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Terra Mater 5/2014
Die alte Königin des Dschungels
Kolumbiens verwegenste Piloten – und Pilotinnen: Mit den legendären, 70 Jahre alten Douglas DC-3 in die von der Welt abgeschnittenen Dörfer des Regenwalds zu fliegen, gehört zu den gefährlichsten Jobs, die die zivile Luftfahrt anzubieten hat.
Die Gelegenheit für einen ersten Flug mit der alten DC-3 wäre günstig, meint Andrés Hernández, der junge, 24-jährige Chef der Aliansa Airline, während einige seiner Mechaniker noch neue Propeller an die großen Sternmotoren montieren, die alten hatten seltsame Vibrationen entwickelt. Fifi Kate, wie die 70 Jahre alte Maschine von allen genannt wird, brauche daher einen Probeflug. Und Capitán María Nubia Álvarez, die einzige DC-3-Pilotin Südamerikas, solle bei der Gelegenheit auch einige Standardmanöver fliegen, nachdem sie ein paar Jahre nicht in der Luft war und ihre Lizenz auffrischen muss. Dabei zeichnet Andrés mit seinen Armen Kurven nach, die nicht nur bei Menschen mit Flugangst Sorgenfalten hervorrufen würden.
Was man alles als günstige Gelegenheit bezeichnen kann: unerprobte Teile am Flugzeug, mutwillige Manöver in der Luft und eine Pilotin, die schon länger nicht geflogen ist. Wir hätten uns für den ersten Flug auch ein, zwei Unwägbarkeiten weniger vorstellen können. Aber eine bessere Gelegenheit, um die alte Königin des Dschungels näher kennenzulernen, würde sich an diesem Tag nicht mehr ergeben.
Wir sind am Flughafen Vanguardia von Villa vicencio, nicht weit entfernt von der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, dazwischen liegen nur die Ausläufer der Anden. Vanguardia ist der zentrale Knotenpunkt für den Flugverkehr in den Regenwald, der unter sehr speziellen Bedingungen stattfindet: Die eingesetzten Maschinen sind uralte Douglas DC-3, kaum eine jünger als siebzig Jahre; keine, die nicht schon gröbere Zwischenfälle in ihrem Bordbuch verzeichnet hätte. Die Region, der kolumbianische Teil Amazoniens, ist für ihr unberechenbares Wetter ebenso bekannt wie für ihre kaum besser einschätzbare politische Lage. Die Dörfer, die angeflogen werden, sind auf dem Landweg nicht erreichbar, weil es in diesem Eck der Erde keine Straßen gibt, noch nie gegeben hat. Dörfer, die Google Maps nicht oder falsch lokalisiert, Dörfer, die keine befestigten Landebahnen haben, Dörfer, die – auch wenn sich die Situation zuletzt etwas entspannt hat – im Einflussgebiet der Drogenkartelle und der Guerilla bewegung FARC liegen.
Die Maschinen, der Dschungel, die Guerilla – es gibt ein paar Unsicherheitsfaktoren, wenn man hier fliegt. Insofern mag ein Testflug zum Eingewöhnen keine schlechte Wahl sein. Und letzte Bedenken verlieren sich schnell, sobald man einmal in das Flugzeug geklettert und durch den Laderaum Richtung Cockpit hinaufgestiegen ist und ansatzlos in die früheste Ära des Fliegens eintaucht. Die Instrumente analog, die Steuerung mechanisch, die Motoren ungefiltert laut: Das ist Fliegen wie in den 1930er-Jahren, aber nicht als Showact, nicht als historischer Rundflug, sondern als täglicher Job für mutige Männer und Frauen.
Die mächtigen Propeller-Triebwerke sind angeworfen, die Checkliste ist abgearbeitet. Nubia schiebt das schwere Hebelwerk in der Mitte des Cockpits nach vorn. Fifi Kate gewinnt langsam, aber kontinuierlich an Geschwindigkeit und hebt sanft, fast unbemerkt ab. Kein Raketenstart, nichts zum Fürchten.
Nubia lässt das Flugzeug nach links und nach rechts abfallen, um es in großem Bogen wieder auf Kurs zu bringen, sie führt es steil nach unten, um es sauber wieder abzufangen. Wer jetzt nicht angeschnallt ist – und das ist niemand an Bord –, sucht eilig nach einem sicheren Halt, um den Fliehkräften etwas entgegenzusetzen. Nubia schaltet die Triebwerke ein und wieder aus. Kein Grund zur Beunruhigung, obwohl der Alarm losgeht: Mit nur einem Motor zu fliegen gehört zu den speziellen Talenten der DC-3. Trotzdem hält man kurz den Atem an, bis die Motoren wieder anspringen.
Fifi liegt, sorgsam getrimmt, stabil in der Luft, lässt sich geschmeidig und gutmütig dirigieren. Nubia hat nichts verlernt, lenkt das große Trumm mit sparsamen, eleganten Bewegungen, ohne Hektik, ohne Anstrengung. Dazwischen immer wieder ein Blick zum geöffneten Fenster hinaus, zurück zu den Motoren, der typische Blick jedes DC-3-Piloten. Die Aggregate gehören zu den kritischen Teilen des Flugzeugs, vor allem der Ölverbrauch kann Probleme machen. Vier Liter pro Stunde sind es, mindestens. Und das nur, wenn die Motoren dicht sind.
„Man kann die Maschine fühlen“, sagt Nubia, „das ist das Schöne an der DC-3.“ Da drinnen! Sie deutet auf ihren Bauch. Ihr Kopilot, Capitán Jhon Acero, streckt seine Arme zur Seite aus: „In der Luft werden meine Arme zu verlängerten Flügeln.“ Ohne diese unmittelbare, körperliche Verbindung zur Maschine könne man eine DC-3 nicht beherrschen. „Fühle die Maschine, und du wirst sie fliegen.“ Das hat Nubia von ihrem wichtigsten Fluglehrer gelernt, ihrem Bruder. „Das Flugzeug, sagte er immer, gibt dir alle Informationen, die du brauchst“, erinnert sie sich, nachdem wir wieder zurück am Boden sind.
DC-3 zu fliegen ist eine sehr persönliche Angelegenheit zwischen Pilot und Flugzeug. Es sind keine anonymen Maschinen, es sind keine anonymen Piloten und schon gar keine Autopiloten. Jede DC-3 in Villavicencio und jeder Pilot haben ihre eigene Geschichte. Und die haben alles, was gute Geschichten brauchen: Heldentum, Tragik, Legendenbildung.
Geschichten wie jene von Tomasito Caicedo, dem ersten indigenen DC-3-Piloten Kolumbiens, von Giovanni Borde oder Jaime Medina – legendären Männern im Cockpit der DC-3, ihre Heldentaten werden bis heute erzählt. Geschichten von waghalsigen Landungen und abenteuerlichen Bergungsaktionen, die immer das gleiche Ende haben: Die Helden sind irgendwann bei Abstürzen im Dschungel ums Leben gekommen.
Am Eingang zum Flughafen Vanguardia erinnern Gedenksteine an die verunglückten Piloten. Wir haben die Kolonnen von eingravierten, teilweise verwitterten Namen nicht nachgezählt, es sind jedenfalls mehr als 200, die in den vergangenen Jahrzehnten auf dem Flug von Villavicencio in den kolumbianischen Regenwald ihr Leben verloren haben.
Auch die Geschichte von Nubia Álvarez ist keine alltägliche. Dass sie in einem von Männern und Machos dominierten Beruf überhaupt Pilotin werden konnte, verdankt sie ihrem Bruder, dem Vorbesitzer der Aliansa. „Ohne ihn wäre das nicht möglich gewesen.“ Und es wäre auch heute noch schwierig. Obwohl Frauen besondere Talente mitbringen. „Sie sind umsichtiger, vorsichtiger“, meint Nubia. „Sie haben einen sechsten Sinn.“ Eigenschaften, die durchaus hilfreich sein können, wenn man DC-3 fliegt.
Ihr Bruder und ihr Mann wurden 2001 mitten auf der Straße vor dem Flughafen erschossen, in dieser Gegend kommt man schnell zwischen die Fronten von Guerillabewegung und Paramilitärs. Ein weiterer Bruder, ebenfalls Pilot, ist 1999 in einer DC-3 umgekommen. Sie persönlich kenne mindestens zwanzig andere Piloten, die ebenfalls mit dem Flugzeug tödlich verunglückt sind, „nicht alle in einer DC-3, aber die meisten“.
Nubia selbst hatte zwei gröbere Unfälle, beide Male brach bei der Landung das Fahrwerk, beide Male gab es zum Glück keine Verletzten. Dazu kommen noch hunderte kleinere Zwischenfälle. Mit dem Fliegen aufzuhören war aber nie ein Thema. „DC-3 zu fliegen ist mein Leben. Wenn ich fliege, fühle ich mich wie neugeboren.“ Und wenn sie die Kinder sieht, die mit großen Augen die Ankunft der Flieger erwarten, weiß sie auch, warum sie ihren Job liebt: „Dörfer wie Carurú, Tareira oder Pacoa hätten nichts, wenn wir nicht hinflögen. Kein Brot, keine Medikamente, keine Seife, keine Kekse. Nichts.“
Die DC-3 ist die einzige Verbindung der Dörfer im Regenwald zum Rest der Welt. Und bis heute sind die alten DC-3 unersetzbar. Es gibt keine Flugzeuge, die günstiger zu betreiben und die mit mehr Gewicht auf kurzen und schlechten Pisten zu landen sind. Knapp 700 Meter Landebahn reichen, um die bis zu 12 Tonnen schweren Maschinen auf den Boden zu bringen. Das hat mit der enormen Flügelfläche und mit den langsamen Landegeschwindigkeiten zu tun – sie betragen nur etwas mehr als 100 km/h.
Fifi Kate hat den Testflug übrigens nicht bestanden, es gibt ein Problem mit den Kontakten, erzählt uns ein Mechaniker. Nichts Schlimmes, aber Piloten wie Mechaniker haben gelernt, keine unnötigen Risiken einzugehen. Die unkalkulierbaren Gefahren sind groß genug. Die DC-3 mit der Kennung HK-4700 war von Anfang an ein Sorgenkind, das immer wieder Schwierigkeiten machte, wie wir erst nach unserem Flug erfahren.
„Wir haben sie 2010 aus den USA nach Kolumbien geholt, aus dem Lyon Air Museum in Kalifornien“, erzählt Aliansa-Chef Andrés Hernández. „Es ist die einzige DC-3 in Kolumbien, die schon im Zweiten Weltkrieg geflogen ist.“ Der Kaufpreis betrug rund 220.000 Euro – ein guter Preis für eine Maschine, die relativ wenig geflogen wurde, meint Hernández.
Ein halbes Jahr lang wurde sie zerlegt, neu aufgebaut, im November 2010 war das Flugzeug schließlich startklar. Einen Monat später explodierte beim Landen in Guerima die Bremshydraulik, Fifi Kate kippte in ein tiefes Loch, der rechte Flügel brach weg. Mit unglaublichem Aufwand brachten die Mechaniker der Fluglinie die havarierte Maschine wieder in die Luft: Von einer ausrangierten DC-3 wurde eine Tragfläche abmontiert, 500 Kilometer auf der Straße (oder was man eben so Straße nennt in dieser Region) und 100 Kilometer auf dem Wasser nach Guerima transportiert und unter schwierigsten Bedingungen ausgetauscht. „Ohne das Improvisationstalent der Indigenen hätten wir das nie geschafft“, vergisst Andrés nicht hinzuzufügen. Am Ende sollte es trotzdem noch richtig knapp werden, weil die FARC drohte, die Maschine abzufackeln.
Fifi Kate war nach diesem Zwischenfall noch mehr als eintausend Flugstunden in der Luft, nicht ohne immer wieder einmal unvorhergesehen umkehren zu müssen. Wenige Wochen nach unserem Besuch stürzte die Maschine endgültig ab. Pilot Alfonso Polanía, sein Kopilot und vier Passagiere kamen dabei ums Leben. Die Ursache konnte nicht geklärt werden. „Dieses Risiko ist Teil des Jobs“, meinte Nubia Álvarez nach dem Unglück. Viel mehr könne sie dazu gar nicht sagen.
Wir sind auf den Flug nach Mitú und Carurú gebucht, zwei Dörfer am Fluss Vaupés mitten im Regenwald. Am Hangar der Aliansa treffen wir unseren Piloten: Raúl Lozano, 64 Jahre alt, fliegt seit 34 Jahren in den Regenwald. Kein Draufgänger, kein Haudegen, sondern ein erfahrener, unaufgeregter, fast zurückhaltender Mann, zu dem man schnell Vertrauen fasst.
Festgeschriebene Abflugzeiten, niedergeschriebene Flugpläne gibt es nicht. Was es gibt, sind bestenfalls Absichtserklärungen. Geflogen wird, wenn es Bedarf gibt, wenn es das Wetter zulässt, wenn die Passagiere da sind, wenn das Flugzeug startbereit ist.
Besonders wetteranfällig sind die Rückflüge. In den Wintermonaten kommt es nicht selten vor, dass man Tage und Nächte im Dschungel abwarten muss, weil heftige Regenfälle die sandigen Pisten blitzschnell unter Wasser setzen und in unbrauch bare Rutschbahnen verwandeln. Unangenehm genug: Die Piloten werden nach Flugstunden bezahlt. Fliegen sie nicht, verdienen sie nichts.
„Der Wetterbericht ist gut“, sagt Raúl Lozano, „rund um Carurú könnte es ein paar Wolken geben, die wir umfliegen müssen.“ Aber auch das kann sich schnell ändern, noch sind wir ein paar Stunden von Carurú entfernt.
Unsere Maschine steht startklar am Hangar. Es ist sieben Uhr früh, die Morgensonne setzt die mit einer halben Million Nieten zusammengehaltene Aluminiumhülle in ein perfektes Licht. „Das ist das beste Flugzeug der Welt“, schwärmt Raúl. Jedenfalls gehört es zu den schönsten Flugzeugen der Welt. „Es ist stabil, man kann es fast überall landen.“ Für Menschen mit Flugangst übersetzt: Wenn man abstürzt, hat man in der DC-3 prinzipiell keine schlechten Karten. DC-3 lassen sich gut notlanden, auch auf dem Wasser, immerhin. Einmal abgesehen davon, dass man sich Notlandungen irgendwo im Dschungel ungern vorstellt, unabhängig von den Überlebenschancen.
Der Flug ist ausgebucht, zwanzig Passagiere warten mit uns auf den Abflug, Bewohner der Dörfer, Militärs und Polizisten, Ingenieure, Geschäftsleute. Die Sicherheitskontrollen am Flughafen Vanguardia entsprechen europäischen Standards, der kurze Weg zum Flugfeld wird zu Fuß erledigt, Militärs überwachen den Einstieg.
Dem Gepäck gilt ihre besondere Aufmerksamkeit – aus polizeilichen Gründen: Man kann wohl davon ausgehen, das nicht alles immer legal ist, was in die Dschungelflieger geladen wird. Und aus Sicherheitsgründen: Überladung gehörte früher zu einer der häufigsten Absturzursachen. Inzwischen wird sehr genau darauf geachtet, dass die knapp drei Tonnen Ladekapazität nicht überschritten werden.
Die Flüge sind in erster Linie Transportflüge. Die Passagiere nehmen auf Klappbänken an der Seite des Laderaums Platz, vom Großgepäck trennt sie nur ein Netz, das der Länge nach in der Mitte gespannt ist. Geflogen wird alles, was ins Flugzeug passt: Lebensmittel und Motorräder, Leitungsrohre und Klimaanlagen, Baumaterial und Reifen. An diesem Tag nicht mit an Bord: Tiere, Hühner beispielsweise. Oder Kühe – eine ebenso schwere wie gefährliche Ladung, die nicht erst einmal einen Flieger in unangenehme Schieflage und – wie 1981 – auch zum Absturz gebracht hat, weil sich die Tiere aus ihren Verschlägen befreien konnten. Ebenfalls nicht ungefährlich: Treibstofftransporte, die für gewöhnlich ohne Passagiere und mit offener Türe geflogen werden, damit die explosiven Dämpfe entweichen können.
Unser Flug nach Mitú, nicht weit von der Grenze zu Brasilien entfernt, verläuft ohne Probleme – ruhiges Wetter, gute Sicht. Wir fliegen in geringer Höhe, mit geringer Geschwindigkeit von rund 200 km/h. Unter uns breitet sich ein dicht geknüpfter, endlos grüner Teppich aus – der kolumbianische Regenwald, eine der artenreichsten Landschaften dieses Planeten: Hier blühen tausende Orchideenarten, hier sind Puma und Jaguar unterwegs. Und hier wird – von oben ebenfalls gut sichtbar – Koka angebaut.
Man verirrt und verliert sich leicht in dieser Gegend. Auch mit dem Flugzeug, vor allem in früheren Jahren. Bis weit in die 1990er-Jahre hatten die Piloten keine anderen Hilfsmittel als Uhr und Kompass im Cockpit. Mittlerweile gehören GPS, Wetterradar und Transponder zur Standardausstattung jeder DC-3. Das hat – neben dem besseren Service und den schärferen Kontrollen – wesentlich dazu beigetragen, dass es in den letzten Jahren weniger Unfälle, weniger Todesopfer gab.
Mitú hat inzwischen eine asphaltierte Piste, nach wie vor eine Ausnahme. Die Hauptstadt der Region Vaupés war lange eine Hochburg der FARC, entsprechend groß ist das Aufkommen von Militär und Polizei. Auf rund 7.000 Einwohner kommen gut 500 Sicherheitskräfte. Viel sei in diesen Wochen und Monaten aber nicht zu tun, erzählt uns ein Polizist, der zum Dienstantritt nach Mitú fliegt. „Vor zehn Jahren gab es in dieser Gegend viele Entführungen. Seit der stärkeren Präsenz des Militärs ist die Lage ziemlich ruhig, fast langweilig“, sagt er. Die FARC verhält sich relativ still, ein Teil der Koka-Produktion hat sich an die Pazifikküste Kolumbiens verlagert.
Während des Flugs ist Pilot Raúl Lozano kaum ansprechbar. Er ist hoch konzentriert, lässt den Himmel keine Minute unbeobachtet, selbst wenn er das Steuer seinem Kopiloten übergibt. Er sei eher zufällig Pilot geworden, erzählt er, während wir im Schatten der Tragflächen das Ausund Beladen der DC-3 beobachten. „Mein Bruder war Pilot bei der Armee, und ich wusste nach der Schule nicht recht, was ich tun sollte.“ Also wurde er Pilot, genauer gesagt DC-3-Pilot. Dazu brauchte es nach der Pilotenschule noch eine einmonatige Zusatzausbildung. Seit 34 Jahren fliegt er nun DC-3, gut 13.000 Stunden war er in der Luft. Ein harter Job in jeder Hinsicht: „Von den fünf Piloten, die für die Aliansa fliegen, bin ich der einzige mit einem fixen Vertrag.“ Alle anderen arbeiten als Freelancer, die sich um jeden einzelnen Flug be mühen müssen. Pro Flugstunde gibt es rund 50 Euro.
Zeit ist Geld. Die Aufenthalte in den Dörfern werden daher möglichst kurz gehalten. Zeit also, weiterzufliegen, nach Carurú, einer Siedlung mit 700 vorwiegend indigenen Einwohnern, eine halbe Flugstunde entfernt. Nach dem Start bauen sich mächtige Wolken vor uns auf. Ob er vorbeifliegen soll, deutet der Kopilot mit fragendem Blick nach rechts. Mittendurch, zeigt Raúl mit beiden Händen geradeaus nach vorn und übernimmt das Steuer. Die Wolken sehen nicht besonders bedrohlich aus, am Wetterradar ist der Korridor durch die Gefahrenzone schön zu sehen. „Man muss intuitiv fliegen“, sagt Raúl. „Man muss den Wind noch vor dem Flugzeug spüren. Und man muss schnell entscheiden, schnell reagieren.“
In weitem Bogen über den Fluss Vaupés nähern wir uns Carurú. Links und rechts der sandigen Landebahn sind Wellblechhütten aufgereiht, die Bewohner warten vor ihren Häusern auf das Flugzeug, das ein-, zweimal die Woche vorbeikommt. Mit über 1.000 Meter Länge ermöglicht die Piste trotz des unbefestigten Untergrunds theoretisch eine relativ einfache Landung. Tatsächlich ist sie aber um ein gutes Stück kürzer, „weil am Anfang und am Ende gefährliche Steine auf der Piste liegen“, erklärt Raúl und setzt auf. Erfahrung ist alles. Es rumpelt etwas, die Maschine schaukelt ein wenig und bremst sanft ab.
Es gibt schwierigere Manöver, „in Pacoa zum Beispiel, weil dort die Landebahn mit 650 Metern sehr, sehr kurz ist“. Auch nach Caquetá fliegt Raúl ungern. „Das ist FARC-Land. Gefährlich ist nicht das Landen, gefährlich ist die Guerilla. Die tötet jeden Tag.“
Start und Landung sind die kritischen Momente, die kurzen Pisten lassen einfach keine Reserven. „Wenn ich beim Starten nicht die nötige Geschwindigkeit erreiche, kann ich nichts mehr tun.“ Und während des Landens gibt es ebenso wenig Spielraum. „Man muss konzentriert sein, darf sich nicht ablenken lassen von den hübschen Mädchen an der Landebahn.“
Kinder laufen der ausrollenden Maschine entgegen. Hier gibt es keinen Tower, kein Flughafengebäude, keine Absperrungen, hier gibt es nur die offene Piste. Mit an Bord ist auch Jaqueline Valencia, die in Carurú lebt und als Vertreterin des Bezirks Vaupés für den Kongress in Bogotá kandidiert. „Wenn man hier lebt, glaubt man, das ist das ganze Leben“, sagt sie. Viele würden nie aus ihren Dörfern herauskommen. Der Fluss ist gefährlich, die Flugtickets sind teuer, zu teuer für viele Bewohner, um sich einen Flug öfter als vielleicht ein-, zweimal im Leben leisten zu können (unser Flug kostete knapp 200 Euro, wobei die Flugpreise kaum weniger variabel als die Flugpläne sind). „Mit dem Boot von Carurú nach Mitú dauert es zwei Tage, mit dem Flugzeug nur eine halbe Stunde.“
Jaqueline möchte einen regulären Schiffsverkehr einrichten, um ihr Dorf besser an Mitú anzubinden, wo es höhere Schulen und eine medizinische Grundversorgung gibt. „Wenn du in Carurú gesundheitliche Probleme hast, stirbst du“, weiß die 32-jährige Mutter zweier Kinder. Die Indigenen leben vom Fischfang, von der Landwirtschaft, es werden exotische Früchte wie Ananas, Borojo und Arazá angebaut. „Der Koka-Anbau ist zurückgegangen“, meint die zukünftige Politikerin, „um 80 Prozent.“ Zu genau sollte man solche Zahlen aber nicht überprüfen, der Drogenhandel ist flexibel.
Relativ neu am Zettel illegaler Schattenwirtschaft: Coltan, ein seltenes, wertvolles Metall, das in der Mikroelektronik gebraucht wird. Weil die Vorkommen in indigenen Schutzgebieten liegen, ist der Abbau gesetzlich verboten. „Mit Coltan im Flugzeug erwischt zu werden ist schlimmer, als Koka an Bord zu haben“, sagt Kapitän Raúl. Ohne Zweifel war und ist der Flugverkehr in den Regenwald der Katalysator für seine Ausbeutung und Zerstörung, für das Verschwinden ursprünglicher indigener Kultur. Die gibt es nur noch vereinzelt, weit entfernt von Flüssen und Landepisten. Das ewige Dilemma des Fortschritts, der Zivilisation.
Ebenso klar ist aber: Wenn es darauf ankommt, ist die DC-3 die einzige Überlebenschance, die die Bewohner der Dörfer im Dschungel haben. Ein Schwerverletzter mit gebrochenem Arm und Kopfverletzung wird zum Flugzeug getragen, er soll nach Villavicencio ins Spital gebracht werden. „Wir dürfen nicht zu hoch fliegen, um den Druck im Kopf nicht zu groß werden zu lassen“, meint der auch mit Krankentransporten erfahrene Kapitän, nachdem der Patient notdürftig auf einer Bahre im Laderaum fixiert worden ist.
Auf dem Rückflug beginnt es leicht zu regnen. Aber das ist kein Problem, erklärt Raúl. „Nur Gewitter könnten gefährlich werden.“ Und grundsätzlich gilt ohnehin: „Man darf nicht an die Gefahr denken, man muss an den Flug denken, man muss der Maschine vertrauen.“
Die DC-3 werden weniger. DC-3 fliegen auch in anderen Erdteilen– in Kanada, in Alaska oder in Afrika. Aber nirgend wo sind so viele Flieger dieses Typs regelmäßig im Einsatz wie hier in Villavicencio. Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre begann die zivile Luftfahrt in den Regenwald. Zu dieser Zeit wurden viele Maschinen vom Militär und von den großen Fluglinien ausgemustert und auf dem Flughafen Vanguardia stationiert.
„In den 1990er-Jahren hatten wir noch gut 25 DC-3“, schätzt Hernando Balcázar, Sicherheitschef des Flughafens. „Als ich 2001 zu arbeiten begann, waren es 18. Heute sind bestenfalls 10 Maschinen in der Luft, verteilt auf 4 kleine Fluglinien.“ Manche Flugzeuge sind abgestürzt, manche in der Unübersichtlichkeit des Drogenhandels verschwunden, manche werden als Ersatzteilspender verwendet. Und manche warten darauf, irgendwann wieder abzuheben, wenn ihre Besitzer das notwendige Geld aufgetrieben haben werden, um sie in Schwung zu bringen.
Die Regierung unternimmt immer wieder Anläufe, um die alten DC-3 endgültig aus dem Verkehr zu ziehen. Raúl Lozano will daran aber nicht glauben: „Diese Maschinen“, ist er überzeugt, „fliegen noch in zwanzig Jahren.“
© Markus Honsig
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Servus Magazin 6/2014
Ein Sommer am Land
„Und ich bin, ich muss es mir gestehen, wo ich von allen Orten am liebsten, am meisten ich selber bin!“ Hugo von Hofmannsthal gehörte zu den treuesten Gästen in Altaussee.
Johannes Brahms, Gustav Mahler und Richard Strauss. Jakob Wassermann, Arthur Schnitzler und Friedrich Torberg. Alle waren in Altaussee, und alle waren begeistert: Altaussee sei „kein Dorf, sondern eine Krankheit, die man nie mehr los wird“, formulierte Jakob Wassermann, „die schönste Sackgasse der Welt“, schrieb Friedrich Torberg.
Einer der ersten Gäste in Altaussee war Hugo von Hofmannsthal. Gut möglich, dass er bei Verwandten der Familie schon manche Sommer seiner Kindheit im Ausseerland verbrachte. Namentlich taucht der junge, 1874 geborene Dichter erstmals 1892 in den Kurlisten auf. Er wird bis zu seinem Tod 1929 beinahe jedes Jahr nach Altaussee kommen. In dieser Umgebung sind die Libretti für Richard-Strauss-Opern wie „Rosenkavalier“, „Ariadne auf Naxos“, „Die Frau ohne Schatten“ oder Werke wie die Komödie „Der Schwierige“ entstanden.
„Ich liebe diese Landschaft so sehr“, schreibt er am 25. August 1912 in einem Brief an die deutsche Schriftstellerin Helene von Nostitz, „je älter ich werde, desto reicher wird sie mir, bin ich einmal ganz alt, so steigen mir wohl aus den Bächen, den Seen und Wäldern die Kinderjahre wieder hervor.“
Hofmannsthal führte zwar kein Tagebuch, schrieb aber sehr viele Briefe, in denen er immer wieder vom Ausseerland schwärmte. Und er verfasste über Altaussee ein frühes, kurzes Stück Prosa, das 1896 in der legendären Satirezeitschrift „Simplicissimus“ publiziert wurde: „Das Dorf im Gebirge“. Der Ort wird zwar nicht namentlich genannt, es kann aber keinen Zweifel geben, dass es um die – zu dieser Zeit schon weithin bekannte – Sommerfrische im Herzen des Landes geht.
Im ersten Teil beschreibt er den beginnenden Fremdenverkehr in Altaussee: „Im Juni sind die Leute aus der Stadt gekommen und wohnen in allen großen Stuben. Die Bauern und ihre Weiber schlafen in den Dachkammern.“ Die wohlhabenden Gäste brachten den Bauern und Salzbergarbeitern ein willkommenes Nebeneinkommen, das sie mehr als gut gebrauchen konnten. Dafür lohnte es sich schon, Küchen und Schlafzimmer für ein paar Monate zu räumen, erst recht im Sommer, wenn die Tage ohnehin lang und arbeitsintensiv waren. Und da störte es dann auch weniger, wenn die Touristen im Weg herumstanden: „Sie selber aber, die Frauen und Mädchen aus der Stadt, sieht man überall sitzen, wo sonst kein Mensch sitzt: auf den beiden Enden der hölzernen Brunnentröge, wo das zurücksprühende Wasser vom Wind in ihr Haar getragen wird, bis sie ganz voll Tau hängen, wie feine, dichte Spinnweben am Morgen. Oder sie sitzen auf dem Zauntritt, wo sie jeden stören, dessen Weg da hinüberführt.“
Hugo von Hofmannsthal wohnte an unterschiedlichen Adressen, viele Jahre in Obertressen am Weg von Bad Aussee nach Altaussee. 1919 bezog er bei der Familie Rastl vulgo Rabenkropf Quartier. Der Hof, erstmals im 15. Jahrhundert erwähnt, steht am Ende der Straße. Von hier sind es nur ein paar Schritte zu einer später nach Hofmannsthal benannten Linde, einem uralten, hochgewachsenen Baum, der in der Mitte einer prachtvollen Wiese steht. Ein Baum wie ein Denkmal, unter dem zu sitzen – mit unverstelltem Blick auf Dachstein, Sarstein und Sandling – selbst für unbegabtere Menschen als Hugo von Hofmannsthal einmalige Inspiration sein sollte: „Und ich bin, ich muss es mir gestehen, wo ich von allen Orten am liebsten, am meisten ich selber bin! Der Ort, die Einsamkeit, die innere Klärung bringen mir wie ein Spiegelbild heran, was auf der Welt mir am Herzen nahe ist.“ So schreibt der Dichter an Eberhard von Bodenhausen, den Herausgeber der Kunst- und Literaturzeitschrift „Pan“ in Berlin.
Eine gute Viertelstunde von der Linde bergauf erreicht man das Bärnmoos, einen weiteren Kraftort für Hofmannsthal. Eine von dichtem Wald eingefasste Almwiese, am Ausgang hängt wie ein Gemälde der Dachstein. „Bis heute ein Geheimtipp. Da ist auch im Sommer nicht viel los“, erzählt die Altausseerin Monika Gaiswinkler, Mitarbeiterin des Literaturmuseums in Altaussee.
Für Hofmannsthal war Aussee vor allem ein Ort, an dem er Ruhe suchte und gut arbeiten konnte. „Der Sommer“, schreibt er einmal, „ist meine eigentliche Arbeitszeit.“ Dass die Unterkünfte im Vergleich zu Wien sehr einfach waren, störte ihn nicht, im Gegenteil. „Aber einmal liebe ich das Primitive sehr, bin sehr achtzehntes Jahrhundert in meinen Neigungen, liebe eine flackernde Kerze, ein dünnes Schindeldach, auf das der Regen trommelt, eine enge Holztreppe, eine schiefe Dachkammer, wie diese, in der ich seit acht Sommern schlafe.“
Um den Dichter hier nicht zu sehr zum Asketen zu stilisieren: Er hatte durchaus auch Zugang zu komfortablerem Lebensstil. Einer seiner besten Freunde in Altaussee war der Schriftsteller Leopold von Andrian, dessen Familie eine prachtvolle Villa am Ufer des Altausseer Sees besaß, die später Jakob Wassermann erwarb. Hier trafen sich die Künstler aus Wien, um entspannte Tage zu verbringen.
In einem Brief an Otto Brahm, Direktor des Deutschen Theaters in Berlin, zeichnet Hofmannsthal das Leben in Altaussee nach: „Wir wohnen in verschiedenen kleinen Häusern an der Berglehne über dem dunklen kleinen See, essen und nachtmahlen bald bei dem einen, bald bei dem andern, lesen zusammen englische Gedichte, der ältere Franckenstein komponiert kleine Lieder, die ich in Marienbad gemacht habe, mittags fahren wir im Boot hinaus und baden, bis tief in die sternenhellen Nächte hinein gehen wir spazieren.“
Zwischendurch fand sich auch Zeit für ein Tennisspiel. Davon erzählt Hofmannsthal im zweiten Teil von „Das Dorf im Gebirge“. Von der wechselnden Spielstärke der Spieler berichtet er – vom Starken „mit den Prankenschlägen eines jungen Löwen“; oder vom Schwachen, „zwischen ihm und jedem seiner Schläge kommt das Denken“. Sie werden das Problem vielleicht kennen, sofern Sie Tennis spielen: Es ist immer im Kopf.
