dass er eine hübsche Frau hatte?«
»So ist es, Backsmaat! Sie war so schön, dass man sie das Auge von Brabant nannte, denn sie war in Brabant geboren. Sie trug auch ihren Mann auf Händen, aber der hat sich nicht sonderlich um sie gekümmert und sie stets rau und kurz behandelt. Darüber hat sich das arme Weib gegrämt und ist ihm aus dem Wege gegangen. Eines Tages, als der Kapitän unverhofft in den Garten tritt, sieht er seine Frau in einer Laube sitzen und ihr zur Seite einen Mann, der sein Angesicht an der Brust des schönen Weibchens verbirgt. Er soll sehr aufgebracht gewesen sein von Galle und Wein, sonst hätte er doch wohl erst ein wenig näher hingesehen, aber der Teufel hatte ihn schon in den Krallen, darum zog er den Degen und stach beide durch und durch.«
»Alle Wetter!»
»Durch und durch, sage ich dir! Und die Folge davon war, dass er ein paar Tage darauf seine Frau samt ihrem Vater begraben musste.«
»Halt ein mit deiner Geschichte, mich packt der Schwindel!«
»Sei kein Narr, Bursche! Es ist auch schon aus. Weißt du nun, warum ihn sein Gewissen wie das höllische Feuer brennt? Das ist kein Brand, den man so leicht löschen kann.«
»Haben sie ihn denn nicht für seine Untat gestraft?«
»Hat sich was! Mynheer Claas van Belem ist ein reicher, angesehener Mann, und reiche, angesehene Leute haben immer recht. Er wurde zwar in Gewahrsam gebracht, aber die Doktoren steckten sich dazwischen und sagten – gib acht, Junge, du sollst hören, dass ich durch die hohe Schule gelaufen bin, und sollst Respekt vor mir kriegen! – sie sagten, er leide an momentanem Wahnsinn und da könne ihm keiner etwas anhaben.«
»Ein Segel! Ein Segel!« rief der Udkiekmann vom großen Topp.
Die beiden Vortopp-Männer fuhren bei diesem Ruf erschrocken von ihrer Sahling auf; ihr Blick schweifte über den Horizont hin und gleich darauf schrien auch sie: »Ein Segel!«
Es dämmerte schon. Die Nebel brauten auf dem Meere und machten den Blick in die Ferne unsicher. Man sah hoch im Luv etwas Weißes auf den Wellen zittern, es konnte ein Segel, aber auch irgendeine Luftspiegelung sein. In wenigen Minuten war es ganz und gar verschwunden. Die Mannschaft war in Aufruhr. Der Ruf: »Ein Segel!« war den Matrosen durch Mark und Bein gedrungen, sie sahen schon den verdammten Vanderdecken sich ihnen nähern und sie in den Abgrund ziehen. Überall steckte man die Köpfe zusammen, überall war ein unheimliches Flüstern: »Wenn er es ist, haben wir ihn in einer Stunde längsseits.«
»Und dann setzt er ein Boot aus.«
»Das tut er immer. Und Gnade uns Gott, wenn er an Bord kommt; dann bringt er Briefe, über deren Bestellung uns der Atem ausgehen kann.«
»Verdammt sei mein Eifer, an Bord dieses heillosen Schiffes zu gehen! Nun muss ich doch in den Rachen dieses Teufels fahren und kann nicht mit meiner Gesche Hochzeit machen.«
Auch auf dem Halbdeck herrschte einige Aufregung; die Offiziere warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Der Kapitän trat zu ihnen: »Wollen die Offiziere den Matrosen nachäffen, die schon alle den Verstand verloren haben und nach einem Gespenst Ausschau halten, das nirgends als in ihrem Gehirn spukt?«
»Doch, Kapitän!« entgegnete der erste Offizier, ein alter, sturmfester Seemann. »Der Mord hat den Fliegenden Holländer auf das flüchtige Element gebannt, und leicht wittert er Blut. Ich gehöre nicht zu den starken Geistern, die alles hinwegleugnen wollen, was über ihren Horizont geht, und nie werde ich es mir einfallen lassen, das Dasein jenes unheilvollen Schiffes zu leugnen. Mag er immerhin kommen; fest und ruhig will ich ihm entgegensehen, denn ich habe ein unbelastetes Gewissen.«
Der Kapitän biss sich auf die Lippen und ging hastig auf und nieder; die Offiziere erwarteten mit kalter Resignation den Zornesausbruch ihres Gebieters.
»Ein Segel! Ein Segel!« schrie es wieder, und derselbe gespenstische weiße Streifen flog in Luv hin.
»Bootsmann!« rief der Kapitän überlaut. »Achtet auf die Leute! Der erste, der wieder ruft: Ein Segel! soll an den Mast gebunden und gepeitscht werden, bis ihm der Atem ausgeht. Ruhe überall! – Für jedes Wort, das aus dem ungewaschenen Maul eines Matrosen geht, ein Dutzend Hiebe mit der Katze.«
Grabesstille herrschte an Bord des Ostindien-Fahrers; stumm und scheuen Blickes schlichen die Leute aneinander vorüber. Düstere Nebel schaukelten sich auf den Wellen, die Nacht brach unheilverkündend herein.
Ein junger Offizier, ein Verwandter des Kapitäns, wagte es endlich, diesen anzureden. Er erhielt eine kurze, beleidigende Antwort. Jener erwiderte lebhaft. Der Wortwechsel wurde heftiger und außer sich schrie der Kapitän: »Schlagt den Rebellen in Ketten.«
Der junge Offizier trat ganz nahe an ihn heran: »Mich wunderts, dass ihr das Richteramt nicht stehenden Fußes ausübt, und mich dahin sendet, wohin Ihr meinen Oheim und Euer Weib gesendet habt, sollte es auch abermals in momentanem Wahnsinn geschehen.«
Da wich alles Blut aus dem Gesicht des Kapitäns, seine Hände ballten sich krampfhaft, und der Schaum trat ihm vor den Mund. Er griff nach dem Dolch, ein Stoß, und der junge Mann lag röchelnd am Boden.
Ein Schrei des Entsetzens entfuhr den Offizieren, die ihrem sterbenden Kameraden zu Hilfe eilten.
»Jesus Maria und Joseph!« schrie ein junger Portugiese, der hoch auf dem Spill stand und deutete mit der Hand vor sich hin.
Durch die Finsternis wurde die unförmige Gestalt eines riesenhaften Schiffes sichtbar und schwankte geräuschlos vor dem Bug der ›Gelderland‹ vorüber.
Es war der Fliegende Holländer!
Mit stillem Grauen starrten die Matrosen die unheilvolle Erscheinung an, die sich langsam fortbewegte und endlich im Nebel verschwand.
Der Kapitän zog sich in seine Kajüte zurück. Die Offiziere standen auf einem Haufen zusammengedrängt und berieten miteinander, während einige unerschrockene Toppmänner, unter Anleitung des Bootsmanns, die Leiche des jungen Mannes unter Deck trugen. Die Leute rannten in großer Unordnung durcheinander. Keine Ermahnung, kein Befehl der Backsoffiziere vermochte sie zur Ruhe zu verweisen; sie verweigerten den Gehorsam und schickten sich an, Gewalt mit Gewalt zu beantworten.
So ging die Nacht vorüber und der anbrechende Morgen fand den Aufruhr im vollen Gange. Aber als der erste Strahl des Tages über das Deck hinflog, wich der Zorn von den erbleichenden Gesichtern, denn das gespenstische Schiff des entsetzlichen Vanderdecken dehnte sich vor ihnen auf den Wogen und seine Schaluppe stieß von Bord.
Mit Entsetzen sahen Offiziere und Matrosen diesem Schauspiel regungslos zu. Nur der Kapitän blickte trotzig um sich; auf seinem Gesicht sah man keine Furcht und halb drohend, halb spottend rief er über das Deck hin: »Haltet ein starkes Tauende bereit, um es diesem Burschen zuzuwerfen. Wir wollen hören, was er uns zu sagen hat.«
Dieser Befehl ward nicht befolgt, denn alle starrten nach der Schaluppe, die ohne Ruder über die Wellen glitt und gerade auf die ›Gelderland‹ zuhielt. Nur ein Mann befand sich darin und starrte das Schiff unverwandten Blickes an.
Zum ersten Mal beschlich jetzt ein Gefühl der Furcht das Herz des Kapitäns und er unterließ es, seinem Befehl den gehörigen Nachdruck zu geben. Auch sein Auge haftete auf der Schaluppe, die jetzt den Bug streifte und darauf am Fallreep des Steuerbords wie gefesselt lag. Der Seemann, der sich darin befand, stieg das Deck hinan, ging gerade auf den Kapitän zu, der sich an die Spitze seiner Offiziere gestellt hatte und fragte mit einer hohlen Grabesstimme: »Wer seid Ihr und woher kommt Ihr?«
»Wir kommen von Amsterdam. Dies ist das Schiff ›Gelderland‹, und ich bin Claas van Belem, der Befehlshaber desselben.«
»Claas van Belem, Ihr wollt so gut sein, diese Briefe, die Euch mein Kapitän, Mynheer Vanderdecken sendet, mit nach Holland zu nehmen und sie gewissenhaft zu besorgen.«
»Was fällt Euch ein? Wann soll ich diese Briefe besorgen? Jetzt segle ich nach Batavia und erst in sieben Jahren kehre ich nach Amsterdam zurück.«
»Eine kurze Frist! Ihr kehrt immer noch früher zurück als wir, denn wir kreuzen hier in der Tafelbai und finden nimmer das Ende. Nehmt die Briefe!«
Der Ton des gespenstischen Seemannes war so dringend, so Mitleid erregend und furchtbar zugleich; der Blick, den er auf den Kapitän warf, verwirrte diesen so sehr, dass er die Hand ausstreckte und zum großen Entsetzen aller die Briefe annahm.
In diesem Augenblick hob sich eine hohe Gestalt über die Galerie des Gespensterschiffes empor; sie breitete die Arme aus, wie zum Gruße, dann brachte sie das Sprachrohr an den Mund und rief über das Meer hin: »Grüßt die Heimat!« Und gleich darauf war sie wieder verschwunden.
»Das ist Vanderdecken!« sprach der gespenstische Seemann. »Er sendet nur dem einen Gruß, den er dieser Ehre besonders wert hält.«
Und als er das gesagt hatte, war er vom Deck und seine Schaluppe vom Fallreep verschwunden, das Gespensterschiff aber schien vor den Augen der ganzen Mannschaft in den Abgrund zu sinken.
Der Kapitän hielt noch immer die Briefe vor sich hin und las:
»An den ehrenwerten Kaufmann, Mynheer Berend van den Stagen, wohnhaft Stubenhuik 3.«
Der erste Offizier unterbrach ihn: »Das Haus Berend van Stagen ist bereits verschollen und Stubenhuik seit länger als hundert Jahren niedergerissen, um an dieser Stelle eine neue Kirche zu bauen. Ihr seht, der Fliegende Holländer ist nun doch bei uns an Bord gewesen und wir sind verloren.«
Der ausbrechende Sturm verschlang seine Worte und brachte die Tafelbai in solche Aufregung, dass das Schiff binnen wenigen Minuten in die äußerste Gefahr geriet. Schwere Gewitterwolken senkten sich immer tiefer herab und umleuchteten es mit ihren Blitzen. Der Notschrei der Mannschaft verhallte ungehört im Brausen des Sturmes.
Das Schiff ›Gelderland‹ ist nie in Batavia angekommen.
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maerchenletter · 4 years ago
Text
Tischlein deck' dich
Gebr. Grimm
Vorzeiten war ein Schneider, der drei Söhne hatte und nur eine einzige Ziege. Aber die Ziege, weil sie alle zusammen mit ihrer Milch ernährte, musste ihr gutes Futter haben und täglich hinaus auf die Weide geführt werden. Die Söhne taten das auch nach der Reihe. Einmal brachte sie der älteste auf den Kirchhof, wo die schönsten Kräuter standen, ließ sie da fressen und herumspringen. Abends, als es Zeit war, heimzugehen. fragte er: "Ziege, bist du satt?' Die Ziege antwortete: "Ich bin so satt, Ich mag kein Blatt: meh meh!" "So komm' nach Haus", sprach der Junge, fasste sie am Strickchen' führte sie in den Stall und band sie fest. "Nun", fragte der alte Schneider, "hat die Ziege ihr gehöriges Futter?" "oh", antwortete der Sohn, ,die ist so satt, sie mag kein Blatt." Der Vater aber wollte sich selbst überzeugen, ging hinab in den Stall, streichelte das liebe Tier und fragte:" Ziege, bist du auch satt?" Die Ziege antwortete: "Wovon sollt' ich satt sein? Ich sprang nur über Gräbelein Und fand kein einzig Blättelein: meh! meh!" "Was muss ich hören!" rief der Schneider, lief hinauf und sprach zu dem Jungen: "Ei, du Lügner! Sagst, die Ziege wäre satt, und hast sie hungern lassen?" Und in seinem Zorne nahm er die Elle von der Wand und jagte ihn mit Schlägen hinaus. Am andern Tag war die Reihe am zweiten Sohn; der suchte an der Gartenhecke einen Platz aus, wo lauter gute Kräuter standen, und die Ziege fraß sie rein ab Abends, als er heim wollte, fragte er: "Ziege, bist du satt?" Die Ziege antwortete: "Ich bin so satt, Ich mag kein Blatt: meh! meh!" "So komm' nach Haus", sprach der Junge, zog sie heim und band sie im Stalle fest. "Nun", fragte der alte Schneider, "hat die Ziege ihr gehöriges Futter?" -"Oh", antwortete der Sohn, "die ist so satt, sie mag kein Blatt." Der Schneider wollte sich darauf nicht verlassen, ging hinab in den Stall und fragte: "Ziege, bist du auch satt?" Die Ziege antwortete: "Wovon sollt' ich satt sein? Ich sprang nur über Gräbelein Und fand kein einzig Blättelein: meh! meh!" "Der gottlose Bösewicht!" schrie der Schneider, "so ein frommes Tier hungern zu lassen!" lief hinauf und schlug mit der Elle den Jungen zur Haustür hinaus. Die Reihe kam jetzt an den dritten Sohn, der wolle seine Sache gut rnachen, suchte Buschwerk mit dem schönsten Laube aus und ließ die Ziege daran fressen. Abends, als er heim wollte, fragte er: "Ziege, bist du Satt?" Die Ziege antwortete: "Ich bin so satt, Ich mag kein Blatt: meh meh!" "So komm' nach Haus", sagte der Junge, führte sie in den Stall und band sie fest" Nun", fragte der alte Schneider, "hat die Ziege ihr gehöriges Futter?" -"Oh", antwortete der Sohn, "die ist so satt, sie mag kein Blatt." Der Schneider traute nicht, ging hinab und fragte: "Ziege, bist du auch satt?" Das boshafte Tier antwortete: "Wovon sollt' ich satt sein? Ich sprang nur über Gräbelein Und fand kein einzig Blättelein: meh! meh!" O du Lügenbrut!" rief der Schneider, "einer so gottlos und pflichtvergessen wie der andere! Ihr sollt mich nicht länger zum Narren haben!" Und vor Zorn ganz außer sich sprang er hinauf und gerbte dem armen Jungen mit der Elle den Rücken so gewaltig, dass er zum Haus hinaussprang. Der alte Schneider war nun mit seiner Ziege allein. Am andern Morgen ging er hinab in den Stall, liebkoste die Ziege und sprach: "Komm, mein liebes Tierlein, ich will dich selbst zur Weide führen." Er nahm sie am Strick und brachte sie zu grünen Hecken und unter Schafrippe und was sonst die Ziegen gern fressen. "Da kannst du dich einmal nach Herzenslust sättigen", sprach er zu ihr und ließ sie weiden bis zum Abend. Da fragte er: ,.Ziege' bist du satt?" Sie antwortete: "Ich bin so satt, Ich mag kein Blatt: meh meh!" "So komm' nach Haus", sagte der Schneider, führte sie in den Stall und band sie fest. Als er wegging, kehrte er sich noch einmal um und sagte: "Nun bist du doch einmal satt!" Aber die Ziege machte es ihm nicht besser und rief: "Wovon sollt' ich satt sein? Ich sprang nur über Gräbelein Und fand kein einzig Blättelein: meh! meh!" Als der Schneider das hörte, stutzte er und sah wohl, dass er seine drei Söhne ohne Ursache verstoßen hatte. "Wart"', rief er, "du undankbares Geschöpf! Dich fortzujagen ist noch zu wenig, ich will dich zeichnen, dass du dich unter ehrbaren Schneidern nicht mehr darfst sehen lassen." In einer Hast sprang er hinauf, holte sein Bartmesser, seifte der Ziege den Kopf ein und schor sie glatt wie seine flache Hand. Und weil die Elle zu ehrenvoll gewesen wäre, holte er die Peitsche und versetzte ihr solche Hiebe, dass sie in gewaltigen Sprüngen davonlief. Der Schneider, als er so ganz einsam in seinem Hause saß, verfiel in große Traurigkeit und hätte seine Söhne gern wieder gehabt, aber niemand wusste, wo sie hingeraten waren. Der älteste war zu einem Schreiner in die Lehre gegangen, da lernte er fleißig und unverdrossen, und als seine Zeit herum war, dass er wandern sollte, schenkte ihm der Meister ein Tischchen, das gar kein besonderes Ansehen hatte und von gewöhnlichem Holz war; aber es hatte eine gute Eigenschaft. Wenn man es hinstellte und sprach: "Tischchen, deck' dich!" so war das gute Tischchen auf einmal mit einem sauberen Tüchlein bedeckt und stand da ein Teller und Messer und Gabel daneben und Schüsseln mit Gesottenem und Gebratenem, soviel Platz hatten, und ein großes Glas mit rotem Wein leuchtete, dass einem das Herz lachte. Der junge Gesell dachte: "Damit hast du genug für dein Lebtag", zog guter Dinge in die Welt umher und bekümmerte sich gar nicht darum, ob ein Wirtshaus gut oder schlecht, und ob etwas darin zu finden war oder nicht. Wenn es ihm gefiel, so kehrte er gar nicht ein, sondern im Felde, im Walde, auf einer Wiese, wo er Lust hatte, nahm er sein Tischchen vom Rücken, stellte es vor sich und sprach: "Deck' dich!", so war alles da, was sein Herz begehrte. Endlich kam es ihm in den Sinn, er wollte zu seinem Vater zurückkehren, sein Zorn würde sich gelegt haben, und mit dem Tischchendeckdich würde er ihn gern wieder aufnehmen. Es trug sich zu, dass er auf dem Heimweg abends in ein Wirtshaus kam, das mit Gästen angefüllt war; sie hießen ihn willkommen und luden ihn ein, sich zu ihnen zu setzen und mit ihnen zu essen, sonst würde er schwerlich noch etwas bekommen. "Nein", antwortete der Schreiner, "die paar Bissen will ich euch nicht vor dem Munde wegnehmen, lieber sollt ihr meine Gäste sein." Sie lachten und meinten, er triebe seinen Spaß mit ihnen. Er aber stellte sein hölzernes Tischchen mitten in die Stube und sprach: "Tischchen, deck' dich!" Augenblicklich war es mit Speisen besetzt, so gut, wie sie der Wirt nicht hätte herbeischaffen können und wovon der Geruch den Gästen lieblich in die Nase stieg. "Zugegriffen, liebe Freunde", sprach der Schreiner, und die Gäste, als sie sahen, wie es gemeint war, ließen sich nicht zweimal bitten, rückten heran, zogen ihre Messer und griffen tapfer zu. Und was sie am meisten verwunderte: wenn eine Schüssel leer geworden war, stellte sich gleich von selbst eine volle an ihren Platz. Der Wirt stand in einer Ecke und sah dem Dinge zu. Er wusste gar nicht, was er sagen sollte, dachte aber: "Einen solchen Koch könntest du in deiner Wirtschaft wohl brauchen." Der Schreiner und seine Gesellschaft waren lustig bis in die späte Nacht; endlich legten sie sich schlafen, und der junge Geselle ging auch zu Bett und stellte sein Wünschtischchen an die Wand. Dem Wirte aber ließen seine Gedanken keine Ruhe. Es fiel ihm ein, dass in seiner Rumpelkammer ein altes Tischchen stünde, das gerade so aussähe, das holte er ganz sachte herbei und vertauschte es mit dem Wünschtischchen. Am andern Morgen zahlte der Meister sein Schlafgeld, packte sein Tischchen auf, dachte gar nicht daran, dass er ein falsches hätte, und ging seiner Wege. Zu Mittag kam er bei seinem Vater an, der ihn mit großer Freude empfing." Nun, mein lieber Sohn, was hast du gelernt?" sagte er zu ihm. "Vater, ich bin ein Schreiner geworden." - "Ein gutes Handwerk! erwiderte der Alte; "aber was hast du von deiner Wanderschaft mitgebracht?" - "Vater, das Beste, was ich mitgebracht habe, ist das Tischchen." Der Vater betrachtete es von allen Seiten und sagte: "Daran hast du kein Meisterstück gemacht, das ist ein altes und schlechtes Tischchen." - "Aber es ist ein Tischchendeckdich", antwortete der Sohn; "wenn ich es hinstelle und sage ihm, es solle sich decken, so stehen gleich die schönsten Gerichte darauf und ein Wein dabei, der das Herz erfreut. Ladet nur alle Verwandte und Freunde ein, die sollen sich einmal laben und erquicken, denn das Tischchen macht sie alle satt." Als die Gesellschaft beisammen war, stellte er sein Tischchen mitten in die Stube und sprach: "Tischchen' deck' dich!" Aber das Tischchen regte sich nicht und blieb so leer wie ein anderer Tisch, der die Sprache nicht versteht. Da merkte der arme Geselle, dass ihm das Tischchen vertauscht war, und schämte sich, dass er wie ein Lügner dastand. Die Verwandten aber lachten ihn aus und mussten ungetrunken und ungegessen wieder heim wandern. Der Vater holte seine Lappen wieder herbei und schneiderte fort, der Sohn aber ging bei einem Meister in die Arbeit. Der zweite Sohn war zu einem Müller gekommen und bei ihm in die Lehre gegangen. Als er seine Jahre herum hatte, sprach der Meister: "Weil du dich so wohl gehalten hast, schenke ich dir einen Esel von einer besonderen Art, er zieht nicht am Wagen und trägt auch keine Säcke." "Wozu ist er denn nütze?" fragte der junge Geselle. "Er speit Gold", antwortete der Müller. "Wenn du ihn auf ein Tuch stellst und sprichst: ,Bricklebrit!' so speit dir das gute Tier Goldstücke aus, hinten und vorn." - "Das ist eine schöne Sache", sprach der Geselle, dankte dem Meister und zog in die Welt. Wenn er Gold nötig hatte, brauchte er nur zu seinem Esel "Bricklebrit!" zu sagen, so regnete es Goldstücke' und er hatte weiter keine Mühe, als sie von der Erde aufzuheben. Wo er hinkam, war ihm das Beste gut genug, und je teurer je lieber, denn er hatte immer einen vollen Beutel. Als er sich eine Zeitlang in der Welt umgesehen hatte, dachte er:" Du musst deinen Vater aufsuchen; wenn du mit dem Goldesel kommst, wird er seinen Zorn vergessen und dich gut aufnehmen." Es trug sich zu, dass er in dasselbe Wirtshaus geriet, wo seinem Bruder das Tischchen vertauscht worden war. Er führte seinen Esel an der Hand, und der Wirt wollte ihm das Tier abnehmen und anbinden, der junge Geselle aber sprach: "Gebt Euch keine Mühe; meinen Grauschimmel führe ich selbst in den Stall und binde ihn auch selbst an, denn ich muss wissen, wo er steht." Dem Wirt kam das verwunderlich vor, und er meinte, einer, der seinen Esel selbst besorgen müsste, hätte nicht viel zu verzehren; als aber der Fremde in die Tasche griff, zwei Goldstücke herausholte und sagte, er sollte nur etwas Gutes für ihn einkaufen, so machte er große Augen, lief und suchte das Beste, das er auftreiben konnte. Nach der Mahlzeit fragte der Gast, was er schuldig wäre. Der Wirt wollte die doppelte Kreide nicht sparen und sagte, noch ein paar Goldstücke müsste er zulegen. Der Geselle griff in die Tasche, aber sein Gold war eben zu Ende." Wartet einen Augenblick, Herr Wirt", sprach er, "ich will nur gehen und Gold holen", nahm aber das Tischtuch mit. Der Wirt wusste nicht, was das heißen sollte, war neugierig, schlich ihm nach, und da der Gast die Stalltür zuriegelte, guckte er durch ein Astloch. Der Fremde breitete unter dem Esel das Tuch aus und rief: "Bricklebrit!" und augenblicklich fing das Tier an Gold zu speien von hinten und vorn, dass es ordentlich auf die Erde herabregnete." Ei der Tausend", sagte der Wirt, "da sind die Dukaten bald geprägt! So ein Geldbeutel ist nicht übel!" Der Gast bezahlte seine Zeche und legte sich schlafen; der Wirt aber schlich in der Nacht hinab in den Stall, führte den Münzmeister weg und band einen andern Esel an seine Stelle. Den folgenden Morgen in der Frühe zog der Geselle mit seinem Esel ab und meinte, er hätte seinen Goldesel. Mittags kam er bei seinem Vater an, der sich freute, als er ihn wieder sah, und ihn gern aufnahm." Was ist aus dir geworden, mein Sohn?" fragte der Alte. "Ein Müller, lieber Vater", antwortete er." Was hast du von deiner Wanderschaft mitgebracht?" - "Weiter nichts als einen Esel." "Esel gibt's hier genug", sagte der Vater, "da wäre mir doch eine gute Ziege lieber gewesen." antwortete der Sohn, "aber es ist kein gemeiner Esel, sondern ein Goldesel; wenn ich sage: ,Bricklebrit!' so speit Euch das gute Tier ein ganzes Tuch voll Goldstücke. Lasst nur alle Verwandten herbeirufen, ich mache sie alle zu reichen Leuten." "Das las' ich mir gefallen", sagte der Vater, "dann brauch' ich mich mit der Nadel nicht weiter zu quälen"' sprang selbst fort und rief die Verwandten herbei. Sobald sie beisammen waren, hieß sie der Müller Platz machen, breitete sein Tuch aus und brachte den Esel in die Stube. "Jetzt gebt acht", sagte er und rief: "Bricklebrit"' -aber es waren keine Goldstücke, was herabfiel, und es zeigte sich, dass das Tier nichts von der Kunst verstand, denn es bringt's nicht jeder Esel so weit. Da machte der arme Müller ein langes Gesicht, sah, dass er betrogen war, und bat die Verwandten um Verzeihung, die so arm heimgingen, als sie gekommen waren. es blieb nichts übrig, der Alte musste wieder nach der Nadel greifen und der Junge sich bei einem Müller verdingen. Der dritte Bruder war zu einem Drechsler in die Lehre gegangen, und weil es ein kunstreiches Handwerk ist, musste er am längsten lernen. Seine Brüder aber meldeten ihm in einem Briefe, wie es ihnen ergangen wäre und wie sie der Wirt noch am letzten Abend um ihre schönen Wünschdinge gebracht hatte. Als der Drechsler nun ausgelemt hatte und wandern sollte, schenkte ihm sein Meister, weil er sich so wohl gehalten hatte, einen Sack und sagte: "Es liegt ein Knüppel darin." "Den Sack kann ich umhängen, und er kann mir gute Dienste leisten", sprach der Gesell, "aber was soll der Knüppel darin? Der macht ihn nur schwer." - "Das will ich dir sagen", antwortete der Meister, "hat dir jemand etwas zuleide getan, so sprich nur: ,Knüppel aus dem Sack!' - so springt dir der Knüppel heraus unter die Leute und tanzt ihnen so lustig auf dem Rücken herum, dass sie sich acht Tage lang nicht regen und bewegen können; und eher lässt er nicht ab, als bis du sagst: ,Knüppel in den Sack'." Der Gesell dankte ihm, hängte den Sack um, und wenn ihm jemand zu nahe kam und auf den Leib wollte, so sprach er: "Knüppel aus dem Sack!" Alsbald sprang der Knüppel heraus und klopfte einem nach dem andern Rock oder Wams gleich auf dem Rücken aus und wartete nicht erst, bis er ihn ausgezogen hatte, und das ging so geschwind, dass, ehe sich's einer versah, die Reihe schon an ihm war. Der junge Drechsler langte zur Abendzeit in dem Wirtshaus an, wo seine Brüder waren betrogen worden. Er legte seinen Ranzen vor sich auf den Tisch und fing an zu erzählen, was er alles Merkwürdige in der Welt gesehen habe "Ja", sagte er, "man findet wohl ein Tischleindeckdich, einen Goldesel und dergleichen - lauter gute Dinge, die ich nicht verachte; aber das ist alles nichts gegen den Schatz, den ich mir erworben habe und in meinem Sack da mit mir führe." Der Wirt spitzte die Ohren: "Was in aller Welt mag das sein?" dachte er, "der Sack ist wohl mit lauter Edelsteinen angefüllt; den sollte ich billig auch noch haben, denn aller guten Dinge sind drei." Als Schlafenszeit war, streckte sich der Gast auf die Bank und legte seinen Sack als Kopfkissen unter. Der Wirt, als er meinte, der Gast läge in tiefem Schlaf, ging herbei, rückte und zog ganz sachte und vorsichtig an dem Sack, ob er ihn vielleicht wegziehen und einen andern unterlegen könnte. Der Drechsler aber hatte schon lange darauf gewartet; wie nun der Wirt eben einen herzhaften Ruck tun wollte, rief er: "Knüppel aus dem Sack!" Alsbald fuhr das Knüppelchen heraus, dem Wirt auf den Leib und rieb ihm die Nähte, dass es eine Art hatte. Der Wirt schrie um Erbarmen, aber je lauter er schrie, desto kräftiger schlug der Knüppel den Takt dazu auf dem Rücken, bis er endlich erschöpft zur Erde fiel. Da sprach der Drechsler: "Wenn du das Tischchendeckdich und den Goldesel nicht wieder herausgibst, so soll der Tanz von neuem angehen." - "Ach nein", rief der Wirt ganz kleinlaut, "ich gebe alles gern wieder heraus, lasst nur den verwünschten Kobold wieder in den Sack kriechen!" Da sprach der Geselle: "Ich will Gnade für Recht ergehen lassen, aber hüte dich vor Schaden!" Dann rief er: "Knüppel in den Sack!" und ließ ihn ruhen. Der Drechsler zog am andern Morgen mit dem Tischchendeckdich und dem Goldesel heim zu seinem Vater. Der Schneider freute sich, als er ihn wiedersah, und fragte auch ihn, was er in der Fremde gelernt hätte. "Lieber Vater", antwortete er, "ich bin ein Drechsler geworden." - "Ein kunstreiches Handwerk!" sagte der Vater; "was hast du von der Wanderschaft mitgebracht." - Ein kostbares Stück, lieber Vater", antwortete der Sohn, "einen Knüppel in dem Sack." - "Was!" rief der Vater, "einen Knüppel? Das ist der Mühe wert! Den kannst du dir von jedem Baume abhauen." - "Aber einen solchen nicht, lieber Vater! Sage ich: ,Knüppel aus dem Sack!' - so springt der Knüppel heraus und macht mit dem, der es nicht gut mit mir meint, einen schlimmen Tanz und lässt nicht eher nach, als bis er auf der Erde liegt und um gut Wetter bittet. Seht Ihr, mit diesem Knüppel habe ich das Tischchendeckdich und den Goldesel wieder herbeigeschafft, die der diebische Wirt meinen Brüdern abgenommen hatte. Jetzt las sie beide rufen und ladet alle Verwandten ein, ich will sie speisen und tränken und will ihnen die Taschen mit Gold füllen." Der alte Schneider wollte nicht recht trauen, brachte aber doch die Verwandten zusammen. Da deckte der Drechsler ein Tuch in die Stube, führte den Goldesel herein und sagte zu seinem Bruder: "Nun, lieber Bruder, sprich mit ihm." Der Müller sagte: "Bricklebrit!" -und augenblicklich sprangen die Goldstücke auf das Tuch herab, als käme ein Platzregen, und der Esel hörte nicht eher auf, als bis alle so viel hatten, dass sie nicht mehr tragen konnten. Dann holte der Drechsler das Tischchen und sagte: "Lieber Bruder, nun sprich mit ihm." Und kaum hatte der Schreiner: "Tischchen' deck' dich!" gesagt, so war es gedeckt und mit den schönsten Schüsseln reichlich besetzt. Da ward eine Mahlzeit gehalten, wie der gute Schneider noch keine in seinem Hause erlebt hatte, und die ganze Verwandtschaft blieb zusammen bis in die Nacht und waren alle lustig und vergnügt. Der Schneider verschloss Nadel und Zwirn, Elle und Bügeleisen in einem Schrank und lebte mit seinen drei Söhnen in Freude und Herrlichkeit.
