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Der deutsche Traum
Wir schreiben 1972. Johannes Schulte, seines Zeichens Tischler der Tischlerei seines Vaters in einem Kaff im Sauerland, der westfälischen Walachei. Johannes tuckert gerade durchs ganze Land, um andere Holzhändler von seiner Idee zu überzeugen, um die Deckenvertäfelung eine Leiste zu befestigen, damit sie schöner aussieht. Na gut, er hätte auch einfach seine Arbeit machen können, abends vielleicht mal in der Ortskneipe vorbeischauen und irgendwann alt und grau werden können. Aber nein, er musste ja beharrlich versuchen, die Leute von seiner Idee zu überzeugen. Diese Nervensäge!
80 Jahre später ist seine Tischlerei – mittlerweile 650-mitarbeitergroß – der Weltmarktführer in der Herstellung von Hartbodenbelägen – und das immer noch im popeligen Meiste. Von dort aus wird die ganze Welt mit den hochwertigen Bodenbelägen beliefert. Wahrscheinlich ist jeder von uns schonmal in seinem Leben über einen Boden der Firma „MeisterWerke Schulte GmbH“ gelaufen, ohne es zu wissen. Warum auch? Wer interessiert sich schon für die Herkunft von sowas banalen wie Böden?
Das ist nur ein kleines Beispiel für eine Reihe vieler familiengeführten, mittelständischen Unternehmen, die in ihrer Nische Marktführer sind. Zweidrittel solcher 3000 Unternehmen ist im deutschsprachigen Raum ansässig, die sich oft auf dem Land befinden. Einige Beispiele solcher unbekannter Unternehmen: Irgendwer muss ja 80% aller Fischverarbeitungsanlagen herstellen (Baader). Oder den Markt für Stative dominieren (Stachel). Wissen Sie, wie man Wolkenkratzerfassaden entwirft und sie auf Wetterfestigkeit prüft? Nein? Der Weltmarktführer Gartner aus Gundelfingen erklärt’s Ihnen. Einen hab ich noch. Sie wollen eine Bühne in einem Theater oder einer Oper bauen und brauchen einen großen Vorhang? Tja, dann gibt’s nur eine Wahl für Sie: Firma Gerriets aus Umkirch. Marktanteil: 100%.
Fernab von den wissenshungrigen, durchglobalisierten Großstädten und Tälern, die sich immer größerem Andrang junger Menschen erfreuen, existiert eine Parallelwelt. Eine Parallelwelt zu den ewigschimmernden Sternen am Konzernhimmel. Da draußen auf dem stillen Land wurde und wird Unternehmensgeist aus anderem Holz geschnitzt. Aus einfacherem, schlichterem aber dennoch hochwertigem Holz. Die koordinierte Marktwirtschaft (oder auch „Rheinischer Kapitalismus“) hat zu dieser Entwicklung sicherlich einen erheblichen Teil beigetragen. In einer koordinierten Marktwirtschaft, wie sie in Deutschland, Japan oder Skandinavien anzufinden ist, sind die Unternehmen eng mit den Banken verknüpft und deshalb ist es das Ziel der Unternehmen, „lediglich“, die Schulden abzubezahlen, und nicht wie in der liberalen Marktwirtschaft (USA oder GB), möglichst hohe Gewinne zu erzielen, um nicht wettbewerbsunfähig zu werden und von erfolgreicheren Unternehmen geschluckt zu werden. Die eine kapitalistische Spielart begünstigt, wie man sieht, die Spezialisierung von Unternehmen, da sie nicht gezwungen sind, sich ständig neuzuerfinden, um auf dem Markt zu bestehen, sondern „bloß“ das Ziel haben, ihren Kredit abzubezahlen. Und das tut man am besten, wenn man das, was man tut, einfach richtig gut macht. Der Mut zur Nische wurde geboren und gefördert. So konnten wahrscheinlich viele deutschsprachige Unternehmen ihr Spezialgebiet finden und es sich dort gemütlich machen. Der Nachteil daran ist erkennbar: Beschwingte und schnellblühende Unternehmen oder Start-Ups können so auf einem Boden schlecht wachsen, da die Bedingungen dafür nicht gegeben sind. Das System ist zwar sicher, aber „steif”. Ein deutsches Apple oder japanisches Google wird’s wahrscheinlich erstmal nicht geben.