Eine Tennispartnerin lernen wir in einem Brief an seine Eltern vom 29. Juli 1896 kennen: „Von morgen an werde ich bei dem jungen Ehepaar Platen-Hallermund Tennis spielen. Die Gräfin ist eine geborene Gräfin Alten.“
Wahrscheinlich war es nicht nur ihr gutes Tennis: Als Hugo von Hofmannsthal vor seiner Hochzeit eine Liste von in seinem Leben wichtigen Frauen aufschrieb, war darunter jedenfalls auch Elisabeth Platen-Hallermund.
© Markus Honsig
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Servus Magazin 4/2014
Fenster mit Ausblick
Ein kulturhistorischer Spaziergang durch Prein an der Rax auf den Spuren von Heimito von Doderer: Hier hat
einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller „ungeheuerliche Mengen Text abgelegt“ und die schönsten Kulissen für seine Romane gefunden.
Einen besseren, schöneren Platz, um den großen Roman zu schreiben, kann man sich nicht vorstellen. Der in den Hang gebaute Riegel-Hof steht auf einer großen Wiese, umgeben von uralten Obstbäumen und Wald. Der atemberaubende Blick auf die Felswände der Rax begrüßt den Besucher, sobald er die letzte Kehre der Zufahrt erreicht. Die reine Idylle.
Das Haus ist ein typischer Bau aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, wie er in den Sommerfrische-Regionen des Landes oft errichtet wurde, mit seinen massiven Grundmauern und den herrlichen Holzveranden. Unter dem breiten Giebel mit dem Glockenturm sind jene Fenster zu sehen, hinter denen Heimito von Doderer wohnte und arbeitete. „Das Haus träumt mit seinem Giebel in die besonnte, vom Geläut der Kuhglocken erfüllte offene Talferne; und in der Erhebung dieses Giebels liegt die ganze Schönheit schirmender, währender Wohnstatt“, notiert er 1932 in sein Tagebuch.
Doderers Schreibstube ist seit seinem Tod 1966 praktisch unberührt geblieben. Am kleinen Tisch liegen die Pfeifen im Aschenbecher bereit und auf der Schreibunterlage ist noch eine jener Karten angeheftet, wie er sie gerne verschickte: „Heimito Doderer erlaubt sich freundlich darauf hinzuweisen, daß er Zuschriften nicht beachtet, welche seinen Namen verstümmeln oder willkürlich verändern: weil solches den bescheidensten Forderungen der Höflichkeit widerspricht.“ Auch der Kleiderkasten ist eingerichtet, als ob der Autor jeden Moment bei der Tür hereinkommen könnte, um sich seine Lederjacke zu holen. Vom Fenster sieht man „die scharf leuchtende Bergwand und das Gemugel der Höhenzüge“, wie er den prächtigen Ausblick in „Die Strudlhofstiege“ beschreibt.
Die Villa, von der Familie Doderer zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet und 1903 bezogen, ist für den 1896 geborenen Dichter ein Leben lang Rückzugsort gewesen, den er immer wieder für Wochen und auch Monate aufsucht. Hier verbringt er seine Kindheit und Jugend mit ihrem „um sich selbst kreisenden Strudel von Langweiligkeit“, hier erlebt er Sommer- und Herbstmonate, „die voll Pein waren und tiefer Erregung, aber auch glücklicher Art“. Hier legt er in den frühen 1930er-Jahren „täglich vormittags ungeheuerliche Mengen Text ab“, wie wir aus seinen Tagebüchern über die Arbeit an „Die Dämonen“ erfahren, im Oktober 1946 berichtet er über „das beginnende Wachstum der Strudlhofstiege“ im Riegel-Hof.
Prein an der Rax ist ein Schlüssel für das Werk Doderers. Nicht nur, weil er hier gut arbeiten konnte. Der Riegel-Hof (in der „Strudlhofstiege“ die „Stangelersche Villa“), der Ort und die Rax dienen ihm immer wieder als Kulissen in seinen Romanen. „Die Beschreibung landschaftlicher Elemente sind zu einem großen Teil von hier gespeist“, weiß Claudia Girardi, Autorin des Buches „Heimito von Doderers Preinblicke“. Beobachtungen, Notizen, zwischengelagert in seinen Tagebüchern, fanden – oft erst Jahre später – Eingang in seine Romane.
Doderer nahm zwar nicht besonders aktiv am Dorfleben Teil. Anlass zu schreiben bot es freilich immer wieder. Etwa in Form eines dem Postamt Prein gewidmeten Gedichts: „Nur die Post kann uns erheben/Nur die Post ins Leben führt!/Willst Du einen Brief aufgeben/Tu es drum recommandiert!/Streng die Vorschrift zu beachten/Sei uns erste Bürgerpflicht./Gott erhalte, Gott beschütze/Unser Postamt klein und schlicht.“
Das Dorfleben spiegelt sich auch in vielen Szenen der „Strudlhofstiege“, wenn er etwa den sonntäglichen Kirchgang beschreibt oder die örtlichen Gasthäuser. „Hier aber roch es aus der weiträumigen sauberen Küche nach gutem Essen, das Bier war so frisch wie die Salzstangeln, der Wein bewies den Wirtsverstand, der Kaffee duftete morgens und abends human durchs Haus.“
Die Rede ist an dieser Stelle vom Gasthaus „Zum Oberen Eggl“, dessen Wirt Otto Leistentritt wohl der letzte Zeitzeuge im Ort ist, der sich an Heimito von Doderer noch erinnern kann. Bis zum Ende seines Lebens ist der Dichter täglich zum Mittagessen gekommen, wenn er in der Prein war, gemeinsam mit seiner Schwester Astri Stummer, die bis zu ihrem Tod 1989 am Riegel-Hof lebte. „Je nach Stimmungslage saß er mit Blick in den Gastraum oder mit Blick beim Fenster hinaus an seinem Stammtisch“, erinnert sich der Hausherr, der nur Gutes über Doderer erzählen kann. „Er war zwar ein sehr introvertierter Mensch, aber als Gast ganz unkompliziert, überhaupt nicht heikel. Meistens wählte er das Menü, dazu trank er, wenn ich mich recht erinnere, einen weißen Spritzer.“
Ein Denkmal setzte Doderer auch der nahen Semmeringbahn in seinem Roman „Die Wasserfälle von Slunj“, die „bislang beste literarische Würdigung der ästhetischen Qualitäten der Semmeringbahn“, wie der 2008 verstorbene Doderer-Experte Wendelin Schmidt-Dengler formulierte.
Der Roman beginnt mit der Zugfahrt eines englischen Paares über den Semmering: „Die Strecke wandte sich und bald immer wieder. Es war, als stiege man über eine gewundene Treppe zum Dach eines Gebäudes empor. Das kurze zischende Vorbeifliegen der Wand in gemauerten Einschnitten gab den Blick wieder frei für ein neues Bild, das jetzt ins Treffen trat und sich in die Aussicht schob, die viele Male schwarz verschluckt und verschlossen wurde von den Tunnels. Clayton hatte die Empfindung, schon sehr hoch zu sein, aber es ging noch höher.“
Die Eisenbahn ist ein beliebtes Motiv in Doderers Werk, vielleicht auch aus biografischen Gründen. Sein Vater war Ingenieur und am Bau der Karawankenbahn beteiligt. Es ist eine von vielen Passagen in Doderers Werk, die zeigen, wie er „das Gesehene
in seinen Texten verarbeitete“, so Claudia Girardi. Doderer war ein genauer Beobachter, ein Chronist des Augenblicks, überspitzt formuliert war er das Gegenteil von Karl May, der das nie Gesehene beschrieb. „Ich bin zutiefst Materialist; ich begann so: mit meinen Studien nach der Natur(viele Hunderte)“, schreibt er 1954 in sein Tagebuch.
Einer dieser frühen Texte, „Schneeschmelze im Hof“, beschreibt den Frühlingsbeginn, auf den Doderer „seit Weihnachten lauert“ wie wir alle. Man muss genau hinhören, empfiehlt Doderer: „Mit den Jahreszeiten geht es Dir etwa so, wie mit dem Anhören bekannter Musik: da weißt Du zum Beispiel, daß nun gleich eine Melodie auftauchen wird, die Dir besonders nahe steht.“ Und weiter: „Nun also, heute am zweiten März, war es offenkundig der nahende Frühling, welcher der Sonne größere Kraft gab, ja dem Winter seinen unerbittlichen Ernst nahm und ihn fast in eine Art Scheinherrschaft verwies.“ Endlich.
© Markus Honsig 2014
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Terra Mater 2/2014
Die Welt des Albert Kahn
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs startet ein französischer Bankier ein einzigartiges Projekt: Er lässt die Welt in Farbe fotografieren, um sie in ihrer kulturellen Vielfalt für immer festzuhalten. Am Ende wird sein „Les Archives de la planète“ mehr als 72.000 Fotos umfassen.
Albert Kahn stirbt am 14. November 1940 in seinem Haus in Boulogne- Billancourt am Rande von Paris. Er ist 80 Jahre alt, wenige Monate zuvor, im Juni, ist Hitlers Wehrmacht in Paris einmarschiert. Der Bankier stirbt an Altersschwäche.
Es muss auch ein gebrochenes Herz gewesen sein, das an diesem Tag zu schlagen aufgehört hat.
Albert Kahn zählte Anfang des Jahrhunderts zu den reichsten Männern Europas. In der Wirtschaftskrise 1929 verlor er sein gesamtes Vermögen genau so schnell, wie er es dreißig Jahre davor gewonnen hatte. 1932 war er endgültig pleite, sein Besitz wurde beschlagnahmt und versteigert.
Der Millionär Kahn, der drei Häuser an der Côte d’Azur besessen hatte, eines an der Nordküste Frankreichs und eines im englischen Cornwall, konnte am Ende seines Lebens gerade noch das Wohnrecht in seinem Haus in Boulogne bewahren.
Der Gastgeber Kahn, der vierzig Jahre lang in seinen Villen die berühmtesten und mächtigsten Menschen der Welt begrüßt hatte, war am Ende seines Lebens auf die finanzielle Unterstützung seiner Freunde angewiesen.
Der Philanthrop Kahn, der eine Unmenge Stiftungen für soziale und gesellschaftliche Zwecke gegründet hatte, musste am Ende seines Lebens eine nach der anderen schließen.
Und der Humanist Kahn, der seit 1909 rund um den Globus Fotografen ausgesandt hatte, um die Welt in Farbe abzubilden, authentisch und unmittelbar, wie man sie noch nicht gesehen hat, musste am Ende seines Lebens noch einmal miterleben, wie eben diese Welt ein zweites Mal in Schutt und Asche gelegt wurde.
Sein Vermächtnis aber, Les Archives de la planète, überdauert – erstaunlich genug – Weltkriege und Wirtschaftskrise unbeschadet: mehr als 72.000 Farbfotografien der frühesten Generation, sogenannte Autochrome, aufgenommen über mehr als 20 Jahre in mehr als 50 Ländern der Welt, ergänzt von mehr als 100 Stunden Filmmaterial.
Ein Archiv einer untergegangenen Welt, das es in dieser Form kein zweites Mal gibt. Und ein Archiv dervergeblichen Hoffnung seines Gründers, dass die Menschen diese Welt vielleicht nicht zerstören, wenn sie die schönsten Bilder von ihr sehen.
Die deutsche Kunsthistorikerin Franziska Scheuer beschäftigte sich im Rahmen ihrer Dissertation intensiv mit dieser Sammlung von Autochromen, sie hat so viele Fotos davon gesehen wie wahrscheinlich wenig andere Menschen, zwanzigtausend schätzt sie, vielleicht mehr. „Es ist ein einmaliger Glücksfall, dass dieses Archiv erhalten ist. Es sind Fotos einer Welt, die es nicht mehr gibt, Fotos in Farbe, die wir sonst nicht hätten.“
Fotos wie jenes von der Alten Brücke in Mostar, das Auguste Léon, einer der Stammfotografen von Albert Kahn, im April 1913 aufnahm: Ein ruhiges Bild, eingetaucht in sanftes Licht, auf der Brücke stehen winkende Menschen, im Hintergrund sieht man eine Moschee. Der friedliche Eindruck täuscht. Der Balkan war Brennpunkt ethnischer, politischer, kultureller Konflikte, die nur wenige Monate später und nur wenige Kilometer entfernt in Sarajevo zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führen werden.
Aber das Foto des legendären Bauwerks aus dem 16. Jahrhundert, das 1993 während des Balkankrieges zerstört wurde, ist eine Art Prototyp für die große Idee des Albert Kahn: Brücken zu bauen zwischen den Kulturen, zwischen den Religionen, zwischen den Völkern.
Der Jude Albert Kahn wird am 3. März 1860 im elsässischen Marmoutier geboren. Im Elsass dieser Jahre aufzuwachsen war für die Identitätsfindung eines jungen Juden nicht gerade einfach. Alberts Mutter starb, als er noch ein Kind war. Und anders als lange Zeit angenommen, sind die Kahns 1871 nach der Übernahme des Elsass durch die Deutschen nicht nach Frankreich gezogen, erzählt Serge Fouchard von den jüngsten Nachforschungen. Fouchard ist wissenschaftlicher Leiter des Kahn-Archivs, das am ehemaligen Anwesen des Bankiers untergebracht ist. „Albert Kahn war Deutscher, als er 1876 nach Paris zog.“ (Als geborener Franzose war sein Deutsch, wie wir von seinen Zeugnissen wissen, aber nicht besser als gerade noch genügend.)
Ab 1885 ist er wieder Franzose, der er immer war und sein wollte. Mit ein Grund, weshalb er seinen Taufnamen Abraham ablegt und sich Albert nennt, als er – mit 16 Jahren allein auf sich gestellt – nach Paris kommt. Auch die Spionageaffäre von 1894 um Alfred Dreyfus, ebenfalls ein aus dem Elsass stammender Jude und Hauptmann im französischen Militär, wird Kahn prägen. „Er wollte wie viele Mitglieder der jüdischen Diaspora die negativ besetzte Rolle des elsässischen Juden ablegen, war sein Leben lang auf der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft“, sagt Franziska Scheuer. „Er rang um Anerkennung als Franzose. Sein gesellschaftliches Engagement war auch ein Garant für seine gesellschaftliche Relevanz.“
Die Anerkennung als Geschäftsmann gelingt ihm jedenfalls sehr schnell. Sein Vater ist Viehhändler, Serge Fouchard meint, dass der junge Kahn schon auf den Viehmärkten seiner Kindheit lernt, wie man gute Deals abschließt. Anfang der 1880er-Jahre beginnt er in der Pariser Bank Goudchaux zu arbeiten, spekuliert mit Diamanten und Gold in Südafrika, macht richtig Geld. Er kauft das Haus in Boulogne, gründet 1898 seine eigene Bank.
Es gehört zu den seltsamen Fußnoten seiner Biografie, dass der Mann, der ein Vermögen investierte, um die Welt zu fotografieren, der 72.000 Farbfotos anfertigen, der alle Besucher seiner Villa – und das waren nicht wenige – porträtieren ließ, extrem kamerascheu war. Fotos von Albert Kahn lassen sich an einer Hand abzählen. Eines davon zeigt ihn am Balkon seines Bankhauses in bester Lage der Pariser Innenstadt, in der Rue Richelieu Nr. 102: lässig am Geländer angelehnt, mit ernstem Blick, schütterem Haar- und kräftigem Bartwuchs. Seine rechte Hand hält sich an zwei Fingern der linken Hand fest – vielleicht ein kleiner Hinweis darauf, dass er sich in der Situation nicht hundertprozentig wohlfühlt.
Reich zu werden allein scheint dem Banker jedenfalls von Beginn an keine ausreichend starke Perspektive zu sein. Noch während seiner Lehrjahre in der Bank Goudchaux beginnt er zu studieren, Literaturwissenschaft, Jus, Naturwissenschaft. An der Universität lernt er auch Henri Bergson kennen, später Nobelpreisträger und Gründungsmitglied der „Commission Internationale de la Coopération Intellectuelle“, einer Vorläuferorganisation der UNESCO. Mit ihm wird Kahn eine lebenslange Freundschaft verbinden.
Die Geschäfte würden gut laufen, schreibt er ihm in einem Brief: „Mein Ideal ist das aber nicht.“ Sein Ideal fokussiert sich immer stärker darauf, die Welt kennen und verstehen zu lernen. Er unternimmt eine erste Weltreise, besucht 1897 zum ersten Mal Japan. Er habe, sagt er in einem Interview, eine große Affinität zur Sensibilität, zur Ruhe und Sanftheit der japanischen Lebensweise. Nach seiner Rückkehr lässt er auf seinem Grundstück einen japanischen Garten anlegen, den er nach und nach zu einer beeindruckenden Parkanlage ausbaut, die Gartenlandschaften aus aller Welt vereint.
Eine Welt im Kleinen, von der Kahn auch im Großen träumt: friedlich, human, weltoffen.
Albert Kahn wird in einer Zeit reich, als die Welt ihre erste große Globalisierungswelle erlebt. Und er gehört zweifellos zu ihren wirtschaftlichen Profiteuren. Aber er bemerkt auf seinen Reisen auch, wie schnell sich diese Welt zu verändern beginnt, wie viele Kulturen durch Industrialisierung und Zivilisation für immer verschwinden könnten.
1898 gründet er seine erste Stiftung, „Les Bourses de voyage Autour de Monde“, die jungen Wissenschaftern Stipendien zur Verfügung stellt, um für ein Jahr die Welt zu bereisen. Knapp zehn Jahre später lernt Kahn eine Technologie kennen, die das Bild von der Welt für immer verändern wird. 1907 präsentieren die Brüder August und Louis Lumière ein neues Verfahren für die Farbfotografie: die Autochromplatte, eine mit unterschiedlich eingefärbten Kartoffelstärkekörnern beschichtete Glasplatte, die es ermöglicht, mit einer einzigen Aufnahme ein Farbfoto zu machen. Ein gewaltiger Fortschritt gegenüber der von Adolf Miethe wenige Jahre zuvor entwickelten Dreifarbenfotografie, die für ein Bild drei Aufnahmen benötigte. Die Lumière- Brüder gehörten zu den innovativsten Köpfen ihrer Branche, schon 1895 führten sie die erste Filmkamera in Europa ein, den „Cinematographen“.
Albert Kahn wird in den nächsten Jahren einer ihrer besten Kunden, Autochrome waren kostspielig: Er lässt seinen Chauffeur Alfred Dutertre in den Gebrauch der Foto- und Filmtechnik einweisen und nimmt ihn 1908 auf eine weitere Weltreise mit, die sie unter anderem in die USA und nach Japan führen wird. Auf dieser Reise entstehen erste Farbfotos und Filmmeter.
Ab 1909 ist ein erster professioneller Fotograf für und mit Kahn unterwegs: Auguste Léon. Wahrscheinlich ist es auch Léon, der am 23. April 1913 die Judengasse im ersten Wiener Gemeindebezirk fotografiert. Das Bild zeigt jüdisches Leben, wie es die österreichische Hauptstadt so lange geprägt hat, und trifft die Absicht des Auftraggebers punktgenau: vom Untergang bedrohte Lebenskultur für immer festzuhalten.
Am 20. Januar 1914 fotografiert Auguste Léon zwei Nubier-Mädchen vor ihren Hütten in Assuan, Ägypten. Die jungen Frauen tragen die typischen Wickeltücher, was weniger selbstverständlich ist, als es an dieser Stelle klingen mag. „Die Reisefotografen dieser Zeit zeigten afrikanische Mädchen dieses Alters gerne nackt, um die voyeuristischen Bedürfnisse der Käufer daheim zu bedienen“, weiß der Kunsthistoriker Rolf Sachsse, Professor für Designgeschichte an der Kunsthochschule in Saarbrücken und Kurator der aktuellen Kahn-Ausstellung im Landesmuseum von Bonn.
Die afrikanischen Mädchen sind programmatisch für das Archiv: Zu sehen ist der Respekt des Fotografen vor den Porträtierten. Und das zentrale Motiv nicht nur dieses Fotos, sondern der gesamten Sammlung sind die Menschen in ihrer Umgebung.
1912 beginnt Albert Kahn sein Projekt professionell zu organisieren. Er engagiert den Humangeografen Jean Brunhes als Leiter, finanziert ihm gleichzeitig einen Lehrstuhl am Collège de France der Pariser Universität. Brunhes ist an der Beziehung von Mensch und Natur interessiert, als Humangeograf ist er überzeugt, dass der Mensch nicht durch seine Rasse, seine Herkunft, seine Umgebung bestimmt ist. Ein zu dieser Zeit politisch durchaus brisantes Weltbild: Der Mensch gestaltet die Natur, die Welt, in der er lebt. Nicht umgekehrt. „Das war die Idee der Archives de la planète“, erklärt Rolf Sachsse. „Nennen wir es Ideologie.“
Entsprechend formuliert Brunhes auch die Vorgaben für die Fotografen: Dass sie vom Großen ins Kleine arbeiten sollen, von der Stadtansicht über die Straßenzüge bis in die Innenhöfe der Häuser. Dass sie die Nutzung des Landes abbilden sollen, die Häuser und Wege, die Felder und Gärten, die Schäden an der Natur durch die Bewirtschaftung. Es ging um die Dokumentation von Lebenskultur, um „recording“, wie Sachsse sagt.
Brunhes konzentriert sich auf aktuelle Krisengebiete, auf gefährdete Kulturen, bedrohte Minderheiten. Manche Regionen wie Süd- und Nordamerika sind in der Sammlung deshalb vergleichsweise unterrepräsentiert. Eine der ersten großen und durchgeplanten Fotokampagnen führt Auguste Léon 1912 auf den Balkan. Bis 1932 wird zwei Jahrzehnte lang ein Dutzend Fotografen mehr als einhundert Mal in fast alle Erdteile dieser Welt aufbrechen, um sie in Farbe abzubilden. Manche Reisen dauern nur einige Wochen, manche mehrere Monate. Mehr als die Hälfte der Autochrome zeigen Europa, mehr als 13.000 Fotos den Mittleren Osten, über 7.000 den Fernen Osten, gut 3.500 Afrika. Zu den regelmäßigen „operateurs“ gehören – neben Auguste Léon – Stéphane Passet, Frédéric Gadmer, Georges Chevalier oder Léon Busy. Dazu kommen Amateurfotografen wie Marguerite Mespoulet, Literaturstudentin in Irland, die einzige Frau, die für Kahn arbeitete.
So unterschiedlich die Persönlichkeiten der Fotografen sind, so unterschiedlich die einzelnen Fotografen Brunhes Vorgaben interpretieren, so unterschiedlich sind der Charakter und die Qualität der einzelnen Fotos. Es gibt die üblichen Motive der Reisefotografie wie Cheopspyramide und Taj Mahal. Es gibt Bilder wie jenes der schlafenden Wächterinnen im westafrikanischen Königreich Dahomey, dem heutigen Benin, die einen sehr nahen, fast intimen Blick auf eine fremde Kultur erlauben. Es gibt Bilder, die schlicht eine Sensation sind, weil sie mit Sicherheit die ersten ihrer Art sind, etwa das Gebet der Muslime vor der Freitagsmoschee in Delhi. „Eine echte Entdeckung ist Stéphane Passet, der sehr sauber, präzise auskomponiert Fotos machte. Bilder wie das eines mongolischen Dalai Lama in der dämmerigen Landschaft markieren den höchsten Stand der Kunstfotografie dieser Jahre“, meint Rolf Sachsse. Passet fotografierte unter anderem in Griechenland und in der Türkei, in China und der Mongolei, in Indien.
Was aber Les Archives de la planète von ähnlichen Sammlungen dieser Zeit jedenfalls unterscheidet, „ist der ungeheure intellektuelle Aufwand, mit dem diese Bilder vorbereitet wurden“, so Sachsse, „ist die wissenschaftliche Systematik, mit der das gesamte Projekt aufgestellt war“.
Lücken gibt es trotzdem: „Wir haben fast keine Innenaufnahmen“, weiß Serge Fouchard. „Das Bild des schwedischen Hochzeitspaares im Fotostudio ist eine der wenigen Ausnahmen.“
Im Januar 1913 porträtiert Stéphane Passet in Marokko einen senegalesischen Scharfschützen, der im Dienste der französischen Kolonialmacht Dienst versieht. Aufrecht und stolz steht er in der Mitte des Fotos, platziert am unteren Rand. Seine würdige Haltung mag auch der langen Belichtungszeit geschuldet sein, die die Autochrome trotz ausreichenden Sonnenlichts verlangen. Ein klassisches Zeitdokument, Frankreich ist die zweitgrößte Kolonialmacht der Welt.
Kahn war wohl klar, dass sich diese Weltordnung nicht aufrechterhalten ließ, auch wenn er ihr seinen Wohlstand verdankte. „Und Brunhes war ein deklarierter Vertreter für die stärkere Selbstbestimmung der Kolonialländer“, ergänzt Scheuer. Dennoch darf man sich keinen kritischen Blick auf die herrschenden Machtverhältnisse erwarten – erst recht nicht, wenn ein Kolonialoffizier wie Leutnant Léon Busy hinter der Kamera steht, der für Kahn vor allem in Kambodscha und Vietnam arbeitet. Die Fotos des Archivs zeigen eine im Wesentlichen friedliche Welt, eine bunte Welt ohne ihre Schattenseiten – ganz im Sinne seines Gründers.
Das gilt gewissermaßen auch für die Aufnahmen, die während des Ersten Weltkrieges in Frankreich entstehen. Das Elend des Krieges bilden sie nicht ab, oder bestenfalls nur andeutungsweise. Es sind – zumindest in der Mehrzahl – Propagandafotos, „die üblichen Etappenfotos aus dem Hinterland“, wie Sachsse sagt.
Albert Kahn ist Franzose. Und er ist im Zweifel mehr Patriot als Pazifist. 17 Millionen Tote im Ersten Weltkrieg schärfen aber seinen Blick noch einmal: Die Welt ist nicht nur durch Globalisierung und Industrialisierung bedroht, es steht wesentlich mehr auf dem Spiel. Kahn weiß sehr gut, wie filigran die Friedensordnung von 1919 ist. Schon 1906 gründet er „La Société Autour du Monde“, eine exklusive Runde, in der die Berichte seiner Reisestipendiaten diskutiert werden. Später richtet er in seinem Haus einen voll ausgestatteten Kinosaal ein, führt seinen Gästen multimediale Inszenierungen ausgewählter Fotos und Filme vor.
Albert Kahn war in der Gesellschaft bestens vernetzt: Die Besucherlisten lesen sich wie das Who’s who seiner Zeit, prominente Politiker, Philosophen, Künstler und Wissenschaftler gingen in Boulogne ein und aus. Marie Curie, Albert Einstein, André Michelin, Austen Chamberlain, Auguste Rodin, Le Corbusier, Isadora Duncan, Thomas Mann, Ferdinand von Zeppelin, die Brüder Wright, um nur ein paar Namen zu nennen, dazu noch Staatsoberhäupter und Mitglieder diverser Königshäuser aus aller Welt. Bis 1933 begrüßte Albert Kahn 4.000 Gäste in seinem Haus, zeigte ihnen 15.000 Fotos, eine Welt in Farbe, die sie zuvor noch nicht gesehen haben.
Es mag naiv gewesen sein: Aber er glaubte daran, die Welt verändern, das Verständnis zwischen den Kulturen und Völkern verbessern zu können. Er glaubte daran, dass sich die Menschen nicht die Köpfe einschlagen würden, wenn sie mehr voneinander wissen. Er glaubte daran, dass eine friedliche Welt möglich sei. Ein kapitaler Irrtum, wie sich am Ende seines Lebens herausstellen sollte.
Albert Kahn kämpfte um seine Vision bis zum Schluss. „Bis zuletzt verkaufte er alles, um Les Archives de la planète weiter finanzieren zu können“, sagt Franziska Scheuer. „Am Ende wurden die Fotos nicht mehr entwickelt, um Geld zu sparen.“ Das letzte Autochrom trägt die Registrierungsnummer A66444, es ist ein Porträt von Monsieur Rothschild, fotografiert von Georges Chevalier am 2. November 1935.
1936 wurde der Besitz in Boulogne samt Fotoarchiv dem Départment de Seine zugesprochen, also der öffentlichen Hand. Kahns Fotograf Georges Chevalier arbeitete noch bis 1949 im Archiv, entwickelte tausende Bilder. Die Sammlung blieb lange Zeit unbeachtet. Rolf Sachsse gehörte zu den ersten Historikern, die das Erbe Kahns Ende der 1970er- Jahre wiederentdeckten: „Es war ein verwunschener Garten, ein verwunschenes Haus, der letzte Hausmeister Albert Kahns führte mich durch das Archiv“, erinnert er sich. Seit 1986 ist die Sammlung ein Museum, 1990 wurde eine Ausstellungshalle gebaut und der Park wiederhergestellt. 2015 soll ein Neubau errichtet werden, denn bis heute gibt es bedauerlicherweise keine Dauerpräsentation der Fotos.
Von der ursprünglichen Einrichtung sind nur noch die alten Schrankkästen mit tausenden Holzkisten erhalten, in denen früher die Autochrome aufbewahrt wurden. Ein Raum wie eine Zeitmaschine, die einen ansatzlos in die Jahre des Albert Kahn zurückversetzt, sobald man ihn betritt. (Für die Öffentlichkeit leider nicht zugänglich, wird der Raum heute als Büro genutzt.)
Der Mensch Albert Kahn ist nicht leicht zu fassen, weil man nur wenig weiß, nur einzelne Mosaiksteine kennt, die sich nicht immer fugenlos zusammenlegen lassen.
Er war reich, steinreich, pflegte aber privat einen eher bescheidenen Lebensstil. „Sein Luxus“, erzählt Serge Fouchard, „waren der Park und die Musik.“ Kahn nahm Klavierunterricht, besuchte regelmäßig die Festspiele in Bayreuth.
Er war Philanthrop, organisierte Hilfe für Kriegsopfer, initiierte elitäre Diskussionszirkel zu aktuellen politischen und sozialen Problemen, gab politische Bulletins heraus, finanzierte Einrichtungen für medizinische und biologische Forschung, ein Zentrum für Präventivmedizin.
Er ist reich, und er ist einflussreich. Aber er bleibt Zeit seines Lebens ein zurückhaltender, menschenscheuer Mann, der sich selbst in eigenen Projekten auffallend zurücknimmt. „Er ist auch eine paradoxe, widersprüchliche Persönlichkeit“, sagt Franziska Scheuer. „Das muss man aber nicht auflösen. Ich habe jedenfalls keine Lösung.“
Er lebt fast zölibatär, heiratet nicht, hat keine Kinder. Es gab eine Cousine, Laure Lévy, die sich für einen anderen Mann entschied. Und es gab Marie Angéline Renault, mit der er eine eher diskrete Beziehung führte.
„Ich bin viel gereist, ich habe viel gelesen und habe die bedeutendsten Menschen meiner Epoche gekannt“, sagt Kahn in einem Interview zwei Jahre vor seinem Tod. „Was ich gesucht habe, war herauszufinden, wie das Leben verläuft und nach welchen Prinzipien es funktioniert. Je mehr ich im Leben voranschritt, desto mehr wurde mir bewusst, wie kühn und äußerst schwierig diese Aufgabe ist. Der Versuch, dieses Ziel zu erreichen, ist die vornehmste Pflicht des Menschen.“
© Markus Honsig 2014
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Audi Magazin 1/2014
Das stille Tal
Fast wie Toskana, vielleicht etwas rauer und eigenwilliger: Eine neue Generation von Winzern und Gastronomen macht das Kamptal zu einer ausgewählten Adresse für den anspruchsvollen Wochenendausflug abseits touristischer Hauptrouten.
„Ruhig ist es hier“, sagt Hermann Hager, fragt man ihn nach den besonderen Schönheiten des Kamptals. Und man mag ihm nicht widersprechen, wenn man auf der Terrasse der Weinbeisserei in Mollands sitzt, mitten in der Riede Bernthal mit herrlichem Blick auf den Zöbinger Heiligenstein und den Manhartsberg, die Grenze zum Weinviertel. „Man muss es eben finden“, fügt er noch hinzu.
So schwer ist die Weinbeissererei dann nicht zu finden, wir mussten nur einmal nachfragen, um auf einer der schönsten Terrassen des unteren Kamptals zu sitzen. Weil man hier nicht nur gut sitzt und weit sieht, sondern weil man hier auch ausgesucht gut essen und trinken kann: Hermann Hager kocht, sein Bruder Matthias liefert den passenden Wein dazu.
