Tumgik
#Klammerparadoxe
konsonantenstadl · 2 years
Text
Klammerparadoxe
Ich bin dieses Semester für den Morphologie-Teil der Einführung in die germanistische Linguistik an der LMU zuständig. Üblicherweise beginnt man hier mit einem Morphem-basierten Ansatz, um die Studierenden später an eine prozessbasierte (Item and Process), gegebenenfalls auch eine wortbasierte Sichtweise auf morphologische Phänomene heranzuführen.
Der Morphem-basierte Ansatz hat natürlich seine Vorzüge. Beispielsweise kann man hierarchische Baumstrukturen dazu nutzen, um die semantischen Verhältnisse bei Ambiguitäten in der Wortstruktur explizit zu beschreiben. So sind für das komplexe Adjektiv undoable die beiden Analysen in (1) möglich (Haspelmath und Sims 2010: 145). Man spricht in diesen Fällen davon, dass die Derivationsaffixe un- bzw. -able einen unterschiedlichen semantischen Geltungsbereich (Skopus) haben.
(1a) [un [do able] ,nicht machbar‘ (1b) [[un do] able] ,rückgängig zu machen‘
Baumdiagramme können auch genutzt werden, um semantische Ambiguitäten zu analysieren, die sich bei manchen Komposita ergeben (Haspelmath und Sims 2010: 143). Ein makabres Beispiel aus dem Deutschen findet sich bei Meibauer u.a. (2015: 35), nämlich Mädchenhandelsschule, für das wir die in Abbildung 1 angeführten Repräsentationen annehmen können.
Tumblr media
Abbildung 1: Strukturbäume zu Mädchenhandelsschule
Der Preis, den man für Morpheme zahlt, ist Abstraktion: Sehr natürlich ergeben sich Nullallomorphe, also sozusagen unsichtbare Strukturen, und zwar sowohl in der Flexions- (2a) als auch der Wortbildungsmorphologie (2b, c).
(2a) Fenster [SG] – Fenster-∅ [PL] (2b) lauf-en → der Lauf-∅ (2c) legal-ize : clean-∅
So hat Olsen (1990) eine Analyse von Konversionsprozessen mittels Nullaffix ausgearbeitet (3), die es ermöglicht, das in der Morphologie gut etablierte Kopf-Rechts-Prinzip aufrechtzuerhalten. Für dieses Nullaffix M könnte man sich den in Abbildung 2 angeführten Lexikoneintrag vorstellen.
(3a) Zelt → zelt-en (3b) [V [N Zelt ] [M [+V] [+ schwach] ∅ ]]
Tumblr media
Abbildung 2: Lexikoneintrag für das stumme Derivationsaffix M (nach Meibauer et al. 2015: 66)
Derzeit populäre Grammatikmodelle wie die Konstruktionsgrammatik bevorzugen demgegenüber einen oberflächenbezogenen Ansatz: „no underlying levels of syntax or any phonologically empty elements are posited“ (Goldberg 2003: 210). Als Konsequenz wird in der Konstruktionsmorphologie (Booij 2010) ein wortbasierter Ansatz vertreten.
An dieser Stelle ein Ceterum Censeo: Nullelemente sind ein alter Zankapfel in der Grammatiktheorie, und insbesondere die Generative Grammatik in ihren verschiedenen Ausformungen hat’s da mitunter übertrieben. Wir können uns, glaube ich, darauf verständigen, dass solche Elemente nicht leichtfertig angenommen werden sollten (Stichwort: Ockhams Rasiermesser), aber die Idee, dass wissenschaftliche Erklärungen nur „sichtbare“ Entitäten involvieren sollten, erscheint mir bizarr.
Es ist eine Binsenweisheit in der Wissenschaftstheorie, dass es keine Theorie-unabhängige Beobachtung gibt (Chalmers 1999: Kap. 1–2). Sogar basale Konzepte wie Phoneme, Morpheme, Wörter oder Phrasen setzen ein gehöriges Maß an Abstraktion voraus; und keinesfalls sind sie direkt beobachtbar. Die wichtigere Frage ist nicht die, ob Leerkategorien „existieren“, sondern ob sie uns erlauben, empirisch adäquatere Generalisierungen zu formulieren und interessante Vorhersagen zu machen (Haider 2018: 65–72). Eine sorfältige und ausgewogene Bewertung findet sich bei Müller (2020: Kap. 19) und insbesondere Gallmann (2020). Auf YouTube gibt es übrigens ein hervorragendes Video zu diesem Thema mit dem hübschen Titel Why linguists believe in invisible words – the story of zeros. Es gibt gute Gründe, einen morphem-basierten Ansatz zu verwerfen und stattdessen einen wortbasierten zu verfolgen. Im Zoo der Morphologie-Theorien und ihren Design-Prinzipien (Stump 2001: Ch. 1; Stewart 2016) kann man auswählen, was am besten zum analysierten Datenbereich passt und was die besten Vorhersagen ermöglicht. Sich aber lediglich zu sichtbarer (oder hörbarer) Morphologie zu bekennen, ist ein seltsamer Fall von linguistischer Orthodoxie.
