das hier ist ein sideblog für meinen grauenerregenden roman, an dem ich seit ende mai 2016 sitze (der aber eigentlich schon seit november 2009 existiert ... seltsam)
Don't wanna be here? Send us removal request.
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more OvF boards. maybe I’ll do the originals someday.
part 1
#ovf#original vs final#moodboard#jaaaa es kam jetzt länger nichts weil ich mich davor drücke kapitel 10 zu überarbeiten (-:;
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what up I made OvF moodboards a few months ago…..
(cassy’s is the best cries)
part 2
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hey ich habe gerade star wars gesehen und ich möchte nur, dass ihr alle wisst, dass kelly marie tran ABSOLUT cassy's face claim ist und ich erlaube nicht dass sie sich irgendwer anders vorstellt als wie diese absolut süße und wunderschöne person. (-:
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Bescheuerte Rechtschreibfehler im alten Skript + geheime Schnipsel aus diesem alten Skript + Klein-Majo-verwechselt-äs-und-es-und-macht-überall-hs-hin-Galore
#we like to have a little fun here once in a while#tbj ich glaube das genähen ist sogar aus etwas anderem aber ich lasse es jetzt einfach mal da :-D#viel spaß
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kein update
Die Gute Nachricht: Ich habe OvF tatsächlich mal weitergeschrieben und bin endlich über diese beschissene Szene im 26. Kapitel hinaus, die mich so verwirrt hat und mit der ich einfach nichts anzufangen wusste!
Die Schlechte Nachricht: Ich habe sie in meinen Vorlesungen in ein gammeliges Bommelheft geschrieben und muss sie jetzt abtippen. (-:, Wird mein Leiden denn nie enden?!
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Unnötige Meta-Facts: Kapitel 9
(Irgendwie hab ich beim Überarbeiten dieses Kapitels vergessen, mich auf das Machen eines UMF zu konzentrieren, darum ist das relativ leer heute ... oder es gibt einfach wirklich nicht Spannendes zu berichten, das kann natürlich auch sein. :-D)
Ich habe ewig gewartet, bis ich endlich die gute alte Autovermietungs- und anschließende Haru-fährt-Szene schreiben konnte, sie gehört zu meinen absoluten Faves nach der Verona-Moreno-Geschichte, und ich weiß noch nicht mal warum .... eigentlich passiert ja so gut wie gar nichts. :-D Ich habe sie aus diesem Grund vielleicht auch extra heftig ausgeschmückt (man kennt mich inzwischen), aber gerade die Stelle, wo Haru so auf alle möglichen Knöpfe drückt und alle einfach am Schwitzen sind, ist so herrlich. :-D Ich glaube, es liegt wirklich an der Situation, in der das Original geschrieben wurde, irgendwas muss daran witzig gewesen sein. :B
Obwohl der Milchbart-Bubi bereits im Original-Skript als solcher vorkam, möchte ich dennoch erwähnen, dass, auch wenn er nicht seine Inspiration war, ich ihn dem Ab-18-Typen von coldmirrors Japanoschlampen gewidmet habe. :-D Was viele nicht wissen: auf Harus Führerschein wird er als Triumphala Darkshadow identifiziert.
Die Haru-fährt-Szene hat ein großes Problem: und zwar macht es eigentlich mega keinen Sinn, dass Haru nicht mehr weiß wie man Auto fährt. (-:, Ich versuche es die ganze Zeit mit der stressigen Situation zu erklären, aber da ich selber noch nie gefahren bin, habe ich einfach keine Ahnung, ob das Sinn macht. 8D Letztendlich ist es ja irgendwie auch nur ein Filler, an dem ich aber sehr hänge, und der deswegen auch drin bleiben musste. Es passiert nichts wichtiges, aber es beruhigt meine Seele. Ist das nicht das Wichtigste .... (-:,,,
Ich hatte tatsächlich komplett vergessen, was im Original dieses Kapitels alles passiert ist, bevor ich kurz nachgeguckt habe, um mich zu vergewissern, dass der Milchbartjunge auch schon damals einen Milchbart hatte ..... aber offenbar sind die verrückten Kinder zuerst mal in eine verlassene Kohlemiene gefahren und haben die auseinandergenommen, (wobei herauskam, dass Eli Claustrophobie hat) haben dort aber nichts gefunden und sind dann zum Proto-Nikolaj aufgebrochen, der kein kochbegeisterter Automechaniker, sondern ein aus irgendwelchen Gründen verdächtig mittelalterlicher Goldschmied war, der aggressiv auf einem Amboss rumgehämmert hat. :---D Oh man, das Originalskript von OvF ist echt ein wilder Ritt. Aber immerhin basiert der gute Herr zumindest im Aussehen ein wenig auf seiner ursprünglichen Version.
Lang oder besonders toll ist es nicht, aber hier sind die Randfiguren of the week;
Milchbartjunge ist tatsächlich einer meiner Lieblingsrandfiguren in der Geschichte bisher, zusammen mit Verona Moreno. Ursprünglich wurde er auch von Majo geschrieben, in seiner gefühlten einen Seite Screentime. :-D Der korrupte, bestechliche Spargeltarzan. Das Beste an ihm sind honestly seine Spitznamen. 8D In diesem Kapitel gibt es keine Taxifahrer, dafür aber betrunkene Touristen. Klar, ich würde auch Urlaub in einer Klosterstadt machen, wenn ich mich richtig besaufen will. :--D Leider weiß ich, dass sowas nicht mal ungewöhnlich ist, von daher hmm. (--:
Mein Kink ist es, wenn sich die Charaktere in universe darüber aufregen, wie dumm und unpraktisch ihre Waffe(l)n sind. :-D Spoiler: Jackbell wurde einfach nur von seiner Liebe zu Aesthetics übermannt, das ist alles. (Ich ebenfalls)
Die Cassy-sinniert-und-umarmt-Szene ist so sanft tbj .... es macht mich einfach warm, wie glücklich und ruhig sie in dem Moment sind. (': (Oh boy, das bleibt nicht lange so ... :--D) Aber davon abgesehen liebe ich es auch einfach mega, wenn sich Charaktere so auf den Anfang ihrer Geschichte zurückbesinnen und selbst merken, wie sie sich inzwischen verändert haben. Das ist so rewarding. :-D
Dieser kurze Abschnitt beim Frühstück darüber, wie praktisch es doch ist, dass sie sich noch nicht gestritten haben und dass alle so nett zueinander sind ist a) Foreshadowing auf Judy, die für die nächsten zehn Kapitel die komplette Chemie zerstört und alle fertig macht und b) eine Anspielung darauf, wie mies die Finals eigentlich ursprünglich im alten Skript miteinander ausgekommen sind; das bestand hauptsächlich darin, dass Eli wirklich literally gemobbt wurde, es haben ihn einfach alle fertig gemacht, weil wir dachten, das wäre irgendwie witzig. (-:,, Meistens war es Haru, ein bisschen auch Cassy und später ziemlich kräftig Judy (die hasst einfach alles), während Hasret, Shawn und Zach überhaupt nichts unternommen und ihn meist nur ignoriert oder darüber gelacht haben, als wäre das keine ernste Sache. (--:,,,, Oh man, bin ich froh, dass ihr dass nie sehen müsst.