Die Weinbeisserei ist ein streng biologisch und mit feiner Hand geführter Familienbetrieb. Hinter dem Haus haben die hauseigenen Turopolje- Schweine ihr großzügiges Gehege, glücklichere, entspanntere Tiere kann man sich kaum vorstellen. „Sie wachsen langsam“, erklärt Hager, „das ist zwar wirtschaftlich eher schlecht, aber gut für den Geschmack.“ Nebenan ist der Kräuter- und Gemüsegarten angelegt, weil „die Mutter ist ein bissl eine Kräuterhexe.“
Auf der Speisekarte fügt sich schließlich alles zu einer einfachen, aber anspruchsvollen Karte zusammen, die den Jahreszeiten folgt. Der perfekte Einstieg für einen Ausflug in das Kamptal.
Auch weil Hermann Hager auf seine Weise ein typischer Kamptaler ist. War als gelernter Koch viel in der Welt unterwegs, ist aber schließlich wieder zurückgekommen, um für immer zu bleiben – und mit einem gewissen Eigensinn seine Vorstellungen von guter, gesunder Küche umzusetzen.
Es ist nicht einfach, durch das Kamptal zu reisen, ohne ständig mit Essen oder Trinken konfrontiert zu sein. Soll nichts Schlimmeres passieren. Auch wenn man das spannendste Museum der Region besucht, das Ausstellungshaus von Daniel Spoerri in Hadersdorf, kommt man am Thema Kulinarik naturgemäß nicht vorbei. Weil Spoerri mit seiner „Eat Art“ und seinen „Fallenbildern“ weltberühmt geworden ist, und weil er außerdem als Kochbuchsammler und begeisterter Koch – wie schon in Düsseldorf und in der Toskana – zwei Häuser weiter ein Restaurant eröffnet hat, das von Benjamin Schwaighofer geführte „Esslokal“. Bis zum Frühjahr soll das Lokal zwar konzeptionell neu aufgestellt werden, jedenfalls erhalten bleibt aber der Marktstand jeden Samstag im Innenhof. Quasi ein Geheimtipp, um frischeste Fische, beste Käse und andere Spezialitäten aus der Region zu erwerben.
Und jedenfalls eröffnet am 30. März die neue Ausstellung mit Werken der befreundeten Familie Wiegand. Titel: „Mit dabei – Wiegand und Daniel Spoerri.“ Im Anschluss wird Spoerri sein jüngstes Werk ausstellen, das Anfang des Jahres erstmals in Mailand präsentierte „Bistro der Hl. Martha“, das auf 21 Quadratmetern Küchenwerkzeuge aller Art zeigt.
Dass es den in Rumänien geborenen und heute in Wien lebenden Künstler mit seinen Bildern und Skulpturen nach Hadersdorf am Kamp verschlagen hat, war Zufall. Eigentlich sucht er nur einen Lagerraum. „Der Geruch der nahen Donau hat mich an meine Kindheit erinnert“, erzählt über seinen ersten Besuche in Hadersdorf. Und die beiden Häuser – ein altes Kloster und ein ehemaliges Stummfilm-Kino – haben ihn von Anfang an überzeugt, der historische Dorfplatz ist ohnehin ein kleines Juwel. Nur eine der verborgenen Schönheiten des Kamptals. Was er am Kamptal besonders schätzt? „Die Ursprünglichkeit der Menschen, den bewussten Umgang mit Essen, den Wein der Region.“
Wein ist ein gutes Stichwort, um bei Alwin Jurtschitsch in Langenlois anzuklopfen, auch ein Heimkehrer. Der 32 Jahre junge Mann hat vor wenigen Jahren das prächtige Weingut mit großem Namen übernommen, nachdem er sich Jahre lang vor dieser absehbaren Aufgabe gedrückt hatte und durch die Welt reiste. „Aber irgendwann weiß man, wo man hingehört“, sagt er heute. „Und irgendwann war es auch dem Vater genug.“
Seither hat er gemeinsam mit seiner Frau Stefanie den Betrieb in fast allen Bereichen komplett umgekrempelt, auf biologischen Weinbau umgestellt und auch in der Kellerarbeit einiges geändert. Die Lagenweine – Rieslinge und Grüne Veltliner – werden spontan vergoren, ihr Ausbau erfolgt in großen alten Holzfässern. Der junge Jurtschitsch will den Alkohol reduzieren, „klare, mineralische, würzige Weine“ machen. Was es dafür braucht? „Präzision im Timing, Perfektion in der Technik. Mehr Zeit im Weinberg, Zurückhaltung im Keller.“ Und das gelingt ihm ganz hervorragend: Rieslinge wie der „Zöbinger Heilgenstein“, Grüne Veltliner wie der „Loiserberg“ sind Weine, die Handschrift und Terroir mitbringen – sofern man das überhaupt sinnvoll unterscheiden kann.
Um diese Fragen – was ist Terroir, was ist Handschrift? – zu beantworten, hat Jurtschitsch mit Winzerkollegen aus Deutschland ein einmaliges Projekt gestartet: Mit einer ausgeklügelten Logistik – nach der Ernte drängt die Zeit – tauschen die Winzer ihr Traubenmaterial aus, um es anschließend jeweils in allen drei Betrieben zu verarbeiten. Ein spannendes Experiment, das als „Wurzelwerk- Box“ mit 3x3 Flaschen Riesling auch käuflich erwerbbar ist. Die hohe Schule des Weinbaus, für den interessierten Laien ebenso lehr- wie genussreich. Die Kamptaler sind offensichtlich experimentierfreudige Menschen.
Die Winzerin Barbara Öhlzelt etwa begann vor etlichen Jahren gemeinsam mit ihrem Mann Karl Schwillinski, Wirt des gleichnamigen Restaurants in Langenlois, eine alte Tradition wieder auszugraben und Verjus zu produzieren. „Verjus“ kommt aus dem Französischen, bedeutet „Grüner Saft“ und wird aus unreif geernteten Trauben gewonnen. „Verjus ist ein sehr saurer Traubensaft und ein altes Würzmittel aus dem Mittelalter, als es bei uns noch keine Zitrusfrüchte gab“, erklärt die Winzerin.
In der Herstellung ziemlich aufwändig, weil die Trauben kühl, schonend und schnell verarbeitet werden müssen, um den Gärprozess nicht in Gang kommen zu lassen, ist Verjus vielfältig einsetzbar: als Essigersatz, zum Verfeinern in der Küche, oder auch, aufgespritzt mit Sekt, als Aperitif. „Fruchtig im Geschmack, wenig Säure“, beschreibt Barbara Öhlzelt den Charakter, „deshalb ist er gut verträglich und stört als Zutat in den Speisen – anders als Essig - die Weinbegleitung nicht.“ Inzwischen produziert Öhlzelt rund 8000 Flaschen Verjus im Jahr, in drei Varianten – vom Grünen Veltliner, vom Zweigelt und einen reinen Bio-Verjus – und beliefert so gut wie alle Häuser der Top-Gastronomie in Österreich.
Das Tolle am Verjus sei, sagt Karl Schwillinski aus Sicht des Haubenkochs: „Weil er so mild ist, kann man fast nichts falsch machen.“ Seit sieben Jahren kocht er im schönen, uralten Langenloiser Wirtshaus, traditionellregional im besten Sinne des Wortes. Einzige Ausnahme: als Referenz an seine französische Schule stehen auch Austern auf der Karte.
Schwillinski ist ein Pedant, in der Vorbereitung, in der Zubereitung, „Küche lebt von der Exaktheit, das beginnt beim Schneiden des Gemüses und endet bei den Garpunkten.“ Wer Schwillinskis Klassiker „Himmel und Erde“ einmal gekostet hat, wird Blutwurst in keiner anderen Form mehr essen wollen: Die Blunz’n hausgemacht, dazu Apfel und Püree, schön komponiert mit fein abgestimmten süß-sauren Kontrasten, perfekt zubereitet, Kamptaler Küche in Bestform.
Den Hang zur Perfektion und einen gewissen Eigensinn kann man auch Stefan Grossauer nicht absprechen, der in Schönberg am Hof seines Großvaters gemeinsam mit seinem Bruder Bernhard Pesto herstellt. Pesto in ungewöhnlichsten Variationen: Apfel Lauch Pesto, „passt zu Fisch oder Schinken“, Koriander Pesto, „ideal zu Fisch, Frischkäse und natürlich für die asiatische Küche“, Salami Peperoncini-Pesto „für die Pasta“ oder Knoblauch Pesto, „hergestellt aus Weingartenknoblauch der umliegenden Weingärten, geht auch gut zu Schweinsbraten.“
Insgesamt hat Grossauer – abhängig von der Jahreszeit – inzwischen mehr als zwanzig Pestos im Sortiment. Erkennbar sind sie an der vergleichsweise grobkörnigen Struktur, „das trägt den Geschmack“, an der Qualität und Frische der Zutaten. „Vom ganzen Paprika bis in das Glas braucht es nicht länger als einen Tag.“ Die Zutaten kommen nicht in den großen Mixer, sondern werden einzeln verarbeitet und sorgsam miteinander vermischt. Ein Erfolgsrezept: Nach durchaus schwierigen ersten Jahren, läuft der kleine Betrieb, Grossauer beliefert ausgewählte Feinkostgeschäfte in Österreich, Deutschland, in der Schweiz.
„Es gibt viele Leute hier, die etwas bewegen“, erzählt er über die Stimmung im Kamptal, „das hat aber nie etwas Aufgesetztes, nichts Touristisches.“ Außerdem schätze er die Nähe zu Wien, sagt der Jungunternehmer. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Aus Sicht des Wieners ist die Nähe zum Kamptal ein echter Glücksfall.
© Markus Honsig
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Terra Mater 1/2014
Expedition Flachland
Kohlenstoff in seiner besten, schönsten und reinsten Form: Zweidimensionales Graphen ist ein Material wie von einem anderen Stern und könnte unser tägliches Leben für immer verändern.
Thomas Müller ist unzufrieden mit seinem Büro am Photonik-Institut der Technischen Universität in Wien – ein schmuckloser Raum, wie man ihn in wissenschaftlichen Institutionen oft findet. Der Physiker hadert aber nicht mit der Einrichtung seines Büros, sondern mit der technischen Ausstattung: mit dem Laptop, der am Schreibtisch im Weg ist, dem großen Bildschirm, der die Hälfte des Arbeitsplatzes in Anspruch nimmt, und dem Handy, das irgendwo herumliegt: „Diese Geräte, die wir täglich verwenden, sind alle klobig, unpraktisch, unhandlich, limitiert. Sie sind nicht wirklich integriert in unser Leben. Und wenn etwas hinunterfällt“, nimmt er sein Smartphone in die Hand, „zerbricht das Display und ist hin.“
Müllers Bestandsaufnahme wird nicht freundlicher, wenn er beim Fenster hinaus auf die gegenüberliegenden Fassaden sieht. Ungenutzte Sonnenenergie, wohin man blickt, weil Solarzellen gegenwärtiger Bauart prototypisch sind für klobige, unhandliche, ins Leben – diesfalls in die Architektur – nicht integrierte Technologie.
Das soll sich ändern – und wird sich ändern, wenn ein Material nur einen Teil davon hält, was es seit knapp zehn Jahren verspricht: Graphen, die zweidimensionale, also gerade einmal eine Atomlage dicke Form von Graphit, die 2004 von Andre Geim und Konstantin Novoselov an der Universität Manchester entdeckt und 2010 mit dem Nobelpreis für Physik entsprechend gewürdigt wurde.
Seither herrscht Goldgräberstimmung in den einschlägigen Labors. Wer Superlative mag, ist hier richtig: Graphen ist das dünnste und leichteste Material, das wir kennen. Es ist härter als Diamant, stabiler als Stahl. Es ist trotzdem flexibel und transparent. Es leitet Strom schneller und Wärme besser als jedes andere Material. Und als kostenlose Zugabe für die Quantenphysiker unter uns lassen sich mit Graphen relativistische Phänomene unter Laborbedingungen studieren, die bisher nur in sündhaft teuren Teilchenbeschleunigern oder in den Schwarzen Löchern des Weltalls nachweisbar waren. Graphen könnte die Welt verändern, wie es zuletzt vielleicht die Entwicklung von Kunststoff getan hat.
Graphen ist der Stoff, aus dem die Träume der Mikroelektronik sind: zusammenrollbare Bildschirme, flexible Handys, aufklebbare Solarfolien, effiziente Energiespeicher, ultraschnelle Transistoren, hochempfindliche Sensoren. „Graphen ist mehr als nur ein neues Material mit anderen Eigenschaften“, sagt Thomas Müller, der an einigen dieser Anwendungen arbeitet, etwa an Solarzellen und Photodetektoren. „Der Umstieg von dreidimensionalen auf zweidimensionale Materialien ist eine echte Zäsur.“
Eine neue Welt wird erobert: Flachland.
Entsprechend groß ist das Gerangel um die vordersten Plätze, wenn es um erste Anwendungen von Graphen geht. Es gibt kaum Bereiche, zu denen in den vergangenen Jahren mehr Patente angemeldet wurden. Die britische Unternehmensberatung „Cambridge Intellectual Property“ zählte bis Mai 2013 mehr als 9.000 angemeldete Patente, die meisten davon aus Fernost. Das Rennen ist eröffnet, und die Europäische Union hat es erst kürzlich mächtig befeuert: Sie will die Graphenforschung in den kommenden zehn Jahren mit einer Milliarde Euro unterstützen. „Ich bin schon lange in der Wissenschaft und habe mit vielen Materialien gearbeitet“, sagt Thomas Müller, „aber noch nie war so viel Druck und so viel Geld dahinter wie bei Graphen. Sobald sich irgendwo Möglichkeiten eröffnen, werden sie genutzt werden.“
Zurück zu den Anfängen: Graphen – als einzelne Schicht von Graphit – war schon Jahrzehnte vor seiner Entdeckung durch Geim und Novoselov bekannt. Man wusste auch um einige seiner außergewöhnlichen Eigenschaften. Allerdings nur auf dem Papier. Die Wissenschafter waren sich einig, dass diese Struktur von regelmäßig wie Honigwaben angeordneten, sechseckigen Kohlenstoffmolekülen nicht existieren könne. Es galt als Naturgesetz, dass einatomare Lagen niemals ausreichend stabil sein könnten. Sie würden sich immer zusammenrollen, zusammenkugeln oder verklumpen, um einen energetisch günstigeren Zustand zu erreichen.
Glaubte man – bis Geim und Novoselov mit Graphitflocken und Klebeband zu experimentieren begannen und auf diese Weise genau solche Schichten erzeugen konnten. Graphen war in der realen Welt der Physik angekommen, wurde vom Klebeband auf entsprechende Trägermaterialien übertragen und unter das Mikroskop gelegt.
Und weil diese Proben bestenfalls einen Zehntelmillimeter groß sind, braucht man für die Untersuchung Geräte wie das erst seit wenigen Wochen aufgebaute Rasterelektronenmikroskop der Forschungsgruppe für Nanostrukturierte Materialien an der Universität Wien. Mit einer Auflösung von unter einem zehnmillionstel Millimeter lässt sich jedenfalls ziemlich genau hinsehen. Der Leiter der Forschungsgruppe, Jannik Meyer, ist also der ideale Ansprechpartner, um die Eigenschaften des Wundermaterials abzufragen.
Graphen ist das dünnste Material der Welt, eine Atomlage oder 0,33 Nanometer dünn, eine Zahl mit sechs Nullen hinter dem Komma, würde man sie in Millimeter umrechnen. Dünner geht nicht. Obwohl: „Es kommt darauf an, wie man Dicke definiert“, meint Meyer. „Wenn es porös wäre, hätte es eine noch geringere Dichte, ein noch geringeres Gewicht.“ Wobei Graphen von vornherein nicht besonders schwer ist: Ein Quadratmeter würde gerade einmal 0,77 Milligramm wiegen.
Dass das Material – gegen die Theorie – stabil ist, wird gerne mit seiner welligen Form erklärt. „Damit steht es nicht mehr im Widerspruch zur allgemeinen Lehrmeinung“, präzisiert Meyer. „Es ist metastabil. Das heißt: Es möchte zwar gern in einen energetisch günstigeren Zustand – also in ein tiefer gelegenes ‚Tal‘. Aber für den ‚Berg‘, den es dafür überwinden müsste, fehlt ausreichend Energie. Zumindest bei normalen Temperaturen.“
Graphen ist außerdem das stärkste Material der Welt, härter als Diamant und gut einhundertmal zugfester als Stahl. Um sich das besser vorstellen zu können: Eine einen Quadratmeter große und nicht einmal ein Milligramm leichte Hängematte aus Graphen würde selbst dann nicht reißen, wenn eine vier Kilogramm schwere Katze hineinspränge. Oder umgekehrt: Wissenschaftern des auf Photonik spezialisierten Forschungsinstituts ICFO in Barcelona ist es gelungen, mit solchen „Hängematten“ aus Graphen – mit einer Länge von einem Tausendstelmillimeter – einzelne Bestandteile eines Atoms abzuwiegen, zum Beispiel ein Proton mit einem Gewicht von ungefähr einem Trilliardstelgramm (also mit zwanzig Nullen hinter dem Komma). Wobei die Herausforderung darin bestand, die einzelnen Protonen auf die Waage zu bringen. Was sich daraus machen lässt? Sensoren zum Beispiel, die einzelne Moleküle detektieren können. Oder Magnetresonanztomografen, die schärfere Bilder etwa für die Krebsdiagnostik liefern.
Das Geheimnis des Materials liegt in der Struktur: „Es gibt keine Elemente, die wir kennen, die ähnlich starke Bindungen eingehen wie Kohlenstoffatome“, so Jannik Meyer. Und die Natur richtete es praktischerweise auch so ein, dass diese Bindungen außerdem dehnbar sind, um rund zwanzig Prozent der Originalgröße. Weil es so dünn ist, ist es transparent und verschluckt kaum mehr als zwei Prozent des Lichts, und zwar völlig unabhängig von der Wellenlänge – eine weitere ungewöhnliche Eigenschaft der Zauberfolie.
Dünn, stark, transparent, flexibel. „Was Graphen aber erst zu einem ganz besonderen Material macht: Es ist elektrisch leitfähig“, erklärt Experte Meyer. Und zwar weit besser als etwa Silizium. Wie es auch Wärme besser leitet als Kupfer. Das hat mit der perfekt symmetrischen Komposition aus sechseckigen Kohlenstoffatomen zu tun. Die Elektronen werden nicht gestreut, sie bewegen sich wie masselose Lichtteilchen durch das Material – konstant mit einer Geschwindigkeit von 1.000 Kilometer pro Sekunde, 0,3 Prozent der Lichtgeschwindigkeit.
Graphen ist die sprichwörtliche eierlegende Wollmilchsau. Allerdings bereitet sie in der Aufzucht und teilweise auch in der Haltung noch Probleme. Eine der größten Herausforderungen ist immer noch die Herstellung. Auch knapp zehn Jahre nach der Entdeckung ist die simple Klebebandmethode die bevorzugte Vorgangsweise, um möglichst große reine, fehlerlose Flächen des Wundermaterials zu gewinnen. Eine Methode freilich, die sich auch mit viel Fantasie nicht in einen sinnvollen Fertigungsprozess umsetzen lässt.
Inzwischen gibt es auch andere Wege, um ans Ziel zu kommen, wenngleich es teilweise Umwege sind. Zum Beispeil Graphen auf Siliziumkarbid mittels Erhitzung wachsen zu lassen: In diesem Fall bleibt Graphen allerdings an Oberfläche des Trägermediums gebunden und verliert daher seine Flexibilität. Für die Halbleiterindustrie muss das freilich kein Nachteil sein. Auch auf chemischem Weg lassen sich Lösungen mit Graphenanteilen herstellen, deren Qualität allerdings bei weitem nicht an das reine Graphen heranreicht. Zu den aussichtsreichsten Ansätzen für eine Graphen-Serienproduktion gehört die Gasphasenabscheidung. Dabei wird, vereinfacht gesagt, eine Lage Kohlenstoff auf eine Kupferfolie aufgedampft, mit einer Kunststofflage überzogen und das Kupfer anschließend weggeätzt. Auch in diesem Fall gilt: Es entstehen – abhängig von der Reinheit des Kupfers – Löcher im Maschendrahtzaun, das Graphen verliert an Qualität. Und das Kupfer, das für den Prozess geopfert wird, macht die Sache nicht kostengünstiger. Aber es wirkt, und das auch im größeren Stil. Forscher der Universität Sungkyunkwan in Seoul, Südkorea, haben mit dieser Technologie ein aus der Druckerbranche bekanntes Roll-toroll- Verfahren vorgestellt, mit dem sie Graphenfolien mit einem Durchmesser von einem Dreiviertelmeter fertigen können. Daraus lassen sich, wie die Forscher anschließend demonstrierten, funktionierende Touchscreens herstellen.
Denn die gute Nachricht ist: Für manche Anwendungen braucht es kein perfektes Graphen. Selbst mit ein paar Fehlern im Gitternetz ist es noch immer sehr viel besser als bisher eingesetzte Materialien. Am Ende kommt es eben auch bei einer Substanz der Superlative darauf an, kluge Kompromisse zwischen Kosten, Nutzen und Verfügbarkeit zu finden. Für Jannik Meyer sind Displays und Touchscreens – flexibel oder nicht – die ersten Kandidaten für konkrete Anwendungen. „Die bestehende Lösung – Indiumzinnoxid als leitende Oberfläche – ist nicht besonders gut. Indium ist spröd und unflexibel, selten und teuer.“ Nobelpreisträger Konstantin Novoselov erwartet in einer Ende letzten Jahres im Wissenschaftsjournal „Nature“ veröffentlichten „Roadmap for graphene“ solche Produkte bereits um das Jahr 2015.
Mit Touchscreens auf Graphen-Basis sollte man also jederzeit rechnen. Zu den Hauptverdächtigen gehört Samsung. Konkretes ist dazu freilich nicht zu erfahren. Er würde zwar gern, sagte uns ein leitender Graphen- Forscher des südkoreanischen Großkonzerns, aber er könne zurzeit mit Journalisten nicht über den Stand der Entwicklungen sprechen. Eine ähnliche, nämlich keine Antwort erhielten wir von Nokia. Aber im Grunde ist das keine Überraschung: Nach ersten Veröffentlichungen von Forschungsergebnissen laufen alle weiteren Entwicklungen unter dem undurchlässigen Mantel der Geheimhaltung. Am Ende hört man entweder nichts mehr davon oder sieht das fertige Gerät.
Graphen-Oberflächen werden wir sicher sehen. Transparent und flexibel und leitend – das gab es in dieser Kombination noch nicht. Biegsame Handys, die man sich um das Handgelenk binden kann; zum großen Format auffaltbare Tablets; riesige Fernsehbildschirme, die an der Wand nicht stärker auftragen als eine Tapete – solche Perspektiven sind zu reizvoll, um sie nicht zu nützen.
Gleiches gilt für Solarzellen, an deren Entwicklung der Physiker Thomas Müller arbeitet. „Die jetzt gebräuchlichen Silizium-Solarzellen sind teuer, unhandlich und schwierig zu montieren. Dank Graphen werden wir flexible Solarfolien erzeugen können, die man auf alle Glasfassaden und andere Oberflächen kleben kann.“ Oder superschnelle Photodetektoren zur Umwandlung von Licht in elektrische Signale, die ebenfalls am Wiener Institut für Photonik entwickelt werden. Das könnte das Übertragungstempo in den Glasfaserkabeln des Internets mächtig beschleunigen.
Graphen kann ein Katalysator für viele Anwendungen sein, und nicht jede davon muss das volle Potenzial des Materials nützen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: für Filter zur Entsalzung von Meerwasser, weil Graphen zwar wasserdurchlässig ist, im Übrigen jedoch absolut dicht. Oder für effizientere Energiespeicher: Mit Graphen umhüllte Metalloxide als Elektroden würden die Speicherfähigkeit und Ladegeschwindigkeit von Lithium- Ionen-Batterien wesentlich verbessern.
Die Königsklasse aller möglichen Anwendungen jedoch ist für viele Experten die Entwicklung schnellerer Transistoren. Die bislang aus Silizium hergestellten Bauteile sind das Herzstück eines jeden Computers. Das Mittel der Wahl, um sie zu verbessern, ist die Miniaturisierung: Auf diese Weise verkürzt sich die Wegstrecke, die die Ladungsteilchen zurücklegen; der Transistor kann schneller ein- und ausgeschaltet werden. Aber: Viel kleiner ist physikalisch kaum mehr möglich. Schon heute werden eine Milliarde Transistoren und mehr auf einer Fläche von weniger als einem halben Quadratzentimeter untergebracht. Da wird es schon ziemlich eng und außerdem unangenehm warm – die Bauteile sind immer schwieriger zu kühlen. Vorläufig helfen sich die Computerhersteller damit, mehrere Prozessoren auf einem Chip zu einem Mehrkernprozessor zusammenzufassen und die für die Rechenschnelligkeit mitverantwortliche Taktfrequenz der einzelnen Prozessoren eher wieder zurückzufahren, auf unter 3 Gigahertz.
Graphen mit seiner überragenden Leitfähigkeit von Strom und Wärme drängt sich nun als Alternative auf. IBM etwa hat bereits Prototypen mit einer Taktfrequenz von 350 Gigahertz vorgestellt. Das zweidimensionale Material ließe sich auch grundsätzlich in die Lithografieprozesse integrieren, die in der Siliziumchip-Produktion bekannt und bewährt sind. Praktisch stellen sich vor allem zwei Hürden in den Weg: Erstens braucht es Graphen erstklassiger Qualität, will man das Potenzial voll nützen. Und zweitens: Silizium ist ein Halbleiter, der abhängig von der angelegten Spannung Strom leitet oder nicht leitet. Wird ein Transistor gerade nicht gebraucht, bleibt er abgeschaltet, das spart Strom. Graphen dagegen ist ein Halbmetall. Der Stromfluss lässt sich nicht ausschalten.
Was Graphen fehlt, ist die Bandlücke, wie die Fachleute diese Voraussetzung für den Ein- und Ausschaltmechanismus eines stromleitenden Materials nennen. Und die versuchen die Forscher nun zu finden – beziehungsweise in das Graphen einzubauen. Der Physiker Jannik Meyer etwa schneidet Löcher in das perfekte Material, um zum Beispiel – eigentlich unpassende – fünf- oder siebeneckige Kohlenstoffmoleküle einzufügen. „Auf diese Weise könnte eine Bandlücke entstehen.“
„Die Physiker fummeln herum“, sagt der Chemiker Klaus Müllen, Leiter des Max-Planck- Instituts für Polymerforschung in Mainz. Und ergänzt noch selbstbewusst: „Es wird nie eine digitale Elektronik aus Graphen geben, wenn es nicht die Chemie schafft.“ Müllen will Graphen synthetisieren, also Stück für Stück zusammenbauen. Vereinfacht gesagt, schlägt er Benzol-Strukturen flach, was jetzt weitaus weniger elegant und komplex klingt, als es tatsächlich ist. Der Charme dieser Technik: Die Geometrie des Graphens wird kontrollierbar, auch seine Kanten – eine Art natürliche Schwachstelle – lassen sich sauber ziehen. Müllens Institut ist es gelungen, auf diese Weise sehr schmale Graphenstreifen herzustellen. „Aufgrund der geometrischen Begrenzung entsteht eine Bandlücke.“ Graphen wird ein- und ausschaltbar. Erste Prototypen von Transistoren gibt es bereits, allerdings nur im Labormaßstab: Das Verfahren ist aufwendig und kostspielig, die Menge Graphen, die man dabei gewinnt, ist kleiner als mit der Klebeband-Methode. „Jedenfalls werden wir Graphentransistoren in den nächsten zehn Jahren noch nicht sehen“, sagt der Grundlagenforscher. Zum Vergleich: Es dauerte auch Jahrzehnte, bis die Massenfertigung von siliziumbasierten Halbleiter- Chips möglich war.
Der Wiener Physiker Thomas Müller, der nach seinem Studium bei IBM an Graphentransistoren gearbeitet hat, ist jedoch skeptisch: „Mit Graphen das zu tun, was mit anderen Materialien auch geht – das wird’s nicht bringen.“ Dem perfekten Stromleiter mit Gewalt eine Bandlücke abringen zu wollen, um ihn anschließend als besseren Silizium-Ersatz zu verwenden, sei wenig sinnvoll. „Es braucht Anwendungen, die man mit anderen Materialien nicht umsetzen kann: großflächige Solarzellen, flexible Handys.“ Oder aber man baut Transistoren mit völlig neuer Architektur. „Elektronische Linsensysteme etwa, die die Eigenschaft nutzen, dass sich die Elektronen in Graphen wie Lichtteilchen bewegen.“
Man kann gar nicht weit und groß genug denken, wenn man ein Wundermaterial wie Graphen in die Hände bekommt. Oder, besser formuliert: hoch genug. Zu den kühnsten Ideen rund um Graphen gehört der Bau eines Aufzugs in den Weltraum. Theoretisch wäre das immerhin möglich: Ein Stahlseil würde schon bei einer Länge von wenigen Kilometern unter seinem Eigengewicht reißen. Die Zugfestigkeit von Graphen hingegen beträgt ein Vielfaches davon – und würde, so die Berechnungen, in einer Höhe von knapp 36.000 Kilometern erst zu 87 Prozent seiner Reißfestigkeit beansprucht werden. Tendenz bei zunehmender Weltall-Höhe: abnehmend. Es ginge also auch noch höher hinauf. Wie ein Graphenseil verdreht, wie ein Graphenfaden gesponnen wird – daran wird freilich noch ein paar Jahre geforscht werden.
Und damit sind wir wieder zurück auf der Erde, konkret in Vorarlberg. Das erste kommerzielle mit Graphen versetzte Composite-Produkt kommt aus Kennelbach, einem Vorort von Bregenz. Der Sportartikelhersteller Head hat Anfang des Jahres einen in Zusammenarbeit mit dem taiwanischen Forschungsinstitut ITRI entwickelten Tennisschläger vorgestellt, in dessen Schaft zur besseren Gewichtsverteilung Graphen verarbeitet wurde. „Wir haben Graphen dem Epoxidharz zugefügt, das das Kohlefaser-Verbundmaterial zusammenhält“, erklärt Ralf Schwenger, Leiter der Schlägerentwicklung von Head, ohne den Graphenanteil genau quantifizieren zu wollen. Aber man sollte sich – bezogen auf das Gesamtgewicht – eher homöopathische Dosen vorstellen. Auch die Qualität des Graphens ist schwer zu definieren, „da es noch keine industriellen Standards gibt“, sagt Schwenger. Immerhin, ein Anfang ist gemacht. Und Graphen-Verbundmaterialien sind natürlich nicht nur für die Sportartikelherstellung, sondern noch viel mehr im Fahrzeug- oder Flugzeugbau interessant, wo um jedes Kilogramm Gewichteinsparung gerungen wird.
Verbundmaterial ist ein gutes Stichwort für Nobelpreisträger Andre Geim. „Die Forschung am einfachen Graphen hat ihren Höhepunkt möglicherweise überschritten“, schreibt er in der Juli-Ausgabe von „Nature“. Die Wissenschafter sind schon wieder ein paar Schritte weiter sind. Seit sie von den relativ lose miteinander verbundenen, in sich aber stabilen Lagen von Graphit wissen, suchen und finden sie ähnliche zweidimensionalen Strukturen. Die sind in ihren Eigenschaften vielleicht nicht ganz so glamourös wie Graphen und tragen auch weniger geschmeidige Namen. Sie bringen aber ganz spezielle Talente mit.
Zum Beispiel Bor-Nitrid: Die ähnlich wie Kohlenstoff aufgebaute Bor-Stickstoff-Verbindung ist zwar prinzipiell „relativ langweilig“, wie Jannik Meyer meint. Was sie jedoch interessant macht: Bor-Nitrid ist ein Isolator und leitet Strom überhaupt nicht. Und bietet sich daher an, um in Graphen jene isolierenden Bereiche einzufügen, die man für elektronische Anwendungen braucht. Oder Molybdändisulfid. Die zweidimensionale Schicht des Kristalls ist von vornherein ein Halbleiter – es macht also keine Extraarbeit, den Stromfluss ein- und ausschaltbar zu machen.
Worum es geht, ist nicht der Wettbewerb zwischen den Materialien. Es geht um die smarte Kombination ihrer spezifischen Talente, um das Zusammenschneidern von Designerstoffen aus verschiedenen zweidimensionalen Materialien. Durch die Verbindung von Halbleitern, Metallen und Isolatoren ließen sich die Eigenschaften des Gesamtsystems justieren, skizziert Physiker Jannik Meyer den weiteren Weg der Forschung. „Wenn wir eine neue Ära für die Mikroelektronik eröffnen wollen, brauchen wir mehr als Graphen.“ Graphen wird zwar bei der Expedition in die neue Welt der Zweidimensionalität auch in Zukunft ein Fixstern sein. Aber nicht mehr der einzige. Das könnte die Eroberung von Flachland noch einmal entscheidend beschleunigen.