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maerchenletter · 4 years ago
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Das versunkene Schloss
Heinrich Seidel
Im Norden von Deutschland gibt es zwar keine eigentlichen Gebirge, wohl aber stattliche Hügelzüge, die im Verein mit großen blauen Seenflächen, weiten Wiesentälern und alten mächtigen Waldungen diesen Gegenden ihre eigentümliche Schönheit verleihen. Inmitten eines solchen Landstriches, am Fuße einer dieser Hügelreihen, war eine kleine Stadt gelegen, deren Bewohner zum größeren Teil aus friedlichen Ackerbürgern, zum kleineren aus Handwerkern bestanden. In den stillen Straßen wuchs das Gras, und über die alte, bröcklige Stadtmauer spann der Efeu seine Ranken. In der Mittagszeit, wenn alle Leute in ihren Häusern bei Tisch saßen, konnte man denken, die Stadt sei ausgestorben oder in Zauberschlaf versunken, so still und einsam war es dann. Am meisten Leben zeigte sich noch des Abends, wenn die Jugend auf den freien Plätzen lärmend ihre Spiele trieb, die Leute auf den Bänken vor ihren Türen saßen und die von der Weide heimkehrenden Kühe brüllend durch die Straßen wandelten, um ihre Ställe aufzusuchen. Nur der Jahrmarkt und das Schützenfest brachten etwas mehr Bewegung in diesen stillen Erdenwinkel. Das letztere ward in dem Wald gefeiert, der den benachbarten Höhenzug bedeckte. In der Senkung zwischen zwei Hügeln befand sich die Schießbahn, und auf einem freien Platze im Walde waren die Buden aufgebaut, die sowohl den Bedürfnissen des Leibes als auch der Schaulust reichliche Nahrung boten. Da war der fremde Kuchenmann, der mit heiserer, aber unendlich verlockender Stimme seine schön verzierten Honigkuchen und Herzen ausbot und zahllose Schätze von Bonbons in allen Farben des Regenbogens entfaltete; da war die dickste und schönste Dame der Welt, achtzehn Jahre alt und dreihundertsieben Pfund schwer; dann die Seejungfrau, das größte Meerwunder aller Zeiten, leider nur ausgestopft, aber darum nicht minder seltsam; da war der prophetisch begabte Mann, der gegen geringes Entgelt jeglichen einen Blick in die Geheimnisse der Zukunft tun ließ; da war die mit reichen Schätzen ausgestattete Bude, wo man gegen den Einsatz von nur einem Groschen die seltsamsten und teuersten Dinge gewinnen konnte, sogar als Höchstes eine altehrwürdige Taschenuhr, zur Klasse der »Butterbüchsen« gehörig, die wirklich ging, wie jeder sich durch Augenschein überzeugen konnte. Da nun in der Stadt ein würdiger Greis lebte, der vor vielen Jahren bei solcher Gelegenheit wirklich eine Uhr gewonnen hatte, welches Ereignis einen Höhepunkt in seinem Leben bildete, so war natürlich die Verlockung, in gleicher Weise das Glück zu versuchen, für jung und alt beträchtlich. Zu weit würde es führen, wollte ich alle Herrlichkeiten ausführlich aufzählen, die bei dieser Gelegenheit zu freudigem Genüsse einluden. Ich will nur kurz das Karussell, das Puppentheater und den Tanzplatz erwähnen, allwo sich beiden Weisen von vier Stadtmusikanten die Jugend unablässig im Kreise drehte; ich will nur vorübergehend erinnern an die Gastzelte, wo das edle Bier in Strömen verschenkt wurde, also daß sich selbst die solidesten und ehrsamsten Schützenbrüder am Abend etwas unsicher auf den Beinen fühlten und beim Einmarsch in die Stadt kein besonderes Schauspiel darboten.
Diese Zeit, wo sich das Leben der kleinen Stadt zu seiner Taumelhöhe entfaltete, war die einzige, in der die meisten der erwachsenen Einwohner den Hügelwald besuchten, außer es handelte sich um eine Holzauktion oder dergleichen, denn die guten Ackerbürger und ehrsamen Handwerker zogen es vor, wenn sie sich zu einem Sonntagsspaziergange aufschwangen, in ihren Feldern das Wachstum zu betrachten und sich freundlichen Spekulationen über den Ernteertrag, die Kornpreise und den Stand der Kartoffeln hinzugeben. Zu allen Zeiten aber ward der Wald besucht von der Jugend und von den Armen, von Kindern, die Blumen suchten oder Vogelnester oder Beeren, je nach der Jahreszeit, von unternehmenden Knaben, die sich in den buschigen und verwachsenen Abhängen Räuberhöhlen anlegten, von armen holzlesenden Weiblein und dergleichen. Nur einen Ort gab es in diesem Walde, der von den meisten gemieden ward, das war der von Bäumen entblößte und nur mit niederem Buschwerk bestandene Gipfel des großen Hügels. Dort fanden sich, ganz überwuchert von wilden Rosen, Weißdorn, Jelängerjelieber und ähnlichen Sträuchern, einige Überreste von uraltem Mauerwerk, und es ging die Sage, dort habe in grauen Zeiten ein großes Schloß gestanden, das aber in einer stürmischen Gewitternacht zur Strafe für den Frevel und die Bosheit seiner gottlosen Bewohner mit Mann und Maus in die Tiefe gesunken sei. An diesem Ort sollte es nicht geheuer sein. Manche wollten den alten Schloßvogt, ein kleines graues Männchen, das die Schätze in dem versunkenen Gemäuer zu bewachen hatte, am hellen Tage mit kläglichem Seufzer dort haben umherwandern sehen, nächtlich hatten andere dort Feuer und blaue Flammen erblickt, wie sie die Anwesenheit verborgener Schätze andeuten, und schneidende Klagelaute, deren Ursprung unerklärlich war, hatte man dort in stiller Mittagsstunde vernommen. Das Merkwürdigste war aber, daß sich dort, verborgen zwischen dem Gestrüpp, eine Öffnung befinden sollte, die über kirchturmtief in den Berg hinabreichte. Manche behaupteten, sie gesehen zu haben. Sie hatten Steine hinabgeworfen und gehorcht, aber niemals vernommen, daß diese unten aufschlugen. Andere mutige und neugierige Leute hatten wieder nach dieser Öffnung lange gesucht, aber nichts gefunden. Es sollte dies die Ausmündung des Hauptschornsteins der versunkenen Burg sein und zuweilen sogar Rauch daraus hervorkommen. Alle diese Dinge waren den meisten so unheimlich, daß der Gipfel dieses Hügels gemieden ward, obwohl man dort eine herrliche Aussicht hatte auf die alte Stadt, auf das weite Wiesental mit dem gewundenen Fluß und die dämmernden Wälder in der Ferne. In der Stadt lebte eine Anzahl von unternehmenden Knaben, die unter der Anführerschaft eines braunhaarigen Jungen namens Bertram standen. Dieser war gewissermaßen ihr Räuberhauptmann, denn es muß gesagt werden, daß sich diese sechs Verbündeten weniger durch ihre Leistungen in der Schule, als durch zahlreiche Streiche auszeichneten, die sie gemeinschaftlich ausführten. In der Dunkelheit Bindfaden über die Straße zu spannen, die den ehrsamen Bürgern die Hüte von den Köpfen rissen, räuberische Ausflüge in fremde Obstgärten, Fischfang und Vogelstellen, nächtliches Abfeuern von Kanonenschlägen, verbotene Schießübungen und dergleichen Unfug waren ihre Lieblingsbeschäftigungen. In dem Abhang des Hügelwaldes hatten sie wohlverborgen im Gestrüpp eine Räuberhöhle angelegt, wo sie ihre geraubten Obstschätze aufbewahrten, verbotene Pfeifen rauchten und sonst allerlei unerlaubte Dinge trieben. Bertram hatte sich durch seinen gewalttätigen Charakter, seine Körperstärke und Entschlossenheit zum Anführer dieser kleinen Bande aufgeschwungen, und ihm wurde unweigerlicher Gehorsam gezollt. Eines Tages streifte diese Gesellschaft dort am Abhang umher, als sie eines Knaben namens Roland ansichtig wurde, der in den entfernteren Teilen des Waldes ein stattliches Körbchen mit Himbeeren zum Verkauf gesammelt hatte und damit nach Hause gehen wollte. Er war der Sohn einer armen Witwe, die sich kümmerlich von ihrer Hände Arbeit ernährte und darin von ihrem Sohne, soweit es in seinen Kräften stand, unterstützt wurde. Die Knaben hatten ihn kaum bemerkt, als sie ihn auch schon umringten und die gesammelten Früchte für gute Beute erklärten.
»Wie gut, daß du die Himbeeren für uns gesucht hast!« sagte Bertram und streckte die Hand nach dem Korbe aus. Allein Roland umklammerte diesen, hielt seine Hand schützend darüber und rief: »Ihr dürft sie nicht nehmen, ich habe den ganzen Tag daran gesammelt, und meine arme Mutter braucht das Geld!«
»Oh, sie werden uns ebenso gut schmecken wie dem Advokaten oder dem Kaufmann am Markt, wo du sie verkaufst!« sagte Bertram; »her damit!«
Roland sah nun wohl ein, daß er gegen die Übermacht nichts ausrichten würde, allein es kam ihm ein anderer Gedanke.
»Wenn ihr versprechen wollt, mir die Himbeeren zu lassen«, sagte er rasch, »so zeige ich euch etwas, das ihr lange gesucht habt. Ich habe das Loch auf dem Burgberge gefunden, wo es in das versunkene Schloß hinabgeht.«
»Ach, was wirst du da gefunden haben«, sagte Bertram, »wo wir schon so lange gesucht haben, das sind Ausflüchte.«
»So hört doch nur!« rief Roland eifrig. »Ich weiß dort, wo die alten Steine liegen und so viele dichte Dornen stehen, einen Ort, auf dem die allerschönsten Himbeeren wachsen. Nur an einer Stelle kann man zwischen dem Gemäuer und den großen Dornbüschen durchkriechen, da kommt man an einen Fleck, der rings von dem dichtesten Gestrüpp eingeschlossen ist. Heute habe ich dort wohl den halben Korb voll Himbeeren gesammelt. Während ich pflückte, kam mir schon immer ein sonderlicher Geruch in die Nase, es war gerade, als wenn meine Mutter Eierkuchen backt, und zuletzt sah ich in der Mitte des Platzes, wo der Boden etwas erhöht war, einen leichten Dampf aufsteigen. Ich dachte, was kann denn dort brennen, und es ward mir ganz unheimlich zumute, denn mir fiel ein, was man alles von dem Ort erzählt, und daß es dort nicht geheuer sein soll. Allein ich faßte Mut, schlich mich näher und bemerkte nun, daß dieser Rauch zwischen Gras und dichtem Rankenwerk hervorkam. Mit einem Stock schob ich dies beiseite, und ein schwarzes Loch wie von einem großen Schornstein ward frei. Vorsichtig kroch ich heran und horchte, allein ich konnte nichts wahrnehmen als ein leises Zischen und Schmoren in der Tiefe! Da überfiel mich die Angst, und ich machte, daß ich fortkam. Wenn ihr mir nun die Hand darauf gebt, mir meine Himbeeren zu lassen, so zeige ich euch das Loch.«
Die Knaben hatten mit der größten Aufmerksamkeit und Spannung zugehört. Bertram streckte seine Hand aus und rief: »Dort müssen wir hin, schlag ein, Roland.«
Dieser tat es, und alle stiegen nun den Hügel hinauf und krochen unter den Dornen hindurch, um diese wunderliche Entdeckung in Augenschein zu nehmen.
In dem eingeschlossenen Raume war es schwül, denn die Sonne brannte hinein, und die dichten Dornbüsche ringsum hielten jeden Luftzug ab. Ein schwerer Duft, wie ihn die Sommerhitze erzeugt, wenn sie auf gewürzigen Kräutern brütet, war rings verbreitet. Die Knaben waren still geworden und starrten ein wenig bänglich auf die finstere Öffnung im Boden hin. Es stieg kein Rauch mehr daraus hervor. Allmählich wurden sie dreister, schlichen herzu und blickten, rings auf den Knien liegend, in die dunkle Tiefe hinab. Dabei löste sich ein Steinchen und stürzte in den Abgrund, allein so angestrengt sie auch lauschten, sie vernahmen nicht, daß es unten aufschlug. »Große Schätze sollen dort liegen«, sagte Bertram, »wer dort hinunter könnte!«
Ein Gedanke schien ihm zu kommen; er flüsterte einem seiner Genossen, dem Sohne eines Seilers, etwas ins Ohr, dieser kroch hinaus und sprang in der Richtung auf die Stadt eilig den Abhang hinab. Die Knaben erzählten nun, was der eine oder der andere über das versunkene Schloß gehört hatte. Zwischendurch starrten sie wieder in die Tiefe und horchten, allein nicht das geringste war vernehmlich. Nach einer Weile kehrte der Abgesandte zurück und brachte eine sehr lange Wäscheleine mit sich, und Bertram sprach: »Einer von uns muß dort hinabsteigen, wir binden ihm das Seil um den Leib und lassen ihn vorsichtig hinab. Wer von euch hat Lust dazu?«
Allein keiner meldete sich zu diesem Unternehmen. Bertrams Augen fielen auf Roland. »Dieser«, sagte er, »hat das Geheimnis aufgefunden, außerdem ist er der leichteste und behendeste, wir wollen ihn hinunterlassen, daß wir erfahren, was auf dem Grunde verborgen liegt.« Da auf diese Weise die anderen frei ausgingen, fanden sie sämtlich den Vorschlag sehr gut und angemessen, jedoch Roland bekam einen tödlichen Schreck und wünschte, er hätte seine Himbeeren geopfert und das Geheimnis für sich behalten. Jedoch, ob er sich auch sträubte und wehrte, es half ihm nichts, das Tau ward um seinen Leib geschlungen, und trotz seiner flehentlichen Bitten ward er mitsamt seinem Korbe, den er krampfhaft festhielt, langsam in das Loch hinabgelassen.
Das Seil war fast zu Ende, als es sich krümmte und seine Spannung nachließ. Die Knaben zogen an, allein es war ganz leicht und schien offenbar leer zu sein. Sie ließen es wieder hinab und riefen in die Öffnung hinein, allein es kam keine Antwort. Dann zogen sie wieder an, und nun schien ihnen das Seil wieder beschwert zu sein. Allmählich wanden sie es empor, und als das Ende kam, sahen sie, daß auch wirklich etwas daran hing. »Na, Roland, wie war's?« riefen sie schon, allein wie entsetzten sie sich, als sie bemerkten, daß es nicht der Knabe war, der an dem Tau hing, sondern eine tote Katze. Alle schrien laut auf und liefen davon. Da nun jeder so schnell wie möglich aus dem engen Eingang hinauswollte, so waren sie einander hinderlich, drängten sich und stießen sich in die Dornen und schrien, denn alle hatten die unbestimmte Angst, es möchte noch etwas viel Gräulicheres und Entsetzlicheres hinterherkommen. Als sie sich endlich blaß und zitternd draußen wieder gesammelt hatten, gaben sie sich gegenseitig das Versprechen, fürs erste von diesem Vorfall zu schweigen, und begaben sich sehr niedergeschlagen in die Stadt zurück.
Nachdem Roland unter Furcht und Zittern eine lange Weile, wie ihm dünkte, in dem engen Raum hinabgeglitten war, merkte er, daß es heller um ihn wurde. Er erkannte die Wände, die ihn umgaben, und das Gefüge der Steine. Dann wurde der Raum noch weiter und heller, und plötzlich fühlte er Boden unter seinen Füßen. Unwillkürlich streifte er das Seil ab, da es ihn gedrückt hatte, und sah sich um. Er stand auf dem Herde einer großen Küche, die mit glänzendem Kupfer- und Zinngeschirr reichlich versehen war. An einem Küchentisch saß ein kleiner, alter, grau gekleideter Mann mit einem Schlüsselbund an der Seite und aß Eierkuchen. Dieser kam auf ihn zu, blickte ihn finster aus kleinen schwarzen Augen an und sprach: »Unglücklicher, kommst du freiwillig an diesen Ort?« Roland erzählte zitternd, wie es ihm ergangen war. Der Alte lächelte. »Das ist gut«, sagte er, »kämst du aus freiem Antrieb, so würdest du die Welt nie wiedersehen.« Dann nahm er etwas hinter dem Herde hervor, das Roland nicht erkennen konnte, und machte sich mit dem Seile zu tun, das eben wieder herabgelassen wurde. Es war Roland, als höre er aus weiter Ferne seinen Namen rufen. Dann führte der Alte den Knaben an den Tisch und hieß ihn von dem Eierkuchen essen. Dabei bemerkte er den Korb mit Himbeeren und spitzte schmunzelnd die Lippen. »Ei, mein Junge«, sagte er, »was hast du da mitgebracht? Willst du mir die Früchte verkaufen?«
Roland dachte, es würde gut sein, sich diesen Mann zum Freunde zu halten, und sagte: »Ich schenke sie Euch!«
»Ei, du freundlicher Knabe«, sagte der Alte, »das will ich dir danken, das will ich dir danken.«
Damit langte er mit spitzen Fingern in den Korb und verzehrte einige der Himbeeren unter sichtlichem Behagen. Die übrigen schüttete er in eine Schüssel und stellte sie sorgfältig in einen Schrank. Dann gab er Roland den Korb zurück und sprach: »Folge mir!«
Er führte ihn nun durch die prächtigen Hallen und Räume des versunkenen Schlosses, bis sie an eine mächtige eiserne Tür gelangten. Diese öffnete der Alte, und die Schatzkammer tat sich vor Rolands erstaunten Blicken auf. Dort lagen wie auf einem Kornboden in mächtigen Haufen Perlen, Edelsteine und Goldstücke aufgespeichert. Von der Decke hing eine strahlende Lampe hernieder, und es funkelte, blitzte und glänzte in diesem Raum, daß es fast die Augen blendete. Der Alte nahm den Korb und füllte ihn mit diesen kostbaren Dingen an. Er ward dadurch so schwer, daß der Knabe ihn kaum zu tragen vermochte. Dann führte ihn der Alte durch einen langen, schmalen und dunklen Gang, schloß eine kleine Tür auf, und plötzlich strahlte ihnen das helle Tageslicht entgegen. Er streichelte dem kleinen Roland die Wangen und sprach: »Hab Dank für die schönen Früchte; seit hundert Jahren habe ich dergleichen nicht mehr gesehen und geschmeckt.« Damit schob er ihn hinaus, und die Tür fiel krachend ins Schloß. Als sich Roland umsah, war keine Spur von einem Eingang zu bemerken, nur grüner Rasen bedeckte gleichmäßig den Abhang des Hügels, an dessen Fuß er stand. Aber wie sonderbar, eine kühle Morgenluft wehte ihm entgegen, und es war doch so schwül gewesen, als er seine unfreiwillige Fahrt angetreten hatte. Nach seiner Ansicht mußte es jetzt Abend sein, aber dort, wo die Sonne über den Dächern der alten Stadt tief am Himmel stand, war ja Osten. Fürwahr, der Tag und die ganze Nacht waren vergangen, während er in dem versunkenen Schlosse gewesen war. Roland dachte an seine gute Mutter und an die Angst, die sie um seinetwegen gewiß empfand, und eilte, soviel es die schwere Last in seinem Korbe zuließ, der Stadt zu. Hei, wie aber sein Schatz von Gold und Edelgestein in der Sonne blitzte und funkelte und Strahlen von sich warf! Er raufte schnell ein wenig Gras und Moos aus und deckte ihn damit zu. Dicht vor dem Tore begegnete ihm Bertram mit seinen Genossen. Die Knaben waren noch ganz verstört und wollten wieder auf den Burgberg und noch einen Versuch mit dem Seile anstellen. Ihr freudiges Erstaunen, als sie Roland munter und wohlbehalten vor sich sahen, und ihre Verwunderung, als er sie einen Blick auf seine kostbaren Schätze tun ließ, war groß. Sie eilten, so schnell sie konnten, auf den Hügel und stritten sich unterwegs darum, wer zuerst in das Loch hinabgelassen werden sollte. Als sie aber oben anlangten, war, soviel sie auch suchten, keine Spur der geheimnisvollen Öffnung mehr zu finden. Sie durchkrochen auf den Knien sämtliche Dorngebüsche und stöberten im Schweiße ihres Angesichts den ganzen Tag dort umher, allein alles war und blieb vergeblich.
Der kleine Roland und seine Mutter aber waren durch den Schatz des alten Schloßhüters reiche Leute geworden und hatten genug an Geld und Gut für ihr ganzes Leben.
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maerchenletter · 4 years ago
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Die drei Sprachen
Gebr. Grimm
In der Schweiz lebte einmal ein alter Graf, und hatte nur einen einzigen Sohn, aber der war dumm und konnte nichts lernen. Da sprach der Vater: „hör mein Sohn, ich bringe nichts in deinen Kopf, ich mag es anfangen, wie ich will, du sollst mir fort, damit berühmte Meister es mit dir versuchen.“ Nun ward der Junge in eine fremde Stadt geschickt, und blieb bei den Meistern ein ganzes Jahr. Nach Verlauf desselben kam er wieder heim, da fragte ihn der Vater: „nun, was hast du gelernt?“ Der Sohn antwortete: „Vater, ich habe gelernt, was die Hunde bellen.“ „Das Gott erbarm! sprach der Vater, das ist alles, was du gelernt hast! nun sollst du in eine andere Stadt, zu andern Meistern.“ Der Junge ward hingebracht und blieb wieder ein ganzes Jahr; als er darnach zrück kam, sprach der Vater: „nun, was hast du gelernt?“ Der Sohn antwortete: „Vater, ich habe gelernt, was die Vögli sprechen.“ Da ward der Vater zornig und rief: „o du verlorner Mensch! hast die kostbare Zeit wieder zugebracht und nichts gelernt, und schämst dich nicht mir vor die Augen zu kommen? nun schick ich dich zum drittenmal zu andern Meistern, aber lernst du diesmal nichts, so will ich dein Vater nicht mehr seyn.“ Da ward der Sohn wieder in eine andere Stadt zu den Meistern gebracht und blieb das ganze Jahr da; als er nach Haus kam, fragte der Vater: „nun, was hast du gelernt?“ „Lieber Vater, antwortete er, ich habe dieses Jahr gelernt, was die Frösche quacken.“ Da ward der Vater ganz zornig, sprang auf, rief seine Leute und sagte: „dieser Mensch ist mein Sohn nicht mehr, ich stoße ihn von mir und gebiet euch, ihn hinaus in den Wald zu führen und zu tödten.“ Sie nahmen ihn und führten ihn hinaus, aber als sie ihn tödten sollten, konnten sie nicht vor Mitleiden und ließen ihn gehen, und schnitten einem Reh Augen und Zunge aus, damit sie dem Alten die Wahrzeichen bringen konnten. Der Jüngling wanderte fort und kam nach einiger Zeit zu einer Burg, da bat er um Nachtherberge. „Ja, sagte der Burgherr, wenn du da unten in dem alten Turm übernachten willst, so geh hin, aber er ist lebensgefährlich, denn er ist voll wilder Hunde, die bellen und heulen in einem fort und müssen zu gewissen Stunden einen Menschen ausgeliefert haben, den sie gleich verzehren.“ Darüber war aber die ganze Gegend umher in Trauer und Leid, und konnte doch niemand helfen. Der Jüngling sprach: „laßt mich nur hinab zu den bellenden Hunden, und gebt mir etwas, das ich ihnen vorwerfen kann, mir sollen sie nichts thun.“ Weil er es nun selber nicht anders wollte, so gaben sie ihm etwas Essen für die wilden Tiere und führten ihn hinab zu dem Turm. Und als er hineintrat, wedelten die Hunde freundlich um ihn herum und krümmten ihm kein Härchen, sondern aßen, was er ihnen hinsetzte. Am andern Morgen kam er zu jedermanns Erstaunen gesund und unversehrt wieder heraus, und sagte zum Burgherrn. „Die Hunde haben mir in ihrer Sprache offenbart, warum sie da hausen und dem Lande schaden: sie sind verwünscht, so lang einen großen Schatz im Thurme zu hüten, bis dieser gehoben ist, dann kommen sie zur Ruhe. Ich habe auch aus ihren Reden vernommen, auf was Art und Weise dies geschehen muß.“ Bei diesen Worten war allgemeine Freude und der Burgherr sprach: „wenn du mir den Schatz glücklich hebst, so soll meine Tochter deine Braut seyn.“ Da unternahm es der Jüngling und hob den großen Schatz, worauf die wilden Hunde verschwanden. Nun ward ihm die schöne Jungfrau angetraut und sie lebten vergnügt zusammen. Über eine Zeit setzte er sich mit ihr in einen Wagen und wollte nach Rom fahren; auf dem Weg kamen sie an einem Sumpf vorbei, in welchem Frösche saßen und quackten. Der junge Graf verstand was sie sprachen und war ganz nachdenklich und traurig, sagte aber die Ursache seiner Frau nicht. Endlich gelangten sie in Rom an, da war gerade der Pabst gestorben und unter den Kardinälen großer Zweifel, wen sie zum Nachfolger bestimmen sollten. Sie wurden zuletzt einig, derjenige, an dem sich ein göttliches Wunderzeichen offenbaren würde, sollte zum Pabst erwählt werden. Und als sie das eben beschlossen, in demselben Augenblick trat der junge Graf in die Kirche und plötzlich flogen zwei schneeweiße Tauben auf jede seiner Schultern und blieben da sitzen. Wie das die Geistlichkeit sah, erkannte sie das Zeichen Gottes und frug ihn auf der Stelle, ob er ihr Pabst werden wolle? er war unschlüßig und wußte nicht, ob er dessen würdig sey, aber die Tauben redeten ihm zu, daß er es tun mögte und er antwortete: ja! Da wurde er gesalbt und geweiht und so war eingetroffen, was ihm die Frösche unterwegs gesagt hatten, und worüber er so bestürzt geworden, daß er der heilige Pabst werden sollte. Darauf mußte er eine Messe singen und wußte kein Wort davon, aber die zwei Tauben saßen ihm stets auf den Schultern und redeten ihm jedes Wort in das Ohr, das er zu sagen hatte. Du erhältst diese Nachricht, weil Du Mitglied vom "maerchenletter" bist. Der Märchenletter und mein Märchenprogramm im Internet ist ein rein privates Hobby von mir. Somit hast Du natürlich auch keinen rechtlichen Anspruch auf die Märchen. Wenn Du den Märchenletter einmal nicht mehr möchtest, kannst Du ihn jederzeit wieder abbestellen.