#unnötige meta-facts#umf#original vs final#ovf#we like to have a little fun here once in a while#ja sie kommen heute mal am selben tag weil ihr armen ja so lange warten musstet :-D
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9. Kapitel: EXCALIBUR
Oh … h-hallo … n-na wie geht’s. (-:,,, Lange nicht gesehen was … Okay, ich habe eigentlich nicht wirklich eine Entschuldigung dafür, dass es so lange gedauert hat … 70 % weil faul und 30 % weil ich MEGA Angst vor dem nächsten Kapitel hab, dessen Handlungsort hier ja schon angesprochen wird. Ihr könnt euch nicht vorstellen was für einen Schiss ich habe, das nächste Ding hochzuladen. :--D Ich hab so viel über Tourismus in Saudi-Arabien recherchiert wie ich konnte, und trotzdem bin ich extrem concerned, dass ich irgendwas nicht richtig mache und irgendwie mega offensive und racist rüberkomme. (--:, Aus diesem Grund wird es auch noch lange, lange dauern, bis das nächste Kapitel hochgeladen wird … 8D Wenn es das überhaupt wird und ich es nicht einfach eiskalt rauslasse, weil ich zu viel Angst habe. (-: Das Problem ist ja, ich würde es einzelnen Leuten sofort geben, immerhin lesen hier ja sowieso nur zwei (2) mit, aber der Gedanke daran, es für aller Augen sichtbar hochzuladen, macht mich schon etwas hitzig. (-:, Na ja, wir werden sehen. Hier kommt aber erstmal ein bisschen unwichtiges Filler-Gedöns und Shawns Waffel. Mein Gott, war ich pingelig in diesem Kapitel, ich muss mir das echt abgewöhnen, jeden kleinen Pups-Nebensatz umschreiben zu wollen. :-D Na ja, ich hoffe es gefällt euch dennoch. Word Count: 9,2k Warnings: ich hoffe und glaube nichts ….? (-:,
Zum fünften oder sechsten Mal an diesem Tag nickte Shawn ganz langsam und bedächtig mit dem Kopf und fixierte dabei den Boden vor sich, als würde er einem unheimlich spannenden, wissenschaftlichen Vortrag zuhören und gründlich darüber nachdenken. »Nikolaj Ibragimov«, wiederholte er den Namen, den Haruki ihm genannt hatte. »Er wohnt am Stadtrand und hat eine Autowerkstadt. Mein Vater ist seit Ewigkeiten mit ihm befreundet, er kommt oft zu Besuch … und was ist mit ihm?« »Jackbell sagt, er ist der Aufbewahrer deiner Waffe«, erklärte der Japaner kurzum. »In der Heimatstadt eines jeden Finals gibt es immer jemanden, der den Prototypen so lange aufbewahrt, bis wir ihn abholen kommen und bisher hatte diese Person auch immer eine Verbindung zu uns. Jackbell meinte auch, wir sollen heute noch los, morgen geht bereits unser nächster Flug … scheint so, als hätten wir es plötzlich doch eilig.« »Morgen schon?!« Hasret schnappte erschrocken nach Luft. »Wir sind doch heute Morgen erst angekommen! Wohin soll es denn überhaupt gehen?« »Hat er noch nicht gesagt.« Haruki zuckte müde mit den Schultern. »Wir haben auch noch keine Tickets oder überhaupt weitere Anweisungen bekommen … daher nehme ich an, dass wir Bernhard bald wiedertreffen und mit ihm fliegen werden.« Shawn atmete erschöpft aus. Morgen sollte es schon losgehen? Er war sich ja nicht einmal sicher, ob seine Eltern sich überhaupt daran erinnerten, dass er bald verreisen sollte, und dann auch noch so kurzfristig. Übermäßig in seine Heimat verliebt war er nun wirklich nicht und irgendwie auch froh darüber, eine Weile von hier fortzukommen, aber hier kannte er alles; er wusste wohin er gehen musste um allein und für sich zu sein, er wusste wo er sicher war, wo er sich zuhause fühlen konnte … dazu war er noch nie außerhalb von Russland gewesen. Sein Englisch war nicht schlecht, aber sicher würde es nicht leicht werden, sich völlig auf eine Zweitsprache umzustellen, ganz zu schweigen von all den Dingen, die man im Ausland beachten musste. Auf welcher Straßenseite fuhr man Auto, wie bestellte man ein Wasser ohne Eiswürfel, was für Dinge waren auf den Straßen verboten oder erlaubt? Mochten die Menschen Russen überhaupt? Was würde man von ihm denken, wenn er etwas falsch machte? Shawn war zwar nicht allein, er hatte Haruki, Cassy, Eli und Hasret bei sich, doch kannten die sich viel besser aus als er? Immerhin reisten sie an Orte, an denen auch sie noch nicht gewesen waren, doch offenbar hatten sie es ja auch zuvor geschafft, sich nicht verhaften zu lassen … Meister der Unauffälligkeit waren die Finals vielleicht nicht. Aber möglicherweise konnten sie ja in diesem Punkt etwas von ihm lernen. »Also gut. Wie kommen wir am schnellsten zu diesem Ibragimov?«, stellte Cassy die Frage in den Raum. Obwohl sie alle eigentlich Shawn ansehen und seine Richtungsanweisungen hören wollten, vermieden sie es doch möglichst, den armen Jungen nicht gleich mit ihren gewohnt fordernden Blicken zu bombardieren. Dieser verzerrte jedoch nur das Gesicht, sodass es aussah, als hätte ihm jemand etwas unheimlich Faules unter die Nase gehalten. »Also … ich weiß schon, welche Straßen man fahren muss«, begann er mehr oder weniger hoffnungsvoll. »Mit dem Auto …« Es herrschte kurz nachdenkliches Schweigen. »Wisst ihr, wir könnten doch bestimmt zur Abwechslung mal ein Auto mieten, oder?«, schlug Eli schließlich tatbereit vor und schwang schon voller Aufbruchsstimmung die Faust. »An Geld sollte es uns dafür ja nicht mangeln.« »Ja, aber an einem Fahrer vielleicht«, brummte Cassy gerade noch so verständlich, verschränkte die Arme und blickte auffordernd in die Runde. »Ich hab zwar den Führerschein, aber theoretisch darf ich noch nicht ohne Begleitung fahren. Und ganz ehrlich, ich würde mich hier auch nicht wohl auf den Straßen fühlen …« »Ich hab ihn noch nicht«, kam es von Hasret. »Ich hatte bisher noch keine Möglichkeit dazu, und leider auch keine Ahnung.« Eli zog ebenfalls nur eine vielsagende Grimasse als Antwort und zuckte mit den Schultern. »Ich … hab kurz vor meiner Reise nach Kanada den Führerschein gemacht«, brachte Haruki zögerlich hervor. Er hatte die letzten Monate zwar ein Auto zur Verfügung gehabt, war sich aber plötzlich überhaupt nicht mehr sicher, ob er überhaupt noch wusste wie man fuhr, mit all den Dingen, die inzwischen in seinem Kopf vor sich gingen und mit dem Druck, vier weitere Personen sicher zu transportieren. Zumal ja auch bekannt war, dass er grundsätzlich immer dann verdächtig zu wirken begann, wenn er gerade das vermeiden wollte. »Ab welchem Alter darf man denn in Russland fahren …?