© Markus Honsig
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Terra Mater 4/2013
Lady Lovelaces Gespür für Zahlen
Als Frauen der Zugang zur Wissenschaft verwehrt und der Computer noch knapp 100 Jahre nicht erfunden ist, publiziert eine englische Aristokratin den ersten Softwarecode der Geschichte.
Sie verfolgen uns auf Schritt und Tritt. Sie filtern und ordnen im Hintergrund die Suchergebnisse von Google, liefern die maßgeschneiderten Werbeblöcke dazu und empfehlen die immer gleichen Bücher auf Amazon. Sie steuern Autos, Flugzeuge und die Drohnen der Militärs. Gut möglich, dass sie auch Ihren Partner, Ihre Partnerin ausgewählt haben. Sie sagen Grippewellen voraus (auf Basis von Google-Suchanfragen) und machen sich auf Verbrecherjagd (auf der Grundlage statistischer Daten aus der Vergangenheit). Sie sind ein immer häufiger eingesetztes und nicht weniger häufig kritisiertes Handelsinstrument an den Börsen, das in Bruchteilen von Sekundenbruchteilen Währungen, Rohstoffe und Wertpapiere kauft und verkauft. Und sie sind das Mittel erster Wahl, wenn es gilt, die riesigen Datenmengen, die überall von jedem von uns – gefragt oder ungefragt, legal oder illegal – gesammelt werden, entsprechend auszuwerten und zu bearbeiten, ob sie nun beim amerikanischen oder beim englischen Geheimdienst gespeichert sind.
Algorithmen sind das zentrale Werkzeug einer berechenbar gewordenen Welt.
Eine simple, vor kurzem völlig unschuldige und weithin unbeachtete Rechenanweisung – denn viel mehr ist ein Algorithmus nicht – ist in die Schlagzeilen gekommen: „Leben nach Zahlen“, titelte kürzlich das Nachrichtenmagazin Spiegel. „How algorithmus rules the world“, formulierte die britische Tageszeitung Guardian. Der Algorithmus ist ein publikumswirksames Thema geworden, erstaunlich genug.
Angefangen hat alles ganz harmlos. In der dritten Ausgabe der in London herausgegebenen „Taylor’s Scientific Memoirs“ wurde 1843 der erste Algorithmus zur automatischen Verarbeitung in einer Rechenmaschine veröffentlicht, der erste Softwarecode der Geschichte. Er sollte Bernoulli- Zahlen auswerfen, eine für den Mathematik-Normalverbraucher schwer zu fassende, aber vergleichsweise einfach zu berechnende Zahlenreihe, die etwa bei der Erstellung komplexerer Funktionen hilfreich sein kann.
Bemerkenswert daran ist, dass dieses allererste Computerprogramm rund einhundert Jahre vor der Entwicklung der ersten Computer durch den Deutschen Konrad Zuse und den Amerikaner Howard Aiken geschrieben wurde.
Bemerkenswert daran ist, dass er für eine Maschine entworfen wurde, die bis heute nur auf dem Papier existiert – die „Analytic Engine“ des englischen Mathematikers Charles Babbage.
Und bemerkenswert ist schließlich, dass dieser erste Algorithmus von einer Frau publiziert wurde: von Lady Augusta Ada Lovelace. 1843 dürfen Frauen in ihrer Heimat Großbritannien weder Universitäten noch wissenschaftliche Bibliotheken besuchen; und noch weniger sind sie in den einschlägigen Gesellschaften wie in der berühmten, 1660 gegründeten Royal Society in London, erwünscht.
Ada Lovelace wird am 10. Dezember 1815 in London geboren, als Tochter von Annabella Milbanke und Lord Byron.
Ein schlichter, aber zur Einordnung einer außergewöhnlichen Biographie durchaus informativer Satz. George Gordon Noel Byron ist der wahrscheinlich berühmteste Dichter seiner Zeit, ein erster gefeierter und erfolgreicher Star der Kulturgeschichte. Und für Stars nicht ganz ungewöhnlich: Seine Ehe hält gerade einmal ein Jahr, schon ein Monat nach Adas Geburt trennen sich die Eltern. Vater und Tochter werden einander nie wieder sehen, Lord Byron stirbt 1824 in Griechenland.
Die Mutter ist eine ��berdurchschnittlich gebildete Aristokratin, „Princess of Parallelogramms“ nennt sie ihr romantischer Kurzzeitehemann.
Ada ist das Kind ihrer Eltern: Von ihrem Vater scheint sie ihre Leidenschaft, ihre Phantasie, auch eine gewisse Rast- und Ziellosigkeit mitbekommen zu haben. Die Liebe zur Mathematik, ihre Disziplin und ihr Durchhaltevermögen wird ihr von der Mutter anerzogen werden. Positive Vorzeichen für eine glückliche Kindheit mögen anders aussehen.
Jedenfalls wächst Ada Byron in spannenden Jahren auf. Von England aus erobert die industrielle Revolution die Welt. Die Dampfmaschine vom James Watt, der mechanisierte Webstuhl von Joseph Marie Jacquard sind erste Vorboten des Maschinenzeitalters. Und schon die junge Ada ist davon gleichermaßen beeindruckt wie inspiriert. Sie ist 13 Jahre alt, als sie ihrer Mutter von ihren Plänen berichtet, eine Art fliegendes Pferd zu bauen, dessen riesige Flügel von einer im Inneren untergebrachten Dampfmaschine angetrieben werden.
Die gesellschaftliche Leben Englands bleibt von Revolution jedweder Art unberührt. Ada Byron wird im viktorianischen Zeitalter groß, dem Höhepunkt der Konvention – mit streng definierten Rollenbildern für Frauen und Männer. Für eine Tochter aus gutem Haus, wie Ada es trotz der ungewöhnlichen Familiensituation mit einer alleinerziehenden Mutter ist, gibt es einen klar vorgezeichneten Lebensweg: Heirat, Familie, Haushalt. Bildung hat in diesem Zusammenhang eine eher unterhaltende und dekorative Funktion: Die jungen Mädchen werden in Eigenregie von ihren Eltern unterrichtet, am Stundenplan stehen Sprachen, Musik, Kunst, Handarbeit. Es gibt zwar populärwissenschaftliche, auf weibliche Leserschaft zugeschnittene Zeitschriften wie die „Ladies Diary“. Der Zugang zu Universitäten wird für Frauen aber erst – wie im übrigen Europa auch – gegen Ende des 19. Jahrhunderts geöffnet. „Eine Ausnahme ist Italien, wo schon im 18. Jahrhundert Frauen an der Universität zugelassen wurden“, erklärt Andrea Blunck, Professorin für Mathematik und Gender Studies in Hamburg.
Umso ungewöhnlicher ist Ada Byrons Ausbildung: Von klein auf wird sie von ihrer Mutter nicht nur in den klassisch weiblichen Fächern, sondern auch in Mathematik oder Astronomie unterrichtet. Über die Motive der Mutter lässt sich bestens spekulieren: Mag sein, dass sie – mit der durchaus streng geführten Erziehung – auch alle eventuell vom Vater vererbten poetischen Talente ihrer Tochter überdecken will. Adas Sensorium für Poesie wird ihr aber nicht verloren gehen, das gilt sowohl für ihre selbst verfassten Gedichte als auch für ihre Interpretation der Mathematik. Ob alleine aus eigenen Stücken oder um der Mutter zu gefallen: Ada ist eine ehrgeizige Schülerin, lässt sich selbst durch schwere gesundheitliche Probleme, die sie von Jugend an ihr ganzes Leben begleiten, kaum bremsen.
Und sie bekommt Unterricht von prominenten Persönlichkeiten: Etwa von Mary Somerville, einer Ausnahmeerscheinung ihrer Zeit, die vor allem durch die Übersetzung von Werken des französischen Mathematikers und Physikers Pierre Simon Laplace bekannt und als eine der ersten Frauen in die Royal Astronomical Society aufgenommen wurde. Oder später von Augustus De Morgan, dem ersten Mathematikprofessor an der Universität in Cambridge. Mathematik als eigenständiges Fach ist eine noch junge Disziplin und galt bis dahin als eine Art Hilfswissenschaft der Naturwissenschaften. „Unterricht auf diesem Niveau war selbst für eine Frau ihres Standes höchst ungewöhnlich, erst recht in Mathematik“, fasst der englische Computerhistoriker Doron Swade zusammen.
Wie ihre Ausbildung im Vergleich zu einer universitären Laufbahn einzuschätzen ist, lässt sich im Nachhinein schwer beurteilen: „Die Universitäten“, meint Swade, „hatten einen sehr strukturierten, durchorganisierten Unterricht. Im Vergleich dazu genoss Ada, speziell unter Augustus De Morgan, eine breitere, offenere, weniger verschulte Ausbildung.“ Und gewinnt vielleicht deshalb einen weiteren Blickwinkel auf die Mathematik als manche ihrer männlichen Kollegen. Sie entwickelt ein Gespür für Zahlen, das an den bloßen Zahlen nicht hängen bleibt. Ada war jedenfalls überzeugt von ihren Fähigkeiten: „Je länger ich studiere, desto unwiderstehlicher fühlt sich mein Genius dazu hingezogen. Ich kann nicht glauben, dass mein Vater jemals in diesem Maße ein Dichter war und hätte werden können, in dem ich eine Analytikerin und Metaphysikerin sein werde“, schreibt sie an Charles Babbage. Eine enthusiastische und selbstbewusste Formulierung, der manche Historiker später so nicht zustimmen werden.
Lovelaces Zeitgenossen sind jedenfalls beindruckt von der jungen Frau. An Adas Mutter schreibt De Morgan, dass die mathematische Geisteskraft ihrer Tochter „vollständig von dem herkömmlichen Weg eines Anfängers, sei es ein Mann oder eine Frau, abweicht“ und dass man sich fragen müsse, ob man ihre Entschlossenheit, „nicht nur die Grenzen des derzeitigen Wissens zu erreichen, sondern darüber hinauszugehen, befördern oder überwachen sollte.“ Herr Professor De Morgan war offensichtlich gleichermaßen fasziniert wie irritiert von der jungen, klugen und neugierigen Frau.
Der entscheidende Katalysator für ihre Arbeit ist Charles Babbage, ein umtriebiger, moderner, visionärer Mathematiker, ein prominenter Wissenschafter seines Landes. Sie lernt ihn 1833, mit 17, auf einer Party in London kennen und kurz darauf sein bis dahin wichtigstes Werk: die „Difference Engine“, eine riesige Rechenmaschine, die trotz beträchtlicher finanzieller Unterstützung des Staats zu Babbages Lebzeiten nie realisiert wird. Erst 1990 enthüllt Doron Swade als Kurator des Science Museum in London die erste, vollständige und nach den Originalplänen von Babbage gebaute Differenzmaschine.
Eine grandioser Apparat: inklusive des später angefertigten Druckers ist sie knapp dreieinhalb Meter lang, mehr als zwei Meter hoch, fünf Tonnen schwer – und voll funktionsfähig bis heute. Kernelement sind fast mannshohe, mechanisch verbundene Zahlensäulen mit jeweils zehn Ziffernrädern zur Darstellung von zehnstelligen Zahlen. Ein enormer Aufwand mit überschaubarer Wirkung: Im Grunde kann man mit der mächtigen Maschine nur addieren und subtrahieren. Das aber fehlerfrei. Es braucht nur ein wenig Muskelarbeit an der Handkurbel, und die Zahlensäulen addieren sich aufeinander. Auf diese Weise lassen sich immerhin auch einfachere Funktionen lösen. Ein gewaltiger Fortschritt in einer Zeit, als die Wissen schafter aller Disziplinen mit händisch errechneten und entsprechend fehlerhaften Logarithmentafeln arbeiten. Zumindest theoretisch: Denn das Ding wird wie gesagt nie fertig gebaut – auch deshalb, weil Babbage nie aufhört, seinen Entwurf immer weiter verbessern zu wollen.
Ada Byron sieht nur einen Ausschnitt des geplanten Gesamtwerks, ein Demonstrationsmodell mit drei Säulen. Sie ist aber ab dem ersten Moment gefangen von der Idee und weiß offensichtlich die Bedeutung der Erfindung richtig einzuordnen. Augustus De Morgans Frau Sophia, die bei diesem Treffen ebenfalls anwesend ist, wird in ihren Memoiren berichten: „Miss Byron, jung wie sie war, durchschaute ihre Funktionsweise und vermochte die Schönheit der Innovation gebührend zu würdigen.“ Im Unterschied zu vielen anderen Besuchern, die dieser Maschine mit einem Gesichtsausdruck betrachteten „wie Wilde, die erstmals vor einem Spiegel stehen.“
Babbage hat zu dieser Zeit freilich schon ganz andere Pläne im Kopf und arbeitet an der Entwicklung der „Analytic Engine“: größer, komplexer, leistungsfähiger. Die – ebenfalls rein mechanisch arbeitende – Maschine besitzt eine „Mühle“, ein Rechenwerk, das alle vier Grundrechnungsarten beherrscht. Heute würde man es Prozessor nennen. Als Speicher dienen Säulen ähnlich der Differenz- Maschine. Diese Trennung von Prozessor und Speicher ist bis in die Gegenwart das charakteristische Merkmal eines Rechners. Zur Dateneingabe und Steuerung der Maschine sieht Babbage einen Kartenleser vor, der die von Jacquard zur Steuerung seiner Webstühle erfundenen Lochkarten verarbeitet. Auf der Ausgabeseite ist ein Drucker vorgesehen. Der erste Computer ist entworfen, immerhin auf dem Papier, denn gebaut wird auch diese Maschine nicht.
Während Babbage seine Analytic Engine entwirft, gründet Ada Byron eine Familie: Im Alter von 19 Jahren heiratet sie William King, der 1838 zum Lord of Lovelace ernannt wird. Sie bekommt drei Kinder – Byron Noel, Anne Isabelle und Ralph Gordon –, sie versorgt drei Haushalte, einen in London, zwei am Land. Dennoch hört sie auch als Lady Lovelace nicht auf, sich mit der Mathematik zu beschäftigen, verliert nie den Kontakt mit Babbage und seinen Arbeiten.
1840 hält er in Turin einen Vortrag über seine Analytische Maschine, den der italienische Militäringenieur und spätere Premierminister des Landes, Luigi Federico Menabrea, zu einem Artikel verarbeitet. Er erscheint 1842 in einem Genfer Verlag in französischer Sprache. Ada Lovelace entschließt sich, den Text ins Englische zu übersetzen. Und wird von Babbage ermuntert, es nicht alleine bei der Übersetzung zu belassen: „Ich fragte sie, warum sie nicht selbst einen Artikel zu diesem Thema geschrieben habe, mit dem sie doch so gut vertraut sei, und Lady Lovelace erwiderte, dieser Gedanke sei ihr gar nicht gekommen“, schreibt Babbage in seinen Lebenserinnerungen „Passagen aus einem Philosophenleben“, die 1864 erscheinen. „Ich schlug ihr daher vor, sie möge Menabreas Bericht einige Erläuterungen hinzufügen.“
Lovelace lässt sich nicht zwei Mal bitten: Ihre Anmerkungen werden schließlich die dreifache Länge des ursprünglichen Artikels ausmachen, das Gesamtwerk erscheint im August 1843 unter dem Titel „Sketch of the Analytical Engine invented by Charles Babbage“. Am Titelblatt wurde noch hinzugefügt: „With Notes by the translator.“ Der Name der Übersetzerin erscheint jeweils am Ende jeder Anmerkung als dezentes Kürzel A.A.L. In den einschlägigen Kreisen ist es aber kein Geheimnis, wer die ausführliche Arbeit verfasst hat.
In der Anmerkung G schließlich stellt Lady Lovelace ein konkretes Beispiel vor, um das Potenzial der Analytischen Maschine zu demonstrieren: einen Algorithmus zu Berechnung der Bernoullizahlen. Wie schon erwähnt: Die Bernoullizahlen, vom Schweizer Jakob Bernoulli Anfang des 18. Jahrhunderts eingeführt, sind in sinnvollem Rahmen kaum zu erklären, aber relativ einfach zu berechnen. Das gilt auch schon zu Adas Zeiten. Die Besonderheit ist nicht der Algorithmus an sich, sondern seine Übersetzung, die Codierung in Rechenschritte, die von einer Maschine automatisch verarbeitet werden können. Es gibt Variablen zur Eingabe der Daten, zum Rechnen, zur Ausgabe der Daten. Es gibt bedingte Verzweigungen, die Berechnung konnte also in Abhängigkeit von entsprechenden Zwischenergebnissen verschiedene Wege einschlagen. Es gibt Schleifen in den Rechenoperationen, Wiederholungen, um den Aufwand der Programmierung zu reduzieren. Vom Prinzip zentrale Elemente in der Informatik bis heute.
Die erste Software der Geschichte ist geschrieben – und veröffentlicht.
Letzteres hinzuzufügen ist insofern wichtig, weil unter Historikern gerne darüber diskutiert wird, wir groß der originäre Anteil von Ada Lovelace an ihrem Werk tatsächlich ist und wie viel davon Charles Babbage selbst zuzuschreiben wäre. Und ja, an dieser Stelle darf man sich kurz fragen, ob es diese – teilweise überraschend engagiert geführte – Diskussion auch gegeben hätte, wäre Lady Lovelace ein Mann gewesen.
Wie auch immer: Sicher ist, dass es während der Arbeit an den Anmerkungen einen regen Kontakt zwischen Lovelace und Babbage gibt, die Postboten sind fleißig unterwegs. „Ich möchte noch etwas über Bernoullis Zahlen in eine meiner Anmerkungen einfügen“, schreibt sie etwa im Juli 1843 an Babbage. „Schicken Sie mir die notwendigen Daten und Formeln.“
Sicher ist, dass die junge Frau nicht so ahnungslos ist, wie es manche, allen voran ihre Biographin Dorothy Stein in ihrem Buch „Ada Augusta Lovelace“ vermitteln wollen. „Babbage und Lovelace waren wohl die einzigen, die Programme für diese Maschine schreiben konnten“, meint Doron Swade. Er vergisst aber nicht hinzuzufügen, dass Babbage schon vor Lovelace an Programmen für seine Maschine gearbeitet hat. Was anzunehmen naturgemäß naheliegend ist: Dass sich der Erfinder der Hardware auch Gedanken und Notizen über die entsprechende Software macht. Und sicher ist, dass A.A.L. die wissenschaftlich gültige Ziellinie – die Veröffentlichung des ersten, von einer Rechenmaschine automatisch verarbeitbaren Algorithmus – als erste überquert. Die Verfasserin nennt es „Plan“, wir nennen es Programm. Und wer zuerst publiziert, der hat gewonnen. Am Ende ist diese Frage im Detail kaum endgültig zu klären und ohnehin der falsche Hebel, um Ada Lovelace‘ Leistung in der Geschichte des Computers entsprechend zu würdigen und herauszuheben.
Dazu muss man vor allem den Abschnitt A ihrer Anmerkungen lesen. „Die Analytische Maschine webt algebraische Muster, gerade so wie der Jacquard-Webstuhl Blätter und Blüten“, erklärt die Mathematikerin die Besonderheit des riesigen Rechenwerks. Und – jetzt kommt’s – sie schreibt außerdem, dass der Mechanismus „auch mit anderen Dingen als mit Zahlen operieren könne“, als Beispiel nennt sie die „grundlegenden Relationen der Tonhöhen in der Harmonie- und Kompositionslehre.“ Die Maschine könne also „ausgefeilte und allen Regeln der Kunst gehorchende Musikstücke von beliebiger Komplexität und Länge komponieren.“
Für Doron Swade sind das die zentralen Sätze im Werk von Ada Lovelace: „Was sie in diesen Zeilen schreibt, sah keiner ihrer Zeitgenossen, auch Babbage nicht: Dass sich mit einer Rechenmaschine nicht nur Zahlen verarbeiten lassen, sondern Symbole, Daten, Information.“ Babbage ist zu sehr in der Mechanik der Maschine, in der Welt der Zahlen verfangen. Lovelace‘ Ideen sind freier – vielleicht auch deshalb, weil sie sich mit den Details der Mechanik nie besonders belastete, meint Swade. Die Verarbeitung von Daten, das ist das Wesen des Computers bis heute. Und die Zeilen einer Aristokratin des viktorianischen Zeitalters können als erste Ankündigung jenes Informationszeitalters gelesen werden, das erst gut einhundert Jahre später die Welt zu verändern beginnen wird, wie es zu ihrer Zeit die Maschinen getan haben.
Jedenfalls ist auch Babbage selbst von der „Enchantress of Numbers“, der Zahlenzauberin, wie er sie nennt, schwer beeindruckt: „Nur widerwillig sende ich Dir Deinen bewundernswerten und philosophisch eindrucksvollen Abschnitt A zurück“, schreibt Babbage an Lovelace. „��ndere ja nichts. Du kannst all das unmöglich einfach erraten haben. Je mehr ich von Deinen Aufzeichnungen lese, desto mehr erstaunen sie mich, und ich bedaure, dass ich diese edle Begabung nicht schon früher erkannt habe.“
Lovelace denkt noch weiter: Man dürfe die Maschine nicht überschätzen, warnt sie die Leser in Anmerkung G. „Die Analytische Maschine erhebt nicht den geringsten Anspruch, irgendetwas hervorzubringen. Sie kann tun, was immer wir ihr auszuführen zu befehlen wissen.“ Alan Turing, der legendäre englische Mathematiker, der unter anderem den Enigma-Code der Deutschen Wehrmacht knackt und eine erste präzise Definition schafft, was ein Algorithmus leisten kann, wird diese Bemerkung in seinem berühmten Aufsatz von 1950 über „Maschinelle Rechner und Intelligenz“ als „Lady Lovelaces Einwand“ extra behandeln (und ihr in ihrer Argumentation nicht folgen).
Lovelace und Babbage werden erst nach der Entwicklung des Computers Mitte des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt, bis dahin haben sie keinen nachhaltigen Abdruck in der Geschichte der Mathematik hinterlassen. Sie wendet sich anderen Themen zu, entdeckt ihre Leidenschaft für Pferdewetten, verliert dabei beträchtliche Summen, ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends. Im November 1852 stirbt sie im Alter von 36 Jahren, vermutlich an Gebärmutterkrebs.
In der Familie wurde Adas Begabung offenbar nicht weitergeben: „So viel ich weiß, gab es nach ihr keine Mathematikerinnen oder Mathematiker in der Familie“, sagt Lord John Lytton, Ururenkel von Ada Lovelace. „Am ehesten hatte noch ihre Tochter, Anne Blunt, die Talente ihrer Mutter geerbt.“
Auch von Babbage sind keine Lehrsätze, keine Formeln überliefert, die in die Lehr- und Geschichtsbücher der Mathematik eingegangen wären. Lovelaces und Babbages Arbeiten zu Hard- und Software sind ihrer Zeit derart weit voraus, dass sie von niemanden aufgenommen und weiterentwickelt werden. Es folgen, zitiert Doron Swade den 1950 verstorbenen, neuseeländischen Computerpionier Leslie Comrie, „die hundert dunklen Jahre in der Geschichte des Computers.“
© Markus Honsig 2013
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Terra Mater 3/2013
Die Macht des Symbols
Wie der Halbmond auf den Wiener Stephansdom kam.
Im ersten Anlauf wurde die Stadt durch die schlechte Wetterlage gerettet: Am 15. Oktober 1529 musste Sultan Süleyman der Prächtige die Belagerung Wiens abbrechen und den Rückzug antreten. Die Versorgung seiner Truppen klappte nicht mehr, ein vorzeitiger Wintereinbruch kündigte sich an. Die erste Türkenbelagerung war überstanden, die Expansion des Osmanischen Reiches, einer Weltmacht, die sich zu dieser Zeit über drei Kontinente – Afrika, Asien und Europa – ausdehnte, war vorläufig gebremst.
Zurück blieb eine tiefsitzende Angst vor der Türkengefahr, vor der Bedrohung des Abendlandes durch die Ungläubigen – eine kollektive Gefühlslage, die durch den Blick auf den Stephansdom zusätzlich irritiert wurde. Auf der Spitze seines Südturms saß nämlich jenes Symbol, das auch die Flaggen der osmanischen Krieger geziert hatte: eine Mondsichel mit Stern. Von der Straße aus war sie zwar – in einer Höhe von 136 Metern und rund 140 Zentimeter im Durchmesser – nicht besonders gut zu sehen. Jedenfalls aber gut genug, um die Gerüchteküche und die Legendenbildung anzuheizen. Der Kern aller Geschichten um den „Mondschein“ von St. Stephan, die man sich in den folgenden Jahren in Wien erzählte: Süleyman habe dessen Anbringung am Dom verlangt, wenn die Kathedrale verschont werden sollte.
Ein Lehrbeispiel, wie schnell die politisch motivierte Umdeutung von Symbolen funktionieren und wie schlecht das gesellschaftliche Erinnerungsvermögen sein kann. Mond und Stern glänzten im Licht der Sonne nämlich schon zehn Jahre vor der Türkenbelagerung von der Spitze des Stephansdoms: nach einem Blitzschlag wurde dem Südturm 1519 das neue, von einem unbekannten Künstler in vergoldetem Messing angefertigte Schmuckstück aufgesetzt.
Dessen Symbolik war ein im Mittelalter durchaus gängiges Motiv, um das gern diskutierte Machtverhältnis von Papst und Kaiser, von Tiara und Krone zu illustrieren: In der Mitte der Papst als Sonne, um den herum sich der Mond, der Kaiser, dreht. Im
konkreten fall ist die Bedeutung allerdings bis heute nicht eindeutig geklärt. Manche Historiker meinen etwa, das Zeichen am Stephansdom könnte eine Referenz an die Astronomie dargestellt haben, die in diesen Jahren einen enormen Aufschwung erlebte.
Jedenfalls hatte die Turmspitze des Stephansdoms nichts mit dem Islam zu tun. Diese Religion kam jahrhundertelang weitgehend ohne Symbole aus. Dass während der ersten Wiener Türkenbelagerung die gleichen Symbole in so unterschiedlichem Kontext aufeinandertrafen, war nichts als ein historischer Zufall. Mondsichel und Stern wurden ungefähr zur selben Zeit, als sie am Stephansdom montiert wurden, von Süleymans Vater, Sultan Selim I., als sichtbares Erkennungsmerkmal osmanischer Truppen eingeführt. Bis dahin zogen die osmanischen Truppen unter schlichten einfarbigen Fahnen in den Krieg.
Warum die Osmanen gerade dieses Doppelsymbol als Identitätsmerkmal wählten, lässt sich nicht wirklich festmachen. Einschlägige Sagen erzählen, dass der Gründer der Dynastie, Osman I., von einem Halbmond träumte, der die Erde umfasste. Sicher ist, dass Mondsichel und Stern uralte, in vielen Kulturkreisen verwendete Zeichen waren, die auch schon auf islamischen Münzen aus dem siebten Jahrhundert gefunden wurden. Und der Halbmond war in der osmanischen Kultur ohnehin ein beliebtes und häufig verwendetes Ornament.
Die Wiener lernten während der Ersten Türkenbelagerung also ein eher neues Phänomen islamischer Kultur kennen. Und sie reagierten prompt: Der Wiener Stadtrat, zuständig für die Erhaltung des Doms, stellte im Februar 1530 das Ansuchen an Kaiser Ferdinand I., den Mondschein auf St. Stephan gegen eine Figur des heiligen Georg austauschen zu dürfen. Bloß: Trotz entsprechender Genehmigung passierte nichts. Offenbar scheute man dann doch den nicht unbeträchtlichen Aufwand. Selbst 1590, als nach einem Erdbeben der Südturm renoviert werden musste, blieb der Mondschein unangetastet.
„Die Bedrohung des Abendlandes und die Angst vor den Türken waren eben nicht ständig präsent“, sagt Wolfgang Kos, Hausherr im Wien Museum, wo der Mondschein heute ausgestellt ist. „Und auch auf den Stephansdom sah man nicht täglich hinauf.“ Zwischen Erster und Zweiter Türkenbelagerung lagen immerhin mehr als 150 Jahre – das Bedrohungsszenario verblasste mit den Jahren. Wien war in diesen Jahren zwar immer Grenz- und Frontstadt gegenüber der Westgrenze des Osmanischen Reichs in Ungarn, die Befestigungsanlagen wurden auch entsprechend ausgebaut. Aber von den zwischendurch immer wieder aufflackernden Kämpfen mit den Osmanen war die Stadt nicht betroffen.
Die europäischen Herrscherhäuser waren hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt und bewiesen ab 1618, dass es weder äußere Bedrohung noch Muslime braucht, um erbitterte Glaubenskriege zu führen, die dreißig Jahre lang Not und Elend über den Kontinent bringen sollten.
1683 aber bezogen die Türken wieder Stellung vor den Toren Wiens und marschierten mit einem Heer von 200.000 Mann auf. Doch Großwesir Kara Mustafa unterschätzte die Widerstandskraft des Heiligen Römischen Reiches: Unter Führung des polnischen Königs Jan Sobieski wurde er am 12. September in der Schlacht am Kahlenberg vernichtend geschlagen. Diese Niederlage markierte einen Wendepunkt in der europäischen Geschichte: Die Osmanen verloren langsam an Einfluss; bis zum Ende des Jahrhunderts konnten die Habsburger unter Prinz Eugen von Savoyen Budapest und Ungarn zurückerobern, später auch Belgrad.
Noch während des Dankgottesdienstes im Stephansdom am 14. September 1683 erinnerte Bischof Emerich Sinelli den anwesenden Kaiser Leopold I. an sein Gelübde, die Turmkrone des Doms auszuwechseln, falls die Türkenbelagerung – die der Kaiser aus sicherer Entfernung in Linz verfolgte – gut ausgehen sollte.
Es dauerte dann noch einmal fast drei Jahre, bis es am 15. Juni 1686 endlich so weit war: Der Dachdeckermeister Nikolaus Ressytko kletterte mit seinen beiden Söhnen auf den Südturm und demontierte den Mondschein. Im folgenden September wurde die neue Turmspitze aufgesetzt, ein „Spanisches Kreuz“ mit dem charakteristischen doppelten Querbalken. Es fiel schon drei Monate später während eines heftigen Sturms vom Dom und wurde schließlich durch ein Doppelkreuz mit Doppeladler ersetzt: Die Macht von Kirche und Kaiser war wieder vereint.
Der alte Mondschein kam zunächst in die Stallburg und später in das Bürgerliche Zeughaus, nicht ohne vorher für das Publikum präpariert worden zu sein. Zwei Strahlen des ursprünglich achtstrahligen Sterns wurden abgebrochen, um die Ähnlichkeiten zum osmanischen Symbol besser herauszuarbeiten, in die Mondsichel eine erklärende Zeile eingraviert: „Dieses, Süleyman, zu deinem Andenken. Anno 1529“. Daneben eine sogenannte Feigenfaust, eine derbe, obszöne Geste, die an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt – ein gestreckter Mittelfinger, müsste man sie in die Gegenwart übersetzen.
Trotz solcher Unfreundlichkeiten entspannte sich das Verhältnis zu den Osmanen. Schon im 18. Jahrhundert entwickelte sich ein reger wirtschaftlicher, diplomatischer und kultureller Austausch zwischen Wien und Konstantinopel. Ein Bodensatz diffuser, latenter Ressentiments blieb zurück. Ein Bodensatz, der sich über Jahrhunderte immer wieder hervorragend eignete, aus politischen Gründen aufgerührt zu werden: Engelbert Dollfuß etwa nutzte die Türkengedenkfeiern im September 1933, um seinen autoritären Ständestaat mit Bezug auf die Türkenbelagerung zu legitimieren. Nun waren es eben die Bolschewiken, die das christliche Abendland bedrohten. Und 2009 zog eine österreichische Parlamentspartei mit dem Slogan „Abendland in Christenhand“ in den EU -Wahlkampf.
Bevor also jemand auf falsche Gedanken kommt: Ausdrücklich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass auch Mondsichel und Stern am Turm der Pfarrkirche St. Othmar im dritten Wiener Gemeindebezirk keineswegs von einem türkischen Sultan angebracht wurden. Friedrich Schmidt, unter anderem Architekt des Wiener Rathauses, hat Mitte des 19. Jahrhunderts das alte Symbol als Referenz an das Mittelalter auf die von ihm entworfene Kirche gesetzt.
© Markus Honsig
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Terra Mater 1/2013
Rückkehr ins Paradies
Es war eines der größten Umweltverbrechen des letzten Jahrhunderts: die Zerstörung der mesopotamischen Sümpfe durch Saddam Hussein. Zehn Jahre nach seinem Sturz ist die magische Wasserwelt im Süden des Iraks zu neuem Leben erwacht.