Zurück zum Thema: Ein Datenbereich, bei dem ein Morphem-basierter, hierarchischer Ansatz schnell an seine Grenzen stößt, sind sogenannte Klammerparadoxe, und diese sind auch in einem wortbasierten Ansatz nicht gratis zu haben. Zwar ist man nicht gezwungen, die Annahme zu machen, dass morphologische Prozesse wie Affigierung informationserweiternd sind, d.h. die entsprechenden Exponenten zusätzliche Bedeutungen einbringen. Wenn aber, wie in der Konstruktionsmorphologie, Merkmalsstrukturen bzw. strukturierte Bedeutungen bestimmte Wortformen lizenzieren (inferentiell-realisierungsbasiert nach Stump 2001: 1–2), dann muss sozusagen das Pferd von der anderen (der funktionalen) Seite aufgezäumt werden, d.h. es ist zu spezifizieren, wie die entsprechenden morphologischen Funktionen zu ihrer Formseite kommen. Dies ist kein spezifisch funktionalen Problem, denn auch generative Modelle wie die HPSG und in diesem Rahmen entwickelte Morphologiekonzeptionen wie die Informationsbasierte Morphologie (Bonami 2016 und Crysmann 2016) sind mit diesem Problem konfrontiert.
Das klassische Beispiel für Klammerparadoxe sind Komparativformen von Adjektiven im Englischen (Pesetzky 1985: 196–197): Einsilbige (4a) und anfangsbetonte zweisilbige Adjektive (4b) können synthetisch gesteigert werden.
(4a) old – old-er (4b) grumpy – grumpi-er
Mehrsilbige Adjektive müssen demgegenüber immer analytisch (d.h. mit den Steigerungspartikeln more/most) kompariert werden, siehe (5).
(5a) correct – more correct (5b) restrictive – more restrictive
Aus morphologischen Gründen müsste die Klammerung (6a) vorliegen, denn mehrsilbige Adjektive dürfen nicht mit -er kompariert werden. Semantisch gesehen muss allerdings die Klammerung wie in (6b) sein, denn unhappier bedeutet ,in höherem Maße unglücklich‘, nicht aber: ,nicht glücklicher‘.
(6a) [A un [A happy er]] (6b) [A [A un happy] er]
Klammerparadoxe finden sich auch im Deutschen (Lüdeling 2001: 104; Müller 2003: 278–279): Mit dem Zirkumfix Ge- … -e können pejorative deverbale Substantive abgeleitet werden. Eine Wortbildung wie Herumgerenne bedeutet ,wiederholte, ziellose Rennen-Ereignisse‘, d.h. semantisch gesehen ist eine Struktur wie (7b) plausibel. Die morphologisch plausible Klammerung ist indes (7a), jedoch liefert diese in Bezug auf die Semantik die falsche Deutung, nämlich ,ziellose, wiederholte Rennen-Ereignisse‘.
(7a) [herum [ge renne]] (7b) [ge [herum renn] e]
Auch in der Flexionsmorphologie lassen sich relevante Beispiele finden. So ergibt sich die Bedeutung von aufhören nicht kompositional aus der Bedeutung des Verbstammes hör- und der Partikel auf (aufhören ist keine Form von hören). Semantisch gesehen sollte das Infinitivsuffix -en sich auf aufhör- als Ganzes beziehen (Abbildung 3: B); morphologisch betrachtet ist aber die Klammerung [P auf [V hör en]] plausibler (Abbildung 3: A), weil Partikelverben immer die Flexionsklasse ihres Basisverbs erben und somit direkten Zugriff auf die morphologischen Merkmale des Stammes benötigen.
Tumblr media
Abbildung 3: Strukturbäume zu aufhören
Bei komplexen Flexionsformen verhalten sich Stamm plus Partikel wie eine (opake) semantische Einheit, die semantischen Informationen der beteiligten Affixe werden aber kompositional mit der Bedeutung von aufhör- verknüpft (z.B. auf-hör-t-est).
Seit längerem bekannt sind auch paradoxe Bezüge, die sich bei NN-Komposita mit modifizierendem Adjektiv ergeben (siehe Bergmann 1980 und zuletzt Maienborn 2020). Bei den Phrasen in (8) scheint es so, als ob sich das attributive Adjektiv semantisch gesehen auf das Erstglied eines nominalen Determinativkompositums, also dessen Nicht-Kopf, beziehe.