« »Achtzehn«, meinte Shawn gelassen, deutlich froh darüber, dass er überhaupt nicht gefragt worden war. Haruki schluckte, er war neunzehn. Fast zwanzig sogar, wenn man drei weitere Monate mit einrechnete. »Kann ich denn überhaupt einfach so ein Auto leihen, ohne zu …« Siedend heiß fiel ihm plötzlich etwas ein und er sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Meine Papiere sind nach dem Feuer verloren gegangen!« Seine alte Brieftasche musste irgendwo in den dunkelsten Tiefen seines Koffers vergraben liegen, aber dass sein Führerschein heil aus der Sache herausgekommen war, das bezweifelte er stark. Tatsächlich waren sie alle nun schon seit Wochen nahezu identitätslos unterwegs, alles was sie auszeichnete waren die brandneuen Reisepässe, die Jackbell ihnen zur Verfügung gestellt hatte. »Ich glaube nicht, dass wir das hinbekommen …« »Warum versuchen wir’s nicht einfach?« Eli war noch immer so begeistert von seiner Idee, dass er nicht bereit war, sie so früh schon aufzugeben. »Einen Versuch ist es wert, oder?« »Willst du Haru wirklich so dringend Auto fahren sehen?« Hasret lächelte zwar, klang dabei aber eher wie eine Mutter, die schon genau wusste, dass sie ihrem Kind etwas verbieten würde, obwohl sie es noch nicht zugab. Gemäß ihrer Erwartungen nickte Eli fest entschieden. »Wir haben noch so viel Knete in der Tasche, bestimmt können wir auch jemanden bestechen …« Ein empörtes Aufatmen ging durch die Runde, das eigentlich schon eher lustig als wirklich schockiert klang, das fand auch der entschlossene Rotschopf. »Kommt schon, jetzt tut nicht so, als wäre alles was wir bisher getan haben legal gewesen … und so richtig ›kriminell‹ waren wir ja wohl auch nicht, eher so in der Grauzone, was sollte daran schlimm sein?« »Wir sind bei einer armen, alten Frau eingebrochen!«, empörte sich Cassandra gegen die Idee, doch Eli zog nur unbeeindruckt einen Mundwinkel nach oben. »Da hatte schon vor uns jemand eingebrochen, und wir hatten ein Recht da zu sein, weil wir sowieso erwartet wurden.« »Wir haben einen ganzen Tag lang ein Motelzimmer besetzt ohne zu bezahlen!« »Jackbell hat im Voraus für euch bezahlt, das war alles geplant, so weit ich weiß.« »Wir … sind mit scharfen Waffen durch West Palm Beach und Kawasaki gelaufen?« »Gut eingepackt, niemand war in Gefahr. Und habt ihr sie benutzt? Nicht, dass ich mich erinnere.« Haruki unterbrach den Diskurs rechtzeitig mit einem tiefen und unmissverständlichen Räuspern, bevor Cassy sich noch mehr Gesetzesverstöße aus den Rippen schneiden und Eli diese so unprofessionell wie möglich widerlegen konnte. »Ich glaube, es hilft nichts. Ich glaube, so schlecht ist die Idee wirklich nicht, und einen Versuch ist es allemal wert. Außerdem haben wir nicht mehr viel Zeit, um uns darüber Gedanken zu machen. Wir werden das schon irgendwie schaukeln, Leute!« Er fühlte sich zwar nicht sonderlich wohl bei dem Gedanken, aber es schien ihm auch nicht völlig an den Haaren herbeigezogen. Eli hatte recht, ihr Geld hatte eine große Macht, vor allem über Menschen, die sowieso nicht viel davon sahen, und wenn dabei niemand zu Schaden kam, konnte es doch nicht allzu falsch sein, sie auch auszunutzen, oder? »Shawn, gibt es hier in der Nähe eine Autovermietung?« »Nur ein paar Straßen weiter«, bestätigte der Neuzugang und setzte sich sofort in Bewegung, sodass Cassy keine Chance mehr auf Protest hatte. Das hieß, sie regte sich am Ende der Gruppe noch immer leise in Richtung der geduldig zuhörenden Hasret auf, doch die anderen bekamen davon nichts mehr mit. Eli hingegen sah vollauf zufrieden aus, dass alle sich seinem Plan angeschlossen hatten. Der Autoverleih war ein wenig heruntergekommen, doch es war der Einzige, den Shawn kannte, aus welchem Grund auch immer. Fahrzeugvermietungen gehörten überraschenderweise nicht zu den Orten, die er regelmäßig besuchte, selbst wenn ihm wirklich sehr langweilig war. Die Finals standen eine Weile lang steif und irgendwie unangenehm berührt im Eingang und warfen sich hilfesuchende und fordernde Blicke zu, bis letztendlich Haruki und Hasret nach vorn geschubst wurden um nach einem Auto zu fragen. Beide schluckten ihre Nervosität so gut es ging herunter und Hasret gab ihrem Teamkameraden einen sanften Schlag gegen die Schulter um ihre Kameradschaft zu demonstrieren und ihm Mut zu machen – sich selbst vermutlich auch. Dann traten sie vor den Tresen, hinter dem ein schmächtiger Junge mit Lockenkopf und zartem Milchbart hockte, der eine Zeitschrift zu lesen schien und angestrengt dabei die Nase rümpfte. Nachdem sich Haru wieder einmal besonders autoritär mit seiner tiefen, respektheischenden Stimme geräuspert hatte, um die Aufmerksamkeit des Vermieters auf sich zu lenken, legte dieser hastig sein Magazin zur Seite und musterte stattdessen seine beiden Kunden mit gespitzten Lippen. Hasret verlor gleich den Mut beim Anblick dieses desinteressierten Angestellten, doch vielleicht würde ja genau das am Ende ihr Trumpf sein können. Mit einem wie üblich sonnigen Lächeln fragte sie nach einem Auto für fünf Personen, das für den Rest des Tages zur Verfügung stehen sollte. Der Milchbubi nickte angestrengt, nachdem Haruki dasselbe noch einmal auf Englisch wiederholt hatte, um eventuelle Missverständnisse auszuräumen, und ging um den Tresen herum. Dabei musterte er nicht nur den deutlich größeren Japaner, sondern, nachdem er den dürren Hals gereckt hatte, auch die restliche Meute im Eingang, die noch immer unbeholfen herumlungerte und versuchte, nicht verdächtig auszusehen. »Ich brauch dann mal Ihren Führerschein«, brachte der Vermieter in gebrochenem Englisch hervor und Haruki brach augenblicklich der Schweiß aus. Noch bevor er Hasret einen hilfesuchenden Blick zuwerfen konnte, hatte diese bereits dieselbe Idee gehabt. Sie schaute wirklich herzzerreißend drein, all die Lügen und schlechten Tarnungen, die sie bereits hinter sich gebracht hatten, machten sie krank und sie war so schlecht darin, das alles aufrecht zu erhalten, dass sie Haru ausnahmsweise einmal alle Bürden aufhalsen wollte, die im Augenblick aufzuhalsen waren. Dieser seufzte schließlich resignierend. »Fragen Sie mich das wirklich?