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Paul Celan. «Schliere»
Schliere
Schliere im Aug:
von den Blicken auf halbem
Weg erschautes Verloren.
Wirklichgesponnenes Niemals,
wiedergeckehrt.
Wege, halb ― und die längsten.
Seelenbeschrittene Fäden,
Glasspur,
rückwärtsgerollt
und nun
vom Augen-Du auf dem steten
Stern über dir
weiẞ überschleiert.
Schliere im Aug:
daẞ bewahrt sei
ein durchs Dunkel getragenes Zeichen,
vom Sand (oder Eis?) einer fremden
Zeit für fremderes Immer
belebt und als stumm
vibrierender Mitlaud gestimmt.

Lina Scheynius
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Paul Celan. “Blume”
Blume
Der Stein.
Der Stein in der Luft, dem ich folgte.
Dein Aug, so blind wie der Stein.
Wir waren
Hände,
wir schöpften die Finsternis leer, wir fanden
das Wort, das den Sommer heraufkam:
Blume.
Blume — ein Blindenwort.
Dein Aug und mein Aug:
sie sorgen
für Wasser.
Wachstum.
Herzwand um Herzwand
blättert hinzu.
Ein Wort noch, wie dies, und die Hämmer
schwingen im Freien.

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Ulrike Almut Sandig. “Augen auf!”
gib mir die geschnittenen Felder unter der Folie aus Luft.
gib mir die Kiefern. die ziehen am gar nicht beweglichen Licht.
gib mir den Fischteich da drüben, den ganzen Entengries drauf.
gib mir den plötzlich so dunkel werdenden Grünspan auf meinem
einzeln stehenden Haus. die Wolken rollen drüber hinweg. Augen
auf! schon wieder dehnt sich der Mittag in alle Richtungen aus.

Lina Schynius. Trollhättan Spring (2013)
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Ulrike Almut Sandig. “die glücklichen Städte Mitteleuropas”
erst nahm sie ihn bei den Händen
dann ließ sie ihn bei den Farnen
in der äußersten Mitte des Waldes
allein. Zeit verstrich rasend
zwischen den Birken flirrte die Hitze
Nacht fiel schon wieder herein
Vögel drehten langsam die Köpfe
um zweihundertsiebzig Grad nach ihm um
er hatte jedoch seinen Rückweg
in die glücklichen Städte Mitteleuropas
mit keiner Krume markiert.
zu seinen Füßen schossen die Pilze
vereinzelt strich Fell im toten Winkel
an ihm vorbei, vor und hinter ihm
Schatten, über ihm knarrten die Kronen
der südliche Himmel drehte sich
immer und immer im Kreis oder
hatte er das nur sagen gehört oder
in den Büchern der Freunde gelesen?
was war passiert? war was passiert?

Nathan Oliveira. Man Walking (1958)
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Ulrike Almut Sandig. [vom Flieger aus siehst du]
tags die smarten Bluescreens der Pools
in tausend und einem Garten am Haus
Quadrate überhaupt, je weniger du und
ich von Deutschland entfernt sind. sieh
nachts in Blutorange die Laternenalleen
jener persisch kubanischen (wo sind wir?)
Städte! da unten leuchten die Highways
hier oben leuchten wir. die Nacht hebt an
wir kommen voran – bekommst du dein
Kind hier, wie nennst du es dann? nenn’s
ASIA nenn’s ALMUT, nenn’s ALPHA, lass
OMEGA sein. wir kommen von irgendwo her
wir schlafen, wir fliegen nirgendwo hin.

Moritz Aust
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Friedrich Hölderlin. «Griechenland»
Wie Menschen sind, so ist das Leben prächtig,
die Menschen sind der Natur öfters mächtig,
das prächt’ge Land ist Menschen nicht verbogen
mit Reiz erscheint der Abend und der Morgen.
Die offnen Felder sind als in der Ernte Tage
mit Geistigkeit ist weit umher die alte Sage,
und neues Leben kommt aus Menschheit wieder
so sinkt das Jahr mit einer Stille nieder.
Den 24t. Mai 1748 Mit Untertänigkeit
Scardanelli

Mark Mawson. Aqueous
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Paul Celan. «Wege im Schatten-Gebräch»
Wege im Schatten-Gebräch
deiner Hand.
Aus der Vier-Finger-Furche
wühl ich mir den
versteinerten Segen.

Sophie Tottie. White Lines (2011)
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Friedrich Hölderlin. «Der Zeitgeist»
Die Menschen finden sich in dieser Welt zum Leben,
Wie Jahre sind, wie Zeiten höher streben,
So wie der Wechsel ist, ist übrig vieles Wahre,
Daß Dauer kommt in die verschied’nen Jahre;
Vollkommenheit vereint sich so in diesem Leben,
Daß diesem sich bequemt der Menschen edles Streben.
24 Mai 1748. Mit Untertänigkeit
Scardanelli.

Thilo Heinzmann
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Paul Celan. «Mit wechselndem Schlüssel»
Mit wechselndem Schlüssel
schließt du das Haus auf, darin
der Schnee des Verschwiegenen treibt.
Je nach dem Blut, das dir quillt
aus Aug oder Mund oder Ohr,
wechselt dein Schlüssel.
Wechselt dein Schlüssel, wechselt das Wort,
das treiben darf mit den Flocken.
Je nach dem Wind, der dich fortstößt,
ballt um das Wort sich der Schnee.