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maerchenletter · 4 years ago
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Strohhalm, Kohle und Bohne
Gebr. Grimm
In einem Dorfe wohnte eine arme alte Frau, die hatte ein Gericht Bohnen zusammen gebracht und wollte sie kochen. Sie machte also auf ihrem Herd ein Feuer zurecht, und damit es desto schneller brennen sollte, zündete sie es mit einer Hand voll Stroh an. Als sie die Bohnen in den Topf schüttete, entfiel ihr unbemerkt eine, die auf dem Boden neben einen Strohhalm zu liegen kam; bald danach sprang auch eine glühende Kohle vom Herd zu den beiden herab. Da fing der Strohhalm an und sprach „liebe Freunde, von wannen kommt ihr her?“ Die Kohle antwortete „ich bin zu gutem Glück dem Feuer entsprungen, und hätte ich das nicht mit Gewalt durchgesetzt, so war mir der Tod gewiss: ich wäre zu Asche verbrannt.“ Die Bohne sagte „ich bin auch noch mit heiler Haut davon gekommen, aber hätte mich die Alte in den Topf gebracht, ich wäre ohne Barmherzigkeit zu Brei gekocht worden, wie meine Kameraden.“ „Wäre mir denn ein besser Schicksal zu Teil geworden?“ sprach das Stroh, „alle meine Brüder hat die Alte in Feuer und Rauch aufgehen lassen, sechszig hat sie auf einmal gepackt und ums Leben gebracht. Glücklicherweise bin ich ihr zwischen den Fingern durchgeschlüpft.“ „Was sollen wir aber nun anfangen?“ sprach die Kohle. „Ich meine,“ antwortete die Bohne, „weil wir so glücklich dem Tode entronnen sind, so wollen wir uns als gute Gesellen zusammen halten und, damit uns hier nicht wieder ein neues Unglück ereilt, gemeinschaftlich auswandern und in ein fremdes Land ziehen.“
Der Vorschlag gefiel den beiden andern, und sie machten sich miteinander auf den Weg. Bald aber kamen sie an einen kleinen Bach, und da keine Brücke oder Steg da war, so wussten sie nicht wie sie hinüber kommen sollten. Der Strohhalm fand guten Rath und sprach „ich will mich quer über legen, so könnt ihr auf mir wie auf einer Brücke hinüber gehen.“ Der Strohhalm streckte sich also von einem Ufer zum andern, und die Kohle, die von hitziger Natur war, trippelte auch ganz keck auf die neugebaute Brücke. Als sie aber in die Mitte gekommen war und unter ihr das Wasser rauschen hörte, ward ihr doch angst: sie blieb stehen und getraute sich nicht weiter. Der Strohhalm aber fing an zu brennen, zerbrach in zwei Stücke und fiel in den Bach: die Kohle rutschte nach, zischte wie sie ins Wasser kam und gab den Geist auf. Die Bohne, die vorsichtigerweise noch auf dem Ufer zurückgeblieben war, musste über die Geschichte lachen, konnte nicht aufhören und lachte so gewaltig dass sie zerplatzte. Nun war es ebenfalls um sie geschehen, wenn nicht zu gutem Glück ein Schneider, der auf der Wanderschaft war, sich an dem Bach ausgeruht hätte. Weil er ein mitleidiges Herz hatte, so holte er Nadel und Zwirn heraus und nähte sie zusammen. Die Bohne bedankte sich bei ihm aufs schönste, aber da er schwarzen Zwirn gebraucht hatte, so haben seit der Zeit alle Bohnen eine schwarze Naht.
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maerchenletter · 4 years ago
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Das alte Haus
Hans Chr. Andersen
Drüben in der Straße stand ein altes, altes Haus, das war fast dreihundert Jahr alt, so konnte man an einem Balken lesen, an dem die Jahreszahl zugleich mit Tulpen und Hopfenranken eingekerbt war. Da standen ganze Verse in der Schreibweise alter Tage, und über jedem Fenster war ein fratzenhaftes Gesicht in den Balken eingeschnitten. Das obere Stockwerk hing weit über das untere, und unter dem Dache war eine Bleirinne mit Drachenköpfen. Das Regenwasser sollte aus dem Rachen herauslaufen, aber es lief aus dem Bauche, denn es war ein Loch in der Rinne.
Alle anderen Häuser in der Straße waren so neu und so nett, mit großen Scheiben und glatten Wänden, und man konnte wohl sehen, dass sie nichts mit dem alten Haus zu tun haben wollten. Sie dachten wohl: "Wie lange soll das Gerümpel hier noch der Straße zur Schande stehen bleiben. Der Erker steht so weit heraus, dass niemand aus unseren Fenstern sehen kann, was auf der anderen Seite geschieht! Die Treppe ist so breit, wie bei einem Schloss und so hoch wie bei einem Kirchturm. Das Eisengeländer sieht ja aus, wie die Tür zu einem alten Erbbegräbnis, dazu hat es noch Messingknöpfe. Das ist geschmacklos!"
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Lie liest vor - Das alte Haus
____________________________________________________________ Gerade gegenüber in der Straße standen auch neue und nette Häuser, und sie dachten wie die anderen. Aber am Fenster saß hier ein kleiner Knabe mit frischen, roten Wangen, mit klaren, strahlenden Augen, dem das alte Haus am besten gefiel sowohl im Sonnenschein wie im Mondschein. Wenn er nach der Mauer hinüber sah, wo der Kalk abgebröckelt war, konnte er sitzen und sich die wunderbarsten Bilder ausdenken: wie wohl die Straße früher ausgesehen haben mochte mit Treppen, Erkern und spitzen Giebeln. Er konnte Soldaten mit Hellebarden sehen, und Dachrinnen, die wie Drachen und Lindwürmer herumliefen. – Das war so recht ein Haus zum Betrachten. Und drüben wohnte ein alter Mann; der ging in Kniehosen, hatte einen Rock mit großen Messingknöpfen und eine Perücke, bei der man sehen konnte, dass es eine wirkliche Perücke war. Jeden Morgen kam ein alter Diener zu ihm, der aufräumte und Gänge besorgte. Sonst war der alte Mann in den Kniehosen ganz allein in dem alten Hause. Zwischendurch kam er wohl einmal ans Fenster und sah hinaus, und der kleine Knabe nickte zu ihm hinüber; der alte Mann nickte wieder, und so wurden sie Bekannte, und so wurden sie Freunde, obwohl sie niemals miteinander gesprochen hatten. Aber das war auch unnötig.
Der kleine Knabe hörte seine Eltern sagen: "Der alte Mann da drüben hat es gut, aber er ist so schrecklich allein!"
Am nächsten Sonntag nahm der kleine Knabe etwas, wickelte es in ein Stück Papier, ging vor die Tür, und als der Diener, der die Gänge besorgte, vorbeikam, sagte er zu ihm: "Hör, willst Du dem alten Mann da drüben das von mir bringen? Ich habe zwei Zinnsoldaten, dies ist der eine; er soll ihn haben, denn ich weiß, dass er so schrecklich allein ist."
Und der alte Diener sah ganz vergnügt aus, nickte und trug den Zinnsoldaten hinüber in das alte Haus. Darauf kam von drüben ein Bote mit der Anfrage, ob der kleine Knabe wohl Lust hätte, selbst einmal herüber zu kommen und Besuch zu machen. Dazu bekam er von seinen Eltern Erlaubnis, und so kam er in das alte Haus hinüber.
Die Messingknöpfe am Treppengeländer glänzten viel stärker als sonst. Man hätte glauben mögen, dass sie des Besuches wegen poliert worden wären. Und es war, als ob die geschnitzten Trompeter – denn es waren geschnitzte Trompeter an der Tür, die in den Tulpen standen – aus Leibeskräften bliesen; ihre Backen sahen viel dicker aus als zuvor. Ja, sie bliesen: "Tratteratra. Der kleine Knabe kommt. Tratteratra!" und dann ging die Türe auf. Den ganzen Gang entlang hingen alte Porträts, Ritter in Harnischen und Frauen in Seidenkleidern. Und die Harnische rasselten und die seiden Kleider raschelten! Dann kam eine Treppe, die ging ein großes Stück hinauf und ein kleines hinab und dann war man auf einem Altan, der freilich sehr altersschwach und voller großer Löcher und Risse war, aber daraus hervor wuchsen Gras und Blätter; denn der ganze Altan, der Hof und die Mauern waren mit soviel Grün bewachsen, dass es wie ein Garten aussah. Aber es war nur ein Altan. Hier standen alte Blumentöpfe, die Gesichter und Eselsohren hatten. Die Blumen darin wuchsen aber ganz wie sie selbst wollten. In dem einen Topf liefen die Nelken nach allen Seiten über den Rand, das heißt das Grüne, Schössling neben Schössling, und ganz deutlich sagten sie: "Die Luft hat mich gestreichelt, die Sonne hat mich geküsst und mir am Sonntag eine kleine Blume versprochen, eine kleine Blume am Sonntag."
Und dann kamen sie in eine Kammer hinein, wo die Wände mit Schweinsleder bezogen waren, darauf waren goldene Blumen gedruckt.
"Vergoldung vergeht, aber Schweinsleder besteht" sagten die Wände.
Und Lehnstühle standen da mit hohen Rücken, über und über geschnitzt, und mit Armen an beiden Seiten. "Sitz nieder! Sitz nieder!" sagten sie; "O, wie es in mir knackt! Nun bekomme ich die Gicht wie der alte Schrank. Gicht im Rücken. O!"
Und dann kam der kleine Knabe in die Stube hinein, wo der Erker war und wo der alte Mann saß.
"Schönen Dank für den Zinnsoldaten, mein kleiner Freund" sagte der alte Mann. "Und Dank, dass Du zu mir herüberkommst!"
"Dank, Dank," oder "Knack, Knack," sagte es in allen Möbeln. Da waren so viele, dass sie sich fast im Wege standen, um den kleinen Knaben anzusehen.
Mitten an der Wand hing eine Malerei mit einer wunderschönen Dame, so jung, so froh, aber ganz so gekleidet, wie vor alten Zeiten, mit Puder im Haar und Kleidern, die ganz steif um sie herum standen. Sie sagte weder "Dank" noch "Knack", aber sah mit ihren freundlichen Augen den kleinen Knaben an, der sogleich den alten Mann fragte: "Wo hast Du sie her bekommen?"
"Drüben vom Trödler" sagte der alte Mann. "Da hängen so viele Bilder. Keiner kennt sie mehr und macht sich etwas daraus, denn alle sind nun begraben. Aber in alten Tagen habe ich sie gekannt; nun ist sie tot schon seit fast einem halben Jahrhundert"
Und unter der Malerei hing unter Glas ein verwelkter Blumenstrauß. Der hatte gewiss auch ein halbes Jahrhundert gesehen, so alt war er. Und der Perpendikel an der großen Uhr ging hin und her und der Zeiger drehte sich und alle Dinge in der Stube wurden immer älter, aber das merkten sie nicht.
"Sie sagen zuhause," sagte der kleine Knabe, "dass Du so schrecklich einsam bist."
"O," sagte er, "die alten Gedanken mit allem, was sie so mit sich führen können, kommen und besuchen mich, und nun kommst Du ja auch. Mir geht es ganz gut."
"Und dann nahm er vom Bücherbrett ein Buch mit Bildern. Darin waren ganze Aufzüge, die wunderlichsten Karossen, die man heute nicht mehr zu sehen bekommt, Soldaten wie auf den Spielkarten und Bürger mit wehenden Fahnen. Die Schneider hatten eine mit einer Schere, die von zwei Löwen gehalten wurde, und die Schuhmacher hatten eine ohne Stiefel, aber mit einem Adler, der zwei Köpfe besaß, denn die Schuhmacher müssen alles so haben, dass sie sagen können: das ist ein Paar. – Ja, das war ein Bilderbuch.
Und der alte Mann ging in die andere Stube, um Eingezuckertes und Äpfel und Nüsse zu holen; – es war wirklich prächtig hier drüben in dem alten Hause.
"Ich kann es nicht aushalten!" sagte der Zinnsoldat, der auf der Kommode stand; "hier ist es so einsam und traurig; nein, wenn man einmal Familienleben kennen gelernt hat, kann man sich hier nicht eingewöhnen. – Ich kann das nicht aushalten! Der ganze Tag ist so lang und der Abend noch länger. Hier ist es nicht wie drüben bei Dir, wo Deine Mutter und Dein Vater so fröhlich miteinander sprachen, und wo Du und alle Ihr süßen Kinder einen so prächtigen Spektakel machtet! Nein, wie allein der alte Mann ist. Glaubst Du, er bekommt einen Kuss? Glaubst Du, jemand macht ihm freundliche Augen oder einen Weihnachtsbaum? Er bekommt gar nichts, nur ein Begräbnis – Ich kann das nicht aushalten!"
"Du musst es nicht so schwer nehmen!" sagte der kleine Knabe, "mir kommt es hier herrlich vor, und alle die alten Gedanken mit dem, was sie so mit sich führen können, kommen ja auch und machen Besuch."
"Ja, die sehe ich nicht, und die kenne ich nicht" sagte der Zinnsoldat. "Ich kann das nicht aushalten!"
"Das musst Du" sagte der kleine Knabe.
Und der alte Mann kam mit dem vergnügtesten Gesicht und mit dem herrlichsten Eingemachten und Äpfeln und Nüssen, und da dachte der kleine Knabe nicht mehr an den Zinnsoldaten.
Glücklich und froh kam der kleine Knabe heim. Es vergingen Wochen und Tage, es wurde zu dem alten Hause und von dem alten Hause hinübergenickt, und dann kam der kleine Knabe wieder hinüber.
Und die geschnitzten Trompeter bliesen: "Tratteratra. Da ist der kleine Knabe. Tratteratra" Und Schwerter und Rüstungen auf den alten Ritterbildern rasselten und die Seidenkleider raschelten, das Schweinsleder sprach und die alten Stühle hatten Gicht im Rücken: "au!" Es war ganz genau wie beim ersten Mal, denn hier drüben war ein Tag und eine Stunde ganz wie die andere.
"Ich kann das nicht aushalten!" sagte der Zinnsoldat. "Ich habe Zinn geweint! Hier ist es allzu traurig lass mich lieber in den Krieg ziehen und Arme und Beine verlieren! Das ist doch eine Abwechslung. Ich kann das nicht aushalten! – nun weiß ich, was das heißt, Besuch von seinen alten Gedanken zu bekommen, mit dem was sie mit sich führen können. Ich habe von meinen Besuch gehabt, und Du kannst mir glauben, es ist kein Vergnügen auf die Dauer. Ich war zuletzt nahe daran, von der Kommode zu springen. Euch alle da drüben sah ich so deutlich, als ob Ihr wirklich hier wäret; es war wieder der Sonntagmorgen – Du weißt doch noch. Alle Ihr Kinder standet vor dem Tische und sangt Eure Lieder, wie Ihr sie jeden Morgen singt. Ihr standet andächtig mit gefalteten Händen, und Vater und Mutter waren ebenso feierlich, und dann ging die Tür auf, und die kleine Schwester Maria, die noch nicht zwei Jahre alt war, und die immer tanzte, wenn sie Musik oder Gesang hörte, was für eine Art es auch sein mochte, wurde hereingeschoben. Sie sollte es nun eigentlich nicht – aber sie fing an zu tanzen, konnte jedoch nicht recht in den Takt kommen, denn die Töne waren so lang, und so stand sie erst auf dem einen Bein und bog den Kopf ganz nach vorn über, und dann auf dem andern Bein und den Kopf noch weiter vornüber, aber es wollte nicht recht gehen. Ihr standet alle ganz ernst da, obgleich es recht schwer hielt damit; ich aber lachte innerlich, und deshalb fiel ich vom Tische herunter und bekam eine Beule, mit der ich jetzt noch gehe, denn es war nicht recht von mir, zu lachen. Aber das Ganze zieht jetzt wieder innerlich an mir vorüber und noch manches andere, was ich so erlebt habe. Das werden wohl die alten Gedanken sein, mit allem, was sie mit sich führen können. Sag mir, singt Ihr noch immer an den Sonntagen? Erzähle mir ein bisschen von der kleinen Maria. Und wie geht es meinem Kameraden, dem andern Zinnsoldaten? Ja, er ist wirklich glücklich. Ich kann das nicht aushalten."
"Du bist weggeschenkt!" sagte der kleine Knabe. "Du musst bleiben. Kannst Du das nicht einsehen?"
Und der alte Mann kam mit einem Kasten, worin es viele Dinge zu sehen gab, seltsame, kleine Häuschen, Balsambüchsen und alte Karten, so groß und dick vergoldet, wie man sie jetzt gar nicht mehr sieht. Und es wurden große Schubladen aufgezogen und das Klavier wurde geöffnet; das hatte eine Landschaft inwendig auf dem Deckel und war ganz heiser, als der alte Mann darauf spielte. Er summte dabei eine alte Weise.
"Ja, die konnte sie singen" sagte er, und dann nickte er zu dem Porträt hinüber, das er beim Trödler gekauft hatte, und des alten Mannes Augen leuchteten auf.
"Ich will in den Krieg! Ich will in den Kriegt" rief plötzlich der Zinnsoldat so laut er konnte und stürzte sich auf den Fußboden.
Ja, wo war er geblieben? Der alte Mann suchte, der kleine Knabe suchte, aber fort war er und fort blieb er. "Ich werde ihn schon finden!" sagte der Alte, aber er fand ihn nie mehr! Der Fußboden hatte allzu große Löcher und Ritzen. Der Zinnsoldat war durch eine Spalte gefallen, und dort lag er im offenen Grabe.
Und der Tag verging, und der kleine Knabe kam heim, und die Woche verging und noch viele Wochen. Die Fenster waren ganz zugefroren. Der kleine Knabe musste sitzen und darauf blasen, um ein Guckloch zu dem alten Haus hinüber zu bekommen. Dort war der Schnee in alle Schnörkel und Inschriften hineingefegt. Er lag dicht über der Treppe, gerade, als sei niemand dort zuhause. Und es war auch niemand zuhause, der alte Mann war tot.
Am Abend hielt ein Wagen davor, und zu ihm herunter trug man ihn in seinem Sarge. Er sollte draußen auf dem Lande in seinem Erbbegräbnis beerdigt werden. Da fuhr er nun, aber niemand folgte, alle seine Freunde waren ja tot. Nur der kleine Knabe warf dem Sarge viele Kusshände nach, als er fortfuhr.
Einige Tage später war Auktion in dem alten Hause, und der kleine Knabe sah von seinem Fenster aus, wie man die alten Ritter und die alten Damen, die Blumentöpfe mit den langen Ohren, die alten Stühle und die alten Schränke wegtrug. Einiges kam hierhin, einiges dorthin. Das Porträt von ihr, das er beim Trödler gefunden hatte, kam wieder zum Trödler und dort blieb es hängen; denn nun kannte sie niemand mehr, und niemand kümmerte sich um das alte Bild.
Im Frühjahr riss man auch das Haus nieder, denn es sei nur ein altes Gerümpel, sagten die Leute. Von der Straße aus konnte man gerade in die Stuben mit dem Schweinslederbezug hineinsehen, der zerfetzt und heruntergerissen wurde. Und all das Grüne hing vom Altan wild um die fallenden Balken herab. – Und dann wurde dort aufgeräumt.
"Das half!" sagten die Nachbarhäuser.
Und es wurde ein herrliches, neues Haus dort gebaut mit großen Fenstern und weißen, glatten Mauern. Aber vorne, wo eigentlich das alte Haus gestanden hatte, wurde ein kleiner Garten angelegt, und zu des Nachbarhauses Mauern hinauf wuchsen wilde Weinranken. Vor den Garten kam ein großes eisernes Gitter mit eiserner Tür; das sah gar stattlich aus. Die Leute standen still und schauten hinein. Und die Spatzen hingen sich dutzendweil an die Weinranken und nahmen einander das Wort vom Munde, so gut sie konnten, aber es war nicht das alte Haus, worüber sie sprachen, denn darauf konnten sie sich nicht besinnen. Es waren nun schon so viele Jahre darüber hingegangen, dass der kleine Knabe zu einem großen Manne herangewachsen war, ja, zu einem tüchtigen Mann, an dem seine Eltern Freude hatten. Er hatte sich eben verheiratet und war mit seiner kleinen Frau hier in das Haus gezogen, wo der Garten war. Und er stand dort bei ihr, während sie eine Feldblume pflanzte, die sie gar niedlich fand. Sie pflanzte sie mit ihrer kleinen Hand und klopfte die Erde mit den Fingern fest. – Au, was war das? Sie hatte sich gestochen. Da saß etwas Spitzes gerade oben auf der weichen Erde.
Es war – ja denk nur. Es war der Zinnsoldat, er, der bei dem alten Mann da oben fortgekommen war, der inzwischen bei Zimmerholz und Schutt herumgebummelt, sich tüchtig getummelt und zuletzt viele Jahre lang in der Erde gelegen hatte.
Und die junge Frau wischte den Soldaten zuerst mit einem grünen Blatte, dann mit ihrem feinen Taschentuch ab; das hatte einen so lieblichen Duft. Und es war dem Zinnsoldaten, als erwache er aus einer Ohnmacht.
"Lass mich sehen!" sagte der junge Mann, dann lachte er und schüttelte den Kopf. "Ja, er kann es wohl nicht gut sein, aber er erinnert mich an eine Geschichte mit einem Zinnsoldaten, die geschah, als ich noch ein kleiner Knabe war." Und dann erzählte er seiner Frau von dem alten Hause und dem alten Manne und dem Zinnsoldaten, den er ihm hinübergeschickt hatte, weil er so schrecklich allein war. Und er erzählte es ganz genau so, wie es wirklich gewesen war, so dass der jungen Frau Tränen in die Augen stiegen über das alte Haus und den alten Mann.
"Es kann doch sein, dass es derselbe Zinnsoldat ist!" sagte sie. "Ich will ihn aufbewahren und alles behalten, was Du mir erzählt hast. Aber des alten Mannes Grab musst Du mir zeigen!"
"Ja, das weiß ich nicht," sagte er, "und niemand weiß es. Alle seine Freunde waren tot, niemand kümmerte sich darum, und ich war ja ein kleiner Knabe."
"Wie schrecklich allein muss er gewesen sein." sagte sie.
"Schrecklich allein!" sagte der Zinnsoldat, "aber es ist herrlich, nicht vergessen zu sein."
"Herrlich!" rief etwas dicht daneben; aber niemand außer dem Zinnsoldaten sah, dass es ein Fetzen von dem schweinsledernen Bezuge war. Er war ohne alle Vergoldung und sah aus wie nasse Erde, aber eine Meinung hatte er, und die sprach er aus:
"Vergoldung vergeht, Aber Schweinsleder besteht." Doch das glaubte der Zinnsoldat nicht.