«, erkundigte er sich in der männlichsten und erwachsensten Stimme, die er zustande brachte, dabei ebenfalls die Schultern aufrichtend und anspannend, und trotz seiner ansonsten einschüchternden Erscheinung wirkte all das dennoch so kläglich, dass sogar Eli im Hintergrund sich beherrschen musste um nicht laut loszulachen. Dem Oberlippenbart war jedoch nicht zum Lachen zumute. Er zog eine unbeeindruckte Grimasse, obwohl Harukis Alter tatsächlich einfach höher zu schätzen war als es der Wahrheit entsprach, und machte eine fordernde Handbewegung in Richtung seines potenziellen Kunden. Letztendlich blieb diesem nichts anderes übrig als auf die geplante Bestechung zurückzugreifen und er langte resignierend in Hasrets Tasche, aus der er ein paar Bündel Geld herauskramte und zur Verdeutlichung seines Vorhabens eine eindeutige Miene zog. Sein Blick war eiskalt, aber seine goldbraune Haut glänzte bereits verräterisch vor Schweiß. Dieser Typ sah genau wie die Art von Person aus, die für ein paar Rubel ihre Verantwortung schleifen lassen würde, darauf hoffte Haru zumindest, und er wurde auch nicht enttäuscht. Nach ein paar endlosen Sekunden tief misstrauischen Starrens und Abwägens nahm das dürre Bleichgesicht schließlich das Geld aus seinen Händen, inspizierte einen der Scheine noch einmal genauer, als befürchtete er, es handle sich um Spielgeld, spitzte dann zufrieden die Lippen und machte eine Handbewegung in Richtung der Tür zum Hof. »Hier entlang bitte«, säuselte er sichtlich zufrieden mit seiner Entscheidung und Haruki konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen, als er Hasret anwies zu warten, während er sich die verfügbaren Wagen ansehen würde. Diese gesellte sich völlig fertig mit den Nerven zu den anderen Finals zurück und musste sich erst einmal an den Türrahmen lehnen um zu verschnaufen. Hatten sie das gerade wirklich getan? Haru konnte eiskalt sein, ein richtiger James Bond, er würde bestimmt prima in die Rolle passen. Und dazu auch noch beeindruckend in einem Smoking aussehen. Einige Minuten später wurde ein Fahrzeug vor das Gebäude gefahren, dicht gefolgt von Haruki, der die Stirn so intensiv runzelte, dass man meinen könnte, seine Augenbrauen würden sich gleich von selbst zusammenfalten. Die Gruppe trat ebenfalls wieder nach draußen, wo sie den Milchbubi gerade noch an ihnen vorbei zurück durch die Tür drängeln sahen. Cassys Mund öffnete sich einen Spalt, als sie das vierrädrige Etwas und den mürrischen Haruki daneben erblickte. »Fünf Personen …«, murmelte sie, doch der Vermieter konnte sie schon nicht mehr hören, er hatte sich drinnen wieder hinter seinem Tresen verkrochen und zählte zufrieden das Geld, das man ihm zugeschustert hatte. »Das kann doch nicht … da passen wir nie im Leben alle rein! Ich werd’ dem Spargeltarzan gleich mal was erzählen!« Der Japaner wollte gerade entrüstet losmarschieren, als Hasret ihn mit beruhigendem Blick am Arm festhielt. »Lass gut sein, Haru! Wir machen uns eben einfach klein, das geht schon, lasst uns keinen Streit anfangen.« Er stimmte der klügeren Entscheidung zwar letztendlich zu, ließ es sich aber dennoch nicht nehmen, noch ein paar unfreundliche Worte in Richtung des Gebäudes zu werfen, sowie einen giftigen Blick. Heute Abend würde er den Typen wiedersehen und dann konnte der sich auf eine ernste Kundenrezension gefasst machen. Sie passten tatsächlich zu fünft ins Auto. Der Platz war ›optimal ausgenutzt‹, konnte man sagen. Auf dem Fahrersitz hatte Haruki Platz genommen, neben ihm Shawn, um den Weg zu beschreiben. Auf der Rückbank hatte man Cassy, Eli und Hasret aneinandergepresst, der Rotschopf saß in der Mitte fest, halb mit einer Pobacke auf Hasrets Schoß und seine Schulter gefangen zwischen Cassys Arm und dem miefenden Kunstlederpolster. Als diese dann versuchte, sich aus ihrer unangenehm engen Misere zu befreien, ertönte ein ungesundes Knacken, das alle Autoinsassen zusammenzucken ließ, sowie ein kurzes Wimmern. »Oh mein Gott, Eli!«, keuchte sie. »Hab ich dir was gebrochen?« »Nicht ganz, denke ich«, ächzte dieser nur mit möglichst tapferem Gesichtsausdruck, was jedoch vor allem dadurch seine Wirksamkeit verlor, dass ihm eine einzelne Träne die Wange herunter rann. Um dies systematisch zu vertuschen, streckte er den Kopf zwischen den beiden vorderen Sitzen hindurch und wandte sich an den Fahrer. »Meinst du, du kriegst das Ding zum laufen?« Ihm lag wirklich nichts daran, dessen Selbstvertrauen in diesem Thema noch mehr zu schädigen, eigentlich wollte er nur aufmunternd klingen. »Ähm.« Haruki war zu beschäftigt um mehr zu sagen. Sein Blick fuhr prüfend über Lenkrad, Armaturenbrett und Gangschaltung. Wie war das noch mal? So lange war das doch gar nicht hergewesen! Autofahren verlernte man schließlich auch nicht! Und doch war sein Schädel mit einem Mal wie leer geblasen. Alles wurde einmal angegrabbelt, jedes Mal sah es aus, als wüsste er jetzt endlich was zu tun war, doch je länger es dauerte, desto angespannter wurde die allgemeine Stimmung und desto unruhiger der Fahrer. Der Motor schnurrte fordernd, als wollte er ihn auslachen. Nach ein paar weiteren Versuchen erklang ein beunruhigendes Krachen, das nicht nur Haru zusammenfahren ließ. Seine schmalen Lippen waren so angespannt, dass sie schon kaum mehr zu sehen waren. »Das war nicht die Kupplung.