Tumgik
#Rita Theuerkorn
benkaden · 5 years
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Ansichtskarte
Nünchritz (Kr. Riesa) Karl-Liebknecht-Ring
VEB BILD UND HEIMAT Reichenbach i.V.
Foto: W[erner] Lange, Leipzig
1971
Annotation zur Karte in der FG Ostmodern
#Philokartie am Samstag - Ein Morgen in #Nünchritz
An der Begeisterung für das Buch von Renate Holland-Moritz konnte es nicht gelegen haben, dass der Texter des Neuen Deutschland in seiner Meldung Ende November 1968 über einen Besuch des Bürgermeisters von Budapest schrieb: “In der Rathausstraße besichtigten die Gäste begleitet von den Architekten Heinz Graffunda und Wolfgang Radtke den Wohnhochhauskomplex.” (Ausgabe 30. November 1968, S. 8) Denn ihr Erfolgsbuch “Graffunda räumt auf” sollte der Eulenspiegel Verlag erst im Jahr darauf in die Buchhandlungen bringen. Und im Jahr danach. Und im Jahr danach. Insgesamt gab es fünf Auflagen. Heinz “Graffunda” ist daher vermutlich Ergebnis eines Schreibens nach Gehör und er räumte ja auch weniger auf, als dass er aufbaute.
Gar nicht viel später aber, im Februar 1972, kam Renate Holland-Moritz’ Geschichte des Erwin Graffunda erst ins Kino International und dann auch auf andere DDR-Leinwände. In der Hauptrolle sah man den DEFA-Schauspielstar der 1970er Jahre (“Adonis in Jeans”) und späteren RTL-Dschungelcamper Winfried Glatzeder, dessen Erwin Graffunda als Haushaltshilfe die überraschend flügge gewordene Großmutter einer vielbeschäftigten Künstlerfamilie ersetzen und dann durchspielen darf, wie es aussieht, wenn ein Mann eine traditionelle weibliche Alltagsrolle, also Haus- und Erziehungsarbeit übernimmt. Die durchaus revolutionäre Botschaft: Alltagsorganisation und Beruf sind bei voller Beschäftigung von Frau und Mann auch in der DDR eigentlich nur mit Haushaltshilfe zu bewältigen. Und, weniger revolutionär: Männer zeigen sich für die Arbeit im Haushalt nicht unbedingt natürlich befähigt. Oder eben, wie das banale Ende des Films andeutet, so zu Höherem berufen, dass es eine Schande wäre, jemanden wie den eigentlich Akademiker Graffunda mit schnöder Hausarbeit zu belästigen.
Publikum und Kritik waren vom Filmwerk der DEFA-Arbeitsgruppe "Johannisthal" begeistert. Das lag sicher an der Zuspitzung auf den Humor der Zeit und der flotten Inszenierung durch Regisseur Roland Oehme. Aber vor allem auch am Starensemble: Ein Who-is-Who der DDR-Popkultur dieser Jahre ließ ein denkbar lebendiges Lustspiel in diesem Frühjahr 1972 durch die Kinos leuchten, mit Rolf Herricht und Marita Böhme in den anderen Hauptrollen und weiteren wohlbekannten DEFA-Gesichtern wie Fred Delmare und Agnes Kraus als aufmerksame  und missverstehende Nachbarn, Herbert Köfer als eine Art Antennenaugust, dazu Marianna Wünscher, Ilse Voigt als Oma. Dazu addierten sich Kleinauftritte von Willi Schwabe, Fritz Decho, Gojko Mitic, dem unglaublich beliebten Sportreporters Heinz-Florian Oertel und schließlich, Kompositionen von Gerd Natschinski chansonierend, Manfred Krug.
Zu den mehr als 3,3 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern des Films in den Lichtspielhäusern der DDR gehörte eventuell auch eine Bewohnerin eines der langgestreckten Neubaublöcke in der kleinen Industriegemeinde Nünchritz bei Riesa. Möglicherweise hatte sie ihn aber auch kurz zuvor im Fernsehen gesehen, vom ersten Programm am 13. Januar 1975 zur besten Sendezeit ausgestrahlt, als sie gut einen Monat später am Faschingsdienstag (Poststempel 11.02.1975) eine Ansichtskarte in die Berliner Nalepastraße schickte. Am Sonntag hatte der Berliner Rundfunk im Morgenprogramm nach einem Film gefragt, aus dem ein von Manfred Krug gesungenes Lied stammt. Heidi kannte die Antwort auf die zu diesem Zeitpunkt sicher nicht übermäßig herausfordernde Frage: “Der Mann, der nach der Oma kam”.
