Das Projekt Unsere INSEL wurde zunächst als gemeinschaftliches Tanzprojekt mit Bewohner*innen der Mierendorff-Insel in Berlin-Charlottenburg geplant. Im Zuge der Corona-Beschränkungen im Frühling 2020 mussten wir das Projekt ins Netz verlegen - das Bild der Insel bekam noch einmal eine ganz andere Bedeutung. Neue Fragen ergaben sich: Wie lässt sich der tatsächliche öffentliche Raum eines Kiezes mit virtuellen, imaginierten und filmischen Räumen verschränken? Und kann der intime Akt, im eigenen privaten Raum vor der Kamera für andere zu tanzen in Zeiten von physischer Distanz etwas besonders Verbindendes darstellen?
Ein Film über geteilte Momente in individuellen Bewegungen, über Nähe in der Distanz.
Teilnehmende: Dagmar Eichhorn, Gundi Kälber, Joachim Saint-Paul, Yaara Marx, Frank Markowski, Catarina Marcos, Elisabeth Hirsch
Team: David Lima (Choreografische Leitung), Sofie Neu (Dramaturgie), João Miguel Ferreira (Schnitt und Webseite), Anna Petzer (Sound), Diogo deCalle (Zeichnungen), Magdalena Baader (Kostüm), Thibaud Leroy und Joanna von Essen (Setting)
Betreuung: Joanne Parkes, Susanne Vincenz
Mentoring: Lukas Matthaei
Dank an: Thirza Marx, Tarik Mustafa, Martin Wittau, Andrea Isermann-Kühn, Frank Markowski, Elisabeth Hirsch, Abdullah Ericek, Gabriella Bertin, Maria Hector, Judith Brückmann und an alle maC-Kolleg*Innen und -Mitarbeiter*Innen
Eine Produktion im Rahmen des Masterstudiengangs Choreographie am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin https://www.hzt-berlin.de/
Unterstützt von der Bundesvereinigung Nachhaltigkeit, DorfwerkStadt e.V., Pulsraum e.V. und dem Deutschen Bühnenverein. David Lima ist Stipendiat der Fundação Calouste Gulbenkian.
Wir hatten einen schönen Premierenabend, bei der wir mit dem Publikum gemeinsam (im Kopf und im tatsächlichen Raum) den letzten erinnerten Weg gelaufen sind - dabei sind diese tollen Zeichnungen entstanden! Neben dem gemeinsamen Schauen des Films und einer Führung durch die Materialien dieser Webseite gab es eine Gesprächsrunde mit Fragen ans Team und die Teilnehmenden.
Im Anschluss hat uns ein inspirierter Zuschauer einen Text im Chat hinterlassen, über den wir uns sehr gefreut haben:
Die Ostsee endet am Nollendorfplatz
Immer wenn ich die Maaßenstraße in Richtung Nollendorfplatz schlendere, fühle ich mich an die Ostsee versetzt und Gedanken an Fischbrötchen, endlose Strände und Geschrei von Möwen ergreifen Besitz von meinen Hirnwindungen. Mein Blick schweift zum Himmel und tatsächlich ... dort fliegen Möwen und greisen über dem hohlen Zahn, der an eine Kuppel erinnern soll, die einst stolz auf dem U-Bahnhof Nollendorfplatz gewesen sein muss. Erst sehe ich zwei, dann drei und dann verfolge ich den Flug der immer mehr werdenden, die Dächer zu beiden Seiten der Maaßenstraße elegant überquerenden großen Vögel. Und ich frage mich, wo zum Teufel die Möwen herkommen, die doch sonst an salzigen Wassern zu Hause sind, und ich nehme mir vor, wenn ich wieder zu Hause bin, den alle Fragen beantwortenden Browser anzuwerfen und zu hoffen, Google möge mir die passenden Antworten präsentieren.
Unser Teammitglied Diogo hat die imaginierten Welten der Teilnehmenden Wirklichkeit werden lassen. Mit Klick auf das jeweilige Bild sind fünf Wörter zu lesen, die im Probenprozess das Thema des jeweiligen Soli und die verbundene Welt beschrieben haben.
Spannende vier Monate liegen hinter uns!
Aus den tänzerischen Soli der sieben Teilnehmenden ist nun ein gemeinschaftlicher Film entstanden, der am 21. Juni um 12 Uhr auf der Webseite erscheint!