« Er kniff die Augen zusammen und ließ die zu einer Kralle verkrampften Finger weiter über die Armaturen gleiten. Plötzlich machte der Wagen einen überraschenden Satz nach vorne und ein panisches Keuchen ertönte von den Rücksitzen. Haruki zog eine Grimasse. »Upps.« »Wie wär’s, wenn du mal diesen Knopf drückst?«, bot Shawn seine Mithilfe zaghaft an. Je mehr er den anderen Finals zuhörte und sie beobachtete, desto sicherer war er sich, dass auch sie nicht den leisesten Schimmer hatten, was sie taten, und er wusste wirklich nicht, ob ihn das erleichtern oder beängstigen sollte. Wenn er nichts unternahm, vielleicht würde es dann niemand tun. »Sicher?«, argwöhnte Haru mit immer noch angestrengtem Blick, mit welchem er jetzt alle möglichen Schalter und Knöpfe fixierte. »Nein.« Ein leises Keuchen entfuhr ihm, als Shawn die ernüchternde Antwort gab. »Ich hab nur gedacht … vielleicht hört er dann auf zu blinken.« Todesmutig betätigte Haruki dennoch den verhängnisvollen Schalter, nur um zu bemerken, dass nichts geschehen war, außer, dass das Blinken tatsächlich aufgehört hatte. »Na super«, murmelte er entmutigt. »Hat genau gar nichts gebracht.« »Doch!«, kam es kollektiv von hinten und wie zur Bestätigung wehte ein kühler Wind am Nacken des Fahrers vorbei und ließ ihn erschaudern. »Luft!«, japste Eli, als er über Hasret hinweggebeugt den Kopf aus dem nun offenen Fenster zu strecken versuchte. Dieses schloss sich aber gleich darauf wieder, begleitet von einem hoffnungslosen Kopfschütteln Harukis. »Na ja, ich … ich fahr dann mal«, stammelte er, um sich selbst Mut zu machen und biss die Zähne zusammen. Auch von den anderen kam guter Zuspruch. »Du schaffst das!« – »Wir glauben an dich, Haru!« – »Mach sie fertig, Tiger!« Und er fuhr. Langsam, aber bedächtig, dann immer zuversichtlicher, die aufmunternden Worte schienen tatsächlich zu helfen. Die erste Kurve war geschafft, dann die zweite. Das Anhalten brauchte noch ein wenig Übung, aber je länger er im Wagen verbrachte, desto mehr erinnerte er sich an seine Fahrstunden. Na also … Shawn dirigierte seinen Partner zuversichtlich durch die Straßen der Stadt, während auf der Rückbank absolute Stille herrschte. Hasret betete ein paar Mal stumm, dass sie heil an ihrem Bestimmungsort ankommen mochten, Cassy starrte angespannt auf die Finger ihres Fahrers, nur zur Kontrolle, und Eli hielt fast die Luft an, aus Angst ein unangebrachtes Geräusch zu machen und damit einen Unfall heraufzubeschwören. Wenn sie jetzt von der Polizei angehalten würden, konnten sie die kommende Nacht wohl im Gefängnis verbringen. Oder zumindest auf der Wache zwischen ein paar ziemlich verwirrten Polizisten, so ganz ohne Ausweise und anzurufende Elternteile. Cassy lief ein Schauer über den Rücken, wenn sie nur daran dachte. Ob Jackbell sie wohl auch aus dem Schlamassel rausholen könnte? Insgesamt wurde die Stimmung jedoch immer entspannter, je länger die Fahrt dauerte. Draußen wurde es langsam auch dunkel und die Straßenbeleuchtung schaltete sich ein. Und nach gut zwanzig Minuten parkte Haruki – ziemlich schief, zugegeben – vor einer von überraschend viel Grün umgebenen Werkstatt auf dem Hof, auf den Shawn ihn verwiesen hatte. »Wir leben noch«, verkündete der Fahrer bitter seufzend, aber dennoch ein wenig stolz, als der Wagen endlich zum Stehen kam. Man konnte förmlich hören wie die Anspannung auch von den anderen Finals abfiel. Cassy öffnete vorsichtig die Tür und schälte sich aus dem Gurt, dicht gefolgt von Eli, der hinter ihr aus dem Auto fiel und ein paar Meter über den Kiesparkplatz krabbelte, bevor er sich wieder aufrichten und den Staub von den Knien klopfen konnte. »Und hier wohnt Mister Ibragimov?« Hasrets Satz war eine Mischung aus Frage und Feststellung, doch Shawn nickte nur wissend und dirigierte die Gruppe um das Gebäude herum, wo sich ein kleiner Anbau mit einem niedlichen Vorgarten befand, den man von vorn nicht sehen konnte. Sie standen eine Weile schweigend vor der Tür und jeder wartete irgendwie darauf, dass Shawn die Klingel drückte, doch dieser stand genauso erwartungsvoll dort und rührte sich nicht. Irgendwann übernahm Eli die Verantwortung stattdessen und es erklang ein dunkles, wohlklingendes Glockenläuten, das irgendwie gut zu diesem Häuschen zu passen schien. Als die Tür sich öffnete, wurden die Erwartungen der Finals so erbarmungslos zerschmettert, dass Haruki sogar ein verdattertes Keuchen entfuhr. Niemand geringeres als Bernhard stand im Rahmen, schmatzte genüsslich mit vollem Mund, wie üblich desinteressierten Augen und musterte die Besucher zufrieden. »Ihr kommt gerade rechtzeitig zum Essen, gutes Timing. Und du musst Mister Bagrov sein, nett dich kennenzulernen.« Er griff nach Shawns Hand und schüttelte diese so energisch, dass der Russe dabei leicht auf und abwippte. Dieser spürte die fast schon alarmierten Blicke in seinem Nacken, die er sogleich erwiderte, als er sich verstört zu ihnen umdrehte. Seine Pupillen waren zu kleinen, blauen Punkten zusammengeschrumpft und ihm stand ein annähernd panisches ›Wer zur Hölle ist dieser Mann?!‹ geradezu ins Gesicht geschrieben. »Bernhard, w-was machen Sie hier?!«, entfuhr es Haru fassungslos, seine Worte überschlugen sich fast, er verstand langsam überhaupt nichts mehr, doch der ältere Mann verschwand schon wieder aus der Tür, bevor er ihm richtig antworten konnte. »Dazu kommen wir gleich, jetzt kommt erstmal rein, es zieht sonst«, bat er die Finals schließlich herein, woraufhin diese sich ebenfalls endlich in Bewegung setzten und ihm durch den Flur folgten. Am Ende des Ganges befand sich ein enges, aber ebenso gemütliches Esszimmer in altmodischem Landstil, in dem an einem viel zu kleinen Zwei-Personen-Tisch Lindy saß und den Finals freundlich zuwinkte, sowie ein ziemlich großer, ziemlich dünner und ziemlich glatzköpfiger Mann mit undurchdringlichem, schwarzem Schnurrbart, der vermutlich Nikolaj Ibragimov hieß. Gedeckt war es reichlich mit kitschigem Geschirr und einem dampfenden Teller gefüllter Fleischbällchen in der Mitte, und nun erreichte der Duft auch die Nasen der Neuankömmlinge und ließ ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Besonders Shawn bekam ein kleines Glitzern in den Augen, als er sich mit einem Mal an die Leere in seinem Bauch erinnerte. »Setzt euch doch! Wir haben euch schon erwartet.