----------------------------------------------- nächster Märchenletter am 14.06.2021
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maerchenletter · 4 years ago
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Die zwei Brüder
Gebr. Grimm Es waren einmal zwei Brüder, ein reicher und ein armer. Der reiche war ein Goldschmied und bös von Herzen; der arme nährte sich davon, dass er Besen band, und war gut und redlich. Der arme hatte zwei Kinder, das waren Zwillingsbrüder und sich so ähnlich wie ein Tropfen Wasser dem andern. Die zwei Knaben gingen in des reichen Haus ab und zu und erhielten von dem Abfall manchmal etwas zu essen. Es trug sich zu, dass der arme Mann. als er in den Wald ging, Reisig zu holen, einen Vogel sah, der ganz golden war und so schön, wie ihm noch niemals einer vor Augen gekommen war. Da hob er ein Steinchen auf, warf nach ihm und traf ihn auch glücklich; es fiel aber nur eine goldene Feder herab, und der Vogel flog fort. Der Mann nahm die Feder und brachte sie seinem Bruder, der sah sie an und sprach: "Es ist eitel Gold!" und gab ihm viel Geld dafür. Am andern Tag stieg der Mann auf einen Birkenbaum und wollte ein paar Äste abhauen; da flog derselbe Vogel heraus, und als der Mann nachsuchte, fand er ein Nest, und ein Ei lag darin, das war von Gold. Er nahm das Ei mit heim und brachte es seinem Bruder, der sprach wiederum: "Es ist eitel Gold!" und gab ihm, was es wert war. Zuletzt sagte der Goldschmied: "Den Vogel selber möcht' ich wohl haben." Der Arme ging zum drittenmal in den Wald und sah den Goldvogel wieder auf dem Baume sitzen; da nahm er einen Stein, warf ihn herunter und brachte ihn seinem Bruder, der gab ihm einen großen Haufen Gold dafür. "Nun kann ich mir forthelfen", dachte er und ging zufrieden nach Hause. Der Goldschmied war klug und listig und wusste wohl, was das für ein Vogel war. Er rief seine Frau und sprach: "Brat' mir den Goldvogel und sorge, dass nichts davon wegkommt; ich habe Lust, ihn ganz allein zu essen." Der Vogel war aber kein gewöhnlicher sondern so wunderbarer Art, dass wer Herz und Leber von ihm aß, jeden Morgen ein Goldstück unter seinem Kopfkissen fand. Die Frau machte den Vogel zurecht, steckte ihn an einen Spieß und ließ ihn braten. Nun geschah es, dass, während er am Feuer stand und die Frau anderer Arbeiten wegen notwendig aus der Küche gehen musste, die zwei Kinder des armen Besenbinders hereinliefen, sich vor den Spieß stellten und ihn ein paar Mal herumdrehten. Und als da gerade zwei Stücklein aus dem Vogel in die Pfanne herabfielen, sprach der eine: "Die paar Bisslein wollen wir essen, ich bin so hungrig; es wird's ja niemand daran merken." Da aßen sie beide die Stückchen auf; die Frau kam aber dazu, sah, dass sie etwas aßen, und sprach:" Was habt ihr gegessen?" - "Ein paar Stückchen, die aus dem Vogel herausgefallen sind", antworteten sie. "Das ist Herz und Leber gewesen" sprach die Frau ganz erschrocken, und damit ihr Mann nichts vermisste und nicht böse ward, schlachtete sie geschwind ein Hähnchen, nahm Herz und Leber heraus und legte es zu dem Goldvogel. Als er gar war, trug sie ihn dem Goldschmied auf, der ihn ganz allein verzehrte und nichts übrig ließ. Am andern Morgen aber, als er unter sein Kopfkissen griff und das Goldstück hervorzuholen dachte, war so wenig wie sonst eins zu finden. Die beiden Kinder aber wussten nicht, was ihnen für ein Glück zuteil geworden war. Am andern Morgen, wie sie aufstanden, fiel etwas auf die Erde und klingelte, und als sie es aufhoben, da waren's zwei Goldstücke. Sie brachten sie ihrem Vater, der wunderte sich und sprach: "Wie sollte das zugegangen sein?" Als sie aber am andern Morgen wieder zwei fanden und so jeden Tag, da ging er zu seinem Bruder und erzählte ihm die seltsame Geschichte. Der Goldschmied merkte gleich, wie es gekommen war und dass die Kinder Herz und Leber von dem Goldvogel gegessen hatten, und um sich zu rächen und weil er neidisch und hartherzig war, sprach er zu dem Vater: "Deine Kinder sind mit dem Bösen im Spiel, nimm das Gold nicht, und dulde sie nicht länger in deinem Hause, denn er hat Macht über sie und kann dich selbst noch ins Verderben bringen." Der Vater fürchtete den Bösen, und so schwer es ihn ankam, führte er doch die Zwillinge hinaus in den Wald und verließ sie da mit traurigem Herzen. Nun liefen die zwei Kinder im Wald umher und suchten den Weg nach Hause, konnten ihn aber nicht finden, sondern verirrten sich immer weiter. Endlich begegneten sie einem Jäger, der fragte: "Wem gehört ihr, Kinder?" - "Wir sind des armen Besenbinders Jungen", antworteten sie und erzählten ihm, dass ihr Vater sie nicht länger im Hause hätte behalten wollen, weil alle Morgen ein Goldstück unter ihrem Kopfkissen läge. "Nun", sagte der Jäger, "das ist gerade nichts Schlimmes, wenn ihr nur rechtschaffen dabei bleibt und euch nicht auf die faule Haut legt." Der gute Mann nahm die Kinder, weil sie ihm gefielen und er selbst keine hatte, mit nach Hause und sprach: "Ich will euer Vater sein und euch großziehen." Sie lernten da bei ihm die Jägerei, und das Goldstück, das ein jeder beim Aufstehen fand, das hob er ihnen auf, wenn sie's in Zukunft nötig hätten. Als sie herangewachsen waren, nahm sie ihr Pflegevater eines Tages mit in den Wald und sprach: "Heute sollt ihr euern Probeschuss tun, damit ich euch freisprechen und zu Jägern machen kann." Sie gingen mit ihm auf den Anstand und warteten lange, aber es kam kein Wild. Der Jäger sah über sich und erblickte eine Kette von Schneegänsen in der Gestalt eines Dreiecks fliegen, da sagte er zu dem einen: "Nun schieß' von jeder Ecke eine herab." Der tat's und vollbrachte damit seinen Probeschuss. Bald darauf kam noch eine Kette angeflogen und hatte die Gestalt der Ziffer zwei; da hieß der Jäger den andern gleichfalls von jeder Ecke eine herunterholen, und dem gelang sein Probeschuss auch. Nun sagte der Pflegevater: "Ich spreche euch frei, ihr seid ausgelernte Jäger. " Darauf gingen die zwei Brüder zusammen in den Wald, ratschlagten miteinander und verabredeten etwas. Und als sie sich abends zum Essen niedergesetzt hatten, sagten sie zu ihrem Pflegevater: "Wir rühren die Speise nicht an und nehmen keinen Bissen, bevor Ihr uns eine Bitte gewährt habt." Sprach er: "Was ist denn eure Bitte?" Sie antworteten: "Wie haben nun ausgelernt, wir müssen uns auch in der Welt versuchen, so erlaubt, dass wir fortziehen und wandern." Da sprach der Alte mit Freuden: "Ihr redet wie brave Jäger. Was ihr begehrt, ist mein Wunsch gewesen; zieht aus, es wird euch wohl ergehen." Darauf aßen und tranken sie fröhlich zusammen. Als der bestimmte Tag kam, schenkte der Pflegevater jedem eine gute Büchse und einen Hund und ließ jeden von seinen gesparten Goldstücken mitnehmen, soviel er wollte. Darauf begleitete er sie ein Stück Wegs, und beim Abschied gab er ihnen noch ein blankes Messer und sprach: "Wenn ihr euch einmal trennt, so stoßt dieses Messer am Scheideweg in einen Baum. Daran kann einer, wenn er zurückkommt, sehen, wie es seinem abwesenden Bruder ergangen ist, denn die Seite, nach der dieser ausgezogen ist, rostet, wenn er stirbt; solang er aber lebt, bleibt sie blank." Die zwei Brüder gingen immer weiter fort und kamen in einen Wald, so groß, dass sie unmöglich in einem Tag hinauskommen konnten. Also blieben sie die Nacht darin und aßen, was sie in die Jägertasche gesteckt hatten; sie gingen aber auch noch den zweiten Tag und kamen nicht hinaus. Da sie nichts zu essen hatten, sprach der eine: "Wir müssen uns etwas schießen, sonst leiden wir Hunger", lud seine Büchse und sah sich um. Und als ein alter Hase dahergelaufen kam, legte er an, aber der Hase rief: "Lieber Jäger, lass mich leben, Ich will dir auch zwei Junge geben." Sprang auch gleich ins Gebüsch und brachte zwei Junge; die Tierlein spielten aber so munter und waren so artig, dass die Jäger es nicht übers Herz bringen konnten, sie zu töten. Sie behielten sie also bei sich, und die kleinen Hasen folgten ihnen auf dem Fuße nach. Bald darauf schlich ein Fuchs vorbei, den wollten sie niederschießen, aber der Fuchs rief: "Lieber Jäger, lass mich leben, Ich will dir auch zwei Junge geben." Er brachte auch zwei Füchslein, und die Jäger mochten sie auch nicht töten, gaben sie den Hasen zur Gesellschaft, und sie folgten ihnen nach. Nicht lange, so schritt ein Wolf aus dem Dickicht, die Jäger legten auf ihn an, aber der Wolf rief: "Lieber Jäger, lass mich leben, Ich will dir auch zwei Junge geben." Die zwei jungen Wölfe taten die Jäger zu den andern Tieren, und sie folgten ihnen nach. Darauf kam ein Bär, der wollte gern noch länger herumtraben und rief: "Lieber Jäger, lass mich leben, Ich will dir auch zwei Junge geben." Die zwei jungen Bären wurden zu den andern gesellt, und nun waren es ihrer schon acht. Endlich, wer kam? Ein Löwe kam und schüttelte seine Mähne. Doch die Jäger ließen sich nicht schrecken und zielten auf ihn; aber der Löwe sprach gleichfalls: "Lieber Jäger, lass mich leben, Ich will dir auch zwei Junge geben." Er holte auch seine Jungen herbei, und nun hatten die Jäger zwei Löwen, zwei Bären, zwei Wölfe, zwei Füchse und zwei Hasen, die ihnen nachzogen und dienten. Indessen war ihr Hunger damit nicht gestillt worden, da sprachen sie zu den Füchsen: ..Hört' ihr Schleicher, schafft uns etwas zu essen! Ihr seid ja listig und verschlagen." Sie antworteten: "Nicht weit von hier liegt ein Dorf, wo wir schon manches Huhn geholt haben; den Weg dahin wollen wir euch zeigen." Da gingen sie ins Dorf, kauften sich etwas zu essen, ließen auch ihren Tieren Futter geben und zogen dann weiter. Die Füchse aber wussten guten Bescheid in der Gegend, wo die Hühnerhöfe waren, und konnten die Jäger überall zurechtweisen. Nun zogen sie eine Weile herum, konnten aber keinen Dienst finden, wo sie zusammengeblieben wären; da sprachen sie: "Es geht nicht anders, wir müssen uns trennen." Sie teilten die Tiere, so dass jeder einen Löwen, einen Bären, einen Wolf, einen Fuchs und einen Hasen bekam; dann nahmen sie Abschied, versprachen sich brüderliche Treue bis in den Tod und stießen das Messer, das ihnen ihr Pflegevater mitgegeben hatte, in einen Baum; worauf der eine nach Osten, der andere nach Westen zog. Der jüngere aber kam mit seinen Tieren in eine Stadt, die war ganz mit schwarzem Flor überzogen. Er ging in ein Wirtshaus und fragte den Wirt, ob er nicht seine Tiere beherbergen könnte. Der Wirt gab ihnen einen Stall, wo in der Wand ein Loch war: da kroch der Hase hinaus und holte sich ein Kohlhaupt, und der Fuchs holte sich ein Huhn, und als er das gefressen hatte, auch den Hahn dazu; der Wolf aber, der Bär und der Löwe, weil sie zu groß waren, konnten nicht hinaus. Da ließ sie der Wirt hinbringen, wo eben eine Kuh auf dem Rasen lag, dass sie sich satt fraßen. Und als der Jäger für seine Tiere gesorgt hatte, fragte er erst den Wirt, warum die Stadt so mit Trauerflor ausgehängt wäre. Sprach der Wirt: "Weil morgen unseres Königs einzige Tochter sterben wird." Fragte der Jäger: "Ist sie sterbenskrank?" - "Nein"' antwortete der Wirt, "sie ist frisch und gesund, aber sie muss doch sterben." - "Wie geht das zu?" fragte der Jäger. - "Draußen vor der Stadt ist ein hoher Berg, darauf wohnt ein Drache, der muss jedes Jahr eine Jungfrau zum Opfer haben, sonst verwüstet er das ganze Land. Nun sind schon alle Jungfrauen hingegeben, und es ist keine mehr übrig als die Königstochter, dennoch ist keine Gnade, sie muss ihm überliefert werden, und das soll morgen geschehen." Sprach der Jäger: "Warum wird der Drache nicht getötet?" - "Ach", antwortete der Wirt, "so viele Ritter haben's versucht, aber allesamt ihr Leben eingebüßt; der König hat dem, der den Drachen besiegt, seine Tochter zur Frau versprochen, und er soll auch nach seinem Tode das Reich erben." Der Jäger sagte dazu weiter nichts, aber am andern Morgen nahm er seine Tiere und stieg mit ihnen auf den Drachenberg. Da stand oben eine kleine Kirche, und auf dem Altar standen drei gefüllte Becher, und dabei war die Schrift: "Wer die Becher austrinkt, wird der stärkste Mann auf Erden und wird das Schwert führen, das vor der Türschwelle vergraben liegt." Der Jäger trank da nicht, ging hinaus und suchte das Schwert in der Erde, vermochte es aber nicht von der Stelle zu bewegen. Da ging er hin und trank die Becher aus und war nun stark genug, das Schwert aufzunehmen, und seine Hand konnte es ganz leicht führen. Als die Stunde kam, wo die Jungfrau dem Drachen ausgeliefert werden sollte, begleiteten sie der König, der Marschall und die Hofleute hinaus. Sie sah von weitem den Jäger oben auf dem Drachenberg und meinte, der Drache stände da und erwarte sie, und da wollte sie nicht hinaufgehen; endlich aber, weil die ganze Stadt sonst verloren gewesen wäre, musste sie den schweren Gang tun. Der König und die Hofleute kehrten voll großer Trauer heim, des Königs Marschall aber sollte stehen bleiben und aus der Ferne alles mit ansehen. Als die Königstochter oben auf den Berg kam, stand da nicht der Drache, sondern der junge Jäger, der sprach ihr Trost ein und sagte, er wollte sie retten, führte sie in die Kirche und verschloss sie darin. Gar nicht lange, so kam mit großem Gebraus der siebenköpfige Drache dahergefahren. Als er den Jäger erblickte, verwunderte er sich und sprach: "Was hast du hier auf dem Berge zu schaffen?" Der Jäger antwortete: "Ich will mit dir kämpfen." Sprach der Drache: "So mancher Rittersmann hat hier sein Leben gelassen, mit dir will ich auch fertig werden", und atmete Feuer aus sieben Rachen. Das Feuer sollte das trockene Gras anzünden, und der Jäger sollte in der Glut und dem Dampf ersticken; aber die Tiere kamen herbeigelaufen und traten das Feuer aus. Da fuhr der Drache gegen den Jäger der aber schwang sein Schwert, dass es in der Luft sang. und schlug ihm drei Köpfe ab. Da wurde der Drache erst recht wütend, erhob sich in die Luft, spie die Feuerflammen über den Jäger aus und wollte sich auf ihn stürzen, aber der Jäger zückte nochmals sein Schwert und hieb ihm wieder drei Köpfe ab. Das Untier ward matt und sank nieder und wollte doch wieder auf den Jäger los, aber er schlug ihm mit der letzten Kraft den Schweif ab, und weil er nicht mehr kämpfen konnte, rief er seine Tiere herbei, die zerrissen es in Stücke. Als der Kampf zu Ende war, schloss der Jäger die Kirche auf und fand die Königstochter auf der Erde liegen, weil ihr die Sinne vor Angst und Schreck während des Streites vergangen waren. Er trug sie hinaus, und als sie wieder zu sich kam und die Augen aufschlug, zeigte er ihr den zerrissenen Drachen und sagte ihr, dass sie nun erlöst wäre. Sie freute sich und sprach: "Nun wirst du mein liebster Gemahl werden, denn mein Vater hat mich dem versprochen, der den Drachen tötet." Darauf nahm sie ihr Halsband von Korallen ab und verteilte es unter die Tiere, um sie zu belohnen, und der Löwe erhielt das goldene Schlösschen davon. Ihr Taschentuch aber, worin ihr Name stand, schenkte sie dem Jäger, der ging hin und schnitt aus den sieben Drachenköpfen die Zungen aus, wickelte sie in das Tuch und verwahrte sie wohl. Als das geschehen und der Jäger von dem Feuer und dem Kampfe so matt und müde war, sprach er zur Jungfrau: "Wir sind beide so matt und müde, wir wollen ein wenig schlafen." Da sagte sie ja, und sie ließen sich auf die Erde nieder, und der Jäger sprach zu dem Löwen: "Du sollst wachen, damit uns niemand im Schlaf überfällt", und beide schliefen ein. Der Löwe legte sich neben sie, um zu wachen, aber er war vom Kampf auch müde, dass er den Bären rief und sprach: "Lege dich neben mich, ich muss ein wenig schlafen, und wenn was kommt, so wecke mich auf." Da legte sich der Bär neben ihn, aber er war auch müde und rief den Wolf und sprach: "Lege dich neben mich, ich muss ein wenig schlafen, und wenn was kommt, so wecke mich auf." Da legte sich der Wolf neben ihn, aber er war auch müde und rief den Fuchs und sprach: "Lege dich neben mich, ich muss ein wenig schlafen, und wenn was kommt, so wecke mich auf." Da legte sich der Fuchs neben ihn, aber er war auch müde, rief den Hasen und sprach: "Lege dich neben mich, ich muss ein wenig schlafen, und wenn was kommt, so wecke mich auf." Da setzte sich der Hase neben ihn, aber der arme Hase war auch müde und hatte niemand, den er zur Wache herbeirufen konnte, und schlief ein. Da schlief nun die Königstochter, der Jäger, der Löwe, der Bär, der Wolf, der Fuchs und der Hase, und schliefen alle einen festen Schlaf. Der Marschall aber, der von weitem hatte zuschauen sollen, als er den Drachen nicht mit der Jungfrau fortfliegen sah und alles auf dem Berge ruhig war, nahm sich ein Herz und stieg hinauf. Da lag der Drache zerstückt und zerrissen auf der Erde und nicht weit davon die Königstochter und ein Jäger mit seinen Tieren, die waren alle in tiefem Schlaf versunken. Und weil er bös und gottlos war, so nahm er sein Schwert und hieb dem Jäger das Haupt ab; dann fasste er die Jungfrau auf den Arm und trug sie den Berg hinab. Da erwachte sie und erschrak, aber der Marschall sprach; "Du bist in meinen Händen, du sollst sagen, dass ich es gewesen bin, der den Drachen getötet hat." - "Das kann ich nicht"; antwortete sie, "denn ein Jäger mit seinen Tieren hat's getan." Da zog er sein Schwert, drohte sie zu töten, wenn sie ihm nicht gehorchte, und zwang sie damit, dass sie es versprach. Darauf brachte er sie vor den König, der sich vor Freude nicht zu lassen wusste, als er sein liebes Kind wieder lebend erblickte, das er von dem Untier zerrissen glaubte. Der Marschall sprach zu ihm; "Ich habe den Drachen getötet und die Jungfrau und das ganze Reich befreit, darum fordere ich sie zur Gemahlin, so wie es zugesagt ist." Der König fragte die Jungfrau; "Ist das wahr, was er spricht?" - "Ach ja", antwortete sie, "es muss wohl wahr sein; aber ich halte mir aus, dass erst über Jahr und Tag die Hochzeit gefeiert wird", denn sie dachte, in der Zeit etwas von ihrem lieben Jäger zu hören. Auf dem Drachenberg aber lagen noch die Tiere neben dem toten Herrn und schliefen; da kam eine große Hummel und setzte sich dem Hasen auf die Nase, aber der Hase wischte sie mit der Pfote ab und schlief weiter. Die Hummel kam zum zweitenmal, aber der Hase wischte sie wieder ab und schlief fort. Da kam sie zum drittenmal und stach ihn in die Nase, dass er aufwachte. Sobald der Hase wach war, weckte er den Fuchs, und der Fuchs den Wolf, und der Wolf den Bären, und der Bär den Löwen. Und als der Löwe aufwachte und sah, dass die Jungfrau fort war und sein Herr tot, fing er an, fürchterlich zu brüllen und rief; "Wer hat das vollbracht? Bär, warum hast du mich nicht geweckt?" Der Bär fragte den Wolf: warum hast du mich nicht geweckt?" und der Wolf den Fuchs: "Warum hast du mich nicht geweckt?" und der Fuchs den Hasen "Warum hast du mich nicht geweckt?" Der arme Hase wusste allein nichts zu antworten, und die Schuld blieb auf ihm hängen. Da wollten sie über ihn herfallen, aber er bat und sprach; "Bringt mich nicht um, ich will unseren Herrn wieder lebendig machen. Ich weiß einen Berg, da wächst eine Wurzel, wer die im Mund hat, der wird von aller Krankheit und allen Wunden geheilt. Aber der Berg liegt zweihundert Stunden von hier." Sprach der Löwe; "In vierundzwanzig Stunden musst du hin und her gelaufen sein und die Wurzel mitbringen." Da sprang der Hase fort, und in vierundzwanzig Stunden war er wieder zurück und brachte die Wurzel mit. Der Löwe setzte dem Jäger den Kopf wieder an, und der Hase steckte ihm die Wurzel in den Mund; alsbald fügte sich alles wieder zusammen, und das Herz schlug, und das Leben kehrte zurück. Da erwachte der Jäger und erschrak, als er die Jungfrau nicht mehr sah, und dachte: "Sie ist wohl fortgegangen, während ich schlief, um mich loszuwerden." Der Löwe hatte in der großen Eile seinem Herrn den Kopf verkehrt aufgesetzt, der aber merkte es nicht bei seinen traurigen Gedanken an die Königstochter; erst zu Mittag, als er etwas essen wollte, sah er, dass ihm der Kopf nach dem Rücken zu stand' konnte es nicht begreifen und fragte die Tiere, was ihm im Schlaf widerfahren wäre. Da erzählte ihm der Löwe, dass sie auch alle aus Müdigkeit eingeschlafen wären, und beim Erwachen hätten sie ihn tot gefunden mit abgeschlagenem Haupte, der Hase hätte die Lebenswurzel geholt, er aber habe in der Eile den Kopf verkehrt gehalten; doch wollte er seinen Fehler wieder gutmachen. Dann riss er dem Jäger den Kopf wieder ab, drehte ihn herum, und der Hase heilte ihn mit der Wurzel fest. Der Jäger aber war traurig, zog in der Welt umher und ließ seine Tiere vor den Leuten tanzen. Es trug sich zu, dass er gerade nach Verlauf eines Jahres wieder in dieselbe Stadt kam, wo er die Königstochter vom Drachen erlöst hatte, und die Stadt war diesmal ganz mit rotem Scharlach ausgehängt. Da sprach er zum Wirt: "Was will das sagen? Vorm Jahr war die Stadt mit schwarzem Flor überzogen, was soll heute der rote Scharlach?" Der Wirt antwortete: "Vorm Jahr sollte unseres Königs Tochter dem Drachen ausgeliefert werden, aber der Marschall hat mit ihm gekämpft und ihn getötet, und da soll morgen ihre Vermählung gefeiert werden; darum war die Stadt damals mit schwarzem Flor zur Trauer und ist heute mit rotem Scharlach zur Freude ausgehängt." Am andern Tag, da die Hochzeit sein sollte, sprach der Jäger um die Mittagszeit zum Wirt: "Glaubt Er wohl, Herr Wirt, dass ich heute Brot von des Königs Tisch bei Ihm essen will?" - "Ja", sprach der Wirt, "da wollt' ich doch noch hundert Goldstücke dransetzen, dass das nicht wahr ist." Der Jäger nahm die Wette an und setzte einen Beutel mit ebensoviel Goldstücken dagegen. Dann rief er den Hasen und sprach: "Geh' hin, lieber Springer, und hoI' mir von dem Brote, das der König isst." Nun war das Häslein das Geringste und konnte es keinem andern wieder auftragen, sondern musste sich selbst auf die Beine machen. "Ei", dachte es, "wenn ich so allein durch die Straßen springe, werden die Metzgerhunde hinter mir drein sein." Wie es dachte, so geschah es auch, und die Hunde kamen hinter ihm drein und wollten ihm sein gutes Fellchen flicken. Es sprang aber, hast du nicht gesehen! und flüchtete sich in ein Schilderhaus, ohne dass es der Soldat gewahr wurde. Da kamen die Hunde und wollten es heraushaben, aber der Soldat verstand keinen Spaß und schlug mit dem Kolben drein, dass sie schreiend und heulend fortliefen. Als der Hase merkte, dass die Luft rein war, sprang er zum Schloss hinein und gerade zur Königstochter, setzte sich unter ihren Stuhl und kratzte sie am Fuß. Da sagte sie: "Willst du fort!" und meinte, es wäre ihr Hund. Der Hase kratzte zum zweitenmal am Fuß, da sagte sie wieder: "Willst du fort!" und meinte, es wäre ihr Hund. Aber der Hase ließ sich nicht irremachen und kratzte zum drittenmal; da guckte sie hinab und erkannte den Hasen an seinem Halsband. Nun nahm sie ihn auf ihren Schoß, trug ihn in ihre Kammer und sprach: "Lieber Hase, was willst du?" Antwortete er: "Mein Herr, der den Drachen getötet hat, ist hier und schickt mich, ich soll um ein Brot bitten, wie es der König isst." Da war sie voll Freude und ließ den Bäcker kommen und befahl ihm, ein Brot zu bringen, wie es der König aß. Sprach das Häslein: "Aber der Bäcker muss mir's auch hintragen, damit mir die Metzgerhunde nichts tun." Der Bäcker trug es ihm bis an die Tür der Wirtsstube, da stellte sich der Hase auf die Hinterbeine, nahm alsbald das Brot in die Vorderpfoten und brachte es seinem Herrn. Da sprach der Jäger: "Sieht Er, Herr Wirt, die hundert Goldstücke sind mein." Der Wirt wunderte sich, aber der Jäger sagte weiter: "Ja, Herr Wirt, das Brot hätt' ich, nun will ich aber auch von des Königs Braten essen. Der Wirt sagte: "Das möcht' ich sehen", aber wetten wollte er nicht mehr. Rief der Jäger den Fuchs und sprach: "Mein Füchslein, geh' hin und hoI' mir Braten, wie ihn der König isst." Der Rotfuchs wusste die Schliche besser, ging an den Ecken und durch die Winkel, ohne dass ihn ein Hund sah, setzte sich unter der Königstochter Stuhl und kratzte an ihrem Fuß. Da sah sie hinab und erkannte den Fuchs am Halsband, nahm ihn mit in ihre Kammer und sprach: "Lieber Fuchs, was willst du?" Antwortete er: "Mein Herr, der den Drachen getötet hat, ist hier und schickt mich, ich soll bitten um einen Braten, wie ihn der König isst." Da ließ sie den Koch kommen, der musste einen Braten, wie ihn der König aß, anrichten, und dem Fuchs bis an die Tür tragen; da nahm ihm der Fuchs die Schüssel ab, wedelte mit seinem Schwanz erst die Fliegen weg, die sich auf den Braten gesetzt hatten, und brachte ihn dann seinem Herrn. "Sieht Er, Herr Wirt", sprach der Jäger, "Brot und Fleisch ist da, nun will ich auch Zugemüs essen, wie es der König isst." Da rief er den Wolf und sprach: "Lieber Wolf, geh' hin und hol' mir Zugemüs, wie es der König isst." Da ging der Wolf geradezu ins Schloss, weil er sich vor niemand fürchtete, und als er in der Königstochter Zimmer kam, zupfte er sie hinten am Kleide, dass sie sich umschauen musste. Sie erkannte ihn am Halsband, nahm ihn mit in ihre Kammer und sprach:" Lieber Wolf, was willst du?" Antwortete er:" Mein Herr, der den Drachen getötet hat, ist hier, ich soll bitten um ein Zugemüs, wie es der König isst." Da ließ sie den Koch kommen, der musste ein Zugemüs bereiten. wie es der König aß, und musste es dem Wolfe bis vor die Tür tragen; da nahm ihm der Wolf die Schüssel ab und brachte sie seinem Herrn. "Sieht Er, Herr Wirt", sprach der Jäger, "nun hab' ich Brot, Fleisch und Zugemüs, aber ich will auch Zuckerwerk essen, wie es der König isst." Rief er den Bären und sprach: "Lieber Bär, du leckst doch gern etwas Süßes, geh' hin und hol' mir Zuckerwerk, wie es der König isst." Da trabte der Bär nach dem Schlosse, und jedermann ging ihm aus dem Wege; als er aber zu der Wache kam, hielt sie die Flinten vor und wollte ihn nicht ins königliche Schloss lassen. Aber er hob sich in die Höhe und gab mit seinen Tatzen links und rechts ein paar Ohrfeigen, dass die ganze Wache zusammenfiel; darauf ging er geradewegs zu der Königstochter, stellte sich hinter sie und brummte ein wenig. Da schaute sie rückwärts und erkannte den Bären. Sie hieß ihn mitgehen in ihre Kammer und sprach: "Lieber Bär, was willst du?" Antwortete er: "Mein Herr, der den Drachen getötet hat, ist hier, ich soll bitten um Zuckerwerk, wie es der König isst." Da ließ sie den Zuckerbäcker kommen, der musste Zuckerwerk backen, wie es der König aß, und dem Bären vor die Tür tragen. Da leckte der Bär erst die Zuckererbsen auf, die heruntergerollt waren, dann stellte er sich aufrecht, nahm die Schüssel und brachte sie seinem Herrn. "Sieht Er, Herr Wirt", sprach der Jäger, "nun habe ich Brot, Fleisch, Zugemüs und Zuckerwerk' aber ich will auch Wein trinken, wie ihn der König trinkt." Er rief seinen Löwen herbei und sprach: "Lieber Löwe, du trinkst dir doch gern einen Rausch, geh' und hol' mir Wein, wie ihn der König trinkt." Da schritt der Löwe über die Straße, und die Leute liefen vor ihm, und als er an die Wache kam, wollte sie den Weg sperren, aber er brüllte nur einmal, so sprang alles fort. Nun ging der Löwe vor das königliche Zimmer und klopfte mit seinem Schweif an die Tür. Da kam die Königstochter heraus und wäre fast über den Löwen erschrocken; aber sie erkannte ihn an dem goldenen Schloss von ihrem Halsbande, hieß ihn mit in ihre Kammer gehen und sprach: "Lieber Löwe, was willst du?" Antwortete er: "Mein Herr, der den Drachen getötet hat, ist hier, ich soll bitten um Wein, wie ihn der König trinkt." Da ließ sie den Mundschenk kommen, der sollte dem Löwen Wein geben, wie ihn der König trank. Sprach der Löwe: "Ich will mitgehen und sehen, dass ich den rechten kriege." Da ging er mit dem Mundschenk hinab, und als sie unten an die Fässer kamen, wollte ihm dieser von dem gewöhnlichen Wein zapfen, wie ihn des Königs Diener tranken; aber der Löwe sprach: "Halt, ich will den Wein erst versuchen", zapfte sich eine halbe Maß und schluckte sie auf einmal hinab. "Nein", sagte er, "das ist nicht der rechte." Der Mundschenk sah ihn schief an, ging aber und wollte ihm aus einem andern Fasse geben, das für des Königs Marschall war. Sprach der Löwe: "Halt, erst will ich den Wein versuchen", zapfte sich eine halbe Maß und trank sie. "Der ist besser", sagte er, "aber noch nicht der rechte." Da wurde der Mundschenck bös und sprach: "Was so ein dummes Vieh vom Wein verstehen will!" Aber der Löwe gab ihm einen Schlag hinter die Ohren, dass er unsanft zur Erde fiel, und als er sich wieder aufgemacht hatte, führte er den Löwen ganz stillschweigend in einen besonderen Keller, wo des Königs Wein lag, von dem sonst kein Mensch zu trinken bekam. Der Löwe zapfte sich erst eine halbe Maß und versuchte den Wein, dann sprach er: "Das kann vom rechten sein", und hieß den Mundschenk sechs Flaschen füllen. Nun stiegen sie hinauf; wie der Löwe aber aus dem Keller ins Freie kam, schwankte er hin und her und war ein wenig trunken, und der Mundschenk musste ihm den Wein bis vor die Tür tragen. Da nahm der Löwe den Henkelkorb ins Maul und brachte ihn seinem Herrn. Sprach der Jäger: "Sieht Er, Herr Wirt, da hab' ich Brot, Fleisch, Zugemüs, Zuckerwerk und Wein, wie es der König hat, nun will ich mit meinen Tieren Mahlzeit halten", und setzte sich hin, aß und trank und gab dem Hasen, dem Fuchs, dem Wolf, dem Bären und dem Löwen auch davon zu essen und zu trinken