„Wir sind Teil des Sumpfes. Und die Sümpfe sind Teil von uns. Sie sind der Ursprung des Stammes Bani Assad.“ Scheich Labanan Abed Arazq al-Quan sagt es ebenso nachdenklich wie nachdrücklich. Sein Stamm gehört zu den größten und einflussreichsten der Region. Wir sitzen im Mudhif der Stadt Chibayish, dem traditionellen Treffpunkt der Scheichs. Zur Begrüßung bekommen wir starken Kaffee in homöopathischen Dosen serviert, es wird geraucht, geredet, zugehört. Die Oberhäupter der Stämme sind hier häufig anzutreffen, sie verfügen über reichlich Tagesfreizeit.
Der Scheich sorgt sich um die Lebensgrundlage seines Volkes – die mesopotamischen Sümpfe im Süden des Irak, wo sich die Flüsse Tigris und Euphrat weit verzweigen, ein auf dieser Welt unvergleichliches Feuchtgebiet bilden und schließlich gemeinsam in den Schatt al-Arab münden. Eine scheinbar endlose Landschaft aus Wasser und Schilf, in der die Marsh Arabs – die Madans, wie die Bewohner der Sümpfe auf Arabisch genannt werden – seit Jahrtausenden leben.
Die Sümpfe und ihre Bewohner sind ein ungewöhnlich eng verzahntes, voneinander abhängiges Gefüge. Wasser ist der Herzschlag dieser Landschaft. „Was wir brauchen, ist Wasser“, sagt Labanan Abed Arazq, „mehr Wasser, besseres Wasser. Wasser vom Tigris.“ Für das Schilf, aus dem die Madans seit jeher ihre Häuser bauen. Für die Fische, die sie fangen, für die Vögel, die sie jagen, um ihre Kinder zu ernähren. Für ihre Wasserbüffel, die jeden Morgen hinausschwimmen in die Sümpfe und abends wieder zurückkommen, um gemolken zu werden.
Der Tigris aber könnte durch den Bau neuer Kraftwerke an seinem Oberlauf noch weiter ausgedünnt werden, als er es ohnehin schon ist. Das ist eine der großen Sorgen, die die Scheichs in diesen Tagen beschäftigt: dass den Sümpfen das Wasser ausgeht.
Wer nach Basra, die große Hafenstadt im Süden des Irak, fliegt, denkt zuerst an Krieg und Terror, an Autobomben und Anschläge. Und daran, dass man in einer Region landen wird, die nach wie vor zu den eher ungemütlichen Ecken dieser Welt zählt. Gut einhundert Kilometer nordöstlich von Basra, im Zentrum der mesopotamischen Sümpfe, liegt Chibayish. Auf dem Weg dorthin passiert man ungezählte Polizei- und Militärkontrollen und durchquert einen wirtschaftlichen Brennpunkt des Landes: Im Süden des Irak werden mehr als zwei Millionen Barrel Öl pro Tag gefördert. Dass irgendein noch so kleiner Teil des Ölgelds bei der Bevölkerung ankommen würde, ist nicht zu bemerken. „Das Geld verschwindet einfach. Der Irak gehört zu den korruptesten Ländern der Welt“, sagt unser Chauffeur. Die Straßen sind in einem erbärmlichen Zustand, die Siedlungen am Straßenrand bis heute gezeichnet von Armut und Krieg.
Eine erste Ausfahrt in die weite, ruhige Wasserwelt der Sümpfe hilft, sich daran zu erinnern, wo man angekommen ist: in Mesopotamien, dem Zweistromland, einer der kulturgeschichtlich bedeutendsten Regionen dieser Erde, einer Wiege der Menschheit. Nur wenige Autostunden von Chibayish entfernt befinden sich die ältesten Städte der Welt, Städte wie Ur und Uruk, deren Ursprünge bis in das 4. Jahrtausend vor Christus und weiter zurückreichen. In Mesopotamien wurden die Schrift und die Töpferscheibe erfunden, das Rad ins Rollen gebracht, erstmals Ackerbau betrieben. Hier soll Abraham geboren worden sein, der gemeinsame Nenner von Judentum, Christentum und Islam. Hier wurde das berühmte Gilgamesch-Epos geschrieben, erste große Literatur, und der Kodex Hammurabi verfasst, eines der ersten Gesetzeswerke der Menschheitsgeschichte. Hier soll das biblische Paradies gewesen sein.
Ein Paradies, das über Jahrhunderte von der Welt kaum wahrgenommen wurde und vor zehn Jahren so gut wie völlig zerstört war. Als die Marsh Arabs Anfang der 1990er-Jahre die Rebellion gegen Saddam Hussein unterstützten, entzog der Diktator seinen politischen Widersachern prompt ihre Existenz: das Wasser. Es waren die Jahre des internationalen Ölembargos – der Irak konnte keinen Tropfen Öl exportieren. Jeder frei gewordene Bagger, jeder verfügbare Lastwagen wurde fortan genutzt, um im Süden des Landes durch den Bau von Kanälen und Dämmen das Wasser ab- und umzuleiten.
1997 war die 20.000 Quadratkilometer große Sumpflandschaft bis auf einen kleinen Rest von nicht einmal zehn Prozent der ursprünglichen Fläche trockengelegt, die uralte Heimat der Marsh Arabs eine leblose Wüste. Zehntausende Madans wurden getötet, ihre schwimmenden Häuser, ihre Siedlungen im Schilf zerstört. Die Überlebenden flüchteten in den Iran oder in die Städte, nach Bagdad, Babylon, Kerbala, um als Tagelöhner Arbeit zu finden. Das Paradies verwandelte sich in totes Land.
Das es zum Teil bis heute ist. In der Region des ehemaligen Saigal im Norden des Euphrat erinnern nur noch Tonscherben, die in der Wüste verloren herumliegen, verfallene Schreine, die niemand mehr besucht, vertrocknete Schilfwurzeln und Muschelreste an eine der ehemals größten und schönsten Siedlungen von bewohnten Inseln mitten im Wasser. Der Feldzug Saddams gegen die eigene Bevölkerung sei eines der größten Umweltverbrechen der Geschichte gewesen, stellte auch die UNO fest. In Chibayish lebten um die Jahrtausendwende nicht mehr als 6.000 Menschen. 1990 waren es noch 60.000.
2013 zählt Chibayish wieder an die 60.000 Einwohner. Die Stadt steht zwar auf trockenem Boden, ist aber von allen Seiten vom Sumpf eingeschlossen: den Central Marshes im Norden, den Hammar Marshes im Süden, den Hwezeh Marshes östlich des Tigris an der Grenze zum Iran.
Die Rückeroberung des Paradieses durch seine ursprünglichen Bewohner ist eine erstaunliche Geschichte, über die Widerstandskraft der Natur, noch mehr über die Widerstandskraft des Menschen und seiner kulturellen Identität . Nach dem Sturz Saddams 2003 sind die Madans in ihre alte Heimat zurückgekehrt, haben die Dämme eigenhändig aufgebrochen und sich ihr Land zurückgeholt. Euphrat und Tigris konnten wieder frei fließen. Das Schilf begann zu wachsen, die Fische und Vögel kamen zurück und mit den Madans auch die Wasserbüffel. Es dauerte knapp fünf Jahre, um eines der bedeutendsten und größten Feuchtgebiete dieser Erde auszutrocknen. Und es brauchte nur wenige Monate, um es wieder zum Leben zu erwecken.
Zehn Jahre später steht ein gutes Drittel der ursprünglichen Fläche wieder unter Wasser. „Wir haben sonst nichts“, sagt Ali Abd Hussain, ein Fischer, den wir draußen in den Central Marshes auf einem der stillen Seen begegnen, die sich zwischen dem Schilf plötzlich öffnen. „Wir haben nur das Wasser und den Sumpf.“ Es ist Abend, gemeinsam mit seinem Cousin kontrolliert Ali die ausgelegten Netze. Noch sind nur die kleinen Fische im Netz – Fische, die gerne im Ganzen gebraten und gegessen werden. „Morgen früh sollten wir auch größere Fische haben.“ Karpfenfische hauptsächlich, die unvermeidlichen Tilapias, die auf der ganzen Welt ausgesetzt werden, mit sehr viel Glück auch einen Gatan, er ist der größte, seltenste und wertvollste Fisch, der in den Sümpfen lebt.
Die Männer werden die Nacht draußen verbringen, auf dem Boot Fladenbrot backen und Fisch grillen. Jetzt im Winter sei das nicht so schlimm, sagen sie. Im Sommer freilich könnten die Moskitos schon ziemlich lästig werden. In einer Nacht fangen die beiden Männer rund 40 Kilo Fisch. Dafür bekommen sie 40.000 irakische Dinar, umgerechnet rund 26 Euro. Vor ein paar Jahren war es noch besser, erzählt Ali Abd: „Es gab weniger Fischer und mehr Fische.“ Letzteres liegt teils an der schlechteren Qualität des Wassers, aber auch daran, dass die Marsh Arabs selbst immer öfter dazu neigen, zu wenig nachhaltigen Fangmethoden zu greifen. „Das elektrische Fischen müsste gesetzlich verboten werden“, sagt der junge Fischer, der selbst nur mit Netz arbeitet.
Zwei Tage bleibt er zum Fischen in den Sümpfen, dann fährt Ali Abd für einen Tag nach Hause zu seinen beiden Frauen und seinen vier Kindern. Die Frage, ob ihm seine Arbeit Spaß macht, stellt sich erst gar nicht. Es gibt ohnehin keine Alternativen.
Auf dem Rückweg sitzen wir tief geduckt am Boden des Bootes. Bootsmann Emad Atta, hauptberuflich Lehrer in Chibayish, führt uns auf engsten, kaum sichtbaren Wasserstraßen durch meterhohes Schilf. Immer wieder bleibt er stehen, schaltet den Motor aus, um möglichen Gegenverkehr zu identifizieren. Rätselhaft bleibt dem staunenden Mitreisenden, wie man in dieser völlig unübersichtlichen Sumpflandschaft die Orientierung behält. Ein Labyrinth aus Schilf und Wasser, wohin man schaut. „Nein“, lacht Emad, „ich habe mich noch nie verirrt, nicht für eine Minute.“ Und wenn es ihn einmal in eine Region verschlägt, die er noch nicht kennt, knotet er eben ein Zeichen an das Schilf, um wieder zurückzufinden. Oft kommt das aber nicht vor.
Schilf ist eine perfekte Pflanze. Sie stellt keine besonderen Anforderungen an die Qualität des Wassers, ihr Wurzelwerk ist eine hoch wirksame Kläranlage. Und die Madans wissen das Schilf zu nutzen: Sie verfüttern es an ihre Wasserbüffel, sie fertigen Matten und Körbe daraus, sie bauen ganze Häuser aus Schilf.
Eindrucksvollste Schilfarchitektur sind zweifellos die Mudhifs, Kathedralen der Gastfreundschaft, mit nichts als Schilf errichtet: Mudhifs sind der traditionelle Treffpunkt der Scheichs, um Probleme zwischen den Stämmen zu besprechen. Die sind nicht weniger geworden, seit nach der Öffnung auch neue Stämme in die Region gezogen sind. Frauen haben keinen Zutritt ins Mudhif – sofern sie keine Fotografinnen aus dem Ausland sind. Die Scheichs lassen sich sehr gern fotografieren, werfen sich auffällig gekonnt in Pose. Anders als ihre Frauen, die immer wieder auch nicht vor die Kamera dürfen.
Wir besuchen den Madan Sayed Mohssan al-Qusai in seinem provisorischen Zelt. Er ist 85, gesundheitlich angeschlagen, hebt zur Begrüßung freundlich die Hand. Er lächelt leise in sich hinein, als uns seine Söhne die Familienverhältnisse erklären: Sayed Mohssan hat sechs Frauen, acht Söhne, acht Töchter und rund siebzig Enkelkinder, mindestens.
Eine stolze und offensichtlich wohlhabende Familie, die nebenan gerade ihr neues Mudhif errichtet. Es ist ein prächtiger Bau, 23 Meter lang, jeweils 4,5 Meter hoch und breit. Rund 3.000 Bündel Schilf werden hier verarbeitet. Der Baumeister, Abed Alameer Ishor al-Asadi, ist ein erfahrener Mann. 120 Mudhifs habe er sicher schon gebaut, schätzt er. „Die größte Herausforderung ist“, sagt er, „die mächtigen, schweren Halbbögen des Gewölbes oben zusammenzubringen und zusammenzubinden.“ Was man dazu braucht, sind Gerüst, Seile, Messer und ein paar kräftige Männer. Mehr nicht, wie seit Jahrtausenden: Sumerische Abbildungen aus dem dritten und zweiten Jahrtausend vor Christus zeigen Häuser, die sich in ihrer Architektur und Bauweise von jenen moderner Mudhifs kaum unterscheiden. Das einzige Zugeständnis an die neue Zeit: Inzwischen werden auch Seile zum Zusammenbinden der mächtigen Säulen verwendet und nicht mehr nur die traditionellen, aus Schilf gedrehten Schnüre.
Die Schilfhütten im Sumpf sind vergleichsweise sehr viel einfacher ausgestattet. Zwar sind auch viele Rückkehrer in der Stadt geblieben, weil es dort Strom, Schule und medizinische Versorgung gibt: Tausende Madans sind aber wieder auf das Wasser hinausgezogen, haben ihre Hütten auf angeschwemmten Inseln oder an den Ufern des Sumpfes gebaut.
Jaffar Shnaiter Asadi hat sich auf einer kleinen, nur mit dem Boot erreichbaren Insel in den Hammar Marshes eingerichtet, wo er mit seinen drei Frauen und neun Kindern – sechs Mädchen, drei Buben – lebt. Er freut sich über unseren Besuch. „Etwas Unterhaltung ist immer willkommen, dann geht der Tag schneller vorbei“, sagt er. Zwei seiner Frauen und die größeren Kinder sind wie jeden Tag unterwegs, um Schilf zu schneiden. Für ein Bündel Schilf bekomme er 750 Dinar, das sind 3.000 Dinar pro Tag, rechnet er uns vor – nicht einmal zwei Euro.
Man darf sich von der idyllischen Lage mitten im Wasser, umgeben von nichts als Schilf und Himmel, nicht täuschen lassen: Das Leben im Sumpf war immer hart, vor allem für die Frauen und Kinder. Und daran hat sich wenig geändert. Keines von Jaffars Kindern, zwischen zwei und zwanzig Jahre alt, geht in die Schule, kann lesen oder schreiben, trotz der Schulpflicht, die im Irak offiziell gilt.
„Ich liebe es, Vögel zu jagen“, antwortet Jaffar auf die Frage, warum er seit zehn Jahren wieder im Sumpf lebt und auch die extrem trockenen Jahre 2008 und 2009 geblieben ist, als einige Madans die Sümpfe wieder verließen. Mittlerweile ist der Wasserstand hoch wie schon lange nicht mehr. Geschossen wird auf fast alles, was fliegt – so selten können Zwergscharbe, Sumpfhuhn oder Marmelente gar nicht sein.
Zuletzt habe er 15 Wasserbüffel wegen einer Infektion und hohem Fieber verloren, erzählt Jaffar. Er wirkt aber nicht besonders zerknirscht, obwohl Wasserbüffel zum wertvollsten Besitz eines Madans gehören. Ein, zwei Tiere hat fast jeder daheim, zehn, zwanzig Kühe sind für einen Wasserbüffelzüchter guter Durchschnitt, manche haben auch 200 Stück Vieh. Bis zu sieben Liter fettreiche Milch geben die Kühe pro Tag, für die man rund 5.000 Dinar (etwa 3,25 Euro) bekommt. Oder die zu Büffelkäse weiterverarbeitet wird: Schmeckt ausgezeichnet, sollte aber – falls Sie einmal in der Gegend sind – aufgrund seines gewaltigen Fettgehalts von Besuchern aus dem europäischen Ausland nur in kleineren Portionen verkostet werden.
Insgesamt sind an die 200.000 Wasserbüffel in den Sümpfen unterwegs. Die klugen Tiere mit dem schicken Mittelscheitel am Kopf schwimmen morgens allein hinaus und kommen abends von allein wieder zurück, legen dabei auch richtig weite Strecken zurück und sind aus dem Bild der Landschaft nicht wegzudenken.
Das Schilf, das Wasser, die Fische, die Wasserbüffel – „das Leben ist einfach, das liebe ich an den Sümpfen“, sagt Jassim al- Asadi. Jassim ist 1957 mitten in den Sümpfen zur Welt gekommen, seine Mutter wurde beim Schilfschneiden von den Wehen überrascht. „Damals gab es noch hunderte bewohnter Inseln im Sumpf, Boote waren die einzigen Transportmittel. Mit ihnen fuhr man zur Schule oder besuchte die Nachbarn. Es gab Schulen, Strom und Ärzte im Sumpf.
Ist man im Sumpf geboren, hängt man ein Leben lang an ihm wie an einer Nabelschnur. Wenn du in den Sümpfen bist, ist alles gut.“ Jassim al-Asadi ist Wasserbauingenieur und leitet das lokale Büro von „Nature Iraq“ in Chibayish, der ersten und einzigen Naturschutzorganisation des Landes, die mit internationaler Unterstützung und in Zusammenarbeit mit den zuständigen Ministerien die Wiederbelebung der Sümpfe vorantreibt.
Wir sind auf dem Al-Majar-Kanal unterwegs, auf dem Weg in die Hammar-Sümpfe. Die Eisvögel tanzen uns fast auf der Nase herum, Reiher steigen elegant aus dem Schilf auf, Enten tauchen hektisch unter, und über allem schwebt ein Schwarzer Milan.
Jassim steht auf, breitet die Arme aus und strahlt: „Schau, wie schön die Sümpfe sind! Das ist mein Projekt. Daran habe ich ein Jahr lang gearbeitet. So sieht gesunder Sumpf aus. Obwohl der Winter schon begonnen hat, ist das Schilf noch grün.“ Nach der weitgehend unkontrollierten Öffnung der Sümpfe im Jahre 2003 wurden in den vergangenen Jahren Kanäle und Schleusen angelegt, die ein gezieltes Wassermanagement ermöglichen. Auf diese Weise kann immerhin die Menge des Wassers reguliert werden.
Kaum aber seine Qualität: Die hängt in erster Linie von der Dynamik der Flüsse ab, vor allem von jener des Tigris. Die Maschine, die diese Dynamik immer antrieb, sind die Berge Kurdistans: Nach der Schneeschmelze im Frühjahr spülten die Flutwellen des Tigris im März und April jeden Jahres die Sümpfe kräftig durch, setzten riesige Flächen unter Wasser und versorgten sie mit natürlichen Nährstoffen. Diese ersten Monate im Jahr, wenn das Schilf wieder zu wachsen beginnt und hunderttausende Vögel auf ihrem Zug von Afrika nach Asien hier zwischenlanden, sind die entscheidenden Monate für die Vielfalt und Vitalität des Sumpfes.
Doch die Flutwellen erreichen den Süden schon seit Jahren nicht mehr in der notwendigen Stärke. Das hat auch im Irak hausgemachte Gründe: Die Landwirtschaft entlang von Euphrat und Tigris wird mit verschwenderischem Einsatz von Wasser betrieben, die Bauern überfluten Reisund Getreidefelder großflächig wie früher. Das dafür nötige Wasser zweigen sie von den Flüssen auf ihrem Weg in den Süden ab. Es fehlt, am Ende der Pipeline, in den Sümpfen.
Noch schärfer bremsen zahlreiche Kraftwerke die natürliche Dynamik der Flüsse – im Irak selbst, im Iran, in Syrien, vor allem aber in der Türkei. Mit Projekten wie dem derzeit im Bau befindlichen Kraftwerk Ilisu am türkischen Oberlauf des Tigris könnte dem Sumpf endgültig das Wasser entzogen werden. Zum zweiten Mal. „Wenn der Tigris weg ist“, sagt Scheich Labanan Abed Arazq al-Quan, „dann sind auch die Madans weg. Dann stirbt der Sumpf.“
Eine weitere Chance für die mesopotamischen Sümpfe wird es nicht geben.
Der Herr der Sümpfe
Einmal 25 Jahre Kalifornien und zurück: Azzam Alwash, Gründer von Nature Iraq, hat den amerikanischen Traum gegen den Traum vom Sumpf eingetauscht.
Azzam Alwash verbindet mit den Sümpfen von Mesopotamien vor allem E rinnerungen an seinen Vater, Wasserbauingenieur wie er und ein viel beschäftigter Mann. „Aber einmal die Woche fuhren wir mit dem Boot hinaus, dann hatte ich ihn für mich allein.“
Wer Azzam Alwash für sich allein haben will, sollte mit ihm ebenfalls hinaus auf das Wasser fahren. Der Mann ist nicht weniger beschäftigt als sein Vater. Er ist permanent online, telefoniert, mailt, schickt SMS-Nachrichten, immer und von überall. In den Sümpfen aber bricht der Empfang irgendwann ab. Dann packt er das Handy weg, zündet sich eine Zigarette an, legt sich zurück, schaut in den Himmel und schläft kurz darauf ein. „Man braucht nur einen Tag im Sumpf, um den Stress von Monaten loszuwerden“, sagt er, nachdem er wieder aufgewacht ist. Azzam
Alwash ist der „smart guy“ der Sümpfe. Der heute 55-Jährige verließ 1978, mit 21, den Irak, ging nach Kalifornien, studierte, gründete eine Familie und machte Karriere und Geld. Azzam Alwash führte ein Leben wie im klassischen amerikanischen Traum. Aber es gab immer auch den anderen Traum, „in die Sümpfe zurückzukehren, meiner Familie die Sümpfe zu zeigen“.
Er war einer der Ersten, die in den 1990er- Jahren auf Saddams Verbrechen im Süden des Irak hinwiesen. „Damals hörte mir aber noch keiner zu. Es gab andere, wichtigere Themen. Erst nach den Anschlägen vom 11. September begannen sich auch das Außenministerium und das Verteidigungsministerium der USA für meine Geschichte zu interessieren.“ 2003, nach 25 Jahren in Kalifornien, kehrte er in den Irak zurück. 2004 gründete und finanzierte er die Naturschutzorganisation Nature Iraq, die inzwischen 40 Mitarbeiter beschäftigt, die Hälfte davon Wissenschafter. Sie betreibt Projekte im ganzen Land. Außerdem unterrichtet Alwash an der amerikanischen Universität in Sulaimani, sitzt in zahlreichen regionalen NGOs des Landes, arbeitet mit internationalen Organisationen wie UNESCO oder BirdLife zusammen, berät Politiker im Irak und ist international wie national bestens vernetzt in Politik und Wirtschaft.
Alle paar Wochen besucht Azzam Alwash seine Sümpfe. Dann kniet er am Rand der Central Marshes am Boden und zeichnet eine Landkarte in den Sand: „Wir wollen die Fläche des Sumpfes verdoppeln, mindestens 50 Prozent der ursprünglichen Ausdehnung erreichen.“ Dazu braucht es mehr Wasser vom Tigris. Heute sind es gerade einmal fünf Kubikmeter pro Sekunde, notwendig wären mindestens 25. Als geübter Kalifornier lässt er sich freilich durch kleinere oder größere Probleme nicht irritieren. Der Mann hat gelernt, positiv zu denken.
Natürlich weiß er, dass die Sümpfe seiner Kindheit mit den Sümpfen der Gegenwart nicht mehr vergleichbar sind, dass sie kleiner sind und anfälliger, dass die Wasserqualität schlechter geworden ist. „Aber so ist es eben. Natur verändert sich ständig, auch die Sümpfe werden sich verändern. Vielleicht sind sie überfischt, überjagt, übererntet. Aber sie werden nicht sterben. Unsere besten Verbündeten sind die Madans. Solange sie im und vom Sumpf leben, wird er existieren.“
Natürlich ist er sich bewusst, dass er den Ilısu-Staudamm in der Türkei kaum aufhalten kann. „Aber auch das ist nicht das Ende.“ Der Techniker will nicht darüber diskutieren, wem das Wasser, wem der Tigris gehört. Er schlägt vor, mit den türkischen Nachbarn einen pragmatischen Deal abzuschießen. „Wir kaufen den Strom, den wir ohnehin brauchen, und verkaufen der Türkei unser Öl zu einem guten Preis. Und als Nebenprodukt bekommen wir mehr Wasser. Es gibt einen Weg, bei dem alle gut aussteigen.“
Die Planungen für einen Nationalpark in den mesopotamischen Sümpfen seien fertig, seine Eröffnung könne nur noch eine Frage der Zeit sein, sagt er. „Vielleicht schon in ein paar Monaten, vielleicht in ein, zwei Jahren.“ Die Bürokratie ist auch im Irak schwer einzuschätzen. Und noch ein wenig, aber gar nicht so viel weiter gedacht, stellt sich Azzam vor, mit einer Mischung von Natur- und Archäologieerlebnis erste Touristen in die Region zu bringen. Die Pläne für entsprechende Gästehäuser liegen längst in der Lade. „Allein in England gibt es eine Million Birdwatcher. Für die ist das hier der Himmel auf Erden. Und in den Wintermonaten haben wir ein wunderbares Klima.“
Im Sommer, wenn Temperaturen von um die 50 Grad erreicht werden, will er die Touristen in die kühlen Berge des Nordens lenken. Dort sei es nämlich ebenso schön wie in den Sümpfen des Südens.
Der Kampf ums Wasser
Ein riesiger Staudamm in der Türkei könnte den mesopotamischen Sümpfen endgültig das Wasser abdrehen.
Es war eine ungewöhnliche Reise, zu der im Mai vergangenen Jahres neun Scheichs aus dem Süden des Irak aufbrachen: Sie fuhren nach Hasankeyf, der türkischen Felsenstadt in Südostanatolien, der Heimat der Kurden, um dort gemeinsam mit den Bewohnern der Stadt gegen den Bau des Staudamms Ilısu am Tigris zu protestieren.
Ilisu ist seit Jahren eines der international umstrittensten Kraftwerksprojekte und befindet sich bereits im Bau: Die Staumauer soll fast 2 Kilometer lang und 135 Meter hoch werden, der Stausee wird eine Länge von 135 Kilometern erreichen und eine Fläche von 313 Quadratkilometern unter Wasser setzen. Knapp zweihundert Siedlungen werden untergehen, darunter eben auch das uralte Hasankeyf. Zehntausende Menschen müssen umgesiedelt werden. Zu den direkten Auswirkungen in der Region kommen die indirekten Folgen im weiteren Verlauf des Tigris bis in den Süden des Irak.
„Weil niemand zu uns in den Irak kommt, um uns zu hören, kommen wir zu euch, um zu sprechen“, sagte Scheich Sayed Abbas in Hasankeyf. „Die mesopotamischen Sümpfe sind wegen Ilisu in Gefahr.“ Der Stausee mit seinen gewaltigen Speicherkapazitäten, so die Angst der Scheichs, würde die für den Sumpf lebenswichtigen Hochwässer im Frühjahr abfangen. Da der zwei Milliarden Euro teure Kraftwerksbau kaum mehr völlig gestoppt werden kann, setzten die Scheichs auf einen Kompromissvorschlag: Die Staumauer sollte auf 65 Meter Höhe reduziert werden. Damit würde sowohl Hasankeyf gerettet als auch den mesopotamischen Sümpfen weniger Wasser entzogen werden. Der Vorschlag wird die Planungen allerdings ebenso wenig verändern wie der kürzlich vom türkischen Höchstgericht verhängte Baustopp: Das Kraftwerk soll nach wie vor 2014 in Betrieb gehen.
Fußnote: Nach den breiten Protesten gegen das Kraftwerk Ilisu haben die Kontrollbanken Deutschlands, Österreichs und der Schweiz schon 2009 ihre Exportgarantien gekündigt, internationale Unternehmen zogen sich aus dem Bauvorhaben zurück. Seither betreibt die Türkei das Projekt weitgehend im Alleingang. Das letzte größere Unternehmen, das nach wie vor mit an Bord ist: der österreichische Maschinenbauer Andritz.
© Markus Honsig
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Audi Magazin 3/2012
Im Reich des Königs
241 Dreitausender, 160 Bergseen, unberührte Täler wie aus einer anderen Zeit. Nach Osttirol mag die Anreise etwas weiter sein: Aber jeder Kilometer zahlt sich aus.
„Gspiast as?“, fragt der Kalser Bergführer Johann Rogl, während wir vom Cimaross hinüber zum Glockner schauen, bei prächtigster Wetterlage, nur die oberste Spitze des landesweit höchsten Berges will nicht ganz aufmachen. „Seine Ausstrahlung, seine Anziehungskraft?“
Doch, das kann man spüren. Was der Anziehungskraft auf den wenig trainierten Städter etwas entgegenwirkt: Der Weg sieht schon aus sicherer Entfernung ziemlich anstrengend aus. Und auch nicht ganz leicht.
„Kondition braucht man schon“, sagt Rogl. 1800 Höhenmeter müssen überwunden werden, mit sieben Stunden Gehzeit für den Aufstieg (und einer Übernachtung) sollte man also schon rechnen. „Alles andere ist aber schon machbar, mit einem Bergführer.“ Auf den sollte man jedenfalls nicht verzichten: Der Glockner bietet zwar alles, was das Bergsteigerherz freut, das aber auch jederzeit gefährlich werden kann: „Schnee, Eis, Fels.“
Land der Berge
Der König der Berge im Land der Berge: 241 Dreitausender soll es in Osttirol geben. „Ich weiß gar nicht, wo die alle stehen sollen“, kommt die Zahl auch Johann Rogl fast ein wenig hoch vor. Er selbst war auf vielleicht fünfzig, sechzig Gipfeln jenseits der 3000er-Marke. So genau weiß er das selbst nicht mehr. Und unzählige Male auf dem Großglockner, der für ihn nach wie vor ein ganz besonderer Berg ist: „Weil er der schönste Berg ist und auch der anspruchsvollste.“
Wer es entspannter angehen möchte, dem sei der neu angelegten Tal-Rundweg in Kals empfohlen: Dauert zwar, knapp zwanzig Kilometer weit, kaum weniger lang als auf den Glockner hinauf, ist aber doch deutlich weniger steil. Wir haben die komfortabelste Route gewählt, von Kals mit der Seilbahn hinauf auf das Cimaross. Weil sich von hier aus ein grandioses 360-Grad-Panorama mit Venediger, Granatspitz, Glockner, Schober und Goldberg öffnet. Und weil hier eines der höchst gelegenen Haubenlokale des Landes ist, die Adler-Lounge auf 2621 Meter Seehöhe.
Eine smarte Location, wie man sie in den Bergen selten findet. Ein moderner Stahl-/Glasbau, der aus jeder Ecke fantastische Ausblicke bietet. Ein junges Paar, das mit großem Engagement das Haus führt: Walter Hartweger und Katharina Fiechtl. Untertags serviert Hartweger Hüttenküche mit Niveau, da gibt es neben der klassischen Brettljausen auch Carpaccio vom Rind und Eierschwammerlgulasch. Abends wird dann im intimen Rahmen aufgekocht: Die Seilbahn schließt um 16.30, die maximal zwölf Hausgäste bleiben unter sich, mit persönlichstem Service und unverändert atemberaubendem Ausblick auf Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, mit etwas Glück auch auf Bartgeier und Kaiseradler.
Land der Seen
Dass in Osttirol viele hohe Berge stehen, war zu erwarten. Überraschender schon, dass es in Osttirol auch 160 Seen gibt, Bergseen in der Mehrzahl. Manche davon sind zugegeben nicht besonders groß, eher sehr klein, aber auf die Größe kommt es nicht immer an. Seen wie das „Auge Gottes“ am Großvenediger auf 2150, der „Geigensee“ auf 2409 Meter oder das „Pfauenauge“ in der Nähe der uralten Jagdhausalm im Defreggen Tal sind kleine, funkelnde Juwelen.
Der Tristachersee in der Nähe von Lienz ist der einzige Naturbade-See Osttirols, ein ruhiges, idyllisches Wasser im Schatten des Rauchkofels. Der beste Platz, um das schöne Ensemble von Wasser und Fels, Wald und Wiese zu beobachten, ist das Zweihauben-Restaurant des Parkhotels Tristachersee. Auf der Speisekarte findet sich bestes Fleisch aus der Region, Lamm, Hirsch, Rind. Und frischester Fisch aus den hauseigenen, mit Felsquellwasser aus dem Rauchkofel versorgten Teichen, Karpfen, Saibling, Forelle. Bloß der Hummer auf der Speisekarte will nicht recht ins Bild passen. Soll nichts Schlimmeres passieren. Ansonsten passt nämlich alles perfekt zusammen, die Lage, die Küche, die Weinkarte, das Service.
Hausherr Josef Kreuzer kümmert sich um jeden Gast persönlich und ist außerdem eine unerschöpfliche Auskunftsquelle über Land und Leute. „Osttirol gibt es ja gar nicht,“ sagt er. Offiziell gibt es nur den Bezirk Lienz. Und offiziell sind die Osttiroler Tiroler, Nordtiroler genau genommen. „Wahr ist aber auch, dass wir den Südtirolern sehr verbunden sind, dass wir eine ähnliche Mentalität haben.“ Ein in jeder Hinsicht sympathischer Einfluss, etwas Süden, etwas Italien schadet dem österreichischen Wesen keineswegs. Dem Klima natürlich auch nicht: Was man unbedingt schreiben müsse, meint Josef Kreuzer, dass es in Osttirol überdurchschnittlich schönes Wetter hat, „weil vom Westen erwischt uns nichts“, den Bergen sei Dank.
