Tumgik
#Rechtsetzung durch colère publique
nunc2020 · 10 months
Text
Comprendre Menke
„Das Recht muss die nichtrechtliche Umwelt als Recht reformulieren. Durch diese interne Reformulierung des Widerstreits inkommensurabler Logiken (différend), durch diese Verfremdung eines Gesellschaftskonflikts zum Rechtsstreit (litige) wird der Konflikt Recht-Nichtrecht für das Recht entscheidbar – und zwar als Rechtskonflikt (Lyotard 1987; Gehring 2004). Machtkonflikte, Wirtschaftskonflikte, Religionskonflikte werden vom Recht immer als Rechtskonflikte verfremdet und als Rechtskollisionen übersetzt. Das Recht ist eine König-Midas- Maschine, die den Konflikt Recht-Nichtrecht immer nur als Rechtskonflikt abbilden kann.
Schon Karl Marx hat pointiert formuliert: „Zwischen Kapitalist und Arbeiter findet ein Kampf statt. Recht wider Recht [...] Zwischen gleichen Rechten – entscheidet die Gewalt“ (Marx 1867, 249; Miéville 2005). Marx hat das für die Sphäre des Klassenkampfes expliziert. Es müsste darum gehen, diesen Gedanken der Kollision von Recht wider Recht als Kampf im Recht ums Recht zu generalisieren und für andere Schnittstellen zu respezifizieren. Das fragmentierte Weltrecht ist voll von solchen Kollisionen, in denen Recht wider Recht steht:
• das Investitionsschutzrecht (Beispiel: Wasserprivatisierung) kollidiert mit dem Recht der sozialen Menschenrechte;
• das Recht der WTO (Beispiel Handelsverbot für genmanipulierte Lebensmittel) kollidiert mit dem globalen Recht des Umweltschutzes;
• das Recht der UN (Beispiel UN-Terrorlisten) kollidiert mit den globalen Menschenrechten.
Nicht der Krieg im Kopf des Entscheiders macht in diesen Kollisionslagen die Unentscheidbarkeit aus, sondern Recht ist – in der Formulierung von Jean-François Lyotard – „Bürgerkrieg der Sprache mit sich selbst" (Lyotard 1988). An anderer Stelle, an welcher Christoph Menke nicht den Kopf des Entscheiders ins Visier nimmt, sondern den gesellschaftlichen Rechtskreationsprozess, sagt er auch genau dies: „Das ‚entsetzte‘, zugleich entmachtete und befreite Recht steht im Krieg mit sich selbst“ (Menke 2011, 101). Rechtskrieg ersetzt Kriegsrecht. Diese transsubjektive Kollisionsperspektive, nicht der Blick auf den subjektiven Entscheidungsprozess, ist für die Rechtskreation das entscheidende Faktum.
Die Formel des „Rechts der Widerwilligen“ (Menke 2011, 103) darf sich nicht darin erschöpfen, eine Selbstvergewisserungstherapie für Entscheidungsträger zu sein, sondern muss als gesellschaftlicher Aneignungsauftrag gelesen werden (Wiethölter 1989; Teubner 2012). Diese Vergesellschaftung des Rechts – Daniel Loick hat das jüngst unter Bezug auf Hermann Cohen und Franz Rosenzweig herausgearbeitet (Loick 2012, 279) – findet in Walter Benjamins „Kritik der Gewalt“ wichtige Wegweisungen. Benjamin hat die physische Gewalt, auf der das Recht gründet, von der mythischen Gewalt, die die Dimensionen der rechtsetzenden und rechtserhaltenden Gewalt hat, differenziert. Er hat eine dritte Gewalt eingeführt, die er revolutionäre, waltende, göttliche Gewalt nennt. Diese göttliche Gewalt bei Benjamin lediglich als entsetzende Gewalt bei widerwilligen staatlich-rechtlichen Entscheidern zu verorten, ließe das Potenzial dieser Rechtstheorie ungenutzt.