und war guter Dinge, denn er sah, dass ihn die Königstochter noch lieb hatte. Und, als er Mahlzeit gehalten hatte, sprach er: "Herr Wirt, nun habe ich gegessen und getrunken, wie der König isst und trinkt, jetzt will ich an des Königs Hof gehen und die Königstochter heiraten." Fragte der Wirt: "Wie soll das zugehen, da sie schon einen Bräutigam hat und heute Vermählung gefeiert wird?" Da zog der Jäger das Taschentuch heraus, das ihm die Königstochter auf dem Drachenberg gegeben hatte und worin die sieben Zungen des Untiers eingewickelt waren, und sprach: "Dazu soll mir helfen, was ich da in der Hand halte." Da sah der Wirt das Tuch an und sprach: "Wenn ich alles glaube, so glaube ich das nicht und will wohl Haus und Hof dransetzen." Der Jäger aber nahm einen Beutel mit tausend Goldstücken' stellt ihn auf den Tisch und sagte: "Das setze ich dagegen." Nun sprach der König an der königlichen Tafel zu seiner Tochter:" Was haben die wilden Tiere alle gewollt, die zu dir gekommen und in meinem Schlosse ein- und ausgegangen sind?" Da antwortete sie: "Ich darf's nicht sagen, aber schickt hin und lasst den Herrn dieser Tiere holen, so werdet Ihr wohl tun." Der König schickte einen Diener ins Wirtshaus und ließ den fremden Mann einladen, und der Diener kam gerade, wie der Jäger mit dem Wirt gewettet hatte. Da sprach der Jäger: "Sieht Er, Herr Wirt, da schickt der König einen Diener und lässt mich einladen, aber ich gehe so noch nicht:" Und zu dem Diener sagte er: "Ich lasse den Herrn König bitten, dass er mir königliche Kleider schickt, einen Wagen mit sechs Pferden und Diener, die mir aufwarten." Als der König die Antwort hörte, sprach er zu seiner Tochter: "Was soll ich tun?" Sagte sie: "Lass ihn holen, wie er's verlangt, so werdet Ihr wohl tun." Da schickte der König königliche Kleider, einen Wagen mit sechs Pferden und Diener, die ihm aufwarten sollten. Als der Jäger sie kommen sah, sprach er: "Sieht er, Herr Wirt, nun werde ich abgeholt, wie ich es verlangt habe", und zog die königlichen Kleider an, nahm das Tuch mit den Drachenzungen und fuhr zum König. Als ihn der König kommen sah, sprach er zu seiner Tochter: "Wie soll ich ihn empfangen?" Antwortete sie: "Geht ihm entgegen, so werdet Ihr wohl tun." Da ging ihm der König entgegen und führte ihn hinauf, und seine Tiere folgten ihm nach. Der König wies ihm einen Platz an neben sich und seiner Tochter, der Marschall saß auf der andern Seite, als Bräutigam, aber der kannte ihn nicht mehr. Nun wurden gerade die sieben Häupter des Drachen zur Schau aufgetragen, und der König sprach: "Die sieben Häupter hat der Marschall dem Drachen abgeschlagen, darum geb' ich ihm heute meine Tochter zur Gemahlin." Da stand der Jäger auf, öffnete die sieben Rachen und sprach: "Wo sind die sieben Zungen des Drachen?" Da erschrak der Marschall, ward bleich und wusste nicht was er antworten sollte; endlich sagte er in der Angst: "Drachen haben keine Zungen." Sprach der Jäger: "Die Lügner sollten keine haben, aber die Drachenzungen sind das Wahrzeichen des Siegers." Und nun wickelte er das Tuch auf, da lagen sie alle sieben darin, und dann steckte er jede Zunge in den Rachen, in den sie gehörte, und sie passten genau. Darauf nahm er das Tuch, in das der Name der Königstochter gestickt war, zeigte es der Jungfrau und fragte sie, wem sie es gegeben hätte. Da antwortete sie: "Dem, der den Drachen getötet hat." Und dann rief er sein Getier, nahm jedem das Halsband und dem Löwen das goldene Schloss ab, zeigte es der Jungfrau und fragte, wem es gehörte. Antwortete sie: "Das Halsband und das goldene Schloss waren mein, ich habe es unter die Tiere verteilt, die den Drachen besiegen halfen." Da sprach der Jäger: "Als ich müde von dem Kampfe geruht und geschlafen habe, da ist der Marschall gekommen und hat mir den Kopf abgehauen. Dann hat er die Königstochter fortgetragen und vorgegeben, er sei es gewesen, der den Drachen getötet habe; und dass er gelogen hat, beweise ich mit den Zungen, dem Tuch und dem Halsband." Und dann erzählte er, wie ihn seine Tiere durch eine wunderbare Wurzel geheilt hätten und dass er ein Jahr lang mit ihnen herumgezogen und endlich wieder hier hergekommen wäre, wo er den Betrug des Marschalls durch die Erzählung des Wirtes erfahren hätte. Da fragte der König seine Tochter: "Ist es wahr, dass dieser den Drachen getötet hat?" Darauf antwortete sie: "Ja, es ist wahr; jetzt darf ich die Schandtat des Marschalls offenbaren, weil sie ohne mein Zutun an den Tag gekommen ist, denn er hat mir das Versprechen zu schweigen abgezwungen. Darum aber habe ich mir ausgehalten, dass erst in Jahr und Tag die Hochzeit gefeiert werden sollte." Da ließ der König zwölf Ratsherren rufen, die über den Marschall Urteil sprechen sollten, und die urteilten, dass er von vier Ochsen zerrissen werden müsste. Also wurde der Marschall gerichtet, der König aber übergab seine Tochter dem Jäger und ernannte ihn zu seinem Statthalter im ganzen Reich. Die Hochzeit wurde mit großen Freuden gefeiert, und der junge König ließ seinen Vater und Pflegevater holen und überhäufte sie mit Schätzen. Den Wirt vergaß er auch nicht. Er ließ ihn kommen und sprach zu ihm: "Sieht Er, Herr Wirt, die Königstochter habe ich geheiratet, und Sein Haus und Hof sind mein." Sprach der Wirt: "Ja, das wäre nach dem Rechten." Der junge König aber sagte: "Es soll nach Gnaden gehen: Haus und Hof soll Er behalten, und die tausend Goldstücke schenke ich Ihm noch dazu." Nun waren der junge König und die junge Königin guter Dinge und lebten vergnügt zusammen. Er zog oft hinaus auf die Jagd, weil das seine Freude war, und die treuen Tiere mussten ihn begleiten. Es lag aber in der Nahe ein Wald, von dem hieß es, er wäre nicht geheuer, und wäre einer erst darin, so käme er nicht leicht wieder heraus. Der junge König hatte aber große Lust, darin zu jagen, und ließ dem alten König keine Ruhe, bis er es ihm erlaubte. Nun ritt er mit großer Begleitung aus, und als er zu dem Walde kam, sah er eine schneeweiße Hirschkuh darin und sprach zu seinen Leuten: "Haltet hier, bis ich zurückkomme, ich will das schöne Wild jagen", und ritt ihm nach in den Wald hinein, und nur seine Tiere folgten ihm. Die Leute hielten und warteten bis zum Abend, aber er kam nicht wieder. Da ritten sie heim und erzählten der jungen Königin: "Der junge König hat im Zauberwald einer weißen Hirschkuh nachgejagt und ist nicht wiedergekommen." Da war sie in großer Besorgnis um ihn. Er war aber dem schönen Wild immer nachgeritten und konnte es niemals einholen; wenn er meinte, es wäre schussrecht, so sah er es gleich wieder in weiter Ferne dahinspringen, und endlich verschwand es ganz. Nun merkte er, dass er tief in den Wald hineingeraten war nahm sein Horn und blies, aber er bekam keine Antwort. denn seine Leute konnten's nicht hören. Und da auch die Nacht einbrach, sah er, dass er diesen Tag nicht heimkommen könnte, stieg ab, machte sich bei einem Baum ein Feuer und wollte dabei übernachten. Als er bei dem Feuer saß, und, seine Tiere sich auch neben ihn gelegt hatten, deuchte ihn, als hörte er eine menschliche Stimme; er schaute umher, konnte aber nichts bemerken. Bald darauf hörte er wieder ein Ächzen wie von oben her, da blickte er in die Höhe und sah ein altes Weib auf dem Baume sitzen, das jammerte in einem fort: "Hu hu hu, was mich friert!" Sprach er: "Steig' herab und wärme dich. wenn dich friert." Sie aber sagte: "Nein, deine Tiere beißen mich." Antwortete er: "Sie tun dir nichts, altes Mütterlein, komm' nur herunter." Sie war aber eine Hexe und sprach: "Ich will dir eine Rute von dem Baume herabwerfen, wenn du sie damit auf den Rücken schlägst, tun sie mir nichts." Da warf sie ihm ein Rütlein hinab, und er schlug sie damit, alsbald lagen sie still und waren in Stein verwandelt. Und als die Hexe vor den Tieren sicher war, sprang sie hinunter, rührte auch ihn mit einer Rute an und verwandelte ihn in Stein. Darauf lachte sie und schleppte ihn und die Tiere in einen Graben, wo schon mehr solcher Steine lagen. Als aber der junge König gar nicht wiederkam, wurde die Angst und Sorge der Königin immer größer. Nun trug sich zu, dass gerade in dieser Zeit der andere Bruder, der bei der Trennung gen Osten gewandert war, in das Königreich kam. Er hatte einen Dienst gesucht und keinen gefunden, war dann herumgezogen hin und her und hatte seine Tiere tanzen lassen. Da fiel ihm ein, er wollte einmal nach dem Messer sehen, das sie bei ihrer Trennung in einen Baumstamm gestoßen hatten, um zu erfahren, wie es seinem Bruder ginge. Wie er dahin kam, war seines Bruders Seite halb verrostet und halb war sie noch blank. Da erschrak er und dachte: "Meinem Bruder muss ein großes Unglück zugestoßen sein, doch kann ich ihn vielleicht noch retten, denn die Hälfte des Messers ist noch blank." Er zog mit seinen Tieren gen Westen, und als er in das Stadttor kam, trat ihm die Wache entgegen und fragte, ob sie ihn bei seiner Gemahlin melden sollte; die junge Königin wäre schon seit ein paar Tagen in großer Angst über sein Ausbleiben und fürchtete, er wäre im Zauberwald umgekommen. Die Wache nämlich glaubte nicht anders, als er wäre der junge König selbst, so ähnlich sah er ihm, und hatte auch die wilden Tiere hinter sich laufen. Da merkte er, dass von seinem Bruder die Rede war, und dachte: "Es ist das beste, ich gebe mich für ihn aus, so kann ich ihn wohl leichter erretten." Also ließ er sich von der Wache ins Schloss begleiten und wurde mit großen Freuden empfangen. Die junge Königin meinte nicht anders, als es wäre ihr Gemahl, und fragte ihn, warum er so lange ausgeblieben wäre. Er antwortete: "Ich hatte mich in einem Walde verirrt und konnte mich nicht eher wieder herausfinden.,' Abends ward er in das königliche Bett gebracht, aber er legte ein zweischneidiges Schwert zwischen sich und die junge Königin. Sie wusste nicht, was das heißen sollte, getraute aber nicht, zu fragen. Da blieb er nun ein paar Tage und erforschte derweil alles, wie es mit dem Zauberwald beschaffen war; endlich sprach er: "Ich muss noch einmal dort jagen." Der König und die junge Königin wollten es ihm ausreden, aber er bestand darauf und zog mit großer Begleitung hinaus. Als er in den Wald gekommen war, erging es ihm wie seinem Bruder. Er sah eine weiße Hirschkuh und sprach zu seinen Leuten: "Bleibt hier und wartet, bis ich wiederkomme, ich will das schöne Wild jagen", ritt in den Wald hinein, und seine Tiere liefen ihm nach. Aber er konnte die Hirschkuh nicht einholen und geriet so tief in den Wald, dass er darin übernachten musste. Und als er ein Feuer gemacht hatte, hörte er über sich ächzen: "Hu hu hu, wie mich friert!" Da schaute er hinauf, und es saß dieselbe Hexe oben im Baum. Sprach er: "Wenn dich friert, so komm' herab, altes Mütterchen, und wärme dich." Antwortete sie: "Nein, deine Tiere beißen mich." Er aber sprach: "Sie tun dir nichts." Da rief sie: "Ich will dir eine Rute hinabwerfen, wenn du sie damit schlägst, so tun sie mir nichts." Wie der Jäger das hörte, traute er der Alten nicht und sprach: "Meine Tiere schlag' ich nicht, komm' du herunter, oder ich hoI' dich." Da rief sie: "Was willst du wohl? Du tust mir doch nichts!" Er aber antwortete: "Kommst du nicht, so schieße ich dich herunter." Sprach sie: "Schieß nur zu, vor deinen Kugeln fürchte ich mich nicht." Da legte er an und schoss nach ihr, aber die Hexe war fest gegen alle Bleikugeln, lachte, dass es gellte, und rief: "Du sollst mich doch nicht treffen." Der Jäger wusste Bescheid, riss sich drei silberne Knöpfe vom Rock und lud sie in die Büchse, denn dagegen war ihre Kunst umsonst, und als er losdrückte, stürzte sie gleich mit Geschrei herab. Da stellte er den Fuß auf sie und sprach: "Alte Hexe, wenn du nicht gleich gestehst, wo mein Bruder ist, so pack' ich dich auf mit beiden Händen und werfe dich ins Feuer!" Sie war in großer Angst, bat um Gnade und sagte: "Er liegt mit seinen Tieren versteinert in einem Graben." Da zwang er sie, mit hinzugehen, drohte ihr und sprach: "Alte Meerkatze, jetzt machst du meinen Bruder und alle Geschöpfe, die hier liegen, lebendig, oder du kommst ins Feuer!" Sie nahm eine Rute und rührte die Steine an, da wurde sein Bruder mit den Tieren wieder lebendig, und viele andere, Kaufleute, Handwerker, Hirten, standen auf, dankten für ihre Befreiung und zogen heim. Die Zwillingsbrüder aber, als sie sich wiedersahen, küssten sich und freuten sich von Herzen Dann ergriffen sie die Hexe, banden sie und legten sie ins Feuer, und als sie verbrannt war, tat sich der Wald von selbst auf und war licht und hell, und man konnte das königliche Schloss auf drei Stunden Wegs sehen. Nun gingen die zwei Brüder zusammen nach Hause und erzählten einander unterwegs ihre Schicksale. Und als der jüngere sagte, er wäre an des Königs Statt Herr im ganzen Lande, sprach der andere: "Das hab' ich wohl gemerkt, denn als ich in die Stadt kam und für dich angesehen wurde, geschah mir alle königliche Ehre: die junge Königin hielt mich für ihren Gemahl, ich musste an ihrer Seite sitzen und in deinem Bett schlafen." Wie das der andere hörte, ward er so eifersüchtig und zornig, dass er sein Schwert zog und seinem Bruder den Kopf abschlug. Als dieser aber tot dalag und er sein rotes Blut fließen sah, reute es ihn gewaltig: "Mein Bruder hat mich erlöst", rief er aus, "und ich habe ihn dafür getötet!" und jammerte laut. Da kam sein Hase und erbot sich, von der Lebenswurzel zu holen, sprang fort und brachte sie noch zu rechter Zeit. Und der Tote ward wieder ins Leben gebracht und merkte gar nichts von der Wunde. Darauf zogen sie weiter, und der jüngere sprach: "Du siehst aus wie ich, hast königliche Kleider an wie ich, und die Tiere folgen dir nach wie mir, da wollen wir zu den entgegengesetzten Toren eingehen und von zwei Seiten zugleich beim alten König anlangen." Also trennten sie sich, und bei dem alten König kam zu gleicher Zeit die Wache von dem einen und dem andern Tore und meldete, der junge König mit den Tieren wäre von der Jagd angelangt. Sprach der König: "Es ist nicht möglich, die Tore liegen eine Stunde weit auseinander." Indem aber kamen von zwei Seiten die beiden Brüder in den Schlosshof herein
und stiegen beide herauf. Da sprach der König zu seiner Tochter: "Sag' an, welcher ist dein Gemahl? Es sieht einer aus wie der andere, ich kann's nicht wissen." Sie war da in großer Angst und konnte es nicht sagen, endlich fiel ihr das Halsband ein, das sie den Tieren gegeben hatte, suchte und fand an dem einen Löwen ihr goldenes Schlösschen. Da rief sie vergnügt:" Der, dem dieser Löwe nachfolgt, der ist mein rechter Gemahl!" Da lachte der junge König und sagte: "Ja, das ist der rechte", und sie setzten sich zusammen zu Tisch, aßen und tranken und waren fröhlich. Abends, als der junge König zu Bett ging, sprach seine Frau: "Warum hast du die vorigen Nächte immer ein zweischneidiges Schwert in unser Bett gelegt, ich habe geglaubt, du wolltest mich totschlagen." Da erkannte er, wie treu sein Bruder gewesen war.
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maerchenletter · 4 years ago
Text
Der Gaukler
Aachener Märchen
Vor langer langer Zeit zog einmal ein Seiltänzer durch die Stadt Aachen. Dieser eroberte sich die Herzen der Menschen durch seine Kunstfertigkeit und seinen Witz. Er trug weiß-rot gestreifte Beinkleider, eine schwarze Samtjacke und eine merkwürdige, kronenähnliche Haube aus abgeschlissenem Brokat, die am Rande mit kleinen blindgeworden Perlen besetzt war.
Nun traf es sich, dass eine vornehme Frau ihn sah, die gerade in einer Kutsche vorbeifuhr. Ihr kleiner, blasser Sohn presste seine Stirn gegen das Fensterglas und lachte plötzlich laut auf. Die Frau winkte dem Kutscher, und die Pferde standen still. Sie ließ den Seiltänzer an den an den Wagen kommen und sagte: „Mein Junge hat über euch lachen müssen, ihr wisst nicht was das für mich bedeutet ich danke euch! Kommt mit mir, ich muss mit Euch reden!“
Der Fremde Mann nahm also sein Seil und stieg in die Kutsche. „Ihr müsst eine Zeit lang bei uns wohnen“, fuhr die Frau fort, „seht dies ist mein Sohn Lysander, er kann nicht lustig sein, und ihr habt ihn zum Lachen gebracht.“ „Ich werde es mir überlegen,“ sprach der Mann. „O, ich flehe Euch an,  tut es“, rief die Frau, „ich bitte euch darum!“ Nun hatte auch der Mann einen kleinen Sohn. Die Mutter war lange tot und darum allein. Überlegte er das alles? Gewiss würde die vornehme Frau auch ihn mit aufnehmen, aber er blieb dann doch der Sohn eines Dieners, eines Gauklers. So ging der Mann später nachdenklich durch die Stadt. Da begegnete ihm eine uralte Frau mit meergrünen Augen, und sie sagte: „Nun, mein Herzchen, was fehlt dir?“ „Ich habe keine Lust, dir das zu erzählen“, erwiderte der Mann. „Ich bin aber die Einzige, die dir helfen kann,“ sagte die Frau, „ich weiß, was dich bedrückt, ich sehe es an deinen Augen. Du kannst das Kind mir bringen!“
Da erschrak der Mann heftig, aber die alte Frau lachte und sagte: „Du traust mir das wohl nich zu? O, ich bin noch hurtig wie ein junges Mädchen in meinem Haushalt und versorge deinen Kleinen gut. Zudem bin ich nicht weit von dir entfernt, du kannst dein Kind jeden Tag sehen.
Höre gut zu: Das Haus deiner Herrin steht in der Franzstrasse, dahinter liegt ein kleiner Park mit einer Mauer darum. An der rechten Seite der Mauer befindet sich ein Brunnen, und daneben erblickst du hinter Efeu versteckt eine eiserne Tür. Hier ist der Schlüssel dazu. Jeden Mittag, wenn dein Prinz schläft, kommst du zu mir, denn im Garten hinter der Tür steht mein Haus. Nun zögere nicht und bringe mir den Knaben!“
Da der Mann keinen anderen Ausweg fand, brachte er an einem Mittag seinen Sohn der alten Frau. 0 Die Alte verbot ihm, nur ein Wort darüber zu sagen, und er versprach es ihr. Jeden Mittag, wenn Lysander schlief, ging der Gaukler heimlich zu seinem Sohn. Dieser wurde immer schöner und kräftiger. Seine Augen strahlten vor Freude, und sein Haar schimmerte in der Sonne wie Gold. Auch Lysander wurde groß, aber seine Traurigkeit wuchs gleichsam mit. Er konnte stundenlang unter den Bäumen des Parks sitzen und den Vögeln nachschauen. Manchmal gelang es dem Gaukler in fröhlich zu machen aber das war sehr selten. Einmal nun wurde Lysander krank, und der Gaukler wachte Tag und Nacht bei ihm. Es war ihm nicht mehr möglich seinen Sohn zu besuchen. Er hörte immer nur seine Lieder hinter der Mauer. An einem Mittag öffnete sich plötzlich die Tür, und ein Jüngling trat ein, in einem weißen seidenen Gewand. „Ich will für dich wachen,“ sagte er, „geh schnell zu deinem Kind, aber beeile dich!“ Der Gaukler fürchtete sich, doch seine Sehnsucht war so stark, dass er auf den Vorschlag des Fremden einging. „Vielleicht ist der Fremde ein Engel“, dachte der Gaukler. Das geschah eine ganze Zeit lang. Als der Gaukler einmal wieder durch die kleine Tür zurückkam, sah er einen Mann aus Lysanders Krankengemach kommen, der genauso angekleidet war wie er selbst. In der Hand aber trug er ein rotes Herz. Der Gaukler ging auf ihn zu und rief: „Wer bist du?“ Er stand wie vor seinem Spiegelbild, die gleichen rot-weissen Beinkleider, die gleiche schwarze Samtjacke und die gleiche brokatene Haube. „Ich bin der Teufel“, sagte der Fremde, „du hast es mir leicht gemacht. Dein Schützling hat mir sein Herz verkauft.“ „Und was gibst du ihm dafür?“ schrie der Gaukler.  „Leichtsinn, Lachen, Fröhlichkeit!“ rief der Teufel und war verschwunden.
Nun begann eine schwere Zeit für den Gaukler. Lysander war voller böser Einfälle und nicht mehr wieder zu erkennen. Die Mutter aber hörte nur sein Lachen und überschüttete den Gaukler mit Gold und Edelstein.
Dieser wusste in seiner Not keinen Rat und ging an einem Abend heimlich zu der alten Frau. „Der Teufel hat das Herz versteckt“, sagte sie, „wir müssen nur herausfinden, wo. Aber zeigt doch mal Eure Mütze her, ach, so was tragt Ihr auf Eurem Kopf? Es wird Zeit, dass ihr die Perlen einmal putzt, wir wollen das schnell machen!“
Die alte holte ein feuchtes Tuch und rieb jede Perle einzeln ab. Da nahm sie noch ein trockenes Tuch, und indem sie die erste Perle rieb, hörte man die Töne einer Geige. Bei der nächsten Perle hub eine Flöte an zu jubilieren, und bei der dritten Perle blies irgendjemand Trompete. So ging es fort, bis alle Instrumente beisammen waren. Nein, es war einfach nicht zu begreifen. Die Musik hing in der Luft, und das war ein Klingen und Pfeifen, wie man es selten zu hören bekommt.
„So weit wären wir“, sagte die alte Frau, „und nun wollen wir weitersehen.“ Sie schlug ein Tuch um ihre Schultern und ging hinaus. Der Gaukler folgte ihr. Draußen schwenkte sie die Mütze immer im Kreise herum und murmelte:
Perlen, Perlen, rührt euch schnell, bringt uns eilig zu der Stell‘, wo das Herz verborgen liegt, wo es sich in Seide schmiegt. Unter Erde, unter Steinen muss es nach dem Knaben weinen, der es längst vergaß. Perlen, zeigt eure Kraft, was ihr wirkt und was ihr schafft, zeigt in den Sternstunden, löst euch, frei und ungebunden, seid doch nicht aus Glas!
Da fiel die Mütze zu Boden, und aus jeder Perle wurde ein Vogel. Das war wunderbar anzusehen, da gab es rote, gelbe, grüne Federn, betupft, gestreift und in allen Arten. Es war wie ein lebendiger Regenbogen. Diese Vögel zogen an feinen, goldenen Ketten eine Waage aus Kristall.
Die alte Frau und der Gaukler stiegen hinein, und nun erhoben die Vögel ihre Schwingen. Der Wagen flog mit ihnen in die Luft. Nun kam die Musik immer näher. Als sie den Turm des Marschiertores erreichten, ließen die Vögel sich nieder. Die alte Frau sprang in eine Dachluke hinein, und der Gaukler, der ja recht beweglich und behende war, machte das gleiche.
Nun standen sie beide auf einem Speicher und sahen auf den verschiedenen Balken Zwerge mit Musikinstrumenten sitzen. Eine Stimme aber sang dazu:
Suchet nun in aller Ruhe eine schwarze Eisentruhe. Jeder findet dort sein Teil! Gaukler, Gaukler, nimm dein Seil und ertanze dir die Gunst einer schwarzen Teufelskunst.
Der Mann schaute nun in jeden Winkel, und da entdeckte er unter Erde und Steinen versteckt, die Truhe. Er öffnete sie. Da lag das Herz in weiße Seide eingehüllt, und die alte Frau stecke es in ihre Schürzentasche.
Jetzt stellten die Zwerge ihre Instrumente zur Seite und reichten dem Gaukler ein Seil. Er nahm es, warf es zur Luke hinaus, aber es fiel nicht auf die Straße. Ein Vogel fing es mit seinem Schnabel auf und trug es weit fort. Das Seil wuchs. Der Vogel trug es bis zu dem Hause des reichen Knaben und band es dort an einem Steinengel fest, der dicht vor dem Giebel stand.
Der Gaukler sprang auf das Seil und tanzte leichtfüßig, bis er das Ende erreicht hatte. Die alte Frau war nicht mehr zu sehen. Als er in das Zimmer des Knaben kam, saß dieser in seinem Bett aufrecht und lachte. „Mir träumte, ich hätte mein Herz verloren“, sagte er, „und heute bekam ich es wieder. Ach, mir ist so leicht und fröhlich zu Mute. Eine alte Frau mit meergrünen Augen brachte mir das Herz. Aber weißt du, ich habe nicht eher Ruhe, bis der Junge aus dem Nachbargarten zu mir kommt. Er singt so schön, gestern sah ich ihn auf der Mauer sitzen, zum ersten Mal. Ich sprach mit ihm, er ist so gut und freundlich. Dann ging er fort, und ich rief mit meiner Mutter lange nach ihm, aber er kam nicht mehr. Du musst mir nun helfen, ihn zu finden!“
„O, das kann ich wohl gut“, sagte der Mann und atmete tief auf, „ich will dir später alles erzählen. –„
So kam der Sohn des Gauklers in das Haus des reichen Knaben, und sie wurden wie Brüder gemeinsam erzogen. Der Zauber war von Lysanders Seele gewichen, und er lebte froh und unbekümmert auf
In den Abendstunden aber war ihnen oft, als dränge jene sonderbare Musik durch den Garten, die der Gaukler gehört hatte. „Wir wollen die alte Frau noch einmal besuchen“, sagte er, und die Kinder holten den Schlüssel, um die eiserne Tür aufzuschließen. Aber der Schlüssel drehte sich nicht mehr im Schloss, und sie stiegen alle über Mauer. Das haus war nicht mehr zu sehen und der Garten verwildert. Ein fremdes Kind saß im Gras und pflückte Blumen. „Wo ist denn das Haus, was hier stand?“ fragte der Gaukler. „Hier hat kein Haus gestanden“, sagte das Kind, „niemals.“
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maerchenletter · 5 years ago
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Der Schneemann
Hans Christian Andersen
"Eine so wunderbare Kälte ist es, das mir der ganze Körper knackt!" sagte der Schneemann. "Der Wind kann einem wirklich Leben einbeißen. Und wie die Glühende dort glotzt!" Er meinte die Sonne, die gerade im Untergehen begriffen war. "Mich soll sie nicht zum Blinzeln bringen, ich werden schon die Stückchen festhalten."
Er hatte nämlich statt der Augen zwei große, dreieckige Stückchen von einem Dachziegel im Kopf; sein Mund bestand aus einem alten Rechen, folglich hatte sein Mund auch Zähne.
Geboren war er unter dem Jubelruf der Knaben, begrüßt vom Schellengeläut und Peitschenknall der Schlitten.
Die Sonne ging unter, der Vollmond ging auf, rund, groß, klar und schön in der blauen Luft.
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"Da ist sie wieder von einer anderen Seite!" sagte der Schneemann. Damit wollte er sagen: die Sonne zeigt sich wieder. "Ich habe ihr doch das Glotzen abgewöhnt! Mag sie jetzt dort hängen und leuchten, damit ich mich selber sehen kann. Wüsste ich nur, wie man es macht, um von der Stelle zu kommen! Ich möchte mich gar zu gern bewegen! Wenn ich es könnte, würde ich jetzt dort unten auf dem Eis hingleiten, wie ich die Knaben gleiten gesehen habe; allein ich verstehe mich nicht darauf, weiß nicht, wie man läuft."
"Weg! weg!" bellte der alte Kettenhund; er war etwas heiser und konnte nicht mehr das echte "Wau! wau!" aussprechen; die Heiserkeit hatte er sich geholt, als er noch Stubenhund war und unter dem Ofen lag. "Die Sonne wird dich schon laufen lehren! Das habe ich vorigen Winter an deinem Vorgänger und noch früher an dessen Vorgänger gesehen. Weg! weg! Und weg sind sie alle!"
"Ich verstehen dich nicht, Kamerad", sagte der Schneemann. "Die dort oben soll mich laufen lehren?" Er meinte den Mond; "ja, laufen tat sie freilich vorhin, als ich sie fest ansah, jetzt schleicht sie heran von einer anderen Seite."
"Du weißt gar nichts!" entgegnete der Kettenhund, "du bist aber auch eben erst aufgekleckst worden. Der, den du da siehst, das ist der Mond; die, welche vorhin davongegangen ist, das war die Sonne; die kommt morgen wieder, die wird dich schon lehren, in den Wallgraben hinabzulaufen. Wir kriegen bald anderes Wetter, ich fühle es schon in meinem linken Hinterbein, es sticht und schmerzt; das Wetter wird sich ändern!"
"Ich verstehe ihn nicht", sagte der Schneemann, "aber ich habe es im Gefühl, dass es etwas Unangenehmes ist, was er spricht. Sie, die so glotzte und sich alsdann davonmachte, die Sonne, wie er sie nennt, ist auch nicht meine Freundin, das habe ich im Gefühl!"
"Weg! weg!" bellte der Kettenhund, ging dreimal um sich selbst herum und kroch dann in seine Hütte um zu schlafen.
Das Wetter änderte sich wirklich. Gegen Morgen lag ein dicker, feuchter Nebel über der ganzen Gegend; später kam der Wind, ein eisiger Wind; das Frostwetter packte einen ordentlich, aber als die Sonne aufging, welche Pracht! Bäume und Büsche waren mit Reif überzogen, sie glichen einem ganzen Wald von Korallen, alle Zweige schienen mit strahlend weißem Blüten über und über besät. Die vielen und feinen Verästelungen, die der Blätterreichtum während der Sommerzeit verbirgt, kamen jetzt alle zum Vorschein. Es war wie ein Spitzengewebe, glänzend weiß, aus jedem Zweig strömte ein weißer Glanz. Die Hängebirke bewegte sich im Wind, sie hatte Leben wie alle Bäume im Sommer; es war wunderbar und schön! Und als die Sonne schien, nein, wie flimmerte und funkelte das Ganze, als läge Diamantenstaub auf allem und als flimmerten auf dem Schneeteppich des Erdbodens die großen Diamanten, oder man konnte sich auch vorstellen, dass unzählige kleine Lichter leuchteten, weißer selbst als der weiße Schnee.
"Das ist wunderbar schön!" sagte ein junges Mädchen, das mit einem jungen Mann in den Garten trat. Beide blieben in der Nähe des Schneemanns stehen und betrachteten von hier aus die flimmernden Bäume. "Einen schöneren Anblick gewährt der Sommer sicht!" sprach sie, und ihre Augen strahlten.
"Und so einen Kerl wie diesen hier hat man im Sommer erst recht nicht", erwiderte der junge Mann und zeigte auf den Schneemann. "Er ist hübsch".
Das junge Mädchen lachte, nickte dem Schneemann zu und tanzte darauf mit ihrem Freund über den Schnee dahin, der unter ihren Schritten knarrte und pfiff, als gingen sie auf Stärkemehl.
"Wer waren die beiden?" fragte der Schneemann.
"Liebesleute!" Gab der Kettenhund zur Antwort. "Sie werden in eine Hütte ziehen und zusammen am Knochen nagen. Weg! weg!"
"Sind denn die beiden auch solche Wesen wie du und ich?" fragte der Schneemann.
"Die gehören ja zur Herrschaft!" versetzte der Kettenhund, "freilich weiß man sehr wenig, wenn man den Tag zuvor erst zur Welt gekommen ist. Ich merke es dir an! Ich habe das Alter, auch die Kenntnisse; ich kenne alle hier im Haus, und auch eine Zeit habe ich gekannt, da lag ich nicht hier in der Kälte und an der Kette. Weg! weg!"
"Die Kälte ist herrlich!" sprach der Schneemann. "Erzähle, erzähle! Aber du darfst nicht mit den Ketten rasseln; es knackt in mir, wenn du das tust."