Land der Täler
Die Anreise nach Osttirol kann zwar – aus einigen Teilen des Landes – vergleichsweise langwierig sein. Aber jeder Kilometer zahlt sich aus: Schönere, unberührtere Täler als im südwestlichsten Eck Österreichs werden Sie nicht finden.
Josef Schett aus Innervillgraten fährt zehntausende Kilometer im Jahr. Für einen Schafbauer ungewöhnlich viel. Und jedes Mal aufs Neue, erzählt er, wenn er ins Villgratental einbiegt, gehe ihm das Herz auf. „Die Landschaft, die alten Höfe, die Menschen, die Almwirtschaft: So findet man das nirgendwo sonst.“ Tatsächlich kann man ihm nur schwer widersprechen: „Kommen Sie zu uns, wir haben nichts“, warb das Villgratental noch vor einigen Jahren um Besucher.
Dass es nach wir vor nichts gibt, keinen Skilift, keine großen Hotels, ist zu einem guten Teil auch Josef Schett zu verdanken, der schon immer ein Kämpfer für einen sanften, zurückhaltenden Tourismus war und bis heute ist. Denn natürlich gab es in den letzten 15 Jahren auch unter den Einheimischen immer wieder Begehrlichkeiten, durch den Bau eines Lifts mehr Touristen in das Tal zu locken.
Schett bewies hingegen, wie man vom Talschluss aus die Welt im Blick haben kann, ohne seine eigene Identität zu verlieren. Der gelernte Bankkaufmann übernahm 1985 den Bauernhof seiner Eltern, stellte auf reine Schafwirtschaft um und baute sukzessive einen Betrieb auf, der inzwischen zu den führenden Wollverarbeitungs-Unternehmen Österreichs gehört: Schett hat auch 200 braune Bergschafe im Stall, verarbeitet aber ein Drittel der österreichischen Wolle, produziert Dämmstoffe und Naturmatratzen ebenso wie Wollsocken und Filzpantoffeln. „Die Energie von drei Leben steckt da drinnen“, sagt Schett über seinen Betrieb und empfiehlt zum Abschluss noch eine Wanderung auf das Pfannhorn, „von nirgendwo anders sieht man mehr Gipfel, bei klarem Wetter bis zum Rosengarten in Südtirol.“
Villgrater Mode
Auch Bernd Mühlmann will vom Villgratental aus die Welt erobern. Ein Modedesigner, wie man ihn an diesem Platz nicht unbedingt erwarten würde: Verarbeitet zwar traditionelle Materialien wie Loden, Wolle, Walk, nur in bester Qualität, in moderner, zeitgemäßer Interpretation. „Innovativ, einfach, puristisch“, beschreibt der geborene Außervillgater seine Mode. Und jedenfalls ist sie gut tragbar, man mag die Stücke gar nicht mehr ausziehen, hat man sie einmal anprobiert.
Wie man auf die Idee kommt, sich als Modedesigner in Außervillgraten anzusiedeln? Ersten wollte Bernd Mühlmann die Schneiderei seines Vaters nicht aufgeben. Und zweitens fände er die Abgeschiedenheit des Tals durchaus „cool“, wie er formuliert. „Man ist weniger abgelenkt. Und man kopiert weniger, weil man weniger sieht“, erklärt der Designer, für den vor allem Dior zu den Leitsternen seiner Arbeit gehört. Klar habe er auch schon überlegt, in die Stadt zu ziehen. Aber er mag die Ruhe, die Natur, das Wetter, auch und erst recht das schlechte Wetter.
Nicht mehr als fünfzehn Stück werden von einem Modell gefertigt, „wirtschaftlich mag das nicht besonders klug sein, aber mir geht es um das Produkt, um die Arbeit. Mir ist wichtig, nicht nur Arbeit, sondern gute, anspruchsvolle Arbeit zu haben.“ Ein Shop in Innsbruck ist eröffnet, ein, zwei weitere Geschäfte sollen noch dazu kommen, in Wien etwa oder in München.
Defregger Schärfe
Auch andere Täler haben erfolgreiche Söhne. Zum Beispiel Bernd Troger im Defreggental. Noch ist er hauptberuflich Wirt, aber seine liebste Nebenbeschäftigung gewinnt zusehends an Bedeutung: Die Herstellung von Senf, die er in seiner kleinen Küche seit sechs Jahren begeistert vorantreibt. „Im Unterschied zu Chili hat Senf eine wesentlich angenehmere Schärfe. Weil sie wasserlöslich ist und ähnlich wie Kren oder Wasabi nach ein paar Sekunden wieder verschwindet. Senf verdirbt nicht den Geschmack, bleibt immer ein Nebendarsteller am Teller“, erklärt Tröger. Aber einer, der Akzente zu setzen versteht, sobald die Senfkörner am Gaumen zerplatzen. Tröger verarbeitet gelbe, braune und schwarze Senfkörner zu anregenden Kreationen wie Trüffel-, Rustikal-, Dill-Honig- oder Apfel-Senf. „Es gibt nichts, wozu man keinen Senf machen könnte.“ Zu Vanilleeis etwa würde er seinen Orange-Kürbis-Senf empfehlen, der aber auch gut zu Käse passt.
Bis zu sechs Monaten arbeitet er an den einzelnen Rezepturen, die Herstellung selbst dauert sechs Wochen, bis der kalt gemaischte Senf seine entsprechende Reife gewonnen hat. So können sich die Aromen voll entfalten. „In den ersten Monaten schmeckt er schärfer, nach sechs Monaten baut die Schärfe ab, die Gewürze, die Frucht kommt in den Vordergrund.“ Es kann sich also durchaus auszahlen, Defregger Senf ein wenig liegen zu lassen.
Nächstes Jahr soll es Trogers Senf in ganz Österreich geben, will er bis zu 30.000 Gläser erzeugen. Als Koch war er zehn Jahre in der ganzen Welt unterwegs, fünf Jahre alleine in Australien. Inzwischen mag er nirgendwo anders leben als in Sankt Jakob im Defreggental: „Ich möchte, dass mein Sohn so toll aufwachsen kann wie ich“, sagt er und zeigt hinter das Haus. „Der Wald, der Bach, der Wasserfall, der Berg, das gehört alles ihm, jeden Tag.“
© Markus Honsig
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Terra Mater 2/2012
Die Zeitmaschine des Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorskij
Als ob sie erst gestern geschossen wurden: 100 Jahre alte Farbfotos aus dem vorrevolutionären Russland zeigen ein faszinierendes Bild des untergehenden Zarenreiches.
Es gibt historische Konstellationen, die auf ihre Weise einmalig sind: Da ist ein Land von gigantischer Größe, das vorrevolutionäre Russland am Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein Land mit einem riesigen Reichtum an kultureller und landschaftlicher Vielfalt.Ein Land im wirtschaftlichen Aufschwung, neu erschlossen durch den Bau der Transsibirischen Eisenbahn.
Da ist ein Zar, der nicht Zar werden wollte, Zar Nikolaus II. Ein absoluter, aber schwacher Monarch, der nicht in der Lage ist, die notwendigen Reformen einzuleiten, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Spannungen in seinem Reich abzubauen, die wachsende Unzufriedenheit der Bauern und Arbeiter aufzufangen. Der letzte Zar einer untergehenden Epoche.
Da ist eine Technologie, die Forscher rund um die Welt beschäftigt und die das Bild von der Welt nachhaltig verändern wird: die Farbfotografie, gerade ausgreift genug, um im größeren Stil eingesetzt zu werden.
Und schließlich ist da ein Mann, der eine große Idee hat und die Kraft, sie umzusetzen. Ein Mann, der nicht ein oder zwei Mal abdrückt, sondern rund 3.500 Mal (genau genommen mehr als zehntausend Mal, aber davon später): Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorskij.
Dass seine Fotos Jahrzehnte später von der Bibliothek des US-Kongresses erworben, von einem Team engagierter Wissenschaftler digital aufbereitet wurden und heute im Internet frei zugänglich sind, erhöht die Magie des Gesamtkunstwerks noch einmal: Eine Zeitmaschine, die uns ansatzlos einhundert Jahre zurück mitten in die spannendsten Jahre russischer Geschichte bringt. Eine Landkarte in Farbe, die wir im Kopf bislang nur in Schwarz-Weiß abgespeichert hatten. Ein einmaliges Werk in der Geschichte der Fotografie.
Es gibt individuelle Chancen, die man nur einmal im Leben bekommt. Der Fotograf Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorskij hat seine am 3. Mai 1909, einem Sonntag. Zar Nikolaus II . lädt ihn an diesem Tag in die Petersburger Residenz Tsarskoe Selo zu einem ganz speziellen Dia-Abend ein. Er möchte die neue Farbfotografie kennenlernen.
Der Fotograf weiß, sein Vorhaben, „ganz Russland in natürlichen Farben“ abzubilden, könnte an diesem Abend den entscheidenden Schub bekommen. Er trifft eine sorgfältige Auswahl von Fotos – Sonnenuntergänge, verschneite Landschaften, Blumen, Bauernkinder, Herbstszenen. Und er arrangiert sie klug – die besten, effektvollsten Bilder hält er für ein starkes Finale zurück. „Aber schon nach dem allerersten Bild“, berichtet er später, „als ich das zustimmende Flüstern des Zaren hörte, war ich mir sicher, dass ich Erfolg haben würde.“ Alles läuft wie geplant: Der Zar zeigt offene Begeisterung noch während der Vorführung. Als ihn der Fotograf schließlich fragt, ob er nicht von Zeit zu Zeit das „wahre Russland“ sehen wolle, verspricht ihm der Monarch seine volle Unterstützung.
Prokudin-Gorskij bekommt einen eigens mit Dunkelkammer ausgestatteten Eisenbahnwagen zur Verfügung gestellt, Schiffe für die diversen Flussfahrten und einen entsprechend ausgerüsteten Ford T für die schlechten Straßen im Ural. Noch wichtiger aber sind zwei vom Zar persönlich unterschriebene Papiere. Eines, das ihm Zugang zu allen Regionen des Landes verschafft, keine Selbstverständlichkeit im Russland dieser Tage. Ein zweites, das die lokalen Verwaltungen auffordert, ihn uneingeschränkt zu unterstützen. Schon im Juni bricht Prokudin-Gorskij auf, um im Norden zu fotografieren, im August reist er in das Ural-Gebirge.
Rückblende: Sergei Michailowitsch Prokudin- Gorskij wird am 31. August 1863 vermutlich in Funikova Gora östlich von Moskau als Sohn einer Adelsfamilie geboren. Die ersten Jahre des späteren Meisterfotografen sind mangels verlässlicher Quellen schwer nachzuzeichnen. Jedenfalls genießt er eine gute Ausbildung, an der Eliteschule Lyzeum Alexander, an der Universität in Petersburg. Er studiert unter anderem Chemie (aber auch Geige und Malerei, der junge Mann ist vielseitig interessiert) und lernt dort wohl auch Dimitri Mendelejew kennen: den Erfinder des Periodensystems, außerdem Mitbegründer der Gesellschaft für Fotografie in Petersburg. An dieser Stelle könnte ein erster Funken übergesprungen sein.
1890 heirate er Anna Aleksandra Lavrova, die Tochter eines bedeutenden Petersburger Stahlindustriellen, der ihn auch in den Vorstand des Unternehmens setzt. Er weiß sich und seine Familie mit drei Kindern also gut abgesichert, als er sich spätestens Mitte der 1890er-Jahre verstärkt der Fotografie widmet: Er wird Mitglied der Russischen Technischen Gesellschaft, er publiziert, hält Vorträge über die Entwicklung der Fotografie, nimmt mit Schwarzweiß-Fotos an Ausstellungen teil, besucht einschlägige Kongresse in ganz Europa und eröffnet 1901 in Petersburg sein eigenes Studio.
Ein Jahr später fährt Prokudin-Gorskij nach Charlottenburg in Deutschland und trifft dort einen der profiliertesten Forscher in Sachen Fotografie: Adolf Miethe, der eben einen neuen Fotoapparat entwickelt hat – die Dreifarbenkamera. Eine Wechselschlittenkamera, mit der von einem Motiv jeweils drei Schwarzweiß-Negative angefertigt werden, jedes davon mit einem an deren Farbfilter – rot, blau, grün. Die Präsentation der daraus entwickelten Diapositive erfolgt mit einem analog aufgebauten Projektor. Klingt einfacher als es ist, alle technischen und historischen Details dazu ab Seite 132.
Diese Kamera wird Prokudin- Gorskij den Rest seines Lebens begleiten: Unklar ist, wie weit er das Gerät selbst weiter entwickelt hat. In Artikeln des „British Journal of Photography“ erwähnt er sein eigenes Kamera-Design, die spezielle Sensibilisierung der Platten. „Belege gibt es dafür aber keine, weil weder Original, noch Zeichnungen oder Nachbauten des Originals existieren“, ist Jan Hubiˇcka, Direktor des Fotomuseums „Sechtl und Vose ˇcek“ im tschechischen Tabor, das 2006 die erste Ausstellung in Europa über Prokudin- Gorskij zeigte, eher zurückhaltend. „Es war unter den Fotografen dieser Zeit durchaus üblich, Mythen über ihre eigenen Entwicklungen zu verbreiten. Ich kenne das aus meiner Familie.“
Sicher ist aber, dass „Prokudin-Gorskij mit der Miethe-Kamera außergewöhnlich gut umzugehen verstand“, sagt Helena Zinkham, Leiterin der Abteilung Drucke und Fotografie an der Bibliothek des US -Kongresses. „Und dass er ein wirklich visionäres Projekt im Kopf hatte.“ Bereits 1905 reist er in den Süden des Landes, bringt Aufnahmen des Kaukasus mit nach Hause. 1906 ist er – unter anderem – in Europa unterwegs, in Italien, Deutschland, Frankreich, besucht die Brüder Auguste und Louis Lumière in Lyon, die an einer völlig neuen Technik arbeiten: Den so genannten Autochromplatten, die erstmals Farbfotos mit nur einer Aufnahme ermöglichen. Prokudin- Gorskij bleibt jedoch dem Miethe-Modell treu. 1908 schießt er eines seiner berühmtesten und am häufigsten publizierten Fotos: Er porträtiert den Schriftsteller Leo Tolstoy auf seinem Landgut Yasnaya Polyana.
Prokudin-Gorskij hat also schon einen guten Namen, als er 1909 beim Zaren antritt, um für sein großes Projekt zu werben. Ihn selbst treiben wohl unterschiedliche Motive an. Er ist von der Farbfotografie fasziniert, weil sie nicht nur die Kontur, sondern den Inhalt eines Objekts wiedergäbe, wie er einmal formuliert. Er ist Patriot und möchte den Kindern Russlands die Schönheit ihres Landes näher bringen. Und schließlich ist er auch Geschäftsmann: „Er stellte sich vor, in Russland einen Markt für Fotografie neu zu etablieren und tausende seiner Diapositive zu verkaufen“, erzählt Vasili Dryuchin, Lehrer in Moskau und Leiter eines breit angelegten Forschungsprojekts zu Prokudin-Gorskij. Die Idee musste jedoch schon allein daran scheitern, dass die dafür notwendigen Projektoren für den Hausgebrauch oder auch für den Einsatz in Schulen viel zu teuer waren.
In den nächsten Jahren schießt Prokudin- Gorskij tausende Fotos. 1913 sind es laut seinen Aufzeichnungen bereits 3.350 Glasnegative – Ansichten eines Reichs, das ein Sechstel des Festlandes der Erde einnimmt, vom Schwarzen Meer und der Ostsee bis zum Pazifischen Ozean reicht, und in dem laut Volkszählung von 1897 mehr als 125 Millionen Menschen leben.
Der Fotograf des letzten Zaren besucht die Wolga-Region und die Industriegebiete des Urals, er fotografiert das Mariinski-Kanalsystem und die Murmansk-Eisenbahn im Norden, in großer Zahl die Klöster, Kirchen und Kulturdenkmäler rund um Moskau, die Transsibirische Eisenbahn, er reist in den Kaukasus und nach Zentralasien Regionen, die erst Mitte des 19. Jahrhunderts während der letzten Eroberungsphase Russlands in das Zarenreich eingegliedert worden waren.
Prokudin-Gorskij verfolgt mit seinen Fotos ein dokumentarisches, weniger ein künstlerisches Ziel: „Fotografie“, erwidert er den „fotografischen Impressionisten“ in einem Artikel der Zeitschrift „Fotograf Lubitel“ , für die er ab 1906 als Redakteur arbeitet, „muss vor allem die Kunst der Aufzeichnung sein.“
Und er zeichnet naturgemäß ein selektives Gesamtbild des Landes auf. Ein Bild, das seinem Mentor und Sponsor, dem Zaren, gefallen soll, dem er seine neuen Bilder drei Mal präsentiert. „Ein Porträt des Landes“, wie Experte Vasili Dryuchin sagt, „mit Liebe gemalt“: Bauernkinder im Sonntagskleid mit einem Teller Beeren in der Hand, exotische Fürsten in voller Robe, stolze Bergbewohner von Dagestan, immer die Hand am Messer.
Der durchkomponierte Charakter der Fotos wird freilich auch von der Technik bestimmt, die von vornherein eine würdige, standbildartige Haltung verlangt: Selbst bei gutem Licht mussten die Porträtierten gut zehn, fünfzehn Sekunden stillhalten, bis die jeweils drei Fotos aufgenommen waren. Taten sie es nicht – bei größeren Gruppen oft unvermeidlich –, sieht man die Bewegung in unterschiedlich gefärbten Konturen am Bild.
Was man auf den Fotos kaum sieht, sind die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes: Die Armut der Bauern, die sich seit der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 sukzessive verschärft. Das Elend der Industriearbeiter, deren Zahl rasant ansteigt. Den institutionellen Antisemitismus im Land. Die – unterschiedlich konsequent durchgeführte – Russifizierung der neu eroberten Gebiete im Süden. Den „Blutigen Sonntag“ am 9. Januar 1905, als die Truppen des Zaren friedliche Demonstranten wahllos niederschießen – der Auslöser für eine erste Revolution, für erste, halbherzige Zugeständnisse des Zaren. Und für die Errichtung eines Parlaments – der Duma –, allerdings mit eingeschränkten Rechten.
Von Prokudin-Gorskij sind weder pro- noch konterrevolutionäre Äußerungen ��berliefert. Er scheint ein politisch unbeschriebenes Blatt bis über die Revolution von 1917 hinaus zu sein: 1918 wird er auch von der neuen Regierung eingeladen, für sie zu arbeiten.
Noch im selben Jahr verlässt Prokudin- Gorskij Russland und wird nie wieder zurückkehren. Er geht zuerst nach Norwegen, später nach England und schließlich nach Frankreich. Seine Familie lässt er – mehr oder weniger wortlos – zurück. 1920 heiratet er seine Assistentin Maria Shchedrina. Seine erste Frau emigriert 1923 mit ihren drei inzwischen erwachsenen Kindern ebenfalls nach Frankreich. „Ohne Hilfe des Großvaters“, erinnert sich Enkelsohn Dimitri Swetchine, damals drei Jahre alt. Er selbst hat kaum konkrete Erinnerungen an den Großvater, „und meine Großmutter und meine Mutter erzählten wenig von ihm, weil sie auf ihn verständlicherweise nicht so gut zu sprechen waren. Er war wohl unabhängig von seinen künstlerischen und technischen Fähigkeiten ein sehr egozentrischer und verschlossener Mann.“
Immerhin: Es gab keine nachhaltig verbrannte Erde im Familienleben. 1925 eröffnet Prokudin- Gorskij gemeinsam mit seinen Söhnen aus erster Ehe, Dimitri und Michael, das Fotolabor „Elka“. 1944 stirbt er in Paris.
Von der alten in die neue Heimat mit übersiedelt sind knapp zweitausend Fotos – eine Zeitkapsel, wie es sie in dieser Größe und Qualität kein zweites Mal gibt. Was Prokudin-Gorskijs Arbeit auszeichnet, sind Konzeption und die Ausführung des Gesamtwerks, ist die ungewöhnliche Brillanz der Fotos. „Solche Farben abbilden zu können, war in dieser Zeit der Traum vieler Fotografen“, sagt Lynn Brooks, der als Leiter des Scan-Zentrums im US -Kongress die Digitalisierung und Veröffentlichung der Fotos maßgeblich vorangetrieben hat.
Wie seine Fotos in die Bibliothek des amerikanischen Kongresses gekommen sind, ist im Grunde eine eigene Geschichte.
Hier nur die Kurzfassung: 1948 verkaufte Familie Prokudin-Gorskij ihre komplette Sammlung von exakt 1.902 Glasnegativen und 14 Alben mit Schwarzweiß-Abzügen der Fotos an den US Kongress. Um einen Preis von 3.500 bis 5.000 Dollar, die Quellen sind auch in diesem Fall nicht ganz eindeutig. „Wir mussten in Frankreich zwar kämpfen“, erzählt Dimitri Swetchine, „hatten aber immer genug zum Leben. Wir verkauften nicht wegen des Geldes, sondern vor allem deshalb, weil wir keine Möglichkeit hatten, die Glasnegative sachgemäß aufzubewahren und zu erhalten.“
Im Jahr 2000 wurden alle Glasnegative hochauflösend eingescannt und digitalisiert, 122 von ihnen digital weiter bearbeitet. Dabei ging es nicht darum, die Originale zu manipulieren, zu verbessern oder korrigieren. Es ging darum, ihre innere Qualität sichtbar zu machen.
Die Herausforderung war die exakte „Registrierung“, die exakte Ausrichtung der Einzelfotos zueinander, um die minimalen Bewegungen während der drei Aufnahmen, verursacht durch das Motiv oder den Wechselschlitten, auszugleichen. Ein aufwändiger Prozess, den der vom Kongress beauftragte Fotograf Walter Frankhauser in mühevoller Handarbeit mit der Standardsoftware Photoshop erledigte. An einem einzigen Foto saß er anfangs 24 Stunden, erzählte er nach Abschluss der Arbeit, am Ende waren es noch immer sechs, sieben Stunden pro Bild. 2004 konnte schließlich mit Hilfe einer neuen, vom amerikanischen Bildverarbeitungsexperten Blaise Aguera y Arcas entwickelten Software dieser Prozess der Aufbereitung weitgehend automatisiert werden.
Insgesamt hat Prokudin-Gorskij rund 3.500 Fotos geschossen, fast die Hälfte scheint also verloren. „Wir haben immer gehofft“, sagt Lynn Brooks, „dass im Rahmen von Ausstellungen vielleicht neue Bilder auftauchen. Bislang leider vergeblich.“
Damit muss vorläufig auch die Frage unbeantwortet bleiben, ob Prokudin-Gorskij jemals Zar Nikolaus II . fotografiert hat. Ein Indiz dafür könnten Fotos der kaiserlichen Villa in Dänemark vom Oktober 1908 sein. „Ich kann mir schwer vorstellen“, meint der Mokauer Experte Vasili Dryuchin, „dass er dorthin reiste, nur um Bäume und Blumen zu fotografieren.“
© Markus Honsig
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Audi Magazin 1/2012
Westwärts
Reise in den Bregenzerwald, eine wohltemperierte Landschaft, in der sich Tradition und Moderne besonders schön ineinanderfügen.
Fährt man von Wien in den äußersten Westen des Landes, sollte man ein ausgewähltes Unterhaltungsprogramm mit dabei haben, schließlich wird man eine Weile unterwegs sein. Zur Einstimmung auf Land und Leute würden wir den Holstuonarmusigbigbandclub empfehlen, die unaussprechliche Band aus dem Bregenzerwald, die mit „Vo Mello bis ge Schoppornou“ die Ö3-Charts eroberte und von ihrem Erfolg wahrscheinlich selbst am meisten überrascht war. Was man hört, sind junge Wälder, die mit riesigem Spaß Musik machen und schwer einzuordnen sind, weil die üblichen Genre-Grenzen ohne Scheu in fast alle Richtungen überschritten werden. „Aber unsere Wurzeln in der Volksmusik sind natürlich erkennbar“, sagt der Schoppenauer Philipp Lingg, Leadsänger der Band, und zitiert Gebhard Wölfle, den Wälder Dichter aus dem 19. Jahrhundert: „Meor ehrod das Ault, und grüssed das Nü, und blibot üs sealb und dr Hoamat trü.“ Ein Leitsatz für den Bregenzerwald: Diese nahtlose Verknüpfung von Tradition und Moderne findet man selten im Land.
Eine wohltemperierte Landschaft: Der Vorderwald offener, sanfter gebaut, der Hinterwald rauer, verschlossener (was, so erfährt man immer wieder im Gespräch, nicht nur den Charakter der Topographie treffend beschreiben soll). Dazwischen der Mittelwald. Und eine wohltemperierte Gesellschaft: „Die Landwirtschaft, das Handwerk haben nach wie vor ebenso große Bedeutung wie der Tourismus“, sagt Ellen Nenning, Chefin des Romantikhotels Gams in Bezau, das nur ein Beispiel, wenn auch ein besonders gelungenes dafür ist, wie man alte Substanz und modernes Konzept miteinander in Einklang bringen kann. Vier Superiorsterne für das Hotel, zwei Hauben für das Restaurant, drei Lilien für den Wellnessbereich, viel besser geht es nicht, ein vorbehaltlos empfehlenswertes Haus, eingerichtet vor allem für Paare, liebevoll ausgestattet und reich dekoriert bis in das kleinste Detail. Eine schöne Bühne für romantische Tage.
Weil der Bregenzerwald eben keine reine Tourismusregion ist, lohnt es sich das ganze Jahr über ihn zu besuchen: Angebot für outdoor und indoor gibt es jedenfalls mehr als ausreichend. Hier lässt es sich wunderbar wandern, laufen, klettern, radeln, golfen, fischen, paddeln, das kulturelle Angebot ist kaum weniger reichhaltig, mit der Schubertiade im Juni, mit dem Angelika Kauffmann Museum in Schwarzenberg, dem Frauenmuseum in Hittisau, der Juppenwerkstatt in Riefensberg.
Häuser übrigens, die schon alleine aus architektonischem Interesse einen Besuch wert sind. Hochwertige Architektur gehörte schon immer zur unverwechselbaren Identität des Bregenzerwalds. Die alte restaurierte Juppenwerkstatt mit ihrer offenen Glasfront oder das neu errichtete Frauenmuseum in Hittisau sind nur zwei von zahlreichen Beispielen, wie gekonnt die Architekten der Region mit alter und neuer Bausubstanz umzugehen verstehen.
Georg Bechter zum Beispiel, der nicht nur Architekt ist, sondern auch gelernter Schreiner. Trifft sich gut, denn Holz ist das bestimmende Baumaterial, „der große gemeinsame Nenner in der Region“, sagt Bechter. Was die Architektur in der Region auszeichnet, sei die gute Zusammenarbeit zwischen regionalen Bauherren, Architekten und Handwerkern, „man schätzt und kennt sich, daraus entsteht eine ganz andere Art der Haftung.“ Freilich müsse man aufpassen, dass man nicht auf hohem Niveau einschlafe, fügt er noch kritisch hinzu, „es fehlen die Spitzen.“
Der geborene Hittisauer Georg Bechter hat einen für einen Wälder prototypischen Lebenslauf, verbrachte viele Jahre im benachbarten Ausland, kehrte 2010 wieder zurück in den Bregenzerwald, bezog ein altes Bauernhaus aus dem frühen 19. Jahrhundert, in dem er heute lebt und arbeitet. Wegzugehen und wieder zurückzukommen bestimmt seit jeher den Rhythmus des Lebens im Bregenzerwald, ein Rhythmus, dessen Wurzeln bis in das 17. Jahrhundert zurück reichen, als die berühmten Barockbaumeister Jahr für Jahr auszogen, um Arbeit zu finden, nach Frankreich, nach Deutschland, in die Schweiz. Und dieses ständige Gehen und Kommen bringt bis heute diese anregende Prise Weltoffenheit und Weltgewandtheit in das grundsätzlich eher bodenständige und beharrliche Wesen des Wälders.
Das in der eleganten Tracht des Bregenzerwalds, der Juppe, seinen kongenialen Ausdruck findet: Ist in Schnitt und Machart unübersehbar von französischen und spanischen Einflüssen inspiriert, wird aber nur und ausschließlich an gebürtige Wälderinnen verkauft. Nein, es ist völlig aussichtslos, es trotzdem zu versuchen. Ja, das gilt auch für Accessoires wie Taschen und Hüte. Und nein, selbst wenn Sie italienischer Stardesigner sind, werde keine Ausnahme gemacht, erzählt Martina Mätzler, Hüterin der guten Tradition und Trachtenreferentin des Landes, die das Handwerk vor dem endgültigen Aussterben bewahrte, indem sie es kurzerhand selbst erlernte und in Riefensberg eine neue Heim- und Werkstätte für die Juppenerzeugung fand. Heute werden rund 70 Juppen pro Jahr geschneidert, aus schwarzer Glanzleinwand, an alten, schweren Maschinen. Jedes einzelne Gewand ein hartes Stück Arbeit, das bei den jungen Frauen immer beliebter wird. Obwohl es nicht ganz billig ist, abhängig von den Gold- stickereien sollte man schon mit 2.500 Euro aufwärts rechnen. Obwohl es heikel in der Pflege ist und nicht zu den allerbequemsten Kleidungsstücken gehört (aber wie von selbst zu einer stolzen aufrechten Haltung führt). Und obwohl es rund um die Juppe durchaus strenge Tragevorschriften gibt: Erstens geht ohne Kopfbedeckung gar nichts, und zweitens sollte das Haar entsprechend hochgesteckt, sollten Stirn und Nacken frei sein. Dass die Jüngeren solche Traditionen nicht mehr ganz so eng interpretieren, sieht Martina Mätzler wohl: „Wir müssen tolerant sein“, sagt sie und sieht dabei nicht ganz glücklich aus.
Frauen und Tradition ist ein gutes Stichwort: Das erste und einzige Frauenmuseum Österreichs steht in Hittisau, was dann doch eine Überraschung ist. Der Beschluss sei im Gemeinderat aber einstimmig gefallen, erzählt Direktorin Stefania Pitscheider, obwohl ihm nicht mehr als eine Frau angehörte. Das Haus, das sich das Museum mit der Freiwilligen Feuerwehr teilt, ist in der Gemeinde bestens verankert und darf sich über konstant gute Besucherzahlen freuen. Beides ist der klugen Führung des Hauses zu verdanken: Im Museum arbeiten 21 Frauen aus der Gemeinde mit, jeden Alters, von 16 bis 82, mit unterschiedlichstem Background. Und die Ausstellungen folgen einem durchdachten Wechsel zwischen ernsteren und leichteren Zugängen, freilich immer mit feministischem Anspruch: So folgt der Ausstellung „Frauen und Gewalt“ im letzten Jahr heuer die Ausstellung „Tollkühne Frauen“ über Luftakrobatinnen, Raubtierdompteusen, Seiltänzerinnen, Scharfschützinnen und ähnlich furchtlose Artistinnen. Eröffnung im Mai.
Tollkühn auf ihre Art ist auch Gabi Strahammer, immerhin bekocht sie ihr Restaurant Schulhus mit bis zu 60 Plätzen im Wesentlichen alleine. „Ich kann nicht anders. Ich muss alles selber machen.“ Für den Gast jedenfalls ein Glücksfall, Strahammer zählt zu den besten Köchinnen des Bregenzerwalds. Die Karte ist klein, fein, regional und saisonal. Klingt nicht neu, ist aber in diesem Fall richtig ernst gemeint. „Wenn wir nicht im Betrieb sind, sind wir Sammler.“ Vorzugsweise in den angrenzenden Moorgebieten, Kräuter, Wildfrüchte. Mehr noch: Weil es an entsprechender Qualität fehlte, werden seit drei Jahren eigens für das Schulhus und drei befreundete Wirte Duroc-Schweine aufgezogen, dem berühmteren Iberico-Schwein nicht unähnlich, und mindestens ebenso schmackhaft. Mangels Angebots zwar nicht direkt aus der Region, aber ebenso sorgsam ausgewählt wie die Zutaten in der Küche: Die von Herbert Strahammer gepflegte Weinkarte, die erfreulicherweise auch ältere, fair kalkulierte Jahrgänge bereit hält, wie man sie in solchen Häusern selten findet.