(8a) ambulanter Versorgungsauftrag (8b) milliardenhoher Verlustbringer (8c) alkoholfreie Getränkeindustrie (8d) grüner Bohneneintopf
Mit (8a) ist nicht ein ,ambulanter Auftrag zur Versorgung‘ gemeint, sondern ein ,Auftrag zur ambulanten Versorgung‘, d.h. attributives Adjektiv und Nicht-Kopf des Kompositums sind semantisch aufeinander bezogen, wie dies (9a) verdeutlicht; somit wäre die lexikalische Integrität verletzt. Morphosyntaktisch gesehen kongruiert das attributive Adjektive allerdings mit dem Kopf des Kompositums, wie der Kontrast zwischen (9b) und (9c) zeigt.
(9a) [ambulanter Versorgungs]auftrag (9b) * ambulante Versorgungsauftrag (9c) ambulante Versorgung
Es ist nicht so, dass es an Lösungsansätzen zu Klammerparadoxien mangeln würde. Sie im Einzelnen zu referieren, ist mühsam und würde wohl dazu führen, dass man den Wald vor lauter – Wortwitz – Bäumen nicht mehr sieht. Fest steht jedenfalls, dass uns die übergreifende, zündende Idee fehlt und uns dieses Phänomen wohl noch einige Zeit beschäftigen wird.
Literatur
Bergmann, Rolf (1980): Verregnete Feriengefahr und Deutsche Sprachwissenschaft. Zum Verhältnis von Substantivkompositum und Adjektivattribut. In: Sprachwissenschaft 5: 234–265.
Bonami, Olivier und Berthold Crysmann (2016): Morphology in Constraint-based Lexicalist Approaches to Grammar. In Andrew Hippisley und Gregory T. Stump (Hgg.): The Cambridge Handbook of Morphology: 609–656. (Cambridge Handbooks in Language and Linguistics). Cambridge: Cambridge University Press.
Booij, Geert (2010): Construction Morphology. Oxford: Oxford University Press.
Chalmers, Alan F. (1999): What is This Thing Called Science? Berkshire: Open University Press. 3. Aufl.
Gallmann, Peter (2020): Leere Kategorien. Vorlesungsskript, Universität Jena. URL: http://gallmann.uni-jena.de/Wort/Nullkat_C_Relativ.pdf [Stand: 12.12.22].
Goldberg, Adele E. (2003): Constructions: a new theoretical approach to language. In: Trends in Cognitive Sciences 7(5): 219–224.
Haider, Hubert. 2018: Grammatiktheorien im Vintage-Look – Viel Ideologie, wenig Ertrag. In: Angelika Wöllstein et al. (Hgg.): Grammatiktheorie und Empirie in der germanistischen Linguistik: 47–92. (Germanistische Sprachwissenschaft um 2020; 1). Berlin, Boston: De Gruyter.
Haspelmath, Martin und Andrea Sims (2010): Understanding Morphology. London: Hodder Education. 2. Aufl.
Lüdeling, Anke (2001): On Particle Verbs and Similar Constructions in German. (Dissertations in Linguistics). Stanford: CSLI Publications.
Maienborn, Claudia (2020): Wider die Klammerparadoxie: Kombinatorische Illusionen beim Adjektivbezug auf NN-Komposita. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 39(2): 149–200.
Meibauer, Jörg, Ulrike Demske, Jochen Geilfuß-Wolfgang, Jürgen Pafel, Ramers Karl Heinz, Monika Rothweiler und Markus Steinbach (2015): Einführung in die germanistische Linguistik. Stuttgart [u.a.]: Metzler. 3. Aufl.
Müller, Stefan (2003): Solving the bracketing paradox: an analysis of the morphology of German particle verbs. In: Journal of Linguistics 39: 275–325.
–(2020): Grammatical Theory: From Transformational Grammar to Constraint-based Approaches. (Textbooks in Language Sciences; 1). Berlin: Language Science Press. URL: https://langsci-press.org/catalog/book/287 [Stand: 12.12.22].
Olsen, Susan (1990): Konversion als ein kombinatorischer Wortbildungsprozeß. In: Linguistische Berichte 127: 185–216.
Pesetzky, David (1985): Morphology and Logical Form. In: Linguistic Inquiry 16(2): 193–246.
Stewart, Thomas W. (2016): Contemporary Morphological Theories. A User’s Guide. Edinburgh: Edinburgh University Press.
Stump, Gregory T. (2001): Inflectional Morphology. A Theory of Paradigm Structure. Cambridge: Cambridge University Press.
0 notes