« Der Satz kam ein wenig künstlicher heraus als sie gewollt hatte, aber Lindy lachte die Peinlichkeit gleich unbeholfen weg, bevor noch jemand eine Augenbraue heben konnte. Auch der mutmaßliche Hausherr richtete nun ein paar vage freundlich klingende und ziemlich enthusiastische Worte an sie, die allerdings so unverständlich klangen, dass sie sich nicht einmal sicher waren, ob er Russisch oder Englisch sprach. Wenigstens lächelte er, wenn man die Krümmung seines Schnurrbarts so interpretieren wollte. Haruki war noch immer vollkommen fassungslos und wurde langsam ungeduldig. »Seit wann sind Sie hier? Wieso … warum haben Sie nicht … was?!« Er musste einmal tief Luft holen um sich wieder zu beruhigen, wobei ihm Cassy hilfsbereit die Hand auf die Schulter zu legen versuchte, ohne dass er sie in seinem Handgemenge abschüttelte, und Eli und Shawn sich fragten, wann sie endlich etwas zu essen bekamen. »Noch nicht allzu lange, kaum eine Stunde«, erklärte Bernhard, während er ebenfalls wieder am Tisch Platz nahm und sich seinen ersten Nachschlag auftischen ließ. Nikolaj Ibragimov wirkte tatsächlich begeistert über den Hunger seiner Gäste, und schien sich aus irgendeinem Grund auch nicht über den Besuch zu wundern – was Sinn machte, wenn man bedachte, dass er auf sie gewartet haben musste. Schon zu dritt passten sie kaum an den Tisch, wie sollten sich dann erst die fünf Finals dazwischen quetschen? Vom Engzusammenrücken hatten sie für heute eigentlich genug. »Wir haben auch schon mal eure Waffe rausgekramt, damit ihr keine unnötige Zeit verschwenden müsst.« Bernhard wies vage hinter sich auf einen länglichen Koffer, der auf einer Kommode lag und dem von Hasrets Terra ähnelte. »Nikolaj hier hat uns etwas zu essen angeboten, während wir auf euch gewartet haben, er kocht nicht oft für Freunde und die Gelegenheit konnten wir uns schlecht entgehen lassen. So eine Gastfreundschaft muss man schließlich hochschätzen, oder findet ihr nicht?« Shawn konnte nun nicht mehr an sich halten und trat an den Tisch heran, woraufhin der Gastgeber begeistert auf ihn einzureden begann und ihm zur Begrüßung auf die Schulter klopfte, als hätte er ihm unheimlich viel zu erzählen. Shawn zuckte leicht zusammen, murmelte eine halbwegs tapfere Antwort und bekam gleich darauf einen Teller in die Hand gedrückt, der umgehend mit Fleisch gefüllt wurde. Kaum hatte der Neuzugang einen Schritt vorgelegt, kamen auch Eli und Hasret aus der Reserve und nahmen sich etwas, nicht ohne sich vorher höflich und mit einem Lächeln zu bedanken. Da nun mit Shawn alle im Raum verteilten Stühle besetzt waren, entschlossen sie sich dazu, stehenzubleiben und das Abendessen auf diese Weise einzunehmen, was es aber nicht weniger köstlich machte. Hasret, die schon am Mittag ihre Liebe zur russischen Küche entdeckt hatte, war besonders begeistert und wollte sich am liebsten im Anschluss das Rezept geben lassen. Selbst Cassy löste sich nun endlich aus ihrer peinlichen Starre, nur Haru blieb weiterhin bitter dreinblickend stehen. Er wollte nicht unhöflich sein, doch sein Groll auf Bernhard war im Moment stärker. »Wieso haben Sie nicht angerufen? Oder uns gleich abgeholt?« Nein, er wollte jetzt wütend sein, der Tag war einfach zu viel für ihn. Eli stöhnte leise auf und rollte möglichst unbemerkt mit den Augen. Wieso konnte dieser Mann nicht einfach etwas essen und sich beruhigen? Bernhard schien sich davon jedoch überhaupt nicht bedrängen zu lassen. »Wir wussten nicht wie weit ihr ward und wollten nicht stören. Es war ja ohnehin geplant, dass ihr hierherkommen würdet, also kein Grund zur Aufregung. Außerdem dachten wir, ihr würdet euch über ein wenig gute Hausmannskost freuen. Nikolaj ist ein verdammt guter Koch, du sollest wirklich diese Fleischbällchen probieren, Mister Okui!« »Dann haben wir uns ganz umsonst ein Auto gemietet, diesen bescheuerten Milchbart bestochen und riskiert, von der Polizei angehalten zu werden?!« »Ihr habt ein Auto gemietet? Dürft ihr das denn in dem Alter schon? Hat überhaupt jemand von euch einen Führerschein?« »Jetzt nicht mehr!« Haru grummelte ein letztes Mal verärgert, dann atmete er tief durch und schüttelte den Kopf um die schlechte Laune loszuwerden, und nahm sich endlich resignierend einen Teller. Alles was er wollte waren eine wohlverdiente Mütze Schlaf und eine ruhige Woche; hatte er tatsächlich geglaubt, dass diese Geschichte ein Urlaubsabenteuer werden würde?! Was gäbe er dafür, morgen früh wieder an seinem Arbeitsplatz anzutanzen und den ganzen Tag zu schuften, ohne alle zwei Tage um die halbe Welt fliegen zu müssen. Je länger diese Reise dauerte, desto mehr zehrte sie an seinen Nerven. Die Mahlzeit beruhigte ihn tatsächlich irgendwie. Die gefüllten Fleischbällchen schmeckten genauso gut wie Bernhard sie angepriesen hatte, wärmten ihn auf und reinigten seine angespannten Gedanken zumindest ein wenig von dem abgemagerten Käsegesicht bei der Autovermietung, der Geschichtenerzählstunde am Nachmittag und der viel zu kurzen Nacht inklusive Flug. Dieser kam ihm mittlerweile schon wieder so weit weg vor, dass er kaum glauben wollte, dass er erst gut vierundzwanzig Stunden her war. Nikolaj hatte irgendwann damit aufgehört Shawn zuzutexten, als dieser keine Antworten gegeben und nur immer wieder genickt hatte, während er aß, und nun war es mit einem Mal viel stiller im Raum. Offensichtlich blieb das aber wie üblich nicht lange so. »Morgen früh um elf geht es weiter«, begann Lindy zu erklären, nachdem die meisten von ihnen sich schon gesättigt zurückgelehnt hatten und nur noch Hasret, Eli und Shawn die letzten Fleischbällchen in sich hineinschaufelten, als hätten sie tagelang gehungert. »Geht früh ins Bett, schlaft euch aus, ab jetzt wird es anstrengend.