"Weg! weg!" bellte der Kettenhund. "Ein kleiner Junge bin ich gewesen, klein und niedlich, sagte man; damals lag ich auf einem mit Sammet überzogenen Stuhl dort oben im Herrenhaus, im Schoß der obersten Herrschaft; mir wurde die Schnauze geküsst, und die Pfoten wurden mir mit einem gestickten Taschentuch abgewischt, ich hieß Ami! lieber Ami! süßer Ami! Aber später wurde ich ihnen dort oben zu groß, und sie schenkten mich der Haushälterin. Ich kam in die Kellerwohnung! Du kannst dorthin hinunterschauen, wo ich Herrschaft gewesen bin, denn das war ich bei der Haushälterin. Es war zwar ein geringerer Ort als oben, aber er war gemütlicher, ich wurde nicht in einem fort von Kindern angefasst und gezerrt wie oben. Ich bekam ebenso gutes Futter wie früher, ja besseres noch! Ich hatte mein eigenes Kissen, und ein Ofen war da, der ist um diese Zeit das Schönste von der Welt! Ich ging unter den Ofen, konnte mich darunter ganz verkriechen. Ach, von ihm träume ich noch. Weg! weg!"
"Sieht denn ein Ofen so schön aus?" fragte der Schneemann. "Hat er Ähnlichkeit mit mir?"
"Der ist gerade das Gegenteil von dir! Rabenschwarz ist er, hat einen langen Hals mit Messingtrommel. Er frisst Brennholz, dass ihm das Feuer auf dem Munde sprüht. Man muss sich an der Seite von ihm halten, dicht daneben, ganz unter ihm, da ist es sehr angenehm. Durch das Fenster wirst du ihn sehen könne, von dort aus, wo du stehst."
Und der Schneemann schaute danach und gewahrte einen blank polierten Gegenstand mit messingner Trommel; das Feuer leuchtete von unten heraus. Dem Schneemann wurde ganz wunderlich zumute, es überkam ihn ein Gefühl, er wusste selber nicht welches, er konnte sich keine Rechenschaft darüber ablegen; aber alle Menschen, wenn sie nicht Schneemänner sind, kennen es.
"Und warum verließest du sie?" fragte der Schneemann. Er hatte es im Gefühl, dass es ein weibliches Wesen sein musste. "Wie konntest du nur einen solchen Ort verlassen?"
"Ich musste wohl!" sagte der Kettenhund. "Man warf mich zur Tür hinaus und legte mich hier an die Kette. Ich hatte den jüngsten Junker ins Bein gebissen, weil er mir den Knochen wegstieß, an dem ich nagte: Knochen um Knochen, so denke ich! Das nahm man mir aber sehr übel, und von dieser Zeit an bin ich an die Kette gelegt worden und habe meine Stimme verloren, hörst du nicht, dass ich heißer bin? Ich kann nicht mehr so sprechen wie die anderen Hunde: weg! weg! Das war das Ende vom Lied!"
Der Schneemann hörte ihm aber nicht mehr zu, er schaute immerfort in die Kellerwohnung der Haushälterin, in ihre Stube hinein, wo der Ofen auf seinen vier eisernen Beinen stand und sich in derselben Größe zeigte wie der Schneemann.
"Wie das sonderbar in mir knackt!" sagte er. "Werde ich nie dort hineinkommen? Es ist doch ein unschuldiger Wunsch, und unsere unschuldigen Wünsche werden gewiss in Erfüllung gehen. Ich muss dort hinein, ich muss mich an sie anlehnen, und wollte ich auch das Fenster eindrücken!"
"Dort hinein wirst du nie gelangen!" sagte der Kettenhund, "und kommst du an den Ofen hin, so bist du weg! weg!"
Ich bin schon so gut wie weg!" erwiderte der Schneemann, "ich breche zusammen, glaube ich."
Den ganzen Tag stand der Schneemann und schaute durchs Fenster hinein; in der Dämmerstunde wurde die Stube noch einladender; vom Ofen her leuchtete es mild, gar nicht wie der Mond, nicht wie die Sonne; nein, wie nur der Ofen leuchten kann, wenn er etwas zu verspeisen hat. Wenn die Stubentür aufging, hing ihm die Flamme zum Munde heraus, diese Gewohnheit hatte der Ofen; es flammte deutlich rot auf um das weiße Gesicht des Schneemannes, es leuchtete rot seine ganze Brust herauf.
"Ich halte es nicht mehr aus!" sagte er. "Wie schön es ihr steht, die Zunge so herauszustrecken!"
Die Nacht war lang, dem Schneemann ward sie aber nicht lang, er stand in seine eigenen schönen Gedanken vertieft, und die froren, dass es knackte.
Am Morgen waren die Fensterscheiben der Kellerwohnung mit Eis bedeckt; sie trugen die schönsten Eisblumen, die nur ein Schneemann verlangen konnte, allein sie verbargen den Ofen. Die Fensterscheiben wollten nicht auftauen; er konnte den Ofen nicht sehen, den er sich als ein so liebliches weibliches Wesen dachte. Es knackte und knickte in ihm und rings um ihn her; es war gerade so ein Frostwetter, an dem ein Schneemann seine Freude haben musste. Er aber freute sich nicht - wie hätte er sich auch glücklich fühlen können, er hatte Ofensehnsucht.
"Das ist eine schlimme Krankheit für einen Schneemann", sagte der Kettenhund, "ich habe an der Krankheit gelitten; aber ich habe sie überstanden. Weg! weg!" bellte er. "Wir werden anderes Wetter bekommen!" fügte er hinzu.
Und das Wetter änderte sich; es wurde Tauwetter.
Das Tauwetter nahm zu, der Schneemann nahm ab. Er sagte nichts, er klagte nicht, und das ist das richtige Zeichen.
Eines Morgens brach er zusammen. Und sieh, es ragte so etwas wie ein Besenstiel da, wo er gestanden hatte, empor. Um den Stiel herum hatten die Knaben ihn aufgebaut.
"Ja, jetzt begreife ich es, jetzt verstehe ich es, dass er die große Sehnsucht hatte!" sagte der Kettenhund. "Da ist ja ein Eisen zum Ofenreinigen an dem Stiel, der Schneemann hat einen Ofenkratzer im Leib gehabt! Das ist es, was sich in ihm geregt hat, jetzt ist das überstanden; weg! weg!"
Und bald darauf war auch der Winter überstanden.
"Weg! weg!" bellte der heisere Kettenhund; aber die Mädchen aus dem Hause sangen:
Waldmeister grün! Hervor aus dem Haus, Weide! Die wollenen Handschuhe aus; Lerche und Kuckuck! Singt fröhlich drein, Frühling im Februar wird es sein! Ich singe mit: Kuckuck" Kiwitt" Komm, liebe Sonne, komm oft - kiwitt!
Und dann denkt niemand an den Schneemann.
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maerchenletter · 5 years ago
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Der Rosenelf
Hans-Christian Andersen
Mitten in einem Garten wuchs ein Rosenstock, der war ganz voller Rosen, und in einer derselben, der schönsten von allen, wohnte ein Elf; er war so winzig klein, dass kein menschliches Auge ihn erblicken konnte; hinter jedem Blatte in der Rose hatte er eine Schlafkammer; er war so wohlgebildet und schön, wie nur ein Kind sein konnte und hatte Flügel von den Schultern bis gerade hinunter zu den Füßen. O, welcher Duft war in seinen Zimmern, und wie klar und schön waren die Wände! Es waren ja die blassroten Rosenblätter.
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Den ganzen Tag erfreute er sich im warmen Sonnenschein, flog von Blume zu Blume, tanzte auf den Flügeln des fliegenden Schmetterlings und maß, wie viele Schritte er zu gehen hatte, um über alle Landstraßen und Steige zu gelangen, welche auf einem einzigen Lindenblatte sind. Das war, was wir die Adern im Blatte nennen, die er für Landstraßen und Steige nahm, ja das waren große Wege für ihn! Ehe er damit fertig wurde, ging die Sonne unter, er hatte auch spät damit angefangen.
Es wurde kalt, der Tau fiel und der Wind wehte; nun war es das Beste, nach Hause zu kommen, er tummelte sich, so sehr er konnte, aber die Rose hatte sich geschlossen, er konnte nicht hineingelangen – keine einzige Rose stand geöffnet. Der arme kleine Elf erschrak sehr. Er war früher nie nachts weggewesen, hatte immer süß hinter den warmen Rosenblättern geschlummert. O, das wird sicher sein Tod werden!
Am andern Ende des Gartens, wusste er, befand sich eine Laube mit schönem Jelängerjelieber, die Blumen sahen wie große, bemalte Hörner aus; in eine derselben wollte er hinabsteigen und bis morgen schlafen.
Er flog dahin. Was sah er da! Es waren zwei Menschen darin, ein junger, hübscher Mann und ein schönes Mädchen; sie saßen neben einander und wünschten, dass sie sich nicht zu trennen brauchten; sie waren einander so gut, weit mehr noch, als das beste Kind seiner Mutter und seinem Vater sein kann.
»Doch müssen wir uns trennen! « sagte der junge Mann. »Dein Bruder mag uns nicht leiden, deshalb sendet er mich mit einem Auftrage so weit über Berge und Seen fort! Lebe wohl, meine süße Braut, denn das bist Du mir doch! «
Dann küssten sie sich, und das junge Mädchen weinte und gab ihm eine Rose. Aber bevor sie ihm dieselbe reichte, drückte sie einen Kuss darauf, so fest und so innig, dass die Blume sich öffnete. Da flog der kleine Elf in diese hinein und lehnte sein Haupt gegen die feinen, duftenden Wände; hier konnte er gut hören, dass Lebewohl gesagt wurde. Und er fühlte, dass die Rose ihren Platz an des jungen Mannes Brust erhielt. O, wie schlug doch das Herz darinnen! Der kleine Elf konnte gar nicht einschlafen, so pochte es.
Doch nicht lange lag die Rose auf der Brust. Der Mann nahm sie hervor, und während er einsam in dem dunkeln Walde ging, küsste er die Blume, so oft und stark, dass der kleine Elf fast erdrückt wurde; er konnte durch das Blatt fühlen, wie die Lippen des Mannes brannten, und die Rose selbst hatte sich, wie bei der stärksten Mittagssonne, geöffnet.
Da kam ein anderer Mann, finster und böse; es war des hübschen Mädchens schlechter Bruder. Ein scharfes und großes Messer zog er hervor, und während jener die Rose küsste, stach der schlechte Mann ihn tot, schnitt seinen Kopf ab und begrub ihn mit dem Körper in der weichen Erde unter dem Lindenbaume.
»Nun ist er vergessen und fort«, dachte der schlechte Bruder; »er kommt nie mehr zurück. Eine lange Reise sollte er machen, über Berge und Seen, da kann man leicht das Leben verlieren, und das hat er verloren. Er kommt nicht mehr zurück, und mich darf meine Schwester nicht nach ihm fragen. «
Dann scharrte er mit dem Fuße verdorrte Blätter über die lockere Erde und ging wieder in der dunkeln Nacht nach Hause. Aber er ging nicht allein, wie er glaubte; der kleine Elf begleitete ihn, er saß in einem vertrockneten, aufgerollten Lindenblatte, welches dem bösen Manne, als er grub, in die Haare gefallen war. Der Hut war nun darauf gesetzt, es war dunkel darin, und der Elf zitterte vor Schreck und Zorn über die schlechte Tat.
In der Morgenstunde kam der böse Mann nach Hause; er nahm seinen Hut ab und ging in der Schwester Schlafstube hinein. Da lag das schöne, blühende Mädchen und träumte von ihm, dem sie so gut war und von dem sie nun glaubte, dass er über Berge und durch Wälder gehe; der böse Bruder neigte sich über sie und lachte hässlich, wie nur ein Teufel lachen kann, da fiel das trockene Blatt aus seinem Haare auf die Bettdecke nieder, aber er bemerkte es nicht und ging hinaus, um in der Morgenstunde selbst ein wenig zu schlafen. Aber der Elf schlüpfte aus dem verdorrten Blatte, setzte sich in das Ohr des schlafenden Mädchens und erzählte ihr, wie in einem Traum, den schrecklichen Mord, beschrieb ihr den Ort, wo der Bruder ihn erschlagen und seine Leiche verscharrt hatte, erzählte von dem blühenden Lindenbaume dicht dabei und sagte: »Damit Du nicht glaubst, dass es nur ein Traum sei, was ich Dir erzählt habe, so wirst Du auf Deinem Bette ein verdorrtes Blatt finden!« Und das fand sie, als sie erwachte.
O, welche bittere Tränen weinte sie und durfte doch Niemand ihren Schmerz anvertrauen! Das Fenster stand den ganzen Tag offen, der kleine Elf konnte leicht zu den Rosen und all' den übrigen Blumen nach dem Garten hinaus gelangen, aber er wagte es nicht, die Betrübte zu verlassen. Im Fenster stand ein Strauch mit Monatsrosen, in eine der Blumen setzte er sich und betrachtete das arme Mädchen. Ihr Bruder kam oft in die Kammer hinein, und war heiter trotz seiner Schlechtigkeit, aber sie durfte kein Wort über ihren Herzenskummer sagen.
Sobald es dunkel wurde, schlich sie sich aus dem Hause, ging im Walde nach der Stelle, wo der Lindenbaum stand, nahm die Blätter von der Erde, grub in dieselbe hinein und fand ihn sogleich, der erschlagen worden war. O, wie weinte sie, und bat den lieben Gott, dass er sie auch bald sterben lasse! –
Gern hätte sie die Leiche mit sich nach Hause genommen, aber das konnte sie nicht, da nahm sie das bleiche Haupt mit den geschlossenen Augen, küsste den kalten Mund und schüttelte die Erde aus seinem schönen Haar. »Das will ich behalten! « sagte sie und als sie Erde und Blätter auf den toten Körper gelegt hatte, nahm sie den Kopf und einen kleinen Zweig von dem Jasminstrauch, der im Wald blühte, wo er begraben war, mit sich nach Hause.
Sobald sie in ihrer Stube war, holte sie sich den größten Blumentopf, der zu finden war, in diesen legte sie des Toten Kopf, schüttete Erde darauf und pflanzte dann den Jasminzweig in den Topf.
»Lebewohl! Lebewohl! « flüsterte der kleine Elf, er konnte es nicht länger ertragen, all' diesen Schmerz zu sehen, und flog deshalb hinaus zu seiner Rose im Garten; aber die war abgeblüht, da hingen nur einige welke Blätter an der grünen Hagebutte.
»Ach, wie bald ist es doch mit all' dem Schönen und Guten vorbei! « seufzte der Elf. Zuletzt fand er eine Rose wieder, die wurde sein Haus, hinter ihren feinen und duftenden Blättern konnte er wohnen.
Jeden Morgen flog er nach dem Fenster des armen Mädchens, und da stand sie immer bei dem Blumentopf und weinte. Die bitteren Tränen fielen auf den Jasminzweig, und mit jedem Tage, wie sie bleicher und bleicher und bleicher wurde, stand der Zweig frischer und grüner da, ein Schössling trieb nach dem andern hervor, kleine, weiße Knospen blühten auf, und sie küsste sie, aber der böse Bruder schalt und fragte, ob sie närrisch geworden sei? Er konnte es nicht begreifen, weshalb sie immer über den Blumentopf weine. Er wusste ja nicht, welche Augen da geschlossen und welche roten Lippen da zu Erde geworden waren; sie neigte ihr Haupt gegen den Blumentopf, und der kleine Elf von der Rose fand sie so schlummern; da setzte er sich in ihr Ohr, erzählte von dem Abend in der Laube, vom Duft der Rose, und der Elfen Liebe; sie träumte süß, und während sie träumte, entschwand das Leben, sie war eines stillen Todes verblichen, sie war bei ihm, den sie liebte, im Himmel. Und die Jasminblumen öffneten ihre großen, weißen Glocken, sie dufteten eigentümlich süß, anders konnten sie nicht über die Tote weinen.
Aber der böse Bruder betrachtete den schön blühenden Strauch, nahm ihn als ein Erbgut zu sich, und setzte ihn in seine Schlafstube, dicht beim Bette, denn er war herrlich anzuschauen und der Duft war süß und lieblich. Der kleine Rosenelf folgte mit, flog von Blume zu Blume, in jeder wohnte ja eine kleine Seele, und der erzählte er von dem ermordeten jungen Mann, dessen Haupt nun Erde unter der Erde war, erzählte von dem bösen Bruder und der armen Schwester.
»Wir wissen es«, sagte eine jede Seele in den Blumen, »wir wissen es! Sind wir nicht aus des Erschlagenen Augen und Lippen entsprossen? Wir wissen es; wir wissen es! « Und dann nickten sie sonderbar mit dem Kopfe.
Der Rosenelf konnte es gar nicht begreifen, wie sie so ruhig sein konnten, und flog hinaus zu den Bienen, die Honig sammelten, erzählte ihnen die Geschichte von dem bösen Bruder, und die Bienen sagten es ihrer Königin, welche befahl, dass sie alle am nächsten Morgen den Mörder umbringen sollten.
Aber in der Nacht vorher, es war die erste Nacht, welche auf den Tod der Schwester folgte, als der Bruder in seinem Bette dicht neben dem duftenden Jasminstrauch schlief, öffnete sich ein jeder Blumenkelch, unsichtbar, aber mit giftigen Spießen, stiegen die Blumenseelen hervor und setzten sich zuerst in seine Ohren und erzählten ihm böse Träume, flogen darauf über seine Lippen und stachen seine Zunge mit den giftigen Spießen. »Nun haben wir den Toten gerächt! « sagten sie und flogen zurück in des Jasmins weiße Glocken.
Als es Morgen wurde, und das Fenster der Schlafstube geöffnet wurde, fuhr der Rosenelf mit der Bienenkönigin und dem ganzen Bienenschwarm herein, um ihn zu töten.
Aber er war schon tot; es standen Leute rings um das Bett, die sagten: »Der Jasminduft hat ihn getötet! «
Da verstand der Rosenelf der Blumen Rache, und er erzählte es der Königin der Bienen, und sie summte mit ihrem ganzen Schwarm um den Blumentopf; die Bienen waren nicht zu verjagen; da nahm ein Mann den Blumentopf fort und eine der Bienen stach seine Hand, so dass er den Topf fallen ließ und er zerbrach.
Da sahen sie den bleichen Totenschädel, und sie wussten, dass der Tote im Bette ein Mörder war.
Die Bienenkönigin summte in der Luft und sang von der Rache der Blumen und von dem Rosenelf, und dass hinter dem geringsten Blatte Einer wohnt, der das Böse erzählen und rächen kann!
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maerchenletter · 5 years ago
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Die falschen Weihnachtsbäume
Auf unsrer Insel gab es wenig Bäume. So wenig, dass das Brennholz weither über das Wasser geholt werden musste, und dass viele der Inselbewohner niemals einen Wald gesehen hatten. Auch die Tannenbäume waren ein seltner Artikel, was uns als Kinder immer sehr aufregte. Denn wenn es gegen die Weihnachtszeit ging, tauchten immer wieder die Zweifel auf, ob wir wohl einen wirklichen oder einen falschen Tannenbaum am heiligen Abend bekämen. Einen wirklichen Tannenbaum, der im Walde gewachsen war, und in dessen Zweigen die Vögel gesungen hatten, oder einen falschen, der in der Werkstatt des Meister Ahrens das Licht der Welt erblickt hatte.
Meister Ahrens war unser Tischler. Er sah alt aus und hatte einen sehr kahlen Kopf, aber wir hatten ihn gern, besonders wenn er nicht immer von seinem guten Herzen sprach. Das langweilte uns, weil wir es eigentlich für selbstverständlich hielten, dass man ein gutes Herz haben müsse. Ahrens kam oft zu uns. In unsrer Kinderstube ging aller Augenblicke etwas auseinander, was eigentlich zusammengehörte, und Meister Ahrens erschien dann mit seinem Leimtopf, sagte, er hätte ein gutes Herz, und klebte alles wieder zusammen. Wir halfen ihm natürlich und drängten uns um die Ehre, in seinem klebrigen Topf dreimal herumrühren zu dürfen; aber seine Tannenbäume konnten wir nicht leiden. Das kam wahrscheinlich daher, weil wir sie schon so lange vorher sahen. Schon im Frühjahr arbeitete Ahrens an langen Weißen Stöcken, in die er Löcher bohrte; im August und September malte er diese Stöcke mit grasgrüner Ölfarbe an und trocknete sie vor seiner Haustür. Später sahen wir sie zusammengebunden in seiner Werkstatt liegen, bis der Dezember ins Land zog. Dann verschaffte er sich Tannenzweige, steckte diese in die Löcher der grünen Stöcke und betrieb einen schwunghaften Handel mit Tannenbäumen. Auch uns bot er immer von seinem Fabrikat an, aber obgleich wir nicht leugnen konnten, dass seine Bäume schließlich sehr nett aussahen, so verhielten wir uns meist ablehnend. »Sie sind so billig,« sagte Ahrens eines Tages zu uns, als wir ihn einer Bestellung wegen in seiner Werkstatt besuchten, und er gerade einen grünen Stock etwas nachmalte.
»Wir wollen sie doch nicht!« erwiderte mein Bruder Jürgen, der in seinen Aussprüchen oft sehr bestimmt war. »Ich mag keinen falschen Tannenbaum!« »Falsch! Du lieber Gott, wasn Wort!« Ahrens sah beleidigt aus. »Da is nich die geringste Falschheit bei! Meine Tannenbäumens sind feiner als die natürlichen, kann ich dich sagen, mein Junge! An die natürlichen is oft Smutz und Erde, und bei mich is bloß die reine Ölfarbe!«
»Wo bekommst du eigentlich die Tannenzweige her?« fragten wir.
Der alte Tischler machte ein wichtiges Gesicht. »Aus ’n Wald, aus ’n richtigen Tannwald, wo die Vögelns singen, und wo soviel Bäumens stehn, dass man mannichmal keine Luft kriegen kann!«
»Wo liegt der Wald, und wer holt dir die Tannenzweige?« Wir waren dem Tischler doch näher gerückt und sahen ihn gespannt an. Aber er zuckte die Achseln. »Ja, das möcht ihr wohl wissen! Das sag ich abersten nich – nee, das sag ich nich!«
Auf diese Art umgab Meister Ahrens seine Bäume mit dem Nimbus des Geheimnisvollen, und dadurch gewannen sie natürlich in unsern Augen. Es war schon ziemlich nahe vor Weihnachten, und wir sprachen eigentlich von nichts anderm als von dem bevorstehenden Feste. Endlos lange Wunschzettel waren geschrieben: hin und wieder wurde eine Träne über eine völlig missglückte Weihnachtsarbeit vergossen, oder wir schmiedeten Pläne, was wir noch verschenken wollten. Manchmal ging die Zeit entsetzlich langsam und manchmal unheimlich schnell dahin, und unsre Lehrer beklagten sich über unsre Zerstreutheit.
Es war an einem Morgen im Dezember, dass ich zu Meister Ahrens geschickt wurde, um ihn samt seinem Leimtopfe zu uns einzuladen. Unsre Kinderstubeneinrichtung hatte durch eine längere lebhafte Unterhaltung der ältern Brüder stark gelitten, und Ahrens sollte gleich kommen. Vergnügt polterte ich die enge Treppe zu seiner Werkstatt hinauf, konnte aber nicht bis auf die letzte Stufe kommen, weil dort ein Kind stand, auf das der alte Tischler eifrig einsprach.
»Ich muss die Zweigens haben, und Vater muss herüber und sie holen!« »Vater is bang!« lautete die schüchterne Erwiderung. »I, was sollt Vater woll bang sein; er muss los – sonsten klag ich ihm ein, wo er mich doch Geld schuldig is! Ohne die Zweigens kann ich ja nix machen, und das Geschäft mit die Bäumens muss anfangen! Nu geh du man, und lass Vater man auch gehn!«
Das Kind, es war ein ziemlich großes Mädchen, glitt an mir vorüber, und ich konnte jetzt in die Werkstatt treten und meine Bestellung ausrichten. Aber Meister Ahrens hörte kaum auf mich. Er war sehr schlechter Laune und betrachtete seufzend seinen Haufen grüner Stöcke, der friedlich in einer Ecke lag. »Kannst du keine Zweige aus dem großen Walde kriegen?« fragte ich neugierig. Er aber sah mich streng an. »Frag nich so dumm! Ich kann allens, was ich will, und meine Tannenbäumens sind besser als die natürlichen!«
Als ich wieder hinauskam, da saß dasselbe Mädchen, das vorhin mit Ahrens gesprochen hatte, auf der Türschwelle. Sie weinte nicht, aber sie sah aus, als ob sie wohl Lust dazu hätte, und ich setzte mich neben sie und betrachtete sie schweigend. Sie war sehr ärmlich, aber ziemlich sauber gekleidet, nur ihr dickes, blondes Haar hing unordentlich um ihren Kopf. An diesem Haar erkannte ich sie, und ich nickte ihr freundlich zu. »Du hast mir neulich mein Lesebuch nachgebracht, als ich aus der Stunde kam, weißt du noch? Ich hatte es auf dem Wege verloren!« Sie sah jetzt auf, und ihre Augen blickten weniger trübe.
»Das war so’n feines Buch,« sagte sie, »mit Bildern ein – so’n feines Buch!« »Hast du kein Lesebuch?« erkundigte ich mich, während ich mit einiger Beschämung daran dachte, dass ich dieses Buch schon zweimal hinter den Schrank geworfen hatte, nur um es nie wieder zu sehen. Leider war es immer wieder gefunden worden. Sie schüttelte den Kopf. »Nee – ich hab nix, gar nix!«
»Was wünschst du dir denn zu Weihnachten?« »Ich?« Das Mädchen sah überrascht aus. Dann lachte sie. »Was sollt ich mich woll wünschen; ich krieg doch nix!« »Du bekommst gar nichts?«
Unwillkürlich rückte ich der Sprecherin näher. »Bist du dann zu Weihnachten nicht furchtbar traurig?« »Nee« – sie lachte wieder. »Was sollt ich woll traurig sein, wo ich den ganzen Abend rumlauf und in all die Fensters guck und all die Weihnachtsbäumens zu sehen krieg! Mannichmal krieg ich auch noch ein Stück Brot mit Rosinens geschenkt!« »Weihnachtsabend darf man eigentlich nicht ausgehn!« sagte ich. »Da muss man zu Hause bei seinen Eltern bleiben!« »Ja, wenn Vater man nich sitzt, denn bleib ich auch bei ihm; abers er is nu ja ümmerlos im Loch – da sitz ich ja ganz allein, wo Mutter doch tot is –« »Er sitzt im Gefängnis?«
Wenn es angegangen wäre, hätte ich mich noch näher an meine neue Bekanntschaft gedrückt. Wir saßen aber schon ganz nahe aneinander geschmiegt. Aber um ihr doch zu zeigen, wie interessant sie mir sei, griff ich in die Tasche, in der ich einige getrocknete Pflaumen hatte, und bot sie ihr an. Dörthe Krieger, so hieß das Mädchen, nahm sie auch und verzehrte sie mit einiger Gier, während ich ihr zusah. Ich hatte mir nämlich gerade aus dem vorhin erwähnten Lesebuch eine wunderhübsche Geschichte von einem unschuldig Gefangnen vorlesen lassen und nahm jetzt an, dass die Gefängnisse nur dazu da wären, Unschuldige zu quälen. »Dein Vater hat doch natürlich nichts Böses getan?« fragte ich.
Dörthe schüttelte den Kopf. »Nee – natürlich nich! Bloß ein büschen Stehlen. Weiter gar nix. Der Bürmeister is auch zu eigen. Abers nach die Tannenzweigen in Holstein will er doch nich hin!« »Stiehlt er die auch?«
»Ja, wo sollt er sonstens zu sie kommen? Sie sitzen an ein Baum, und der Baum gehört ein Grafen zu, der furchtbar slecht is und nich leiden kann, wenn man in sein Wald spazieren geht. Vater sagt, der Wald is so groß, und da laufen Rehe und Hasen herum – da merkt kein ein, wenn ein Baum fehlt und wenn da ein Reh weniger is. Hast mal Rehbraten gegessen? Der smeckt abers fein! Vater soll dich ein Stück abgeben, wenn er wieder mal was mitbringt! Na, abers er will diesmal nich gern hin. Die Försters haben ihn so grässlich aufn Strich, und wenn sie ihn kriegen, denn sperren sie ihn gleich ein, und – denk dich mal! – er muss jedes Mal länger sitzen!«
»Dann darf er doch nicht in den großen Wald gehn!« rief ich aufstehend. Mir war, ich weiß nicht weshalb, doch etwas unheimlich zumute geworden. »Meister Ahrens will es aber, und wir wohnen in seinem Haus!« Dörthe war ebenfalls aufgestanden und wischte sich an den Augen herum. »Er sagt, Vater muss allens ein büschen vorsichtig machen, und er braucht nicht gleich ein Reh zu nehmen. Abers wenn es nu da herumläuft?« Auf diese Frage wusste ich auch keine Antwort; aber ich konnte es Dörthe nachfühlen, dass sie ihren Vater nicht gerade zu Weihnachten im Gefängnis haben wollte. Ich musste ihr plötzlich noch versprechen, keinem etwas von unsrer Unterhaltung zu erzählen, und dann trennten wir uns. Jürgen wusste schon nach einer Viertelstunde die ganze Geschichte, und es war nur gut, dass ich sie ihm erzählte. Denn ich hatte etwas sehr Tadelnswertes begangen, was ich keinem erwachsnen Menschen mitteilen durfte. Von niemand würde ich etwas zu Weihnachten bekommen, wenn man erführe, dass ich mit Dörthe Krieger gesprochen hatte.