Thilo Heinzmann
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Georg Trakl. «Ruh und Schweigen»
Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald.
Ein Fischer zog
In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher.
In blauem Kristall
Wohnt der bleiche Mensch, die Wang' an seine Sterne gelehnt;
Oder er neigt das Haupt in purpurnem Schlaf.
Doch immer rührt der schwarze Flug der Vögel
Den Schauenden, das Heilige blauer Blumen,
Denkt die nahe Stille Vergessenes, erloschene Engel.
Wieder nachtet die Stirne in mondenem Gestein;
Ein strahlender Jüngling
Erscheint die Schwester in Herbst und schwarzer Verwesung.

Masao Yamamoto
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Friedericke Mayröcker. «Hölderlinturm, Am Neckar, Im Mai»
Diese Prise Hölderlin
im hellroten Hölderlinzimmer
im Korridor stehend
fällt mein Blick auf die roten Blumen im Glas
gesäumt von abgefallenen
Blütenblättern
nichts sonst
das Zimmer leer nur die Vase die Blumen
zwei alte Stühle −
ich öffne ein Fenster
im Garten sagst du die Bäume
sind noch die gleichen wie damals
aber man hört einen Ton Musik es
glänzt die bläuliche Silberwelle
Für Valerie Lawitschka
6.6.89

Lyonel Feininger. Roter Turm I (1930)
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Ulrike Almut Sandig. «[meine Freunde]»
verloren ging mir ein Freund, dem ich weh getan hatte.verloren ging mir ein zweiter, den hatte ich einfach so:
grundlos vergessen. verloren ging mir jener grasgrüne Plastikring meiner Freundin, und etwas später ging mir verloren die Freundin an sich. der genaue Grund, weswegen ich sie verlor, ist mir ebenfalls und ebenso grundlos abhanden gekommen. das macht aber nichts! das liegt auf der Hand: meine Freunde befinden sich in der Kampfzone des Waldes, wo selbst die Bäume verschwinden, und bücken sich unter dem Wind. einer von ihnen trägt einen Plastikring, grasgrün, am Finger, den hab ich an anderer Stelle schon einmal gesehen.

Wolfgang Tillmans. Freischwimmer 155 (2010)
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Ulrike Almut Sandig. «schmale Schatten»
ich werde vom Flirren der Bäume im Licht nichts
sagen, auch nicht von den Bäumen an sich.
kein Wort von der Buche im Hinterhof der Ärztin
deren Tochter im Schlafzimmer stirbt, kein Wort
vom Blauglockenbaum im eigenen Hof, unter dem
ich und du bis spät in der Nacht sitzen und so tun
als sei die Tochter der Ärztin nur in den Gedichten
die ich aufschreibe, echt. ich werde vom Flirren
der Bäume im Licht nur die Kronen preisgeben
die Kronen der Bäume im kreiselnden Wind und
die Nadeln, die immer grün sind, daran. ich werde
so tun, als sei nur das hitzige, flimmernde Licht
eingestickt in die Kronen der Fichten, ganz echt.
aber nicht ihre eng stehenden Stämme darunter, nie
schmale Schatten, der Wald, die Bäume an sich.

Phédia Mazuc
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Ulrike Almut Sandig. «im sommer sitzen die alten»
die füße am leib und halten den koffer sehr fest.
darin sind: gespartes in folie, der goldschmuck
von mutter, drei fotos, zwei briefe, der pass.
nur die alten sitzen auf tischen im dunkel, wenn wind
sich auflädt, und zählen die zeit zwischen donner und blitz
und sitzen die alten und sagen kein wort

Michael Biberstein. Strange (2008)
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Paul Celan. «Inselhin»
Inselhin, neben den Toten,
dem Einbaum waldher vermählt,
von Himmeln umgeiert die Arme,
die Seelen saturnisch beringt:
so rudern die Fremden und Freien,
die Meister von Eis und vom Stein:
um läutet von sinkenden Bojen,
umbellt von der haiblauen See.
Sie rudern, sie rudern, sie rudern ―:
Ihr Toten, ihr Schwimmer, voraus!
Umgittert auch dies von der Reuse!
Und morgen verdampft unser Meer!

Phedia Mazuc
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Ulrike Almut Sandig. «[meine heimat]»
ich habe die namen der großen vögel vergessen.
jeden juni fällt brut vom first einer scheune, die jetzt
leer steht. später im jahr stehen sie steif auf den feldern,
von der straße her flocken die kleider weiß aus, von weitem
riecht nach verscheuerten sträußen + stahl + geborstenem
gut von jenem gewitter am anderen tag: meine heimat.
in der heimat brechen sich namen an der scholle,
im wort: was dort angebaut wird, ist mir fremd.

Phedia Mazuc
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Georg Trakl. «Die Ratten»
Im Hof scheint weiß der herbstliche Mond.
Vom Dachrand fallen phantastische Schatten.
Ein Schweigen in leeren Fenstern wohnt;
da tauchen leise herauf die Ratten.
Und huschen pfeifend hier und dort
und ein gräulicher Dunsthauch wittert
ihnen nach aus dem Abort,
den geisterhaft der Mondschein durchzittert.
Und sie keifen vor Gier wie toll
und erfüllen Haus und Scheunen,
die von Korn und Früchten voll.
Eisige Winde im Dunkel greinen.

Frank Auerbach
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