« »Ab jetzt …«, wiederholte Haruki bitter murmelnd zwischen seine knirschenden Zähne hindurch und öffnete die verschränkten Arme wieder, die unangenehm auf seinen vollen Magen drückten. »Wohin müssen wir denn?«, fragte Cassy mit einer Mischung aus Neugier und Furcht. Wenn schon einer ihrer Piloten meinte, es würde von nun an ernst werden, dann konnte das nichts Gutes bedeuten. »Saudi-Arabien«, antwortete Bernhard zwischen seinem letzten Bissen und einem mächtigen Schlucken, gefolgt von einem gesättigten und überaus zufriedenen Seufzen. Nikolaj Ibragimov sah derweil vollkommen erfüllt aus, überglücklich, dass es seinen Gästen so gut geschmeckt hatte. Er hatte ihre Gesichter während der Mahlzeit gründlich beobachtet und jede mögliche Emotionsregung aus diesen herausgelesen wie ein Profiler. Wie ein Honigkuchenpferd strahlend hatte auch er sich nun zurückgelehnt, stolz auf sein Werk und die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet. Währenddessen hatte sich zwischen den Finals ein betroffenes Schweigen ausgebreitet, verwirrte und, ja, auch erschrockene Blicke wurden ausgetauscht, doch niemandem fielen die passenden Worte ein, um seinen Gedanken ordentlich Ausdruck zu verleihen. Saudi-Arabien war für sie ein größtenteils unbekanntes, sogar geheimnisvolles Land, von dem man wenig hörte und das deswegen umso interessanter klang, doch sie hatten nicht die geringste Ahnung, was sie dort erwarten würde. Gab es überhaupt einen richtigen Tourismus? Wollte man sie dort haben? »Oh«, war letztendlich die einzige Erwiderung, die irgendwie zustande gebracht wurde, und sie kam von Hasret. Sie hatte aufgehört zu essen und ihre Augenbrauen hatten sich tief über ihre Augenlider gesenkt, sodass es unmöglich wurde, ihre Gedanken genauer zu erörtern. »Später mehr dazu«, kappte Bernhard zur Erleichterung aller das Thema und rieb sich wie so oft vorfreudig die Hände. »Wir sollten uns langsam wieder auf den Weg machen, und ihr wollt euch doch sicherlich noch das neue Spielzeug aus dem Hause Jackbell ansehen, nicht wahr?« Mit dieser Annahme hatte er voll ins Schwarze getroffen. Mit akzeptablem, aber sehr akzentlastigem Russisch wandte er sich an den Hausherren, gestikulierte viel und angestrengt und machte eine ganze Menge unnatürliche Pausen, doch Nikolaj schien ihn trotzdem irgendwie zu verstehen, zumindest ließ sein Nicken das vermuten. Die beiden Männer standen auf, der Russe gab noch irgendeinen unverständlichen, aber sicherlich nett gemeinten Hinweis in die Runde, und dann machten sich die beiden aus dem Staub, vermutlich um etwas zu besprechen. Lindy hatte sich indessen vom Tisch entfernt, den Koffer auf ihren Schoß gestellt und machte ein Gesicht wie eine Kindergärtnerin, die ihren Schützlingen gleich ihr absolutes Lieblingsbuch vorlesen würde. »Mister Bagrov, möchten Sie nicht mal nachsehen?«, winkte sie Shawn vergnügt zu sich und dieser folgte ihrer Bitte ohne zu zögern. Er war sich noch nicht ganz sicher, was er von der Sache halten sollte, er hatte noch nie mit Waffen zu tun und es auch eigentlich nicht vorgehabt, doch dass er neugierig war, konnte er nun nicht mehr leugnen. Es war die erste große Überraschung auf seiner noch anstehenden Reise. Und um was für Waffen handelte es sich bei Jackbells Prototypen überhaupt? Maschinengewehre oder altertümliche Speere, Handgranaten oder Dolche, vielleicht ein Kugelschreiber, der Laserstrahlen verschießen konnte, ein Regenschirm mit versteckter Klinge? Cassy hatte etwas von einem Revolver erzählt, die anderen Waffentypen hatte er wieder vergessen. Der Koffer war groß, vielleicht war es eine Schrotflinte oder ein Streitkolben? Oder ein Torpedo. Mit unwesendlich zitternden Händen öffnete Shawn den längst entriegelten Koffer und seine Augen wurden größer. Ein Schwert – im einundzwanzigsten Jahrhundert? Okay, gut, dieser Jackbell musste es ja wissen. Eine Scheide versteckte die Klinge, gerade und glänzend, mit einem schmalen Streifen in der Mitte, der wie auch der Griff von Uranus oder das Gehäuse von Venus sorgfältig bemalt worden war. Das Muster war abstrakt, golden, kupfern und rubinrot, alle möglichen Variationen warmer Farben, und für Shawn sah es aus wie dutzende von Sonnen, deren Strahlen sich ineinander verwoben und ein System bildeten wie ein Zellgewebe. Wunderschön. Der Griff war lang und für zwei Hände gedacht, mit glänzendem, schwarzem Leder umhüllt, sodass er gut zu umfassen war, und Shawn konnte sich nicht daran hindern, die Funktionalität des Griffes sofort zu testen. Das Ding war schwerer als es aussah, aber daran konnte man sich sicherlich gewöhnen. Wie hypnotisiert versuchte er die Waffe aus der Scheide zu befreien und diese abzustreifen, es war nicht ganz einfach und er wollte nichts beschädigen, dann glitt das Schwert langsam, mit einem metallischen Knirschen heraus, das einem einen Schauer über den Rücken jagte. Die Klinge war nicht einmal einen Meter lang, aber breit und dünn, aus dunklem, poliertem Metall, fast schwarz, und runde Löcher waren übereinander in den unteren Teil gepresst worden, vielleicht um die Waffe leichter zu machen. Dazwischen war der Titel Jupiter eingraviert. Shawn war wie von dem Anblick besessen. Seine lodernden, türkisblauen Augen fuhren an der Klinge und dem Griff entlang wie seine Finger zuvor, die scharfe Spitze zeigte nach oben und die anderen Finals machten schon ein paar Schritte zurück, falls der unbeholfene Russe die Waffe aus Versehen fallen lassen würde. Er stand so stolz da wie König Artus, der sich gerade die Herrschaft seines Königreiches zueigen gemacht und das Schwert aus dem Stein befreit hatte. Obwohl er noch nie zuvor etwas Derartiges berührt hatte, konnten seine breiten Arme das Schwert tragen, und es passte aus einem unerfindlichen Grund erstaunlich gut zu ihm, wie zu einem Ritter. »Scheiße!