»Ihr Vater ist ein Dieb, und zwar ein ganz gemeiner!« berichtete Jürgen. »Rasmussen (unsers Großvaters Schreiber) hat mir gerade neulich davon erzählt! Denke dir, er stiehlt nicht einmal Geld, was doch das feinste beim Stehlen ist – er nimmt meist nur Würste und Schinken. Und er sitzt eigentlich immer im Gefängnis!« Dörthe hatte mir diese betrübende Eigenschaft ihres Vaters ja auch berichtet. »Sie will nur so ungern, dass er Weihnachten sitzt,« meinte ich; »sie ist dann ganz allein und hat niemand, dem sie ihren Weihnachtsvers aufsagen kann! Sie bekommt überhaupt gar nichts zu Weihnachten.«
»Gar nichts?« Jürgens tugendstrenges Gesicht wurde etwas milder. Aber er wusste doch keinen bessern Rat, als dass ich nicht mehr an Dörthe Krieger denken und noch weniger mit ihr sprechen sollte. Besonders nicht vor Weihnachten. Denn wenn die erwachsnen Familienglieder merkten, welchen schlechten Umgang ich hätte, dann würde es schlimm um meine Geschenkaussichten aussehen. Jürgen konnte manchmal sehr eindringlich sprechen, und da ihm wirklich in der letzten Zeit verschiedentlich Standreden darüber gehalten worden waren, dass er in seinem Verkehr wählerischer sein sollte, so wusste er genau, was er sagen sollte, und ich hörte ihm andächtig zu. Dörthe Krieger war mir selbst doch auch etwas bedenklich vorgekommen; sie hatte meine Pflaumen wohl aufgegessen, sich aber nicht dafür bedankt. Das zeugte von einem schlechten Herzen. Als ich ihr nach etlichen Tagen wieder begegnete,, und sie mir mit einer gewissen Vertraulichkeit zunickte, sah ich sie deshalb gar nicht an. Als sie aber vorüber war, musste ich doch stehn bleiben und mich umsehen, und da sie dasselbe tat, sahen wir uns gerade in die Augen. Sie lachte; ich aber wurde sehr entlüftet.
»Du darfst dich nicht nach mir umsehen – dein Vater ist ein ganz gemeiner Dieb, und ich will nicht mit dir sprechen.« Dörthe schüttelte ihren struppigen Kopf und lachte wieder.
»Nee, sprechen musst du auch nich mit mich! Die Kinder in die Schule wollen auch nich bei mich sitzen. Ehegestern hab ich den ganzen Tag allein aufn Bank gesessen – das war fein!« »Magst du gern allein sitzen?« Ich war dem Kinde des Diebes nun doch näher getreten und sah neugierig in ihr unbekümmertes Gesicht. »Nu natürlich mag ich es! Da sitzt kein ein bei mich und kneift mir oder schubbst mir – das is fein?« »Ist dein Vater schon im Walde gewesen?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Nee – er hat ein slimmes Knie gehabt und konnt nich fort. Ahrens war doll, kann ich dich sagen, und er will uns aus ’n Haus smeißen, wenn Vater nich bald Ernst macht. For meinswegen kann Vater auch hingehn; wenn er man bloß nich wieder Weihnachten sitzen muss!« Sie seufzte ein wenig und schob die Arme unter ihr dünnes Schultertuch. »Ich weiß, wie allens kommt!« fuhr sie dann fort. »Vater geht in den Wald und will bloß die Zweigens abslagen, und denn sieht er ein Reh und denn slachtet er das. Und denn kommt die Pollerzei und all die slechten Menschens, und denn sitzt er Weihnachten ins Loch!« »Hast du einen Weihnachtsvers für ihn gelernt?« fragte ich: sie beachtete aber meine Worte nicht. »Wenn es Ostern wär oder Pfingsten, denn wär‘ es mich einerlei; da is es nich mehr so dunkel, und die andern Kinners snacken nich mehr soviel von Weihnachtsbäumens und von Aufsagen, abers nu –« Dörthe wischte sich die Augen, und ich sah sie ratlos an. »Hast du deinem Vater nicht gesagt, er solle bei dir bleiben?« »Nu, ganz gewiss! Abers Ahrens wird bös, wenn er die Zweigens nicht kriegt. Zwei Jahr haben wir die Miete nich bezahlt, weil dass Vater immer so in Rückstand war!« »Dann musst du den lieben Gott bitten, dass dein Vater kein Reh totmacht, wenn er in den Wald geht!« riet ich, und Dörthe sah mich nachdenklich an. »Das kann angehn! Ich will ihm bitten, dass die Rehens vordem alle tot bleiben oder von den Grafen geslachtet werden. – For die Zweigens kriegt er ja bloß wenig Gefängnis!«
Sie lief weiter, und mir fiel ein, dass ich nicht mit ihr hatte sprechen wollen. Aber es hatte mich, gottlob! niemand gesehen, und da außerdem andere Gedanken mein Herz erfüllten, so vergaß ich diese Unterredung so bald, dass ich sie nicht einmal Jürgen mitteilte. Es waren nämlich nur noch acht Tage bis Weihnachten, und die prickelnde, sonderbare Unruhe kam über uns, die jedes Kind kennt. Wir mochten nicht mehr sehr lange auf einem Stuhle sitzen, und am liebsten liefen wir auf der Straße umher und besahen die bescheidnen Weihnachtsausstellungen unsers Städtchens. Außerdem hatten wir noch Sorge wegen des Ausbleibens unsers Tannenbaumes. Der sollte mit dem Schiffer kommen, der um die Weihnachtszeit mit seiner Jacht nach Lübeck fuhr und die herrlichsten Sachen mitbrachte. Aber Schiffer Lafrenz war noch nicht in unsern Hafen eingelaufen. Das kam daher, dass der Wind die ganze Zeit »konträr« gewesen war, wie uns die Sachverständigen sagten, aber diese Erklärung beunruhigte uns nur, statt uns zu beruhigen. Wir kannten Geschichten von Leuten, die drei Wochen auf der Ostsee bei »konträrem« Winde gekreuzt hatten, ohne ihr Reiseziel zu erreichen, und die dann schließlich wieder unverrichteter Sache nach Hause gefahren waren. Erlebt hatten wir solche Sachen nicht, aber man hatte uns so oft die Abenteuer einer Seereise in alten Zeiten berichtet, dass wir das Schiff mit unserm Tannenbaum im Geiste schon bei Finnland im Eise eingefroren sahen. Die großen Leute suchten uns die Befürchtungen auszureden; wir aber fühlten uns doch verpflichtet, jeden Tag an unsern kleinen Hafen zu laufen und dort Erkundigungen nach »Anna Kathrin« einzuziehn. So hieß die Jacht vom Schiffer Lafrenz, und es war ein schönes Schiff, nur dass sie sehr schaukelte, auch wenn es gar nicht nötig schien. Am Sonntag vor Weihnachtsabend war köstliches Wetter. Gerade so, als bildete sich die Sonne ein, Weihnachten überschlagen zu können. Sie schien so hell wie im Frühjahr, und als wir am Vormittag aus der Kirche kamen, beschlossen wir, sofort wieder nach dem Hafen zu gehn und uns nach der »Anna Kathrin« zu erkundigen.
Als wir am Hause von Meister Ahrens vorübergingen, stand dieser vor der Tür und hielt einen Tannenbaum in der Hand. Es war natürlich ein falscher, und seine Zweige waren nicht mehr frisch.
»Wo hast du die Zweige her, Meister Ahrens?« fragten wir. »Das ist kein schöner Tannenbaum geworden!« Der Tischler antwortete nicht viel, sondern murmelte nur einige verdrießliche Worte, worauf einer der ältern Brüder berichtete, dass das Geschäft mit den Tannenzweigen dieses Jahr flau sein sollte. Da wäre niemand mit guten Tannenzweigen an die Insel gekommen, und auch die falschen Tannen sollten teuer sein. Wir andern seufzten ein wenig bei dieser Erzählung, und dann strebten wir eilig dem Hafen zu, um uns nach der »Anna Kathrin« die Augen auszuschauen. Aber alles Lugen half nichts – die dickbäuchige Jacht schaukelte weder am Bollwerk, noch war ihr geflicktes Segel irgendwo am Horizont zu erblicken. Nachdem diese Tatsache festgestellt war, verließen die ältern Brüder uns, um einen Freund zu besuchen, dessen Onkel im Besitz eines Fernrohrs war, das dazu dienen sollte, die »Anna Kathrin« etwas schneller herbeizusehen. Wir Kleinern gingen schwermütig an den Strand und suchten uns dadurch aufzuheitern, dass wir flache Steine ins Wasser warfen. Bei dieser Gelegenheit entdeckten wir ein Boot, das an einen etwas abseitsstehenden Pfahl angekettet war. Beide Ruderpatten lagen darin, und dieser Umstand schien uns so verlockend, dass wir sofort hineinkletterten und zu rudern begannen. Das Boot war außerordentlich schlecht; die Sitze morsch, und die Bretter des Fahrzeuges schienen kaum noch zusammenzuhalten. Wir schaukelten aber sehr vergnügt darin, und Jürgen sagte, er könne rudern und nach Holstein fahren, dessen Küste dunkel am Horizont auftauchte. Er konnte es natürlich nicht, und während wir uns um die Ruder zankten, glitt ihm das eine aus der Hand und fiel ins Wasser. Vergnügt schwamm es davon, während wir ihm ziemlich dumm nachblickten, und als Jürgen mit dem andern Ruder den Flüchtling zu erwischen gedachte, ging diese Stange ihm auch aus der Hand.
Ein kräftiger Fluch ertönte vom Lande her, und ein Mann in großen Wasserstiefeln trat mitten ins Wasser und zog nicht allein unser Boot ans Land, sondern erfaßte auch noch die eine Stange. Die andre war aber schon zu weit fortgeschwommen, und er sah uns drohend an. »Ihr dummes Volk! Was habt ihr in meinem Boot zu tun! Heraus mit euch, sonst werfe ich euch alle ins Wasser! Und wo ist meine Ruderstange?« Er sprach fremder und ganz anders als die meisten Insulaner, so dass wir schon deswegen einen großen Schreck vor ihm bekamen. Aber als Jürgen mir zuflüsterte, dieser Mann wäre Jobst Krieger, der Dieb, der so oft im Gefängnis gesessen hatte, da erwachte in mir der Trotz der Selbstgerechtigkeit. »Zu sagen hast du uns nämlich gar nichts!« bemerkte ich, aber ich sprang doch ziemlich schnell aus dem Boot. »Weshalb nicht?« Der Mann, dessen Gesicht uns übrigens keinen abschreckenden Eindruck machte, sah mich fragend an. »Du bist ja ein Dieb, ein ganz schlechter Mensch!« sagte ich, und Jürgen, der ebenfalls wieder auf festem Boden stand, nickte zu jedem meiner Worte. »Du darfst gar nicht mit uns sprechen,« warf er nun ein. »Du sitzt ja immerlos im Loch!« Auf Jobst Kriegers Gesicht lag der Ausdruck ungläubigen Staunens, dann aber wurde er plötzlich sehr rot. »Was geht’s euch an, wenn ich im Gefängnis war? Darin haben schon fixe Kerle gesessen, kann ich euch sagen! Und überhaupt« – er sah uns langsam nach der Reihe an – »ich kenn euch gut! Wie oft lauft ihr zu dem alten Mahlmann, der sein Leben lang im Zuchthaus war!« »Zuchthaus ist feiner als Gefängnis,« erklärte Jürgen; »viel feiner! Ich habe mal mit Mahlmann darüber gesprochen, und der hat es mir auch gesagt. So oft wie du im Gefängnis, ist Mahlmann auch nicht im Zuchthaus gewesen!« »Nein, er nahm gleich ein gutes Ende auf einmal!« sagte Jobst Krieger, und dabei lachte er. Er hatte wirklich kein übles Gesicht, und sein Zorn über das verlorne Ruder schien auch verraucht zu sein. Mit schwerem Schritt stieg er nun ins Boot und begann die Kette zu lösen. »Wohin fährst du?« fragte Bruder Milo, der sich bis jetzt nicht an der Unterhaltung beteiligt und den Dieb nur unverwandt angesehen hatte. Jobst gab keine Antwort; mir aber fiel Dörthe wieder ein, während mir natürlich nicht in den Sinn kam, dass ich ihr Schweigen gelobt hatte. »Er fährt in den großen Wald,« rief ich laut, »wo die Rehe und die Hasen frei herumlaufen. Da schlägt er die Tannenbäume entzwei und fängt die Rehe, und dann kommt der böse Graf und nimmt ihn gefangen! Und Dörthe muss wieder Weihnachtsabend auf der Straße herumlaufen, weil ihr Vater im Gefängnis sitzt!« »Dummes Zeug!« sagte Jobst. Er hatte mit einer Kelle Wasser aus dem Boot geschöpft, nun hielt er inne mit seiner Arbeit. »Dummes Zeug ist es gar nicht!« rief ich empört. »Dörthe sagt, wenn du nur Ostern oder Pfingsten stehlen wolltest, dann wäre es ihr einerlei; aber gerade Weihnachten! Da darf man doch eigentlich nicht stehlen!« »Nein, eigentlich nicht!« meinte Jürgen, und Milo stimmte zu.
»Da kommt ja das Christkind auf die Erde, und wenn es dich nun im Gefängnis findet, dann bekommst du nichts geschenkt. Nur artige Menschen bekommen etwas!«
»Ich kriege doch nichts geschenkt!« murmelte Jobst. Er hatte uns bis dahin zugehört, nun griff er wieder zu seiner Schöpfkelle. »Doch!« sagte Jürgen. »Wenn du Weihnachten nicht im Gefängnis sitzt, dann schenke ich dir etwas. Ich habe einen Kasten geklebt; er ist sehr hübsch, und ich wollte ihn eigentlich selbst behalten. Wenn du aber gut sein willst, dann bekommst du ihn!« »Und ich mache dir einen Fingerring aus schwarzen Glasperlen!« rief Milo, der in Perlenvergeudung unglaubliches leistete. »Oder willst du lieber einen blauen Ring mit einer Goldperle in der Mitte? Goldperlen sind furchtbar teuer, aber ich will es doch tun!« »Dann gebe ich Dörthe auch mein altes Lesebuch!« setzte ich hinzu und trat dabei Jobst Krieger etwas näher. Er hatte sich nämlich ins Boot gesetzt und sah uns ganz sonderbar an. Wahrscheinlich fand er die ihm gemachten Anerbietungen zu überwältigend, als dass er gleich darauf hätte eingehn können. »Sieh mal,« setzte ich vertraulich hinzu. »lass Dörthe doch das Lesebuch bekommen! Da sind hübsche Bilder drin, und wenn die andern Kinder die sehen, dann wollen sie auch wieder bei Dörthe sitzen. Nun wollen sie es nicht, weil du soviel im Gefängnis sitzen musst! – Sie sitzt immer ganz allein, und Weihnachten ist sie auch allein. Ich sagte ihr, sie sollte den lieben Gott bitten, dass du Weihnachten bei ihr wärst; aber sie hat es wohl vergessen. Der liebe Gott tut sonst alles, um was man ihn ordentlich bittet!«
Jobst Krieger legte die Bootkette wieder um den Pfahl und trat ans Land. Er sah beunruhigt und etwas mürrisch aus, und als Jürgen ihm noch einmal seinen schönen Kasten pries, antwortete er nur durch ein unverständliches Knurren. Auch trat jetzt ein andrer Mann auf ihn zu, der eben erst aus der Stadt gekommen war. Der sah nicht so gut aus wie Jobst, und seine Augen fuhren scheu über uns hin, während er leise mit Jobst sprach. Wir gingen jetzt, Jürgen und ich voran, während Milo noch eine Weile in der Nähe der Männer blieb und uns erst später nachgelaufen kam.
»Ich habe gehört, was sie sprachen,« erzählte er. »Ich sammelte Steine und war ganz nahe bei ihnen. Der andre Mann heißt Lorenz und wollte mit Jobst Krieger und dem Boot nach dem großen Walde fahren. Aber Jobst sagte, er hätte keine Lust, sie wollten bis morgen warten. Er müsste sich noch besinnen; Da wurde der andre Mann böse und sagte, er führe nicht am Montag, das sei ein Unglückstag; er führe am Sonntag und wollte nicht auf Jobst warten; Da haben sie sich gescholten, und nun ist Jobst Krieger zurückgegangen, und der andre ist im Boote!« Jetzt kamen die andern Brüder. Aber sie waren, weil sie selbst durch das Fernglas nichts von der »Anna Kathrin« gesehen hatten, so niedergeschlagen, dass wir ganz vergaßen, ihnen unsre Unterhaltung zu berichten. Aber am Abend sprachen wir doch noch von Jobst Krieger und meinten, es sei ganz überflüssig, uns auf Geschenke für ihn einzurichten. Milo begann dennoch einen Ring aus blauen Glasperlen zu arbeiten, der wirklich sehr schön wurde. In der Nacht kam plötzlich ein furchtbares Wetter. Die Dezembersonne war trügerisch gewesen. Der Wind sprang um, Regen schlug an die Scheiben, und die Dachpfannen prasselten auf die Straße. Am andern Morgen wurde es wieder ziemlich still, und die Brüder liefen gleich an den Hafen, um nach der »Anna Kathrin« zu sehen, die denn auch wirklich einlief. Etwas beschädigt zwar, denn es war auf See ein Heidenwetter gewesen; aber die »Anna Kathrin« konnte schon einen Puff vertragen.
Obgleich der Tannenbaum nun wirklich in Sicht war, so konnten wir uns doch nicht so recht freuen. Denn Schiffer Lafrenz von der »Anna Kathrin« war nicht weit vom Hafen einem umgeschlagnen Boote begegnet, das er mit seinen scharfen Schifferaugen sofort erkannt hatte. Es gehörte einem Manne, der Lorenz hieß, und der gerade so übel berüchtigt war wie Jobst Krieger.
Am Hafen hatten die Leute gewusst, dass Jobst und Lorenz in diesem Boote am Sonntag eine Fahrt hatten machen wollen – einige Leute wollten sie auch zusammen gesehen haben. Nun hatte sie das Wetter auf offner See überrascht, und sie waren ertrunken. Es war eine traurige Geschichte, die gar nicht für die Weihnachtszeit passte; wir mussten lange darüber sprechen. Es tat uns so sehr leid, dass Jobst doch gefahren war, und besonders Milo konnte es gar nicht begreifen. Lorenz musste ihn doch schließlich überredet haben. Großvaters Schreiber, Rasmus Rasmussen, war nicht so traurig wie wir. Er sagte, Jobst würde doch im Zuchthause geendet haben, weil er das Stehlen nicht hätte lassen können. Tannenzweige aus dem Walde zu holen sei ja schließlich kein Verbrechen, aber Jobst hätte die schönsten Tannen auseinander geschlagen, ohne auch nur einen Menschen zu fragen. Meister Ahrens habe einen guten Lieferanten an ihm gehabt, und deshalb seien seine Tannenbäume immer so schön gewesen. Dann hätte Jobst auch noch Hasen und Rehe in Schlingen gefangen, und wenn er bei einer fremden, wohlgefüllten Speisekammer vorübergekommen wäre, dann hätte er tief hineingelangt.
Es war gewiss ein Glück, dass Jobst tot war, wie Rasmus meinte, aber wir waren doch so betrübt, dass wir eine Weile unser Weihnachtsfest ganz vergaßen. Dann schämten wir uns auch noch, dass wir um einen ganz gewöhnlichen Dieb weinten. Das taten wir nämlich. Trotz seiner entsetzlichen Schlechtigkeit hatten wir Jobst sehr gern gehabt, wenn wir das auch keinem Menschen verraten und ihn ja auch nur wenig gekannt hatten.
Plötzlich fiel mir Dörthe ein. Was würde sie wohl dazu sagen, dass ihr Vater ertrunken war? Den ganzen Tag musste ich an sie denken, und Jürgen und Milo sprachen auch von ihr. Nun war sie immer allein; nicht nur Weihnachten, nein auch Ostern und Pfingsten, das ganze Leben hindurch. In unserm Hause wurde gerade Kuchen gebacken; das war eine angenehme Zerstreuung; aber als es dämmrig wurde, lief ich doch zu Dörthe Krieger, deren Wohnung ich jetzt ganz gut kannte, obgleich ich sie nie betreten hatte. Jürgen lief mit, und wir hatten Mama ein Paket Kuchen für die arme Dörthe abgebettelt. In dem kleinen, sehr verfallnen Hause am äußersten Ende der Stadt brannte schon Licht, und als wir ohne weiteres in die Haustür und dann in die kleine, ärmlich eingerichtete Stube stürzten, prallten wir erschrocken zurück. Denn auf einem Holzschemel, von einem Talglicht beleuchtet, saß Jobst Krieger. Er hatte Besuch. Vor ihm stand Meister Ahrens, der heftig auf ihn einsprach. Wir beachteten aber den alten Tischler nicht. Wir liefen auf Jobst zu und betrachteten ihn aufgeregt. »Wie?« rief Jürgen; »du bist nicht tot?«
Seine Stimme klang vorwurfsvoll, und auch ich konnte mich einer leichten Verstimmung nicht erwehren. Wenn man jemand einmal als tot beweint hat, dann darf er auch nicht gleich wieder auferstehn! Jobst Krieger sah uns verlegen an. »Lorenz ist allein gefahren,« sagte er nun. »Ich wollte ja nicht, ich –« er stockte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Du hast Glück gehabt, Jobst Krieger,« ließ sich jetzt Meister Ahrens vernehmen. »Wenn du mit Lorenz gefahren wärst, dann lägst du nu tot in die See! Er war auch ein slechten Kerl, der dir zu allens verführt hat! Morgen fährst nu for mich nachn Festland und holst mich die Zweigens, sonsten sollst mich kennen lernen!« Aber Jobst schüttelte den Kopf.
»Nein, Meister Ahrens – ich fahr nicht mehr nach den Tannenzweigen. Wenn ich in den Wald komme –« er atmete kurz auf – »dann lass ich’s doch nicht – dann greif ich nach andern Dingen, die mir nicht gehören, und dann sitzt die Dörthe Weihnachten allein! Und jetzt, wo Gott mich vorm Tode bewahrt hat –« er stockte und sah uns an. Wir nickten ihm zu. Allmählich hatten wir die Enttäuschung, dass er noch lebte, überwunden. Meister Ahrens aber rang die Hände. »Du liebe Zeit! Nu krieg ich kein ordentlichen Tannenbäumens, wo das Geschäft gerade flott gehn soll. Und du wohnst in meinem Haus und tust nich, was ich will? Du musst zu Neujahr ausziehn!« Wir hatten Meister Ahrens niemals so böse gesehen, und unser Interesse wandte sich ihm ungeteilt zu. »Fahre doch selbst in den Wald und hole die Zweige!« rief Jürgen.
Der Alte sah ihn böse an. »Da könnt ich doch bei zu Schaden kommen!« murrte er, und mein Bruder trat ganz nahe auf ihn zu. »Meister Ahrens, du hast mir neulich noch gesagt, die Hauptsache im Leben wäre ein gutes Herz. Du hast doch auch ein gutes Herz?« »Ganzen gewißlich!« versicherte der Alte mit etwas unsichrer Stimme. »Abers die Tannenbäumens müssen doch Zweigens haben, sonsten sind es keine Tannenbäumens, und wenn Jobst Krieger mich nich Zweigens holen will –« »Er will doch kein Dieb mehr sein!« rief Jürgen. »lass ihn in Ruhe und gehe zu Schiffer Lafrenz auf der Anna Kathrinrlsaquo;. Der hat auch eine ganze Menge von Tannenzweigen mitgebracht, die Brüder haben’s gesehen!« »Is wahr?« Ahrens ärgerliches Gesicht wurde etwas milder, dann lief er plötzlich davon, ohne Lebewohl zu sagen. Wir entbehrten ihn auch nicht. Wir hatten unsre Kuchen ausgepackt, und da wir Jobst Krieger verziehn hatten, so durfte er sie probieren. Jürgen und ich sagten ihm auch unsre Weihnachtslieder auf. Der Übung halber und auch deswegen, weil sie uns immer im Kopf herumspukten, und wir waren eigentlich etwas beleidigt, dass Jobst uns gar nicht lobte. Er saß ganz still und hatte beide Hände vor sein Gesicht gelegt. So still war er, dass es uns, als wir nacheinander das »Amen« von unsern Verslein gesprochen hatten, doch etwas unheimlich zu werden anfing. Aber da kam Dörthe ins Stübchen gestürzt, und ihre Überraschung, uns zu sehen, war so groß, und das Vergnügen über die Kuchen noch so viel größer, dass wir ungemein heiter wurden. Jobst Krieger stand jetzt auf und sagte, dass er uns nach Hause bringen wolle; unsre Eltern würden gewiss nicht wollen, dass wir so lange bei ihm blieben. Wir sahen die Richtigkeit dieser Worte ein, und als wir neben ihm auf der dunkeln Straße gingen, stieß Jürgen plötzlich einen schweren Seufzer aus. »Jobst, wie furchtbar schade ist es doch, dass du ein so schlechter Mensch bist! Ich mag dich gern leiden – viel lieber als einige Leute, die niemals im Gefängnis waren!«
»Ich auch!« versicherte ich, und Jobst stand still und legte ganz leise seine Hände auf unsre Haare. »Mir ist’s auch leid genug,« murmelte er; aber was er noch hinzusetzte, konnten wir nicht verstehn; seine Stimme war ganz heiser geworden. Dann war er in der Dunkelheit verschwunden, und wir mussten den Rest des Heimwegs allein zurücklegen. Das war nun nicht so schlimm; wir waren nicht ängstlich und hatten außerdem eine Fülle von Unterhaltungsstoff, der auch nicht ausging, als wir den andern von Jobst Krieger und von dem Umstande, dass er noch lebe, berichteten. Wir wollten ihm alles mögliche zu Weihnachten schenken, alte Anzüge von Papa, die uns nicht gehörten, Esswaren, über die wir keine Verfügung hatten, und vor allem einen Katechismus, damit er die zehn Gebote noch einmal durchlerne. Aber es kam anders. Als wir am Tage vor Weihnachten Jobst Krieger und seine Tochter feierlich zu uns einladen wollten, erfuhren wir, dass beide in der Nacht vorher verschwunden waren. Sie hatten ihre armselige Habe zurückgelassen und die Insel verlassen. Sie kamen auch nicht wieder, obgleich wir das ganze Weihnachtsfest auf sie warteten, und niemand konnte uns sagen, wohin sie gegangen seien. Dieses plötzliche Verschwinden betrübte uns außerordentlich, und wir trösteten uns nur allmählich mit dem Gedanken, dass uns jetzt kein Mensch verbieten konnte, an Jobst und Dörthe zu denken und von ihnen zu sprechen. Unser Weihnachtsabend war trotz alledem sehr schön, und wir schenkten die für Jobst bestimmten Sachen andern Leuten, die es auch nötig hatten. Nur Meister Ahrens feierte kein fröhliches Weihnachtsfest. Erstens waren seine falschen Tannenbäume lange nicht so hübsch wie sonst, obgleich er Zweige bekommen hatte, und dann fiel es den Leuten ein, dass er doch vielleicht den Jobst oft zu hart bedrängt und ihn schon mehrere Jahre hindurch veranlasst hätte, in den Wald zu gehn und zu stehlen. Ob er nun wirklich schuld daran hatte, war schwer zu sagen; jedenfalls ging er kümmerlich gebeugt einher und klagte über die schlechten Zeiten und die schlechten Menschen.
Mehrere Weihnachtsfeste waren vergangen. Meister Ahrens machte immer noch falsche, hässliche Tannenbäume, und wir selbst sprachen nur manchmal noch von Jobst. Zuerst hatten wir uns ausgedacht, dass er wahrscheinlich nach Amerika gegangen sei und als reicher Mann zurückkehren würde. Dann trug Dörthe seidne Kleider, und er würde uns allen etwas Wundervolles zu Weihnachten schenken. Wir stritten uns darüber, ob wir lieber eine goldne Mundtasse oder einen goldnen Teller haben wollten; allmählich aber vergaßen wir ihn fast, bis wir an einem Weihnachtsabend ein sonderbares Paket mit der Post bekamen. Es trug Jürgens, Milos und meinen Namen und kam aus einem Orte, von dem die großen Leute sagten, dass er in Ost- oder Westpreußen läge. Dieses Paket enthielt ein sauber geschnitztes kleines Boot, das mit frischen Christrosen angefüllt und in köstliche Tannenzweige verpackt war. Dabei lag ein Zettel, auf dem mit ungeübter Hand die Worte geschrieben waren: Und hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter. Da wussten wir, dass diese Sendung von Jobst Krieger kam, und freuten uns außerordentlich über sie. Besonders darüber, dass er von den Weihnachtsliedern, die wir ihm aufgesagt hatten, etwas behalten hatte. Denn wer auch nur ein wenig von seinen Weihnachtsliedern im Gedächtnis behält, der kann doch ganz gewiss kein schlechter Mensch sein. Meister Ahrens sagte dasselbe. Er hatte mit derselben Post eine Geldsumme bekommen, die, wie er fest glaubte, von Jobst Krieger kam, weil er ihm gerade soviel Geld schuldig gewesen war.
Eigentlich hast du das Geld nicht verdient! sagte Jürgen, der dem alten Tischler die Behandlung von Jobst nicht vergessen konnte. Ahrens fuhr sich über den kahlen Kopf und seufzte. »Nee, eigentlich nich! Abersten wenn ich nu die Hälfte an die Armens gebe, und wenn es mich sowieso all die Jahrens leid getan hat, dass ich nich nett gegen den Jobst war? Ich habe sonsten warhaftigen Gott ein furchtbar gutes Herz – bloß bei die Tannenbäumens, da bin ich eigen mit gewesen, weil es so’n gutes Geschäft war.«
Ahrens richtete wirklich eine Weihnachtsbescherung für eine arme Familie aus, und seit der Zeit sprach er noch mehr als sonst von seinem guten Herzen. Sonderbarerweise waren es die Kinder dieser Familie, die nicht bei Dörthe Krieger in der Schule hatten sitzen wollen. Das war aber lange vergessen, und der von Ahrens verfertigte falsche Tannenbaum warf auch über sie seinen weihnachtlichen Schein, und ihre Freude war echt. Denn das Christkind in seiner Milde fragt nicht nach den Verdiensten und Schwachheiten der armen Erdenkinder. Sonst müsste es aufhören, alle Jahre wiederzukommen.
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maerchenletter · 5 years ago
Text
Die goldene Mütze
Es gibt so viele Märchen. Manchmal hat man keinen Mut, neue zu machen. Aber hört zu, heute ist mir etwas eingefallen, das ist sonderbar. Vielleicht lohnt es sich doch, das zu erzählen, Und wenn nicht? – O, es gibt viele Papierkörbe, oder, es gibt viele Mäuse, die kriechen in die Schublade hinein und fressen alle Märchen auf.