Käse schließt den Bericht, was sonst. Wir sind in Maria Vögels kleinem, aber legendärem Käseladen in Schwarzenberg, in dessen Hinterzimmer die feinsten Bergkäse lagern, keiner jünger als sieben Monate, das käme Maria Vögel nie ins Geschäft, die ältesten sind bis zu 22 Monate gereift. Und jeder davon ein Unikat, in Handarbeit hergestellt in einer der vielen kleinen Sennereien und Käsereien des Bregenzer- walds. „Jeder Käse ist anders“, erklärt Konrad Troy, der sein Leben lang Käse gemacht hat und der wie viele Künstler sein Werk nicht genau erklären kann: „Es ist eine Gefühlssache, es braucht eine Menge Erfahrung. Viel hängt natürlich vom Rohstoff ab, von der Qualität der Milch, von der Milchreifung.“ Weil aber die Wälder Kühe in Europas größter silofreier Region aufwachsen, sich im Sommer auf den Alpen alleine von frischem Gras und frischen Kräutern, im Winter im Tal von Heu und Getreideschrot ernähren, geben sie nur allerbeste Milch. Glückliche Kühe, guter Käse. Und, alte Regel: Wo es den Kühen gut geht, geht es auch den Menschen gut.
© Markus Honsig
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Terra Mater 1/2012
Die vortreffliche, kühne, erdumwandernde Frau Ida Pfeiffer
1842 beginnt eine Wienerin im Alter von 44 Jahren, um die Welt zu reisen. Eine Frau! In diesem Alter! Alleine! Ihre Routen, ihre Bücher, ihre Tier- und Pflanzensammlungen machen sie zu einer der außergewöhnlichsten Reisenden ihrer Zeit.
Wenn Männer im 19. Jahrhundert aufbrachen, um die Welt zu sehen, dann gerne im großen Stil: „Die Gesamtbemannung der Fregatte beträgt 351 Mann“, berichtete Bernhard von Wüllerstorf, Kapitän der Novara, an die kaiserliche Akademie der Wissenschaften, „darunter Corvetten-Capitän Baron Pöck als Commandant des Schiffes, 8 tüchtige Marine Officiere, 14 Seecadeten, und die bereits genannten Naturforscher und Fachmänner. Es sind, wie bereits erwähnt, 4 Ärzte an Bord, ein Seelsorger, ein Verwalter und überdies noch ein Mechaniker und die erforderlichen Handwerker. Eine Musikbanda von 7 Individuen wird zur Erheiterung der Bemannung vortragen.“ Die Novara verließ am 30. April 1857 den Hafen von Triest und war die erste große Expedition des offiziellen Österreichs.
Einen Tag später, am 1. Mai 1857, erreichte die Wienerin Ida Pfeiffer Madagaskar, unterwegs auf ihrer fünften – und letzten – großen Reise. Zuvor hatte sie zwei Mal die Welt umrundet, rund 250.000 Kilometer auf See und 32.000 an Land zurückgelegt, immer auf sich alleine gestellt und immer knapp bei Kassa. Sie hatte mit Sonnenschirm und Taschenmesser bewaffnet Überfälle im brasilianischen Dschungel abgewehrt und den Kannibalen auf Sumatra den Appetit verdorben. Sie hatte das freizügige Leben auf Tahiti kennengelernt, das sie ganz und gar nicht billigen konnte, und die Armut und Sklaverei in vielen Regionen der Welt, was sie nicht weniger kritisch kommentierte.
„Die Sensation ist aber nicht, dass sie als erste Europäerin beinahe den Toba-See auf Sumatra erreicht hätte. Die Sensation ist“, sagt Hiltgund Jehle, Ethnologin und Kulturwissenschaftlerin in Frankfurt, die den Spuren der Ida Pfeiffer akribisch wie wenige andere gefolgt ist, „dass sie so lange mit so wenig Geld so weit gereist ist und so lange überlebt hat.“
Ida Pfeiffer war keine gelernte Wissenschaftlerin, keine ausgebildete Forscherin. Ida Pfeiffer war eine Hausfrau im Wiener Biedermeier und die erste Weltreisende des Landes. Ida Pfeifer war, so steht es in ihrem 1851 ausgestellten Reisepass, von kleiner Statur, hatte schwarze Haare, dunkelbraune Augen, einen proportionierten Mund und eine kleine Nase. Ida Pfeiffer war Ehrenmitglied der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin und der Société de Géographie in Paris. Sie war, mit Franz Grillparzer gesprochen, „die vortreffliche, kühne, erdumwandernde Frau Ida Pfeiffer.“
März 1842, Wien Kaisermühlen: „Vergebens suchten meine Verwandten und Freunde, mich von diesem Vorsatz abzubringen.“
Ihr Leben als Weltreisende beginnt mit einer harmlosen Aufwärmrunde. Eine Freundin in Konstantinopel würde sie besuchen, erzählt sie in Wien, als sie am 22. März 1842 einen Dampfer besteigt, um auf der Donau Richtung Bosporus zu fahren.
Was ohnehin nur ein Teil der Wahrheit ist. An warnenden Stimmen fehlte es trotzdem nicht: Eine Frau! Alleine! In diesem Alter! Ida Pfeiffer ist eine Spätberufene, fast 45 Jahre alt, ihre beiden Söhne – Alfred und Oscar – sind erwachsen, von ihrem Mann Anton Pfeiffer lebt sie schon langegetrennt. Tatsächlich ist sie auf dem Weg nach Jerusalem. Eine Reise in das Heilige Land, davon träumt sie schon seit Jahren.
Und sie ist tief beeindruckt, als sie in der Morgenröte vor den Mauern Jerusalems steht: „Mir ging der schönste Morgen meines Lebens auf.“ Ist man einmal in Jerusalem, sind Ägypten und seine berühmten Pyramiden auch nicht mehr weit. Solche Gelegenheiten lässt sich Ida Pfeiffer niemals entgehen.
Diese erste Reise sollte ihre konventionellste sein. Pilgerfahrten ins Heilige Land sind zu dieser Zeit auch unter Frauen keine Seltenheit, Reisen nach Ägypten liegen nach der Entzifferung der Hieroglyphen Anfang des 19. Jahrhunderts ebenfalls im Trend. Die noch unerfahrene Reisende besucht alle Hotspots der Region, Bethlehem, Nazareth, den See Genezareth, die Pyramiden von Gizeh, Suez, und zeigt von Beginn an jene Unerschrockenheit, die sie auf allen Reisen begleitet: Obwohl noch niemals auf einem Pferd gesessen, schließt sie sich in Konstantinopel einer berittenen Reisegruppe in das antike Bursa an, das sie schließlich „ordentlich durchgerüttelt, aber doch ohne Unfall“ erreicht. In Ägypten wagt sie sich bereits auf größeres Tier und reitet auf einem Kamel nach Suez.
Am 8. Dezember 1842 kehrt sie via Italien zurück nach Wien. Und beginnt auf Drängen des Verlegers Jakob Dirnböck mit der Veröffentlichung ihrer Reisenotizen. Reiseliteratur ist Mitte des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Genre, das sich gut verkauft. Ihr erstes Buch, „Die Reise einer Wienerin in das Heilige Land“, erscheint 1844, noch ohne jeden konkreten Hinweis auf die Autorin. Erst mit der vierten Auflage rückt sie auf das Titelblatt. Dass außerdem der Familie das Manuskript vor Drucklegung vorgelegt werden muss, passt in das Bild des zensurgeplagten und wenig emanzipierten Vormärz in Wien.
Das Buch wird ein Riesenerfolg und in mehrere Sprachen übersetzt. Die Reiseschriftstellerin Ida Pfeiffer ist geboren, über jede ihrer Reisen schreibt sie ausführliche Berichte, teils in mehreren Bänden. Die Bücher sind unterhaltsam und informativ abgefasst, nur fallweise mag man versucht sein, ein paar Seiten zu überblättern, um schneller zu den spannenden Passagen zu kommen.
Ida Pfeiffer ist eine Frau ihrer Zeit, Höhepunkt der Biederkeit, Höhepunkt des Kolonialismus, ein großer Teil der Welt befindet sich unter europäischer und nordamerikanischer Herrschaft. Sie schreibt direkt, ungefiltert, aus einem immer subjektiven Blickwinkel: „Ich fand die Indianer noch hässlicher als die Neger“, solche Formulierungen sind typisch für die gelernte Wienerin. Gar nicht selten zeigt sie aber eine überraschend kritische, reflektierte Sicht auf die alte und neue Welt: „Man hält ihren Geist wie in alten despotischen Staaten vorsätzlich in Fesseln, denn das Erwachen dieses Volkes dürfte den Weißen fürchterlich sein,“ notiert sie etwa über die schwarze Bevölkerung in Rio de Janeiro.
Mai 1845, Hafenfjord, Island: „Ich fühlte mich so glücklich, als ich dieses Land betrat, ich hätte alle Menschen umarmen können.“
1845 bricht Ida Pfeiffer zu ihrer zweiten großen Reise auf, nach Island. Immerhin Island. Ursprünglich überlegt sie ernsthaft, Richtung Nordpol zu gehen, sieht dann aber doch „bei näherer Überlegung unüberwindliche Schwierigkeiten“. Gute Entscheidung: Von der im selben Jahr in die Arktis aufgebrochenen Franklin-Expedition kommt kein Teilnehmer lebend zurück.
Über Hamburg und Kopenhagen erreicht Ida Pfeiffer nach knapp zweiwöchiger Schiffsreise Hafenfjord auf Island mit den schönsten Vorstellungen von Land und Menschen. „Ein wahres Arkadien“ erwartet sie, „das beste und gebildeste Volk Europas“. Und wird schwer enttäuscht: „Um hier gut aufgenommen zu werden, muss man entweder reich sein oder als Naturforscher reisen“, notiert sie schon bald nach ihrer Ankunft.
Folgerichtig wendet sie sich der Natur zu: Im Anhang ihres Buches „Nordlandfahrt“ findet sich eine komplette Liste der von ihr auf Island gesammelten Tiere und Pflanzen. Die bedeutendsten Stücke, die Ida Pfeiffer aus Island mitbringt, sind aber nicht Polar-Laufkäfer oder Seestrands-Silene, sondern zwei Fotos, die vielleicht ersten Fotos von Island. Sie hat einen „in einem Kistchen verschlossenen Daguerreotyp- Apparat“ mit im Gepäck, jenen Vorläufer klassischer Fotografie, der erst rund zehn Jahre zuvor erfunden wurde.
Die beiden Fotographien sind Teil des privaten Nachlasses von Ida Pfeiffer, den wir – aufbewahrt in zwei Kartons – in Bayern wiederfanden. Darunter auch Reisepass, Visa-Bücher, Manuskripte, Notizbücher und einzelne Objekte wie ein antiker, beschrifteter Ziegel aus Babylon oder kleine Frauenschuhe aus China – Folterwerkzeuge, in die schon Kinder gezwungen wurden.
September 1846, Rio de Janeiro: „Ich besaß außerdem noch ein Taschenmesser, welches ich augenblicklich aus der Tasche zog, fest entschlossen, mein Leben teuer zu verkaufen.“
1846 geht Ida Pfeiffer auf ihr erste große Weltreise. In Hamburg bucht sie sich gemeinsam mit Friedrich Berchtold, einer Reisebekanntschaft aus Palästina, auf ein Segelschiff nach Rio de Janeiro ein, das schnellere und bequemere Dampfschiff will sie sich nicht leisten. Zweieinhalb Monate dauert die Überquerung des Altlantiks, am 17. September legt sie in Rio an. Ida Pfeiffer gehört nicht zu jenen, die sich irgendetwas schön reden: „Wir landeten an der Praya dos Mineiros, einem schmutzigen, ekelhaften Platz.“
Gemeinsam mit Berchtold macht sie sich auf den Weg nach Petropolis, einer nicht weit von Rio gegründeten deutschen Kolonie – zu Fuß, um Insekten zu sammeln. Ein idyllischer Tagesmarsch durch den Urwald. „Als wir uns aber auf einer etwas einsamen Stelle alleine befanden, sprang er plötzlich vor, in einer Hand ein langes Messer, in der anderen einen Lasso haltend, drang auf uns ein und gab uns mehr durch Gebärden als Worte zu verstehen, daß er uns morden und in den Wald schleppen wolle.“ Mit Sonnenschirm und Taschenmesser wehrt sich die zierliche Frau so gut es geht, der Schirm bricht, es fließt Blut und gibt auch Schnittwunden an den Armen. Rettung bringen schließlich zwei zufällige vorbei kommende Reiter. Ein Ereignis, das Ida Pfeiffer offensichtlich beeindruckt – die Überreste des Schirms bewahrt sie sorgsam auf –, das aber kein Anlass ist, umzukehren. Nachdem die Wunden verbunden sind, marschiert sie weiter, „zwar nicht ganz ohne Angst“, aber in „immerwährender Bewunderung der reizenden Landschaft.“
Juli 1847, Macao: „Noch vor einem Jahr hätte ich kaum gedacht, unter die kleine Zahl der Europäer zu gehören, die dies merkwürdige Land durch eigene Anschauung kennenlernten.“
Allein reist Ida Pfeiffer weiter nach Valparaiso in Chile, mit dem Segelschiff bei schwerem Sturm um das Kap Horn. Sie bleibt nur zwei Wochen, eine Passage nach China bietet sich an. Der Weg ist das Ziel, diesen Satz könnte Ida Pfeiffer erfunden haben. Oft genügt ihr der flüchtige und distanzierte Blick auf Land und Leute, um genug gesehen zu haben. Die eilige Ida nützt jede Chance weiterzukommen, vor allem wenn sie günstig oder gar gratis zu bekommen ist. Sie warten zu lassen, ist so ziemlich das Schlimmste, was man ihr antun kann. „Nur Geld ist für mich noch kostbarer als Zeit.“
Nach einem längeren Zwischenhalt in Tahiti erreicht sie das „sonderbarste aller Länder“, China. Sie geht in Macao an Land, besucht Hongkong und Kanton, reist weiter nach Singapur, Ceylon, Sri Lanka und Indien, wo sie gut drei Monate unterwegs ist – von Kalkutta über Delhi bis Bombay, weite Strecken im einfachen Ochsenkarren, den sie den Kamelen vorzieht, „da der Zeitverlust nicht bedeutend und die Strapaze geringer ist.“
Für Abwechslung sorgt die Teilnahme an einer Tigerjagd in der Nähe von Roja, natürlich lehnt die furchtlose Ida Pfeiffer solche Einladungen nicht ab. Das Angebot, das Fell eines der erlegten Tiere mitzunehmen, muss sie allerdings ablehnen. Sie kann nicht warten, „bis es hinlänglich trocken gewesen wäre.“
August 1848, Tebris: „Die Reise durch Persien war lebensgefährlich, die durch das asiatische Russland aber so empörend, daß ich erstere unbedingt vorziehe.“
Mit dem Dampfschiff geht es nach Basra im Süden des Iraks, von dort weiter nach Bagdad. Sie sieht die Ruinen von Babylon, von Ninive und Nimrud im Norden, schließt sich einer Karawane von Mosul Richtung Tebris an, überquert als erste Europäerin das Zagros-Gebirge.
Es sind halsbrecherische Touren und lebensgefährliche Routen, auf denen Ida Pfeiffer unterwegs ist, und erst kurz vor Tebris, knapp ein Monat nach der Abreise von Mosul, „nahm das lästige Gefühl der Furcht ein Ende.“ In Tebris sorgt die Ankunft Pfeiffers jedenfalls für großes Erstaunen. „Es grenze ans Fabelhafte, dass es einer Frau habe gelingen können, allein, ohne Sprachkenntnisse durch solche Länder und solche Völker zu dringen“, berichtet Ida Pfeiffer über die Begrü.ung durch den ortsansässigen Arzt.
Noch lästiger als das Gefühl der Furcht ist nur die Langsamkeit der russischen Postwagen auf ihrer Weiterreise. „Beständige Plage mit dem Postvolke“, notiert Pfeiffer in ihr Tagebuch. „Ich bin die größe Feindin von Zank und harter Begegnung; aber zu diesen Leuten hätte ich fürwahr am liebsten mit dem Stock gesprochen.“
Wir schreiben das Jahr 1848, die Revolution hat auch Wien erreicht. Und so begeistert Ida Pfeiffer über die Ereignisse ist, von denen sie schon in Bagdad erfährt – „Meine gemütlichen friedliebenden Österreicher! Ein Umsturz in der Regierung! Ein Erwachen aus der Lethargie!“ –, so besorgt ist sie nach den Tagen der Niederschlagung im Herbst. Es drängt sie nach Hause, A nfang November ist sie, zweieinhalb Jahre nach ihrer Abreise, zurück in Wien.
August 1852, Toba-See: „Ohne Gefahr wird es freilich nicht abgehen, ich werde gleich jetzt auf meiner nächsten Wanderung mit Menschenfressern zusamenstoßen.“
1851 tritt sie ihre zweite Weltreise an, sie sollte mehr als vier Jahre dauern. Über London, Kapstadt und Singapur erreicht sie im Dezember Borneo. Nur wenige Tage danach macht sie sich schon auf den Weg zu den Dajaks, der indigenen Urbevölkerung der Insel, in Europa vor allem als Kopfjäger berühmt und berüchtigt. Schon im ersten Dorf sieht sie „mit wahrem Grausen 36 Schädel aneinandergereiht und gleich einer Girlande aufgehängt“, alte Kriegstrophäen. Was sie freilich nicht daran hindert, genau jene Dajak-Stämme zu suchen, „die als sehr wild bekannt sind.“ Und dabei zwei weitere, „erst kürzlich abgeschnittene Menschenköpfe zu entdecken.“
Ida Pfeiffer wählt wieder eine noch nie zuvor begangene Route über Sintang und das Sekamil-Gebirge. Und sie lernt die „Kopfliebhaber“ trotz ihrer fragwürdigen Traditionen ehrlich zu schätzen: „Ich muss gestehen, daß ich gerne noch länger unter den freien Dayakern gereist wäre. Ich fand sie überaus ehrlich, gutmütig und bescheiden.“ Alles halb so wild wie kolportiert.
Wenige Wochen später, Ida Pfeiffer ist inzwischen in Sumatra angekommen, erobert sie ein weiteres Mal eine Region, die kein Europäer vor ihr betreten hat: Am Ende schafft sie es zwar nicht ganz zu ihrem eigentlichen Ziel, dem Toba-See, bringt aber immerhin spektakuläre Erzählungen von den dort ansässigen Batak mit – Kannibalen, deren furchterregender Ruf längst auch Europa erreicht hat. Ida Pfeiffer wird aber meist freundlich empfangen, „anfänglich wild, zänkisch und gebieterisch, am Ende gut, ja beinahe kindlich.“ Und wenn es die Batak gar zu wild treiben, spielt sie ihre stärkste Karte aus: ihren trockenen Humor, der offensichtlich auch auf Malaisch und Batakisch funktioniert. „Ihr werdet eine Frau nicht töten und auffressen, am wenigsten eine so alte wie ich bin, deren Fleisch schon hart und zähe ist,“ hält die 55-jährige den Kriegern entgegen. Ein von ihr vorbereiterer und eingelernter Satz, der auch die erwünschte Wirkung hat: „Glücklicherweise fingen sie an, über mein Kauderwelsch, über meine Pantomime zu lachen.“ Wer lacht, tötet nicht, vorbildliches Krisenmanagement. Wenige Kilometer vor dem Toba-See machen die Batak jedoch ernst und zwingen Ida Pfeiffer zur Umkehr. „So nah am Ziel, nach so vielen glücklich überstandenen Gefahren und Mühseligkeiten umkehren – das war doch sehr hart.“
Hiltgund Jehle ist den Weg Ida Pfeiffers zum Toba-See mit ihren Aufzeichnungen in der Hand nachgegangen, „heute ein wunderschöner, gut erschlossener Platz mit einem tollen Hotel auf einer Insel im See.“ Neue Spuren oder alte Erzählungen von Ida Pfeiffer konnte sie nicht finden, auch nicht in Südamerika, wo sie ebenfalls recherchierte. Aber sie kann die Authentizität ihrer Berichte bestätigen und hat ein Gefühl dafür entwickelt, „wie unglaublich anstrengend diese Reise gewesen sein muss.“
September 1854, Niagara-Fälle: „Ich sah eine der wunderbarsten, erhabensten Naturszenen in Gottes schöner Welt, die Niagarafälle.“
Im Juli 1853 ergibt sich eine günstige Gegelenheit, den Kontinent zu wechseln – eine kostenlose Schiffspassage nach San Francisco. Ida Pfeiffer besucht Goldwäscher und Indianer, fährt zwischendurch nach Ecuador, um Quito und den ehemals höchsten Berg der Welt, den Chimborazo mit 6.272 Meter, zu sehen, macht einen Abstecher nach Peru und kehrt wieder zurück in die USA – nach New Orleans, von wo sie Richtung Norden nach Chicago und schließlich zu den Niagarafällen weiterreist. „Ohne sie gesehen zu haben“, schreibt sie schon 1852 in einem Brief, könne sie sich „unmöglich zur Ruhe begeben.“
Im November schifft sie sich in New York nach Liverpool ein, besucht für fünf Monate ihren Sohn Oscar auf den Azoren, er ist ein Pianist, dessen Spuren sich später in Südamerika verlieren. Im Sommer 1855 ist sie wieder in Wien.
September 1857, Tamatavé: „Wir beide Fieberkranke, Herr Lambert und ich, hatten also doch der Königin Ranavola nicht den Gefallen getan zu sterben.“
Die Reise nach Madagaskar von 1856 bis 1858 steht von Beginn an unter keinem guten Stern. In Kapstadt schließt sich Ida Pfeiffer dem Franzosen Joseph-François Lambert an, der auf Mauritius lebt und ihr von dort die Einreise nach Madagaskar ermöglicht. Lambert ist ein gefährlicher Reisebegleiter, er plant den Sturz der Königin Ranavola von Madagaskar. Nachdem der Staatstreich auffliegt, werden beide des Landes verwiesen und in einem 53-tägigen Marsch nach Tamatavé gebracht: Von Fieberanfällen geplagt erreicht Ida Pfeiffer Mauritius. Zwar plant sie noch die Weiterreise nach Australien, ihr schlechter Gesundheitszustand verhindert aber, dass sie ihr letztes großes Ziel erreicht. Über Hamburg kehrt sie im September 1858 zurück nach Wien, wo sie ein Monat später stirbt. Wahrscheinlich an den Folgen einer Malaria, die sie schon länger mit sich herumschleppt.
Was trieb diese Frau eigentlich um die Welt? Eine mögliche Antwort: Das Unglück mit den Männern.
In Ida Pfeiffers Leben gab es, soweit wir wissen, drei wichtige Männer: Ihren Vater, Aloys Reyer, der seine Tochter erzog wie seine Söhne, streng, aber geschlechterunspezifisch, was dem jungen Mädchen durchaus gefiel. „Ich war nicht schüchtern, sondern wild wie ein Junge und beherzter und vorwitziger als meine älteren Brüder.“ Das sollte sich ändern, als ihr Vater 1806 starb. Ida war neun Jahre alt, und die Mutter übernahm – gegen heftigen Widerstand der Tochter – die Erziehung nach dem klassischen Rollenbild.
Ihren Hauslehrer, Emil Trimmel, die große, aber unerfüllte Liebe ihres Lebens. Seinen Heiratsantrag lehnte die Mutter aus Standesgründen ab. Trimmel dürfte nicht nur die Leidenschaft ihres Herzens, sondern auch die Liebe zum Reisen geweckt haben: Er versorgte Ida mit Reiseliteratur, war selbst gerne unterwegs, verfasste auch Reiseberichte, wenngleich er über Bad Ischl kaum hinaus kam.
Und schließlich ihren Ehemann, Anton Pfeiffer, einen Anwalt als Lemberg, dessen Hauptvorteil war, dass „er hunderte Meilen von Wien entfernt lebte und 24 Jahre mehr zählte als ich.“ Eine Vernunftehe. Und ein großes Unglück vom ersten Tag an. „Gott allein weiß, was ich durch achtzehn Jahre meiner Ehe litt.“
Vielleicht ist die Antwort aber auch viel einfacher und es war nur dieser erste Blick auf das Meer, 1836, als sie mit ihrem Sohn Oscar nach Triest fuhr. Und in ihr „eine kaum zu bewältigende Reiselust erwachte.“
Auf jeden Fall würde das Leben der Ida Pfeiffer den perfekten Stoff für einen großen Hollywoodfilm hergeben, meint Pfeiffer-Kennerin Hiltgund Jehle. Sie hätte auch schon die entsprechende Besetzungsliste vorbereitet: Emma Watson als junge Ida Pfeiffer, Moritz Bleibtreu als Emil Trimmel. Und, klar, Meryl Streep in der Hauptrolle.
© Markus Honsig
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Audi Magazin 3/2011
Das Wetter im Lungau
Der feine Geschmack einer Landschaft: Das spezielle Klima und die einmalige Lage verleihen der südlichsten Region Salzburgs ihre ganz besondere Note. Ein Hochplateau ursprünglicher Lebensqualität.
Wird man in den Lungau entsandt, um, wie die Chefredakteurin dieses Magazins meinte, eine schöne Reisegeschichte für den Herbst mitzubringen, schließt sich im selben Moment eine ebenso kurze wie zwingende Assoziationskette: Lungau ist Tamsweg ist des Landes Kältepol ist Regen, wenn nicht sogar Schnee auch im August.
Ein kapitaler Kurzschluss, wie sich rasch herausstellen sollte. Weil erstens ist nicht Tamsweg Österreichs Kältepol, sondern Lunz am See in Niederösterreich. Und zweitens, werden die Lungauer nicht müde zu wiederholen, gibt es nirgendwo mehr Sonne im Land als eben im Lungau. Tatsächlich ist der Himmel über dem Lungau am Tag unserer Ankunft praktisch wolkenlos. Tatsächlich gewähren Gemeinden wie Mariapfarr ihren Besuchern eine Art Sonnengarantie, wenn auch nur für eine Minute pro Tag. Tatsächlich genießt der Lungau eine privilegierte geographische Lage: Die Niederen Tauern fangen die Regenwolken aus dem Nordwesten ab, die Nockberge die Tiefdruckgebiete aus dem Süden, eine Sonneninsel im gerne verregneten Salzburg. Tatsächlich kann es kein Zufall sein, „dass es alleine im Dreieck Mauterndorf, St. Michael und Tamsweg 26 historische Sonnenuhren gibt“, legt der Journalist Clemens M. Hutter noch nach, ein ausgewiesener Kenner der Region, dessen Buch „Freizeitoase Lungau“ zur Pflichtlektüre jedes Lungau-Reisenden gehören sollte.
Das Wetter im Lungau ist naturgemäß auch für Albert Moser, Chef des Eggerwirts, ein zentrales Thema. Sein in den letzten 25 Jahren kontinuierlich ausgebautes Elternhaus, ein ursprünglich einfacher Bauerngasthof mit fünf Zimmern, beherbergt inzwischen 90 Zimmer, einen weitläufigen Garten, einen über vier Stockwerke reichenden Wellnessbereich und ist das beste Hotel der Region. Jüngste Ausbaustufe: Ein 700 Quadratmeter großer, beheizter Badeteich mit luxuriösem Badehaus. „Erstmals war der Sommer besser gebucht als der Winter“, zieht der umtriebige Hausherr zufrieden Bilanz. Der Eggerwirt lebt zu achtzig Prozent von Stammgästen. Spricht für die Qualität des Hauses und auch dafür, dass das Wetter im Lungau besser ist als sein Ruf. „Schwierig ist“, weiß Moser, „die Leute herzubringen. Wenn sie aber einmal hier sind, bleiben sie auch.“
Zu Recht. Der Lungau, eintausend Quadratkilometer groß und auf eintausend Metern Seehöhe gelegen, ist ein vom Massentourismus weitgehend verschontes Refugium ursprünglicher Lebensqualität, reich an Landschaft, Tradition und Kultur. Landleben, aber echt. Kaum zu übersehen die Highlights örtlichen Brauchtums: Die überdimensionalen Samson-Figuren, die etwa in Tamsweg regelmäßig mit der Blasmusik ausrücken. Die in wochenlanger Handarbeit mit Hunderten Blüten geschmückten Prangstangen, die den Sommer über das kirchliche Leben des Lungaus prägen. Der fotogene Schießstand am Prebersee, nur einer von sechzig idyllischen Bergseen im Lungau, an dem die Zielscheibe nicht direkt, sondern indirekt über die Wasseroberfläche anvisiert wird, ein lokales Naturweltwunder auf gewisse Weise.
Clemens M. Hutter, der als ehemaliger Außenpolitik-Redakteur der Salzburger Nachrichten viel herumgekommen ist in der Welt, empfiehlt aber, auch genauer hinzusehen: „Im Lungau braucht man den Blick für die Details.“ Für die Schmiedeeisenarbeiten in Kirchen wie Mariapfarr oder für die alten Kunstglaserarbeiten in der Wallfahrtskirche St. Leonhard. Für die verwitterten Wetterkreuze und die gemauerten Troadkästen, deren Wurzeln bis in das späte 16. Jahrhundert zurückreichen. Für die römischen Meilensteine am Straßenrand, „die hier in einer Dichte wie nirgendwo sonst anzutreffen sind“. Und die den Lungau als Transitroute von historischer Bedeutung ausweisen, mit imposanten Burgen wie Moosham und Mauterndorf als ehemaligem Handelszentrum.
Kaum weniger alt als die Burg ist das Mesnerhaus in Mauterndorf, Paracelsus soll hier schon genächtigt haben, erzählt der junge Wirt Josef Steffner, der das Haus gemeinsam mit seiner Frau Maria führt, und zwar auf allerbestem Niveau. Er kocht, sie leitet das Service, ergibt unterm Strich zwei verdiente Hauben und eine vorbehaltlose Empfehlung.
Wenn Sie sich etwas Gutes tun wollen, überlassen Sie Maria Steffner die Auswahl von Speisen und Weinen, sie wird Sie mit sicherer Hand und merkbarer Freude durch den Abend begleiten. Beispielsweise mit Melanzane-Variationen mit Wollschwein-Schinken, die dem grundsätzlich eher geschmacksarmen Gemüse eine erstaunliche Vielfalt an Geschmack entlocken. Mit einer Steinpilz-Consommé, die so authentisch schmeckt, dass die kundigen Einheimischen wahrscheinlich den ursprünglichen Fundort der Pilze erkennen könnten. Mit einem Hirschkalb aus dem Lungau, das perfekt auf den Punkt gebraten ist und genau so schmeckt. Natürlich mit am Teller: Die berühmten Lungauer Eachtlinge, die besten Erdäpfel des Landes, weil sie wegen des – sagen wir einmal – durchschnittlich weniger warmen Wetters langsamer wachsen und daher länger Geschmack entwickeln können. Und mit einem feinen Schokoladedessert zum Abschluss, das im Mund fröhlich zu knistern beginnt.
Ein insofern typisches Gericht für das Mesnerhaus, weil das Haubenrestaurant von einer durchgehend entspannten Stimmung geprägt ist, bis zur Sperrstunde, wenn sich die Gäste schon längst am Stammtisch beim Stiegenaufgang zusammengefunden haben, zum Rauchen, Weinverkosten, Plaudern mit den Gastgebern. Dann erzählt Josef Steffner vom „Schof aufbrateln“, einem fallweise recht grob zubereiteten und ziemlich deftigen Lungauer Klassiker, den der junge Koch ein wenig verfeinert aber gerne auf die Karte setzt.
Ein nachdenklicher Walter Trausner sitzt schräg gegenüber vom Mesnerhaus in der Sonne vor seinem Geschäft, erzählt vom heftigen Konkurs, den er vor fünfzehn Jahren mit seiner Brennerei fabrizierte, und wie er vor zehn Jahren noch einmal ganz von vorne begann, weil er mit dem Leben noch „eine offene Rechnung zu begleichen hatte“. Dem Ausgangsmaterial, Früchten, blieb er zwar treu, aber die Konsistenz sollte sich ändern. In Trausners Genusswerkstatt werden heute feinste Marmeladen, frische Gelee-Bonbons und süßestes Mandelkonfekt hergestellt. Der gelernte Koch und Konditor sieht zwar nicht besonders gut, riecht dafür umso besser und liebt es, Früchte zu verarbeiten, „weil sie immer anders reagieren, anders schmecken, andere Aromen hervorbringen, je nachdem, ob man sie brät, dünstet oder einkocht“. Natürlich werden nur Rohstoffe bester Qualität verarbeitet, biologisch angebaut und fair gehandelt, natürlich wird in Trausners kleiner Küche noch mit der Hand gerührt und gefüllt, natürlich wird in der Genusswerkstatt sehr viel nachgedacht und getüftelt, bis neue Rezepte und Produkte Trausners Vorstellung entsprechen.
Lange Zeit hat Walter Trausner auch eng mit Sepp Zotter und dessen Schokoladenmanufaktur zusammengearbeitet, bis die Kapazitäten nicht mehr reichten und er seinem Freund die Rezepturen für die feinen Fruchtfüllungen überließ. Inzwischen denkt er aber wieder über einen Neubau des Betriebs nach, weil der kleine Laden so prächtig läuft: „Obwohl wir nie für den Markt produzieren, sondern nur, was uns selbst schmeckt.“ Oder eben gerade deswegen: Denn Walter Trausner ist offensichtlich mit einem ganz besonderen Geschmackssinn gesegnet.