Aber braucht’s das auch? Reicht es nicht, wenn es genug Josef Schultes, Baaders und Gartners gibt? Menschen, die nicht danach streben, der hellste Stern am Himmel zu sein, sondern sich damit begnügen, der König ihrer Nische zu werden und dafür auch Geduld und Demut aufbringen? Ich glaube ja. Heimliche Gewinner können eine beharrliche Zugkraft aufweisen. Sie knicken nicht beim ersten Windhauch um und sind idealistisch, als dass sie der Fahne im Wind irgendeine Bedeutung zumessen würden. Solche Menschen braucht man. Überall. Und gerade in der heutigen schnelllebigen Zeit, wo die Welt einem vorgaukelt, die Sterne seien in greifbarer Nähe und man müsse berühmt werden, um überhaupt jemand zu sein, ist es umso bewundernswerter, wenn es weiterhin solche eigenbrötlerischen Menschen geben wird. Sie sind das Gegengewicht. Und um dieses Gegengewicht zu suchen, muss man nicht weit gehen. Ein Blick hinter den Vorhang genügt und man erblickt eine Vielfalt an Unternehmen und Menschen mit Ideen, die man sich nie hätte vorstellen können. Die heimlichen Gewinner leben. Auch das Land lebt. Ja, selbst das 300-Seelen-Dorf Meiste im Sauerland lebt. Und Johannes Schulte auch. Er lebt den deutschen Traum. Er hat’s gepackt, herzlichen Glückwunsch!
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Der deutsche Traum: Das ist er für mich. In seiner Heimat bleiben. Ein kleines Unternehmen mit einer frischen Idee gründen. Geduld und Beharrlichkeit zeigen und irgendwann zum Gewinner aufsteigen, weil man das, was man von Anfang macht, richtig gut macht. Ganz ohne großes Tammtamm und stets mit Ehrfurcht und Demut vor seinen eigenen Erfolgen. Schon spießig, aber so ist er nun mal, der deutsche Traum.
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Vermeintliche Verwandtschaft
Vaterland. Muttersprache. Bruderbürger? Schwestererde?
Ich habe letztens unter einer Doku über Russland einen Kommentar gelesen, der mich sehr ins Stutzten gebracht hat. Sinngemäß stand darin, dass die Russen und Deutschen doch Brüder seien, weil sie von den Prussen abstammen. Ungeachtet der historischen Richtigkeit dieser Behauptung, komme ich bei so einem Gedanken sehr in Verlegenheit. Diese Vorstellung, dass man aufgrund eines gemeinsamen Stammes, der irgendwann im 13. Jahrhundert über die baltische Landfläche wütete, eine gemeinsame Außenpolitik anstreben sollte oder gar eine familiäre Beziehung zwischen zwei Völkern pflegen sollte, halte ich für komplett absurd. Wo soll man überhaupt so eine Grenze ziehen? Sind nicht alle Menschen irgendwo Brüder und Schwestern? Sind wir nicht selbst mit den Tieren „verwandt”? Sobald man diesen Gedanken weiterführt, gerät man schnell ins Bodenlose oder zumindest in eine wackelige und unsichere Zone des Denkens und Entscheidens. Es kann meiner Meinung kann kein richtiges, endgültiges Maß geben, mit dem man eine derartige Grenze zieht. Und selbst wenn es so eine Grenze geben sollte, nehmen wir beispielhaft die indogermanischen Sprachen sprechenden Völker, so stellt sich mir die Frage: Warum zur Hölle sollte ich mich mit einem 52-jährigen Schweden aus Malmö in irgendeiner Weise verbunden fühlen? Oder bleiben wir einfach lokaler. Mir fällt es ja sogar schwer irgendeine Verbundenheit zu einem Rheinländer zu empfinden. Oder gar für den Nachbarn zwei Straßen weiter. Oder ist es einfach meine jugendliche Naivität, die mich diesen Begriff falsch interpretieren und ihn viel zu wörtlich nehmen lässt. Ist es heutzutage überhaupt noch angenemessen von einer „Volksverbundenheit” zu sprechen? Die zufällige Tatsache, dass ich - glücklicherweise - in Deutschland zur Welt gekommen bin, sollte mich doch nicht hingezogener zu deutschen Landsleute machen als bspw. zu Ausländern, die manchmal vernüftigere Ansichten haben könnten bei bestimmten politischen Themen? Das könnte im schlimmsten Falle böse enden, wie die Vergangenheit es einige Male gezeigt hat.