Nun, soweit ist es noch nicht. –
Es war einmal ein König dem war seine Krone zu schwer, ja so etwas gibt es. Besonders, wenn er in den Gerichtssaal ging, bekam er Kopfschmerzen. Vielleicht war er auch zu gut, er brachte es nicht fertig, jemanden zu erhängen.
Aber der König hatte eine Frau, und die war klug. Die Frau ging auf den Speicher und durchsuchte alle Kisten und Truhen. „Lieber Mann“, sagte sie am Abend, „ich habe in der himmelblauen Schachtel meiner Urgroßmutter eine goldene Mütze gefunden. Sie ist so leicht wie eine Feder und ganz aus Brokat, sie ist herrlich anzusehen, und das Futter ist aus roter Seide.“
Der König freute sich, er probiert die Mütze an, sie sah großartig aus, und der König gab seiner Frau einen Kuss. „Ich kann sie zwar nicht immer tragen, aber für den Gerichtssaal ist sie richtig!“ „Ach, Unsinn“, meinte die Frau, „ein König kann tragen, was er will.“ Und da hatte sie wieder recht. - Also legte der König die Krone in die himmelblaue Schachtel und trug die goldene Münze.
Am nächsten Tag fragte die Königin: „Was sollen wir kochen?“ „Ach, es ist gleich“, sagte der König, „meinetwegen Klöße.“ Als die Klöße auf den Tisch kamen, schrie der König: „Was ist das für ein Essen?“ „Klöße“, sagte die Königin. „Zum Teufel!“ rief der König, „das ist kein Essen für ein Schloss!“ und er stand auf und ging. Die Königin weinte und ging in ihre Kammer. Am nächsten Tag fragte die Königin: „Was sollen wir kochen?“ „Erbsensuppe“, sagte der König. Aber als die Erbsensuppe auf den Tisch kam, schrie der König: „Ist das eine Speise für uns?“ „Warum denn nicht?“ sagte die Königin. Da schlug der König mit der flachen Hand in den Teller hinein und die Königin lief hinaus.
Aber das war trotz allem nicht das Schlimmste. Im Gerichtssaal ging es plötzlich ganz anders zu. Jeder, der etwas gestohlen hatte, sollte erhängt werden. Jeder der ein bisschen eigenartig aussah und böse Träume hatte, der sollte verbrannt werden.
„Der König muss eine Krankheit haben“, sagte der Minister. „Wir können diese Befehle nicht ausführen.“ Man fertigte also Puppen aus Holz an, die man je nach Gebrauch erhängte oder verbrannte.
Das Volk durfte nicht zusehen, und der König betrachtete alles vom Fenster aus. Nein, niemand bemerkte, was in Wirklichkeit vorging. Niemand? O, das wäre zu viel gesagt. Die Köchin hatte einen kleinen Sohn, der hieß Peter. Dieser kam jeden Tag, um die Kessel auszukratzen. Der kleine Peter wurde satt davon, das war nicht zu verwundern. Welche Köchin lässt ihren Sohn verhungern? Der kleine Peter war sehr neugierig, er war einmal hier und einmal dort, ein richtiger Wirbelwind. So stand er dann eines Tages vor der Kammer der Königin. „Ach lieber Mann, was machst du nur?“ rief die Frau, „heute gab es Sauerbraten, und du warfst das ganze Fleisch dem Diener an den Kopf.“ „Das ist meine Sache“, rief der König, „wieso ist das ein Essen für uns, das ist ein Essen für arme Leute!“ „Es ist ein Jammer, wie du dich veränderst“, sagte die Königin, „ich weiß mir nicht mehr zu helfen“.
„Schweige“, schrie der König, „das ist meine Sache. Bisher war ich ein Trottel und kein König.“ „O nein, du warst kein Trottel!“ „Doch ich war ein Trottel.“ „Nein, du warst kein Trottel.“ „So widersprich mir doch nicht!“ „Doch,“ rief die Königin, „ich muss dir widersprechen!“ Da tat der König etwas Furchtbares, er gab seiner Frau eine Ohrfeige. Das war jedoch der Königin zuviel, und sie gab ebenfalls im König eine Ohrfeige.
Dabei fiel die Mütze von seinem Kopf. Da erschrak der König. „Mein Gott“, sagte er, „was machen wir?“ „Uns schlagen“, rief die Königin und fing an, jämmerlich zu weinen. „Nein das tut mir leid“, flüsterte der König, „das wollte ich nicht!“
Der kleine Peter sah alles, er sah durch das Schlüsselloch. „Mein Gott“, dachte er, „wenn diese Bosheit nicht mit der Mütze zusammenhängt?“
Als das Königspaar schlief, schlich der Peter sich in die Kammer und stahl die goldene Mütze. Er trug sie nach Hause, wickelte sie in ein Tuch und vergrub sie im Garten. Nun wäre alles gut gegangen, wenn der kleine Junge nicht einen schwarzen Hund gehabt hätte. Dieser Hund war jung, er scharrte überall Löcher in die Erde und fand so eines Tages die kostbare Mütze. Nun traf es sich, dass der König seinen Spaziergang machte, er sah, wie der Hund mit der Mütze zwischen den Zähnen hin und hersprang. „Das ist der Hund des kleinen Peter“, sagte der Diener. „Welcher Peter?“ fragte der König. „Ei, der Sohn der Köchin.“
„So“, sagte der König, er lachte und war eigentlich gar nicht böse. Als aber der König die goldene Mütze anzog schrie er: „In den Kerker mit dem kleinen Peter!“ So geschah es. Der Knabe saß nun Tag und Nacht bei Wasser und Brot, und das Schlimmste war, dass man ihn nicht reden ließ. Der kleine Peter grübelte, er weinte nicht. – „Solange ich atme, geht es noch“, dachte er, und das ist wahr. Der Kerker war nicht gerade hässlich, trockenes sauberes Stroh lag auf dem Boden, und wenn der Knabe sich auf die Holzbank stellte, sah er zum Fenster hinaus. Da erblickte er den wunderschönen Garten der Königin. Niemand in der Stadt wusste wie er aussah. Wie freute der kleine Peter sich. So ein königlicher Garten ist ja was etwas Besonderes. Es gibt der Blumen aus fremden Ländern und eben solche Vögel, die auf goldenen Stangen sitzen. Ihre Flügel, wenn sie ausgebreitet sind, haben den Glanz von Edelsteinen. Und die Gesänge solcher paradiesischer Geschöpfe klingen seltsam. Doch zuweilen sind sie traurig, sie steigen wie die Sprossen einer unendlichen Leiter hinauf in den Himmel. „Nein geht nicht fort, ihr schönen Lieder“, dachte der kleine Peter, und da er nicht sprechen durfte, fing er an zu singen, die Vögel erhoben ihre Köpfe und wandten sich ganz dem Menschenkinde zu, schlugen mit den farbigen Schwingen und lauschten.
„Gold’ne Mütze, gold’ne Mütze sag, was bist du für ein Ding?
Eines Zwerges gold’ne Hütte, eines Riesen Fingerling?
Dunkles Schicksal für den Menschen, und ein Rätsel für ein Kind. Deine blitzend bunten Fäden sind der Hexe Angebind!“
„Der kleine Peter muss sterben“, dachte der König. Aber es war ihm zu Ohren gekommen, dass man Puppen verbrannte und erhängte.
Der König ordnete an, dass der Knabe öffentlich auf dem Marktplatz erhängt werden sollte, und der König selbst wollte zusehen. Die Königin weinte. Sie nahm köstliche Früchte und Zuckergebäck, steckte die Dinge auf eine Stange und schob sie durch die Gitterstäbe des Kerkers. Ach, der kleine Peter freute sich, und er ahnte sein Unglück nicht. Er schaute in den Garten hinein, wo jetzt die Söhne des Königs mit silbernen Bällen spielten. Er sah die Wasserspiele, die weißen glänzenden Mädchen aus Marmor, die rund um den Teich standen und sich an den Händen hielten.
Über ihren Schultern hingen Kränze aus silbernen Blumen, und die kleinen Prinzen sprangen hinauf und hingen an den schimmernden Girlanden wie Schmetterlinge. In der Mitte eines Brunnens erhob sich ein Wassermann aus grauem Stein, er trug einen schwarzen Käfig auf seinen Kopf und darin saß ein weißer Vogel. „Auf wieviele Arten die Menschen leben“, dachte der kleine Peter, „und auf wieviele Arten sie glücklich sind. Meine Mutter kocht. Wenn ihr jemand den Holzlöffel aus der Hand nähme, würde sie weinen. Mein Großvater hatte einen Acker, der war voller Steine, es war eine Qual, dort zu arbeiten und zu pflanzen. Aber hätte man meinen Großvater dieses elende Stück Land abgenommen, er hätte wohl geweint.
Die Königskinder brauchen einen Garten mit so viel unnützen Dingen, und ich selbst bin zufrieden, diesen Garten nur zu sehen. Nun aber, in diesem Augenblick, wo der kleine Peter seine Gedanken zurechtlegte wie ein Mann sein Kartenspiel, in diesem Augenblick kam ein Diener in den Kerker und sagte: „Komm mit, Peter!“ „Wohin?“ fragte der kleine Junge. „Sie werden dich erhängen“, sagte der Diener. Das war kein Scherz, und wie sollte dieses allzudunkle Etwas in das bunte Kartenspiel hineinpassen?
Zuerst wurde der Knabe bleich, dann fasste er sich und ging mit dem Diener. Es waren wenige Menschen auf dem Marktplatz, ein paar alte Frauen, die strickten, einige Kinder, und sonst regte sich nichts hinter den verhangenen Fenstern. der König saß auf seinem Stuhl und hob die Hand, man legte also das Seil um den Hals des Jungen. Die alten Frauen hörten eine Weile auf zu stricken, und da nichts geschah, beugten sie ihre Köpfe und zählten die Maschen. „Das ist also auch ein Vergnügen“, dachte der kleine Peter.
„Ich frage dich“, rief nun der König, „hast du noch einen Wunsch?“ Peter nickte. „Oja“, sagte er, „gib mir eine lange Bohnenstange!“ Da lachten die Kinder, und die alten Frauen hörten auf zu stricken. „Es ist dein letzter Wunsch, und ich muss ihn dir gewähren“, sprach der König, „es ist allerdings ein dummer Wunsch.“ die Bohnenstange wurde gebracht, Peter nahm sie in seine Hände und schlug damit dem König die goldene Mütze vom Kopf. Der König wollte schimpfen, aber nun wurde er plötzlich ganz sanft.
„Was tue ich?“ fragte er leise und erschrocken sein Diener. „Ihr erhängt den kleinen Peter“, sagte der Diener. „Aber man kann doch kein Kind erhängen“, rief der König. „Das war euer Befehl“, schrien die alten Frauen, und verschiedene ließen ihre sorgsam gezählten Maschen fallen.
Da riss der kleine Peter das Seil von seinem Hals, lief auf den König zu und erzählte ihm alles.
„Ja du hast recht“, sagte der König, „verzeihe mir von ganzem Herzen.“ Ich bin froh dass ich mein Leben wiederhabe“, sagte der Knabe und lief davon. Aber die Mütze nahm er mit, die stahl er also zum zweiten Mal. Zu Hause trennte er die Naht des roten Futters auf, und was meint ihr, was darin steckte? Eine winzige kleine Fledermaus. Ehe Peter sie richtig betrachten konnte, flog sie in die Luft hinein.
Ja so ist es. Man sollte mit alten Sachen recht vorsichtig sein. Da findet man etwas wunderbares in einer hellblauen Schachtel und schließlich steckt der Teufel darin
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maerchenletter · 5 years ago
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Der Drachentöter
Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne. Als sie erwachsen waren, ließ er ihnen kostbare Gewänder anfertigen, gab jedem einen schön verzierten Gürteldolch und ein gutes Schwert in die Hand und sprach: "Nun reist hinaus in die Welt, seht euch überall wohl um und versucht euer Glück!" Dazu waren die drei Brüder gleich bereit, nahmen Abschied von ihrem alten Vater und zogen zum Tor hinaus. Als sie ein gutes Stück gewandert waren, kamen sie zu einer großen Tanne; da beschlossen sie, sich zu trennen. "Wir wollen unsere Dolche in diese Tanne stecken", sagte der älteste. "Kommt einer von uns zu irgendeiner Zeit wieder einmal hier vorbei, so mag er an ihnen erkennen, ob wir noch am Leben oder ob wir gestorben sind, und dies wird das Zeichen sein: wessen Dolch einen Rostfleck zeigt, der ist tot und wird die Heimat seiner Väter nie mehr wiedersehen." - Sie stießen also die blanken Klingen tief in den Baum; dann ging der eine zur Rechten, der andere zur Linken, der jüngste aber zog geradeaus und kam bald in einen großen, finsteren Wald. Wie er nun so allein zwischen den dunklen Tannen dahinging, kam ihm mit einem Mal ein Bär entgegen. Ohne langes Besinnen griff er nach seinem Schwert und wollte ihm auf den Pelz rücken. Der Bär aber rief: "Töte mich nicht, es wird dein Glück sein!" trottete freundlich und zutraulich heran und begleitete den Königssohn durch den Wald. Als er wieder eine Strecke gewandert war, kam plötzlich ein großer, wilder Wolf dahergesprungen. "Im nächsten Augenblick schon schwang der Prinz sein Schwert, stellte sich ihm in den Weg und wollte ihn erschlagen. Der Wolf aber rief: "Töte mich nicht, es wird dein Glück sein!" - Da ließ er auch ihn am Leben, und nun zog der Wolf mit dem Bären hinter ihm her. Es dauerte nicht lange, da stand, wie aus der Erde gewachsen, ein mächtiger Löwe vor ihm und fletschte die Zähne. Dem Königssohn fuhr geschwind der Schreck in die Glieder; dann aber zog er blitzschnell sein Schwert, um es ihm in den Rachen zu stoßen. Weil aber der Löwe sagte: "Töte mich nicht, es wird dein Glück sein!", schenkte er auch ihm das Leben. Nun zog auch der Löwe mit dem Wolf und dem Bären hinter ihm her, und alle drei Tiere wichen nicht mehr von ihm. ------------------------- Werbung
DRACHENREITER - Zum Kinostart von am 15. Oktober 2020 wird auf www.internet-maerchen.de  3x das Filmhörspiel verlost.
Frage: Wer spricht im Film Drachenreiter den Drachen Lung?
------------------------- Lange Zeit wanderte der Prinz mit seinen Begleitern durch den Wald, ohne einem Menschen zu begegnen. Endlich sah er in der Ferne eine Stadt. Da schritt er munter voran und zog bald darauf mit seinen Tieren durch das Tor ein. Doch seltsam: Alle Häuser waren mit schwarzem Flor behangen, und die Menschen gingen stumm und traurig durch die Straßen. Da fragte der Prinz, was denn der Stadt widerfahren sei. "Ach !" erzählten ihm da die Leute, "auf dem Berg dort, wo die Kapelle steht, haust ein siebenköpfiger Drache. Dem muss man jeden Tag ein unschuldiges Mädchen zum Fressen bringen sonst ist vor ihm niemand seines Lebens sicher. Nun aber soll ihm morgen die einzige Tochter des Königs ausgeliefert werden, und darum ist die Stadt in so tiefer Trauer." - "Das verstehe ich wohl", meinte der Prinz, "aber - ist denn gar keine Rettung möglich?" -"Ja, das fragen wir auch, lieber Herr", sagten sie. "Der König hat wohl schon lange im ganzen Lande bekanntmachen lassen, dass er dem Drachentöter die schöne Prinzessin zur Frau geben wolle; doch bis heute hat sich keiner gefunden, der den Kampf mit dem Ungeheuer wagen will." - Der Prinz hörte sich alles genau an und dachte: "Wenn d u den Drachen erlegen und die schöne Königstochter gewinnen könntest! Vielleicht würden die drei Tiere dir helfen?" Und er nahm sich vor, den Kampf gegen den Drachen zu versuchen. Am anderen Morgen, als die Sonne aufging, gürtete er sich sein Schwert um und stieg auf den Drachenberg, von seinen treuen Tieren begleitet. Als er zu der Kapelle kam, ging die Prinzessin gerade hinein, um zu beten. Sie war so jung und schön, dass er wie gebannt stehenblieb und ihr nachschaute. Da wurde er plötzlich durch ein fürchterliches Brüllen und Fauchen aufgeschreckt, und aus der Felsschlucht hervor stürzte der siebenköpfige Drache ungestüm auf ihn ein. Der Bär, der Wolf und der Löwe warfen sich wütend auf das Untier und jeder riss und biss ihm zwei Köpfe ab. Der siebente Kopf aber, der schrecklichste und gefährlichste von allen, fiel unter dem scharfen, Schwert des Prinzen in den Sand. Lang ausgestreckt lag der tote Drache in seinem Blute. Da trat die Prinzessin aus der Kapelle, ihrem Retter zu danken. Sie nahm die goldene Kette, die sie bisher selber, getragen, zerteilte sie und legte jedem der Tiere ein Stück davon um den Hals. Zu dem Prinzen aber sagte sie: "Ich danke dir von Herzen, du tapferer Mann! Du hast mich vom Tode errettet, und dafür will ich dir für mein ganzes Leben als deine liebe und treue Frau gehören! Nun aber komm mit zu meinem Vater. "Es kann noch nicht sein, liebe Prinzessin", sagte er; "ich muss mich zuerst noch eine Weile in der Welt umsehen. Heute übers Jahr aber komme ich wieder und dann wollen wir Hochzeit halten!" Darauf schnitt er aus den sieben Drachenköpfen die Zungen heraus, wickelte sie in ein seidenes Tuch und steckte sie in die Tasche. Dann nahm er Abschied von seiner Braut und zog mit seinen getreuen Tieren auf gut Glück in die weite Welt hinaus. Als der Prinz ihren Blicken in der Ferne entschwunden war, stieg die Prinzessin in die Kutsche, die am Fuße des Berges wartete, um sich nach Hause fahren zu lassen. Der Kutscher fuhr aber erst ab, nachdem er die sieben Drachenköpfe zu sich auf den Wagen geladen hatte. Und wie sie unterwegs durch einen dunkeln Wald kamen, hielt er plötzlich die Pferde an und sagte zu der Prinzessin: "So, nun sind wir allein und keiner ist da, der dir helfen könnte! Sage zum König, i c h hätte den Drachen getötet! Versprich es mir, oder du musst auf der Stelle sterben!" Was konnte da die Prinzessin anderes tun, als zustimmen, wenn ihr das Leben lieb war? Als sie im Schloss ankamen, wies der Kutscher dem König die sieben Drachenköpfe vor, verlangte die Prinzessin zur Frau und wollte, dass die Hochzeit gleich am anderen Tage stattfinden sollte. Der König, der sein Wort halten wollte, war damit einig; die Prinzessin aber brachte es unter allerlei Vorwänden fertig, dass die Hochzeit immer wieder aufgeschoben wurde. Ein ganzes Jahr lang trieb sie es so; dann aber musste sie dem Drängen des Kutschers doch nachgeben. Sie tat es auch scheinbar willig, weil sie hoffte, dass der rechte Bräutigam sich nun bald einfinden werde, so wie er es ihr versprochen hatte. Und richtig, als das Jahr bald um war, hatte der Prinz sich genug in der Welt umgesehen und die Heimreise angetreten. Als gerade noch ein einziger Tag an dem Jahr fehlte, kam er in der Stadt an und war erstaunt darüber, wie lustig und lebendig es überall zuging. Er kehrte in einem Wirtshaus ein, fragte den Wirt, ob er hier übernachten könne und fügte so beiläufig hinzu: "Was geht denn hier vor? Vor einem Jahr war die Stadt mit Trauerflor behangen und die Leute gingen stumm und traurig umher; heute dagegen sehe ich überall fröhliche Gesichter und die Stadt ist wie zu einem Fest geschmückt!" - "lhr habt's erraten", antwortete der Wirt und erzählte ihm, dass morgen die Königstochter Hochzeit halte mit dem Kutscher, der sie vor einem Jahr aus den Klauen des Drachen errettet habe. "Soso", sagte der Prinz, trank sein Glas leer und begab sich in seine Schlafkammer hinauf. Am anderen Tag, während droben im Schloss das Hochzeitsmahl im Gange war, saß der Prinz, als Jäger gekleidet, mit dem Wirt in der Schankstube. Sie sprachen von der schönen Prinzessin und dem Drachentöter und dem prachtvollen Fest, und dabei sagte der Prinz: "Herr Wirt, holt mir doch auch einen Krug von, dem Wein, den die Braut im Schlosse trinkt!" - "Das kann ich nicht, Herr!" antwortete der Wirt. "Dann muss ich halt meinen Wolf hinschicken!" meinte der Prinz; rief den Wolf zu sich und sagte: "Geh zu der Prinzessin ins Schloss und sage, dein Herr lasse um einen Krug von dem Wein bitten den sie selbst trinke!" Es dauerte nicht lange, und der Wolf kam mit dem Krug angesprungen. Da konnte der Wirt sich nicht genug wundern", saß nur da und sah den Fremden an und schüttelte den Kopf. "So, jetzt will ich auch von dem Braten haben, den die Braut isst!" sprach der Prinz und schickte den Bären aufs Schloss, und der brachte wahrhaftig nach einer Weile ein Stück vom allerbesten Braten. "Nun fehlt bloß noch ein Stück von dem Brot, das die Prinzessin isst!" sagte der Prinz, und schickte den Löwen hin. Der kam nach kurzer Zeit mit einem großen Stück Brot im Maul angetrottet. Die Prinzessin aber, die an der Hochzeitstafel saß, hatte die Tiere erkannt und wusste wohl, wer ihr Herr war. Darum gab sie ihnen auch alles, was sie forderten, von Herzen gerne. Der König hatte die sonderbaren Besucher mit Staunen beobachtet, nahm endlich seine Tochter beiseite und sprach: "Nun sage mir doch einmal, meine liebe Tochter: Was hast du eigentlich mit diesen wilden Tieren im Sinn?" Da erzählte die Prinzessin ihrem Vater alles, so wie es sich zugetragen hatte, und gestand ihm zuletzt, dass der wahre Drachentöter nun da sei und dass sie den und keinen anderen heiraten werde. Der König schickte sogleich einen Boten in das Wirtshaus und ließ den Herrn, dem die drei wilden Tiere gehörten, zur Tafel laden. Als die Hochzeitsgäste nun alle genug gegessen und getrunken hatten und noch eine Weile so recht vergnügt beisammen saßen, sagte der König: "Wir wollen uns zur Unterhaltung ein wenig erzählen. Und wer wird mehr erzählen können als der Drachentöter und unser lieber Gast, der Jäger, der heute erst von einer weiten Reise zurückkehrte? Beginne also, Freund Drachentöter!" Da ließ der falsche Drachentöter die sieben Drachenköpfe auf den Tisch legen und berichtete mit vielen aufgeblähten Worten, wie er sie damals im Kampf dem Untier abgeschlagen habe. Und alle, die von dem bösen Betrug nichts wussten und den Kutscher für den Drachentöter hielten, bewunderten ihn und spendeten ihm Lob über Lob. Der König aber verzog keine Miene und sagte nur: "Nun denn, Herr Jäger, erzählt Ihr einmal von Euren Abenteuern!" Der erhob sich, verbeugte sich höflich und gestand zum ersten, dass er kein Jäger, sondern ein Prinz sei. Dann schilderte er getreulich, auf welch eigentümliche Weise er zu den treuen Tieren gekommen sei und wie sie geholfen hätten, einen siebenköpfigen Drachen zu überwinden und eine Königstochter vom sicheren Tode zu erretten. "Und welch ein Zufall", sagte er, "gerade heute vor einem Jahr und nahe bei dieser Stadt hat sich all das zugetragen. Auch die Drachenköpfe hier kommen mir so bekannt vor, als ob ich sie schon einmal gesehen hätte. Nur, will mir scheinen, haben sie keine Zunge im Maul, was doch sonst gewiss bei allen Tieren der Fall ist." Da erhob sich der König und rief: "Diener! Öffnet die Drachenmäuler!" Und richtig, - in keinem von allen sieben war eine Zunge zu entdecken. "Wo sind die Zungen, Kutscher?!" stellte der König den falschen Mann zur Rede. "Da müsst Ihr nicht den da, sondern, mich fragen, Herr König", entgegnete der Prinz. "Hier sind sie!" - und dabei wickelte er die sieben Zungen aus dem seidenen Tuch. Und siehe, sie passten genau auf die abgeschnittenen Enden in den Rachen der Drachenköpfe. "Und nun, edle Prinzessin", wandte sich der Prinz an die Königstochter, "kennt Ihr vielleicht die goldene Kette am Hals meiner Tiere?" - "O gewiss!" sagte sie, "die kenne ich gut! Ich selbst habe sie ja deinen Tieren umgehängt, weil sie dir so treu und tapfer im Kampf gegen den Drachen beigestanden haben." Nun wusste der König gewiss, dass der Prinz der wahre Drachentöter, der Kutscher aber ein arglistiger Betrüger war. In der gleichen Stunde noch wurde der Falsche dem Henker übergeben. Der Prinz und die Prinzessin aber hielten Hochzeit und lebten nach des alten Königs Tod noch lange Jahre in Glück und Freude als König und Königin. Was aus den beiden Brüdern des Königs geworden ist? Niemand weiß, ob sie heimgekehrt sind oder heute noch in der Welt umherwandern. Wenn ich aber an die große Tanne komme, will ich doch nachsehen, ob sie noch am Leben sind oder ob die blanken Klingen Rostflecke bekommen haben.
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maerchenletter · 5 years ago
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Das Mordschloss
Gebr. Grimm
Es war einmal ein Schuhmacher, welcher drei Töchter hatte; auf eine Zeit als der Schuhmacher aus war, kam da ein Herr, welcher sehr gut gekleidet war, und welcher eine prächtige Equipage hatte, so dass man ihn für sehr reich hielt, und verliebte sich in eine der schönen Töchter, welche dachte, ihr Glück gemacht zu haben mit so einem reichen Herrn, und machte also keine Schwierigkeit mit ihm zu reiten. Da es Abend ward, als sie unterwegs waren fragte er sie:
"Der Mond scheint so hell meine Pferdchen laufen so schnell süß Lieb, reut dich's auch nicht?"
"Nein, warum sollt mich's reuen? ich bin immer bei Euch wohl bewahrt," da sie doch innerlich eine Angst hatte. Als sie in einem großen Wald waren, fragte sie, ob sie bald da wären? - "Ja, sagte er, siehst du das Licht da in der Ferne, da ist mein Schloss;" endlich kamen sie da an, und alles war gar schön.
Am andern Tage sagte er zu ihr, er müsst auf einige Tage sie verlassen, weil er wichtige Affären hätte, die notwendig wären, aber er wolle ihr alle Schlüssel lassen, damit sie das ganze Castell sehen könnte, von was für Reichtum sie all Meister wär. Als er fort war, ging sie durch das ganze Haus, und fand alles so schön, dass sie völlig damit zufrieden war, bis sie endlich an einen Keller kam, wo eine alte Frau saß und Därme schrappte. "Ei Mütterchen, was macht sie da?" - "Ich schrapp Därme, mein Kind, morgen schrapp ich eure auch!" Wovon sie so erschrak, dass sie den Schlüssel, welcher in ihrer Hand war, in ein Becken mit Blut fallen ließ, welches nicht gut wieder abzuwaschen war: "Nun ist euer Tod sicher, sagte das alte Weib, weil mein Herr sehen kann, dass ihr in der Kammer gewesen seid, wohin außer ihm und mir kein Mensch kommen darf."
(Man muss aber wissen, dass die zwei vorigen Schwestern auf dieselbe Weise waren umgekommen.)
Da in dem Augenblick ein Wagen mit Heu von dem Schloss wegfuhr, so sagte die alte Frau, es wäre das einzige Mittel, um das Leben zu behalten, sich unter das Heu zu verstecken, und dann da mit weg zu fahren; welches sie auch tat. Da inzwischen der Herr nach Haus kam, fragte er, wo die Mamsell wäre! "O, sagte die alte Frau, da ich keine Arbeit mehr hatte, und sie morgen doch dran musste, hab ich sie schon geschlachtet, und hier ist eine Locke von ihrem Haar, und das Herz, wie auch was warm Blut, das übrige haben die Hunde alle gefressen, und ich schrapp die Därme." Der Herr war also ruhig, dass sie tot war.
Sie kommt inzwischen mit dem Heuwagen zu einem nah bei gelegenen Schloss, wo das Heu hin verkauft war, und sie kommt mit aus dem Heu und erzählt die ganze Sache, und wird ersucht, da einige Zeit zu bleiben. Nach Verlauf von einiger Zeit nötigt der Herr von diesem Schloss alle in der Nähe wohnenden Edelleute zu einem großen Fest, und das Gesicht und Kleidung von der fremden Mamsell wird so verändert, dass sie nicht erkannt werden konnte, weil auch der Herr von dem Mord-Castell dazu eingeladen war.
Da sie alle da waren, musste ein jeder etwas erzählen, da die Reihe an die Mamsell kam, erzählte sie die bewusste Historie, wobei dem sogenannten Herrn Graf so ängstlich ums Herz ward, dass er mit Gewalt weg wollte, aber der gute Herr von dem adeligen Haus hatte inzwischen gesorgt, dass das Gericht unsern schönen Herrn Grafen in Gefängnis nahm, sein Castell ausrottete, und seine Güter alle der Mamsell zu eigen gab, die nach der Hand mit dem Sohn des Hauses, wo sie so gut empfangen war, sich verheiratete und lange Jahre lebte.
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10.08.2020 Der Märchenletter und mein Märchenprogramm im Internet ist ein rein privates Hobby von mir. Somit hast Du natürlich auch keinen rechtlichen Anspruch auf die Märchen.
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