(Die live-Premiere erfolgt am vorherigen Abend auf Einladung)
Der Prozess des Projektes war und ist hier auf unserer Webseite mitverfolgbar.
Im eigenen privaten Raum vor der Kamera für andere zu tanzen ist ein intimer Akt, dessen wir uns bewusst waren in den Proben und Dreharbeiten. Das Persönliche, Einzigartige der Bewegungen tritt besonders hervor. Vielleicht kann ein solches Sich Zeigen als etwas gesehen werden, das sich der Distanz im Alltag entgegensetzt?
Die US-amerikanische Dichterin Lora Mathis prägte für das bewusste Sich Verletzlich Machen den Begriff der radical softness:
“Radical softness as a weapon means that to present your emotional self is a political act, one which works against Western presentations of toughness. Vulnerability is a sign of strength.”
Inspiration: “Zoomster's Paradise. Am virtuellen Lagerfeuer – Wie die Theater in der Corona-Krise Videokonferenz-Apps als Spielwiese entdecken”- nachtkritik
Nicht nur wir nutzen Videokonferenzen für unser Projekt, viele Performances fanden in den letzten Wochen sogar komplett in diesem Medium statt. Als besonders wurden dabei oft die Publikumsgespräche im Anschluss empfunden, wie Sophie Diesselhorst beschreibt:
“Den Eindruck, dass hier ein utopisches Moment wohnt, gewinnt man auch als Zuschauende. Es ist ja ein bisschen, als würde man im Theater nach der Vorstellung im Foyer irgendjemanden ansprechen, mit dem man da gerade im Saal gesessen hat, statt seine Bekannten zum Filterblasen-Nachgespräch aufzusuchen. Die Zoom-Performance stellt also ganz nebenbei auch die Möglichkeit einer neuen, inklusiveren Öffentlichkeit her.”
Inspiration: Richard Sennett über den Wandel der Städte durch die Corona-Pandemie
Noch zweimal Richard Sennett: Im Interview mit dem Tagesspiegel äußert sich der Soziologe zu den Gefahren der Corona-Pandemie für die Zivilgesellschaft, im Guardian geht es um die Frage, inwiefern die Corona-Pandemie bleibende Veränderungen im Stadtraum hinterlassen könnte - von steigender Überwachung bis zu stärkeren Gemeinschaftsprojekten.
"Richard Sennett zur Corona-Krise - ,Wir müssen wachsam sein’”
Was der Soziologe Richard Sennett 1977 über den Verlust der Öffentlichkeit und die “Tyrannei der Intimität” durch den vermehrten Rückzug ins Private schrieb passt auch zur derzeitigen Situation. Melanie Lanner für den der Freitag - Blog:
“Die derzeitige Einschränkung des öffentlichen Lebens wirft auch die Frage auf, was Öffentlichkeit ist und wie viel Raum wir dem öffentlichen Leben in unserer Gesellschaft geben wollen. Pflegen wir weiterhin die Tyrannei der Intimität oder schaffen wir auch einen öffentlichen Raum jenseits des Konsums und der Fortbewegung? Einen Raum der Begegnung zwischen Fremden und damit ein Wachsen an und in der Welt. Und einen Raum, der politisches Handeln möglich macht.”
Inspiration: Kartografie oder Mapping als künstlerisches Mittel
Kartografie oder Mapping kann auch künstlerisches Mittel sein - sowohl in der bildenden Kunst als auch im Tanz:
“Das zunehmende Interesse an Karten und Strategien des Mappings in der Kunst seit den 1960er- Jahren ist denn auch Ausdruck eines sich radikal verändernden Blicks auf Stadt, städtischen Raum und Landschaft, wo soziale und politische Dimensionen und Prozesse ins Zentrum des Interesses rücken.”
“Mapping as choreography is a lecture presentation proposing that maps proscribe movement through space – articulating edges, proximity, distance, routes and terrain. The lecture explores the articulation of locality – how and where people actually stand and move.”
Inspiration: “Wo bin ich? Orientierungssinn in Zeiten des Notstands” - Modell Berlin
Wie ändert sich durch die Corona-Beschränkungen die innere Kartografie der Stadt? Nehmen wir den Stadtraum anders wahr und hat diese “Psychogeografie” eine politische Seite?
Mobile dance nähert sich tänzerisch Menschen und Orten, z.B. 12 Leuten, die auf der Badstraße in Berlin arbeiten, oder über bewegte Postkarten aus verschiedenen Städten.