Der globale Aufstand, die Proteste in Griechenland, die Occupy-Bewegung, die Indignados der Puerta del Sol, die Bewegung des Arabischen Frühlings stellen, mit Benjamin gelesen, Kämpfe um ein neues gesellschaftliches Recht dar. Die globalen Widerwilligen geben sich mit dem degenerierten Recht diktatorialer Regime und des globalen Neoliberalismus nicht zufrieden. Sie fordern die Einlösung des Gerechtigkeitsanspruchs des globalen Rechts. Das Recht der Widerwilligen ist dann nicht das Recht der widerwilligen comandantes y subcomandantes, sondern das Recht des Protests der Gesellschaft. Bezeichnenderweise ist es für Benjamin nicht der politische, sondern der proletarische Generalstreik, der sich die „einzige Aufgabe der Vernichtung der Staatsgewalt“ setze und auf dem Benjamins Hoffnungen ruhen (Benjamin 1921, 194; Brunkhorst 2010, 6). Liest man die Formel vom „Recht der Widerwilligen“ im Lichte von Walter Benjamins waltender Gewalt, enthält sie einen umfassenden Auftrag zur gesellschaftlichen Aneignung des Rechts. Diese Aneignung muss den Konstituierungszusammenhang setzender und erhaltender Rechtsgewalt unterbrechen, darf nicht nur auf eine Reformierung des bestehenden Institutionenensembles hinauslaufen und sich nicht darauf beschränken, die eingerichteten und ausgeübten Entscheidungsbetriebe lediglich zu domestizieren.
Wenn sich im Krieg des Rechts mit Recht, in den Kollisionen von Weltrecht wider Weltrecht realgesellschaftliche Konflikte von globalem Ausmaß artikulieren, dann kommt es mit Benjamin darauf an, das Recht nicht den selbsternannten Entscheidern zu überlassen, sondern sich in den Kampf um die Gewalt des Rechts einzumischen und für Strukturen zu kämpfen, in denen die gesellschaftliche Rechtsetzung auf Dauer gestellt und von den etatistischen Gewaltinstitutionen unabhängig gesetzt ist: Hauke Brunkhorst nennt das die demokratische Verknüpfung von Dezision und Diskussion, Gunther Teubner bezeichnet es als die Kopplung von Spontan- und Organisationsbereichen (Brunkhorst 2005, 177). Im Kern geht es um die Ermöglichung der Demokratisierung der Rechtsform (Buckel 2007, 308) und die Öffnung des Rechts für Protestbewegungen. Otto Kirchheimer hat hier mit seiner Reflexion zur Sozialisierung des Rechts angesetzt (Kirchheimer 1976), Rudolf Wiethölter mit der Suchformel der Entwicklung eines gesellschaftlichen Rechtfertigungsrechts (Wiethölter 2003).
Für die Perspektive des demokratischen Rechts ist es geboten, den Fokus von den staatlichen Entscheidern auf die gesellschaftlichen Rechtskreationsprozesse im Kampf ums Weltrecht zu verschieben. Um zum Kunduzfall zurückzukommen: Im Februar hat das Verwaltungsgericht Köln in einem Feststellungsverfahren über die Klage des LKW- Fahrers im Fall Kunduz verhandelt, der festgestellt wissen will, dass die Entscheidung des Obersts Unrecht war; mehrere Schadensersatzklagen sind anhängig; gegen die Einstellung der strafrechtlichen Ermittlungen wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt und es ist schon jetzt absehbar, dass die militärische Entscheidung auch internationale Gerichte wie den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigen wird. Dieser Kampf der Opfer um Gerechtigkeit wird das Recht für Jahre beschäftigen. Diese Verfahren, die Beteiligungsrechte der Opfer und das rechtskreative Potenzial globaler Skandalisierungsprozesse, die Niklas Luhmann im Anschluss an Emile Durkheim als Rechtsetzung durch colère publique beschreibt (Luhmann 2005), die an das Gefühl für Ungerechtigkeit appellieren (Cahn 1949), sind für die Rechtskreation mindestens so entscheidendende Daten wie die Entscheidungsqualen eines Kommandeurs.“
Postmoderne Rechtstheorie als kritische Theorie
Von Andreas Fischer-Lescano
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