Diese Fragen beschäftigen mich in letzter Zeit sehr und wurden durch die momentane Entwicklung in Russland verstärkt. Ich erlebe es momentan in meiner Familie. Meine Eltern waren schon immer Pro-Russland. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn sie dort aufgewachsen sind und sich deswegen zum Osten näher hingezogen fühlen. Aber in letzter Zeit nahm es schon feindselige Grundzüge an. »Das „böse“ amerikanische Volk! Die Faschischten unterstützenden Deutschen! Der Westen zettelt einen blutigen Krieg an und das unschuldige Russland verteidigt sich bloß!« Da wird plötzlich kriegerisches Eingreifen der Russen legitimiert, anstatt Frieden anzustreben, anstatt beide Seiten für ihren Militarismus anzuprangern. Aber nein, das Feindbild ist da und es hält sich. Und es hält sich so gut, weil es einen Nationalismus gibt, eine vermeintliche „Vaterlandsliebe“, die diese Kriegsbereitschaft so gut ermöglicht. Und solange es sich halten wird, kann es keinen stabilen Frieden geben, solange man den Gegenüber als die Ausgeburt des Bösen ansieht.
Und dann frage ich mich wieder: Warum? Warum sollte ich bloß aufgrund der Tatsache, dass ich zufällig in Deutschland zur Welt gekommen bin, befürworten, dass irgendwo anders auf der Welt Menschen sterben für die Zukunft des Westens? Was soll das denn heißen? Etwa dass wir auch in Zukunft noch in den kostengünstigen Genuss von McDonald's und Co kommen? Dass wir auch in Zukunft uns jährlich über die Ankündigung eines neuen überteuerten iPhones freuen als würden wir die Ankunft Jesu feiern? Diese willkürliche Zugehörigkeit zu einer Nation, diese stupide Vaterlandsliebe, dieser widerliche Nationalismus, dieses Ausmalen von Feindbilder, von angeblich „bösen” Menschen. Ah ja, und wir sind wie immer die Guten, oder was? Nur weil meine Alten in diesem Land gepoppt haben und ich deswegen in einer durch die Historie willkürliche gezogene Grenze aufgewachsen bin, soll mich in meinem Menschenverstand einschränken? Nein, ganz bestimmt nicht. Und wenn ich sowas so einen partiotistischen Schmarn höre wie „Kiew ist russischer Boden!”. Ja, mein Gott, Königsberg war auch mal „deutscher” Boden. Es war sogar mal die Wiege der preußischen Kultur, die irgendwann vor 170 Jahren das Deutsche Reich gegründet hat, in der ich heute mit 80 Millionen anderen lebe. Und jetzt gehört's zu Russland. Und? Fühle ich mich in meinem deutschen Stolz verletzt? Fühle ich mich nun schlecht? Nein, nicht mal annähernd, so einen habe ich nicht mal und den brauche ich auch nicht. Damit wir die Banalität der Zugehörigkeit von Erde zu einer beliebigen Nation deutlich.
Das größte wahrhaftige Ziel der Politik sollte die Wahrung des Friedens unter Menschen sein. Genau der Grund, weshalb wir uns mal vor tausenden von Jahren zusammengeschlossen haben. Um in Frieden zu leben, anstatt uns 24/7 die Köppe einzukloppen. Aber diese Entwicklung geht in letzter Zeit genau in die andere Richtung über. Oder ist es alles nur ein des Plans des Friedenswahrung und wir unwissenden Bürger können das bloß nicht begreifen? Wer weiß, könnte sein, aber daran glaube ich nicht. Darauf sollte man sich generell nicht verlassen. Das würde gegen die politische Paritzipation sprechen. Vielleicht wird momentan auch nur die Pax America weiter ausgebaut/wiederhergestellt, und die Russen stellen sich bloß quer, was man ihnen aus einem bestimmten Blickwinkel nicht verübeln kann.
Man weiß es erstmal nicht wirklich viel. Und man sitzt nur zu oft fragend vor dem Bildschirm und denkt sich, was gerade denn nun wirklich in der Weltpolitik abläuft. Was soll man jetzt glauben? Unabhängig davon werden am Ende des Tages unschuldige Menschen sterben, wenn sich nichts langfristig ändert, egal auf welcher Seite man steht und welcher Himmelsrichtung man nun glaubt. Der Nährboden für eine friedliche Zukunft in Europa wird momentan von beiden Seiten verwüstet und vergiftet, sodass in Zukunft kein starker Frieden aus ihr wachsen kann. Und die Frage, die sich jeder von uns stellen und am besten mit seinem eigenen Kopf beantworten sollte: Ist es das alles wert?
#patriotismus#nationalismus#weltpolitik#fragen über fragen#russland#deutschland#frieden#krieg? nein danke
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