Dass es im Lungau ein Haucherl kühler sein mag als anderswo im Land, hat jedenfalls mehr Vor- als Nachteile. Die etwas niedrigere Umgebungstemperatur eigne sich etwa hervorragend, erklärt Matthias Moser, um gute und sehr gute Schnäpse zu brennen, weil sie niedrigere und aromaschonende Gärtemperaturen zulassen. Der frühere Nebenerwerbsbauer und Postbeamte aus Zederhaus hat 1996 mit der Brennerei begonnen. Zunächst nur für den Eigenbedarf, nach den ersten Auszeichnungen begann er seinen Kundenstock aber bald zu erweitern. Die Jahresproduktion von rund 600 Flaschen verkauft sich quasi von selbst, Moser- Brände genießen inzwischen einen weit über die Grenzen des Lungaus hinausreichenden guten Ruf. Das Problem sei eher der Einkauf der Früchte, denn von deren Qualität hängt alles ab. Und natürlich von der Sensibilität, dem Können des Brennmeisters: „Schnaps zu brennen ist immer eine Gratwanderung, was den Verlauf der Siedetemperatur betrifft“, weiß Moser, der gerne Trompete übt, während er den Brennkessel penibel überwacht.
Alleine die Nase tief in das Glas zu halten, ist eine spannende Lehrstunde der feinen Geschmacksbildung: Der Enzian, aus den bei abnehmendem Mond eigenhändig ausgegrabenen Wurzeln des Gelben Enzians destilliert, rauchig, dicht, ein idealer Begleiter zu einer kubanischen Zigarre, empfiehlt Matthias Moser. Die Waldhimbeere, an Intensität und Aroma kaum zu übertreffen, hergestellt aus siebzig Kilogramm Früchten pro Liter. Oder der erste und einzige Eachtling, der nach Gemüse riecht, nach Karamell, und nicht nach nichts wie gewöhnlicher Wodka. Gibt es nur im Lungau, nirgendwo sonst.
© Markus Honsig
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Audi Magazin 3/2009
Riegl aufi, Riegl obi
Die Südsteiermark muss man sich Hügel für Hügel, Lage für Lage erarbeiten.
Die Südsteiermark ist ein bevorzugter Flecken Erde, der liebe Gott war an diesem Schöpfungstag groß in Form. Gern wird sie mit der Toskana verglichen, was zwar nicht ganz danebenliegt, weil sich die Architektur der Landschaft, die Form der Hügel (steir.: Riegl) ähnelt, aber am Ende unnötig ist und vor allem auf der Verwechslung der schlank und hoch wachsenden Pappeln mit den ebenfalls schlank und hoch wachsenden Zypressen der Toskana beruht. Jedenfalls kann die Südsteiermark gut für sich alleine bestehen: Eine prächtige Landschaft, idyllisch wie im Heimatfilm, mildes Licht, üppige Vegetation, satte Farben, gepflegte Dörfer und zu allem Überfluss mit einem privilegierten Klima ausgestattet. Gemäßigter Süden, könnte man sagen, im Zweifel eher warm, ohne extreme Ausreißer nach oben oder unten auf der Temperaturskala, gerade richtig mit Regen versorgt. Hier würde so ziemlich alles wachsen, was man in die Erde steckt, wie im Paradies und daher besser als Toskana. Durchaus glaubwürdige Gärtner berichten von apulischen Feigenbäumen, die dreimal pro Jahr abgeerntet werden, von 150 Kilogramm Kiwis im Jahr. Die Südsteirer entschieden sich glücklicherweise schon früh für den Anbau von Wein, hier werden Weißburgunder, Grauburgunder, Sauvignon Blanc, Chardonnay (steir.: Morillon) von herausragender Qualität kultiviert. Außerdem werden noch Hopfen und diverse Obstsorten angebaut, sei der Vollständigkeit halber angefügt.
Ob es am milden Klima oder am schönen Land liegt, lässt sich schwer entscheiden, wahrscheinlich beides: Jedenfalls sind die Menschen hier von ausgesucht freundlichem Charakter, und die einzige Schwierigkeit, die den unvorbereiteten Besucher eventuell erwarten könnte, ist die eine oder andere sprachliche Unsicherheit. Man hört sich ein mit der Zeit, glauben Sie mir.
Dass die Südsteiermark speziell im Herbst kein Geheimtipp mehr ist, hat immerhin den Vorteil, dass sie eine bestens erschlossene Gegend ist und man sich schon ziemlich ungeschickt anstellen muss, um hier schlecht zu essen, schlechten Wein zu trinken, schlecht zu schlafen. Was man falsch machen kann, ist abends das Auto nicht stehen zu lassen, den kostenlosen Taxiservice, der praktisch die gesamte Weinstraße abdeckt, nicht zu nutzen. Ewig schade um die Weine, die ungetrunken bleiben müssten.
Pössnitzberg
Er liegt perfekt in der Sonne, der Pössnitzberg, steile Südlage, auf 400 Metern Seehöhe, offen zur Koralpe und ihren kühlen Winden, mit vergleichsweise großen Temperaturunterschieden zwischen Tag und Nacht. Beste Voraussetzungen also für die Weinstöcke, die auf dem kalkhaltigen, mit leicht erwärmbarem Sand angereicherten Boden wachsen. Wie der Pössnitzberg schmeckt, lässt sich bevorzugt bei Erwin Sabathi kosten, ein ausgewiesener Experte für diese Lage, der hier etwa einen tollen Sauvignon Blanc keltert.
Oder noch ein paar Kurven bergauf im Weingut Tscheppe, das von den Brüdern Erich und Walter Polz geführt wird. Familie Polz gehört zu den umtriebigsten Winzern der Region, mit zwei Weingütern (Polz und Tscheppe, außerdem noch Miro im nahen Slowenien), mit einer Buschenschank (Polz), mit der Vinofaktur direkt am Eingang zur Weinstraße in Ehrenhausen. Besonderen Dank muss man den Polz Brüdern aber dafür aussprechen, dass sie den Kreuzwirt am Pössnitzberg nicht nur um einen architektonisch schönen Zubau erweiterten, eine leichte Holz-Glas-Box, sondern auch einen kompetenten Mann an den Herd lockten. Gerhard Fuchs holte sich 2006 auf Anhieb drei Hauben und kocht seither auf unverändert hohem Niveau. Im Stil klassisch französisch, in der Zubereitung auf regionale Produkte konzentriert, im Ergebnis schlicht ergreifend. Ein Glücksfall, dass Oberösterreicher, wie der Oberösterreicher Gerhard Fuchs sagt, „grundsätzlich lieber Richtung Süden als Richtung Osten fahren“. Ein Glücksfall auch, dass Familie Polz im letzten Herbst gleich nebenan ein Hotel eröffnete, sehr geschmackvoll eingerichtet, von angenehmer Größe und mit direktem Blick vom Zimmer aus in den Sonnenuntergang. Haubenlokal, Weingut, Hotel: Man müsste sich vom Pössnitzberg kaum wegbewegen, möchte man ein gutes Wochenende verbringen. Andererseits wäre es jammerschade, weil die Südsteiermark eine ganze Reihe ganz wunderbarer Lagen bietet, die man keinesfalls versäumen darf.
Steinbach
Zum Beispiel die Lage Steinbach, sandiger, schottriger Boden, ein warmer Boden mit etwas Lehm, von West nach Süd und Südwest ausgerichtet, die bedeutendste Lage von Gamlitz. „Der Lehm“, erklärt Fritz Tinnacher, „ist ein guter Geschmacksträger, Sand und Schotter sorgen für die Raffinesse.“ So fügt sich alles zusammen und bringt wunderbare Weine hervor.
Fritz Tinnacher ist Chef des Weinguts Lackner-Tinnacher, das zu den großen, aber vergleichsweise stilleren Adressen der südsteirischen Weinstraße gehört, mit historischen Wurzeln bis tief ins 18. Jahrhundert. Die Lackner-Tinnachers konzentrieren sich alleine auf den Wein, es gibt keine Buschenschank, keine Winzerzimmer, nur Wein. „Oft leidet der Wein, wenn man zu viel rundherum macht.“ Neben dem traditionellen Weingut wurde außerdem ein neuer Keller gebaut, der zu den gelungensten Beispielen moderner Architektur in der Region zählt. Denn die südsteirischen Winzer haben in den letzten Jahren auch architektonisch großen Ehrgeiz bewiesen. Der im Jahr 2000 errichtete Bau – ein schlichter Betonkörper mit Holzverschalung und begrüntem Flachdach – ist diskret in den Hang hineingebaut (oder besser: aus ihm heraus), fügt sich perfekt in die Landschaft, mit jedem Jahr, in dem das Holz an natürlicher Patina gewinnt, noch besser. Unübersehbar der gekonnte Umgang mit Natur und Technik, auch im Weinkeller: Verarbeitet werden nur Trauben von den eigenen Rebflächen, die Klassikweine in Stahlfässern, die Lagenweine im großen, vorbehandelten Holzfass, aber nie im Barrique: „Man soll die Frucht spüren, nicht Holz trinken.“
„Im Vergleich zum Burgund etwa beginnen wir bei gleicher Reife mit der Lese gut einen Monat später. Das liegt vielleicht an der Höhe von rund 360 Metern. Dadurch könnten sich die Nuancen, die Aromen vielleicht noch etwas weiter entwickeln“, beschreibt Tinnacher sehr vorsichtig die möglichen Qualitäten zum Beispiel eines Grauburgunders (franz.: Pinot Gris) aus der Südsteiermark. Jedenfalls wissen die Südsteirer längst, woran sie sich messen: An den Besten der Alten Welt. Und das heißt: Hohe Konzentration auf das spezifische Terroir des Weins, und damit ist nicht nur der Boden gemeint, sondern auch das Kleinklima der Lage, ihre Ausrichtung, die Reben.
Schusterberg
Der Schusterberg ist eine geschützte Kessellage, die sich nach Osten richtet. Der Hang wird von der Morgensonne schnell aufgetrocknet, aus den Trauben, die hier wachsen, entstehen „filigrane, fein strukturierte, salzige Weine“, sagt Wolfgang Maitz, Juniorchef des Weinguts Maitz, ein reiner Familienbetrieb, wie es in dieser Gegend so viele gibt. Landflucht scheint in der Südsteiermark ein weitgehend unbekanntes Phänomen zu sein.
Der Schusterberg ist auch insofern eine sehr empfehlenswerte Lage, weil man sie bequem vom Gastgarten der Familie Maitz aus studieren kann, eine bevorzugte Lage auch für den Besucher. Keine Buschenschank, weil es hier auch Warmes zu essen gibt, aber so gut wie. Oder besser: Zum Beispiel das Backhendl aus dem nahen Sulmtal, wo bekanntlich die glücklichsten und geschmackvollsten Hendln des ganzen Landes aufwachsen, die von Maria Maitz mit kundiger Hand und jahrzehntelanger Erfahrung zubereitet werden. „Ohne Haut, Bröseln nur vom Bäcker, die Panier nicht nieder- betonieren“, um an dieser Stelle ein paar erste Hinweise zu geben. Um nichts schlechter als das Sulmtaler Hendl: die Sulmtaler Forellen von Maria Maitz. Dazu ein Morillon Schusterberg 2007, und Sie werden lange sitzen bleiben.
Kranachberg
Das Besondere an der Lage Kranachberg ist, dass der sandige Schotterboden keine Kalkanteile aufweist, das Wasser kann gut abfließen, die Rebstöcke entwickeln tiefe Wurzeln. „Daraus entstehen Weine von frischer, salziger Mineralik, mit nerviger Struktur, körniger Säure, kühler Aromatik“, erklärt Hannes Sabathi, der auf dieser Lage vor allem den Sauvignon Blanc pflegt und sich nicht scheut, den für den durchschnittlichen Weintrinker durchaus anspruchsvollen Charakter der Lage markant herauszuarbeiten.
Das Weingut liegt ein paar wenige Kilometer abseits der Hauptstraße, die großen Busse kommen hier garantiert nicht vorbei, trotz der in jeder Hinsicht empfehlenswerten Buschenschank. Hannes Sabathi gehört zu den jungen, neuen Winzern in einer an etablierten und prominenten Winzern nicht gerade armen Region. Der heute 29-Jährige begann 2000 im Keller zu arbeiten und übernahm 2005 das Weingut aus einer reizvollen und in dieser Gegend eher seltenen Ausgangsposition: Sein Vater hatte sich für den Weinanbau nie besonders interessiert. „Ich hatte nichts zu verteidigen und konnte ganz von vorne anfangen.“
Inzwischen gehören Hannes Sabathis Weine zu den spannendsten der Südsteiermark, Weine wie der Sauvignon Blanc Kranachberg 2007, „ein gutes Jahr mit langer Vegetationsphase, spät geerntet, trotzdem nicht zu viel Alkohol, 13, 14 Monate im großen Holzfass gelagert, ein guter Repräsentant für Sorte, Jahrgang und Lage“. Diesen eigenen Charakter seiner Lagen, seiner Reben, seiner Weine konsequent weiterzuentwickeln, ist für Sabathi der Weg, „um in einem Umfeld, in dem es schon sehr viel gute Weine gibt, bestehen zu können und nicht in einen Preiskampf involviert zu werden“. Der Anspruch ist jedenfalls hoch: „Ich will es mit den Franzosen aufnehmen“, konkret mit den Sauvignon Blancs der Loire. Dass dieser Anspruch grundsätzlich nicht zu hoch gegriffen ist, wurde ihm erst kürzlich während eines Sauvignon Blanc Kongresses in Graz bestätigt, erzählt Sabathi: „Die Südsteiermark hat Terroir, sagte eines der Urgesteine aus Frankreich, das denkbar größte Kompliment für die Region.“ Ein Kompliment, dem wir uns natürlich gerne und vorbehaltlos anschließen.
© Markus Honsig
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Audi Magazin 1/2009
Horch! Audi!
Zwei Namen, ein Mann und die frühen Tage des Automobils: August Horch ist die zentrale Figur in der über 100-jährigen Firmengeschichte von Audi.
1896. Das Automobil ist erfunden. Seit etwa zehn Jahren, in denen sich auch die ersten technischen Grundlagen der motorisierten Fortbewegung herauskristallisiert haben: Das Ding würde vier Räder haben, an jedem Eck eines, und es würde von einer Verbrennungskraftmaschine angetrieben werden. Soviel war klar, aber viel mehr nicht.
Im Frühjahr dieses Jahres besucht in Leipzig der 28-jährige August Horch eine Veranstaltung des Motorradherstellers Hildebrandt und Wolfmüller in Leipzig und fragt beiläufig, ob es denn auch schon Wagen gäbe mit solchen Motoren. „Doch“, antwortet man ihm, „bei Daimler in Stuttgart und Benz in Mannheim. Aber das ist noch nichts Rechtes.“ Es herrscht noch allgemeine Skepsis gegenüber der neuen Art der Fortbewegung, die den jungen Ingenieur freilich nicht irritieren konnte. Horch heuert quasi umgehend bei Benz an, dem größten Autohersteller dieser Tage. 1896 waren es knapp zweihundert Fahrzeuge, 1899 fast sechshundert, die in Mannheim produziert wurden.
Horch wird als Assistent des Betriebsleiters eingestellt, eine günstige Position, um schnell einen Überblick zu gewinnen – und ebenso schnell Karriere zu machen: Schon vier Monate später wird ihm die Betriebsleitung des Motorenwagenbaus übertragen. Horch taucht in jene Welt ein, die sein zukünftiges Leben bestimmen sollte: die Fortentwicklung des Automobils. Horchs aufgeweckter Geist scheitert aber immer wieder an seinem Chef. Karl Benz ist ein eher konservativer Mann und hält das Auto in seinen wesentlichen Teilen für ausgereift. Horch hingegen denkt daran, den Motor von hinten nach vorne zu verlegen und ist auch von dem Beharren auf Zweizylindermotoren bei Benz nicht überzeugt. So reift in Horch der Entschluss, sich selbstständig zu machen. Er kündigt und gründet in Köln die Firma A. Horch & Cie. „Einer der Träume meines Lebens hat sich verwirklicht“, notiert er in seinen Aufzeichnungen. Man schrieb das Jahr 1899.
Horchs Voraussetzungen sind günstig. Er hat großes technisches Verständnis für alle Dinge des Wagenbaus und besitzt auch organisatorisches Talent. Was ihm vielleicht fehlt, ist kaufmännisches Geschick, an sich ein häufiges Phänomen unter den Technikern dieser Zeit. Horch beginnt den Betrieb als Reparaturwerkstätte aufzubauen, ein jedenfalls guter Ansatz: Denn die Fahrzeuge dieser Zeit waren sorgsam und kundig zu behandeln, die Fahrer dieser Zeit jedoch größtenteils ungeübt im Umgang mit der Technik. Daraus ergab sich zwangsläufig ein gutes Geschäft.
Der stoßfreie Motor
Trotz gut gefüllter Auftragsbücher arbeitet Horch ständig an der technischen Weiterentwicklung des Autos und meldet – quasi als Fingerübung – schon bald sein erstes von insgesamt acht Patenten an: ein Abreißgestänge für die Bosch- Magnetzündung, womit die erste zuverlässige Zündung am Markt ist. Nachdem das Geschäft mit der Neuentwicklung gut läuft, macht sich Horch an die Konstruktion seines ersten Motors. Ein Zweizylinder von außergewöhnlicher Bauweise sollte es sein, der durch zwei Besonderheiten auffällt: Erstens haben beide Zylinder einen gemeinsamen Verbrennungsraum, und zweitens gibt es im Inneren einen dritten zusätzlichen Kolben, der als Art Ausgleichsgewicht fungiert. Horch nennt seine Maschine „stoßfreien Motor“, dessen Kurbelgehäuse aus Aluminium (!!) gegossen wird, und zwar von Horch selbst, da keine Gießerei imstande ist, die komplizierte Form in den Griff zu bekommen. (Wie man sieht, hat Audi schon eine mehr als hundertjährige Tradition im gekonnten Umgang mit heiklen Materialien wie Aluminium.) Das ungewöhnliche Aggregat, vier bis fünf PS stark, läuft im ersten Horch-Wagen, noch mehr Kutsche als Auto. Man sitzt sich aufrecht gegenüber, das Lenkrad zwischen den Fahrgästen.
Es war eine gewagte Konstruktion, von der nur rund zehn Stück gebaut wurden. Mit der nächsten Motorengeneration wechselt Horch wieder zur konventionellen Bauweise. Horch scheut sich aber nicht, weiter zu experimentieren. Er ist einer der ersten, der eine Kardanwelle einsetzt. Er ist der erste, der die Zahnräder des Getriebes aus hochfestem Chromnickelstahl anfertigt und damit deren Haltbarkeit dramatisch verbessert. Und er ist der erste, der in seinen Motoren von unten gesteuerte, hängende Ventile benützt. 1902 übersiedelt Horch mit seiner Firma nach Reichenbach und entwirft seinen ersten Vierzylindermotor. Die Maschine liefert in ihrer stärksten Ausbauvariante satte 20 PS, das stolze Vehikel ist sowohl stilistisch wie technisch ein sichtbarer Fortschritt. Man nähert sich langsam der heute üblichen Grundform an: Motor vorne, zwei Sitzreihen hintereinander.
Die große Alpentour
Die Firma wächst. 1904 übersiedelt Horch ein weiteres Mal, diesmal nach Zwickau und wandelt seine Fabrik in eine Aktiengesellschaft um, was unter anderem bedeutet, dass August Horch nicht mehr alleiniger Herr in seinem Reich ist. Es gibt nun Leute, die auch betriebswirtschaftliche Regeln gewahrt wissen wollten – immer unangenehm. Horch holt sich als Gegengewicht und zur eigenen Rückendeckung seinen alten Freund Hermann Lange in den Betrieb, der zum Chefkonstrukteur und wenig später zum technischen Direktor ernannt wird.
Natürlich gab es auch Rennen zu dieser Zeit, die Targa Florio in Italien beispielsweise, oder den Grand Prix de France. Eines der prominentesten in Deutschland war die Herkomer Fahrt, traditionell fest in der Hand deutscher Hersteller. 1905 gewinnt Mercedes den erstmals ausgetragenen Bewerb, und 1906 ist das Jahr des August Horch. Entgegen der üblichen Strategie, dass dieses Rennen nur große Wagen gewinnen können, schickt Horch „kleine“, rund 20 PS starke Autos auf die Strecke. Die Fahrt geht über fast 1700 Kilometer von Frankfurt nach München und Wien und über Innsbruck wieder zurück nach München. Eine selektive Alpentour, bei der höchste Standhaftigkeit gefragt ist. Horch tritt mit insgesamt vier Autos an, wird als Außenseiter gehandelt, schlägt aber alle großen Favoriten und beendet das Rennen mit Dr. Stöß am Steuer, einem Mitbegründer der Aktiengesellschaft, als strahlender Sieger. Ein Triumph!
1909. Eine Niederlage drei Jahre später wird eine der schwierigsten Phasen in Horchs Leben einleiten. Horch hat sich inzwischen auf die Konstruktion von Sechszylindermotoren verlegt, technisch reizvoll, ökonomisch weniger klug. Als die Horch-Wagen 1909 die Prinz-Heinrich- Fahrt verlieren, nützt Prokurist Jakob Holler die Gelegenheit, um die technische Leitung samt August Horch in Frage zu stellen. Mit Erfolg. Am 19. Juni 1909 verlässt Horch sein eigenes Werk, was letzten Endes weniger überraschend war als es an dieser Stelle klingen mag.
Die neue Firma
Wenn man auch annehmen muss, dass sich August Horch darüber heftig ärgerte, so kann es nur von kurzer Dauer gewesen sein. Binnen 72 Stunden schafft er es, das nötige Kapital für eine neue Firmengründung aufzutreiben und wieder von vorne zu beginnen. Die Sache hat nur einen Haken: Seine alte Firma ließ sich den Namen „Horch“ in 27 verschiedenen Kombinationen schützen, er selbst konnte ihn also nicht mehr verwenden. Man beruft eine Sitzung ein und es ist von vornherein klar, so Horch, „dass diese Sitzung niemand verlassen durfte, bevor unser Werk einen Namen hatte.“ Die Herren werden schließlich von einem gerade Latein lernenden Sohn erlöst: „Audi“ sagte er, was die schlichte Übersetzung des Namens Horch ins Lateinische ist. Am 25. April 1910 wird eine neue Firma ins Handelsregister eingetragen: Audi Automobilwerke GmbH.
In rascher Reihenfolge entwirft August Horch die Modelle Audi Typ A (22 PS), Typ B (28 PS) und Typ C (35 PS), die sich vor allem durch große Stabilität und höchste Zuverlässigkeit auszeichnen. Vom Typ C werden zwischen 1911 und 1925 1.116 Stück produziert, womit er zu den erfolgreichsten Modellen der frühen Audi Jahre gehört.
Der Seriensieger
Für eine neue, junge Automarke gibt es keine bessere Gelegenheit, sich schnell und eindrücklich zu profilieren, als an Rennen teilzunehmen, das war früher nicht anders als heute. Die Internationale Österreichische Alpenfahrt war zu dieser Zeit die mit Abstand härteste Prüfung, der man sich stellen konnte: Berge, Berge, Berge. Die Audi Mannschaft gewinnt in den Jahren 1912, 1913 und 1914, Horch ist spektakulär zurückgekehrt und unumschränkter Herr der Alpen. Am Heimweg vom letzten Alpenfahrt-Triumph erfährt Horch vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dies sollte eine scharfe Zäsur in seinem Leben werden. Nachdem er die Firma halbwegs gut durch den Krieg bringt, stellt sich Horch nie wieder ans Zeichenbrett. Die technische Leitung übernehmen nach dem Krieg Erich Horn und Hermann Lange. Horch selbst zieht sich auf eine Position im Aufsichtsrat von Audi zurück. In der Zeit zwischen den Kriegen ist es freilich nicht leicht, eine Automobilfirma am Leben zu erhalten. Audi schlittert in die Krise, und so werden Kontakte zu anderen Automobil- und Motorradfirmen gesucht. 1932 ist es schließlich soweit: Unter dem Zeichen der vier Ringe finden Audi, DKW, Horch und Wanderer zusammen. Das Unternehmen „Auto Union“ ist geboren.
© Markus Honsig
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Audi Magazin 3/2007
Wenn der Berg ruft
Vor zwanzig Jahren: Ein Mann, ein Auto, ein Berg. Walter Röhrl mit dem Audi S1 am Pikes Peak in Colorado, USA. Ein Gesamtkunstwerk bis heute.
Die Strategie war, erinnert sich Walter Röhrl, im Vergleich zu einer klassischen Rallye relativ einfach: „Volle Attacke, von Anfang bis zum Ende. Auf diesem Berg gibt es kein Taktieren“.
Von Anfang bis zum Ende, das heißt: 20 Kilometer, 156 Kurven, durchgehend und in jeder Hinsicht ungesichert – der Untergrund Sand und Schotter, und etwas wie Leitplanken gibt es nicht auf diesem Berg. Die bis zu 15 Meter breite Fahrbahn bricht in scharfen Kanten ab, „wie eine Tischkante, ohne nichts geht es 500 Meter hinunter“, blickt Röhrl zurück in den Abgrund. Nichts für ängstliche Typen, erst recht nicht, wenn man Röhrls Strategie wählt.
Wir schreiben das Jahr 1987, wir sind in Colorado, USA, am Pikes Peak, jenem Berg, der nach seinem Entdecker Zebulon Montgomery Pike benannt ist und auf dem seit 1916 Rennen ausgetragen werden, das „International Hill Climb“. Oder wie es unter den Fans treffender genannt wird: „The race to the clouds“. Denn die im doppelten Sinne des Wortes atemberaubende Strecke führt von 2.866 Metern auf 4.301 Meter Höhe, da kann die Luft schon dünn werden, für Motor und Fahrer.
Ein Jahr zuvor, 1986, ist Audi aus der Rallye- Weltmeisterschaft ausgestiegen, die überhitzte Phase der Gruppe B mit Autos weit über 500 PS war zu Ende gegangen. Audi hatte zweimal den WM-Titel geholt, sowohl in der Fahrer- als auch in der Markenwertung. Schon 1984 startete Audi das erste Mal am Pikes Peak, um auch den US-Amerikanern die Vorzüge des quattro Allradantriebs näherzubringen. Michel Mouton gewann 1985, Bobby Unser 1986, der in einem Audi Sport quattro S1 eine neue Rekordzeit aufstellte: 11:09,22.
Die reine Rennmaschine
Diese Fabelzeit sollte freilich nur ein Jahr halten. Walter Röhrl befindet sich am Höhepunkt seiner fahrerischen Kunst, und der schon damals legendäre Audi S1 wird für seinen letzten Auftritt noch einmal richtig angefasst, eine reine, kompromisslose Rennmaschine: 2,1 Liter Fünfzylinder-Turbomotor, der mehr als 600 PS bei 8.000 U/min leistet, automatisiertes Sechsganggetriebe und quattro Allradantrieb, viel Leistung, aber wenig Bremse, man fuhr ja hauptsächlich bergauf, nicht mehr als 1.000 Kilogramm schwer. Das ideale Gerät für den Meister am Rande der Haftgrenze, das im Windkanal noch mit mächtigem Flügelwerk versehen wird, selbst an den Flanken trägt der S1 breite Seitenleitwerke, Abtrieb ist gefragt. Als Röhrl in den ersten Trainings um zwanzig Sekunden schneller bergauf fährt als die Konkurrenz, werden aus Europa noch hektisch Flügel eingeflogen. Zu spät, wie sich am Ende der Woche herausstellen wird.
Das Training am Pikes Peak hat seine speziellen Eigenheiten. Vor allem die, dass man an jedem der drei Trainingstage jeweils nur ein Drittel der Strecke befahren darf. Und auch bei der Qualifikation nur die erste Hälfte. In voller Länge und vollem Tempo gibt es die Strecke nur für das Rennen selbst.
Weniger lenken
Glücklichweise trägt jede Kurve ihren eigenen Namen. Ansonsten gibt es nämlich kaum Anhaltspunkte, wo auf der Strecke man sich befindet, „oberhalb der Baumgrenze ist der Berg eine Mondlandschaft, in der alles gleich aussieht, wo man sich nichts merken kann“, erzählt Röhrl. Also lernt er die Strecke auswendig, Kurve für Kurve. Eine kluge Idee, wenn man knapp an der Abrisskante fährt. Und das tut Walter Röhrl bis zum letzten Zentimeter: „Man braucht nämlich möglichst viel Straße, um den Kurvenradius groß zu halten. Weil je größer der Radius, desto weniger muss man lenken, desto schneller geht es.“ Das alte Röhrl- Geheimnis: Weniger lenken als die anderen.
Das kleine Problem ist nur, dass die anderen Jungs – auch keine Feiglinge – etwas mehr Respekt vor dem Abgrund haben und „ein, zwei Meter Sicherheitsabstand halten“. Dort, wo Röhrl seine Zeit holt, liegt der lose, aus der Piste gefahrene Sand, „dadurch wird das Auto nicht stabiler“. Kein Grund, die äußerste Gefahrenzone zu meiden – sofern man mit Allradantrieb ausgestattet ist: „Ohne Allrad braucht man gar nicht hinzufahren“, erklärt Röhrl, der ohne Allradantrieb fast nirgendwo gerne hinfährt, „nur dadurch hat man die Traktion, die Kraftübertragung, die man braucht. Das ist wirklich immer wieder beeindruckend, wie es mit Allrad immer vorwärts geht, fast wie auf Asphalt.“
Im Training wird der Perfektionist aus Bayern von einer technischen Unpässlichkeit des Wagens gebremst, was immer noch die zweitbeste Zeit hinter Ari Vatanen auf Peugeot hergibt. Beim Rennen sollte Röhrl aber durch nichts mehr gebremst werden: Der S1 liefert bei seinem letzten Auftritt eine perfekte Leistung ab, selbst in Gipfelnähe kann der Fünfzylinder noch um die 450 PS reale Leistung umsetzen. Vier Mal bringt Röhrl den S1 in den sechsten Gang, an der schnellsten Stelle wird er mit 196 km/h gemessen. Die Zeit bleibt bei 10:47,85 Minuten stehen, knapp sieben Sekunden vor dem Zweiten, Ari Vatanen auf Peugeot, und rund 21 Sekunden schneller als der alte Streckenrekord von Bobby Unser.
Für Walter Röhrl ist dieser Triumph auch zwanzig Jahre danach und trotz eines an Erfolgen nicht armen Rennfahrerlebens etwas ganz Besonderes, „etwas Einmaliges, das ich nicht missen möchte“. Was das Einmalige war? „Es ging um die reine Geschwindigkeit.“ Bis heute wird der zweifache Rallye-Weltmeister „am häufigsten auf Pikes Peak angesprochen, öfter noch als auf meine Monte-Carlo-Siege oder Rallye-Weltmeisterschaften“. Und bis heute ist Walter Röhrl ein wenig gekränkt, dass ihn eine Reglementänderung um 60.000 Dollar Preisgeld brachte.
quattro: Sieg einer Idee
Pikes Peak 1987: Es war der letzte Auftritt des Audi S1, der die Idee quattro wie vielleicht kein anderer Audi davor und danach verkörperte – freilich in ihrer extremsten Variante. Und es konnte dafür natürlich keinen besseren Piloten als Walter Röhrl geben, der diese Idee ebenfalls verkörperte wie wenig andere Rennfahrer: Immer sauber auf Linie, und immer sauschnell.
Pikes Peak 1987 war der würdige Abschluss einer spektakulären Ära, sechs Jahre nachdem Audi mit dem Audi quattro in die Rallye-WM eingestiegen ist, insgesamt vier Weltmeistertitel und 23 WM-Läufe gewonnen hat. Dass das Prinzip quattro auch auf Asphalt unschlagbar ist, zeigte sich schon ein Jahr später, wieder in den USA. Audi gewinnt mit dem Audi 200 quattro überlegen die beliebte Trans- Am-Serie. In den Neunzigern folgten Seriensiege auf Europas Rundstrecken, die schließlich 1998 zum offiziellen Verbot des Allradantriebs in vielen Tourenwagenmeis-terschaften führte. Eine überzeugendere Bestätigung für den endgültigen Sieg der quattro Technik konnte es gar nicht geben.
Den Erfolg beim Kunden konnte freilich niemand aufhalten: Audi hat heute nicht weniger als 84 quattro Modelle in seinem Angebot, quer durch die gesamte Modellpalette, und rund 2,5 Millionen Autos mit quattro Antrieb verkauft. Eine Erfolgsstory ohne Ende.
© Markus Honsig
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