Als Motiv für die Einsendung wählte sie einen Blick im Prinzip direkt aus ihrer Haustür in das noch junge (1967-1971) Wohngebiet, das als Karl-Marx-Straße erst in Gestalt einer langen Häuserzeile Zeile die Bahnstrecke Leipzig-Dresden über vielleicht 800 Meter begleitet, um dann in einen Karl-Liebknecht-Ring zu münden, in dem sich eine Handvoll kürzer Blöcke, allesamt in Plattenbauweise und fünf Geschosse hoch, als Karree versammeln. Die städtebauliche Planung des Gebiets mit immerhin mehr als 800 Wohnungen wurde einem Kollektiv um die zu Planungsbeginn gerade einmal dreißigjährige Rita Theuerkorn übertragen, die zuvor in Coswig-Spitzgrund Erfahrungen bei der Planung von Neubaugebieten sammeln konnte. Es war im Prinzip ihr Dissertationsprojekt - 1974 promovierte sie an der Technischen Universität mit einer Arbeit zum Thema “Strukturelle Gesetzmässigkeiten der sozialistischen Stadtentwicklung”.
Wie die künstlerische Gestaltung am Giebel, möglicherweise vom Riesaer Grafiker Paul Häusler, andeutet, entstand das Quartier mit Bezug zum Chemiewerk des Ortes, sehr traditionsreich und umweltbelastend. Der Abriss der Altanlagen des VEB Chemiewerk Nünchritz zu Beginn der 1990er Jahre erwies sich als anspruchsvoller Anwendungsfall für Entsorgungsstrategien von durch Arsen und Schwermetalle schwer belastete Liegenschaften. Seit Mitte der 1960er Jahre stand dort unter anderem ein Werk für hochwertige (=chemisch reine) Schwefelsäure, die man bei Entwicklung und Produktion des damaligen Zukunftsmaterials Silikon(kautschuk) benötigt, das DDR-exklusiv in Nünchritz produziert wurde. Neu war die Säure in Nünchritz freilich nicht: Bereits für 1949 ist zu ermitteln, dass das VVB Alcid-Schwefelsäurewerk Nuenchritz den stolzen dritten Platz im “2. Wettbewerb der Schwefelsäurebetriebe” erringen konnte - hinter dem Zellstoffwerk Schwarza und der Farbenfabrik Wolfen.
Die Menschen, die der Bild-und-Heimat-Fotograf Werner Lange um 1971 halb im Licht und halb im Schatten an der zentralen Wohngebietskreuzung fotografierte, muten allerdings nicht unbedingt wie typische Chemiearbeiterinnen an, aber in Gestalt der Gruppe links neben der Laterne mit dem Doppelstachel der unbeflaggten Fahnenhalterung, vielleicht wie angehende. Hier sind es aber erst einmal vermutlich zur Oberschule gehende junge Nünchritzerinnen, deren Ziel sich direkt rechts hinter der Ecke befand und bis heute befindet. Für die Morgenstunde spricht noch ein zweiter Punkt. Bekanntlich lautete die Fotografiemaxime des Ansichtskartenwesens der DDR “Hab Sonne im Rücken” und für das Bild strahlte diese straff aus östlichen Richtungen. Dabei stellt sie eine Frau mit Kinderwagen in den Schatten dieses Morgens, die man sich, ohne ihr zu nah treten zu wollen, durchaus als betreuende Oma vorstellen kann, während Mutti bereits zur Frühschicht ging. Warum nicht? Und auch denkbar zwei Jahre später leicht genervt und übermüdet ein Filmlied summend: “Die haben doch keine Ahnung von der Hausarbeit. Ihr denkt, das macht sich von allein. // So mancher Mann, der denkt, das sei ‘ne Kleinigkeit, der müsste einmal Hausfrau sein.”
(Berlin, 03.08.2019)
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