«, entfuhr die Begeisterung Eli unwillkürlich und kaum hatte er das Wort ausgesprochen, biss er sich auch schon auf die Unterlippe, als hätte er den perfekten Moment zwischen Shawn und Jupiter jäh zerstört. »Ein Schwert?«, argwöhnte Cassy irgendwann, nachdem der magische Augenblick langsam verflogen war und der neue König von England die Waffe wieder in ihrem Aufbewahrungsort verstaut hatte. Dabei war zum Glück auch nichts zu Bruch gegangen und Shawn hatte bemerkt, dass die Scheide einen praktischen Ledergurt hatte, mit dem man sich Jupiter lässig über die Schulter hängen konnte. Wo auch immer das auch nützlich sein würde, außer auf einer Fantasy-Convention oder einem Mittelalterfest vielleicht. »Ich meine, das sieht zwar cool aus … aber praktisch ist es nicht gerade, oder? Wollte Jackbell die Nullpunkt-Prototypen nicht eigentlich mal ans Militär verkaufen?« »Gepanzerte Soldaten mit Schwertern.« Hasret musste schmunzeln, hatte aber einen ähnlichen Gedanken gehabt. So eine Klinge war sicher nicht einfach zu bedienen, und gegen einen Scharfschützen als Gegner oder überhaupt irgendjemanden mit einer Pistole würde man deutlich im Nachteil sein. Harukis und Elis Waffen Uranus und Mercury waren wenigstens klein und handlich, aber dieser Koloss? »Unser Meister der Geheimniskrämerei wird sich schon irgendetwas dabei gedacht haben.« Eli zuckte locker mit den Schultern, ihn interessierte die Praktikabilität kaum, er würde nur zu gerne einmal mit Shawn tauschen oder ein Duell mit ihm austragen, so spannend fand er die neue Waffe. »Also, mir gefällt es«, murmelte der blonde Russe leise, als er Lindy den gepackten Koffer wieder übergeben hatte, jedoch nicht erwartend, dass ihm jemand zustimmte. Ein verschmitztes Kräuseln hatte sich auf seinen Lippen ausgebreitet, das fast schon wie ein Lächeln aussah, wenn auch so versteckt, dass man es kaum erkennen konnte. Er schien alles bekommen zu haben, was er sich gewünscht hatte, egal ob es praktisch war oder nicht. Bevor auch noch Haruki, der unangefochtene Meister der Nörgelei und Bemängelung, seine ungnädige Meinung dazu abgeben konnte, kam Bernhard mit einem lauten Grummeln ins Esszimmer zurück, das wahrscheinlich nur eine Art Gähnen gewesen war, allerdings eher wie ein entferntes Gewitter klang. Nikolaj, den er nicht wieder mitgebracht hatte, schien ihn mit seiner lauten Bassstimme angesteckt zu haben. »Also, wenn hier sonst keine Fragen mehr bestehen, schlage ich vor, wir machen uns auf den Weg zurück zum Hotel«, warf er in den Raum und blickte in die Runde der Finals. Beim Neusten blieben seine Augen eine Weile lang stehen. »Mister Bagrov, du kommst mit uns. Du wirst diese Nacht noch zuhause verbringen. Ist schon ziemlich spät, wird langsam Zeit, dass du dich wieder blicken lässt … wie wär’s, wenn ich dich ein paar Straßen vor deinem Haus absetze? Morgen früh treffen wir uns dann an derselben Stelle wieder, packen musst du nicht, es sei denn, es gibt ein paar kleine Dinge, die du unbedingt mitnehmen willst. Im Auto erkläre ich dir nachher den Rest. Wie hört sich das für dich an?« Haruki verzog eine düstere Miene darüber, wie freundlich und geduldig Bernhard mit dem Neuzugang sprach, zu ihnen war er immer viel direkter und um einiges weniger höflich gewesen, doch er war mittlerweile so müde vom ständigen Mürrischsein, dass er selbst keine Kraft mehr hatte, um sich darüber auch noch zu ärgern. Shawn nickte langsam und wurde sogleich von den beiden Piloten umringt und durch den Flur geführt. »Euch hole ich morgen um halb zehn ab. Wartet vor dem Hotel und seid bis dahin fertig!«, mahnte Bernhard die restlichen Finals, die ein wenig verloren zurückblieben, bis auch sie auf die Idee kamen, das Haus zu verlassen. Das Ganze kam ihnen plötzlich irgendwie überstürzt vor, sie hatten Nikolaj Ibragimovs Gastfreundlichkeit ausgenutzt und kaum ein Wort mit ihm gewechselt, geschweige denn sich bei ihm für das Essen bedankt, es war ein höchst merkwürdiger Besuch gewesen und jetzt war er selbst verschwunden, als wäre er die ganze Zeit über ein Geist gewesen. Immerhin war ihre To-Do-Liste jetzt um einen weiteren Punkt kürzer, was bedeutete, dass sie bald an ihrem Ziel waren. Mit einem minimal besseren Gefühl ließen auch sie das beschauliche Häuschen hinter sich und fanden sich bald auf dem Parkplatz wieder. »Bis morgen!«, rief Hasret Shawn noch entgegen, als dieser von Bernhard und Lindy in deren Wagen gedrängelt wurde, doch mehr als einen mehr oder weniger hilflosen Blick bekam sie von ihm nicht zurück. Nachdem das Auto abgefahren war, standen die vier wieder allein da wie bestellt und nicht abgeholt. Noch immer blies ihnen ein kalter Wind ins Gesicht, doch die Nacht war hell, ein silberner Vollmond hing am Himmel und starrte vorwurfsvoll auf sie herunter wie Gott persönlich, der mit ihrer Arbeit so gar nicht zufrieden war. ›Heute ist Halloween …‹, fiel Cassy in diesem Augenblick siedend heiß ein, ein allmähliches Frösteln breitete sich in ihrem Nacken aus und ließ sie erschaudern. Ob Carmen wohl heute wieder feierte? Es war immerhin mitten in der Woche. Aber was hieß das für sie schon? In einem Tag war so viel passiert … und morgen ging es schon wieder weiter. Was war Saudi-Arabien für ein Land? Die Nachricht allein hatte eine beunruhigende Nervosität in ihnen ausgelöst, doch woher genau das kam, konnten sie alle nicht genau sagen. Hoffentlich würde Bernhard ihnen morgen mehr darüber berichten. Und vor allen Dingen, was genau hatte Lindy damit gemeint, dass es nun anstrengend würde? Harukis Blick fiel wieder auf die zerschlissene Karre, die sie sich vor ein paar Stunden gemietet hatten. Sie mussten sie noch zurückbringen, bevor sie wieder im Hotel einkehrten … den Milchbubi hinter dem Tresen würde er noch ordentlich zusammenstauchen. Von der Vorfreude auf diese Tat angefeuert zauberte sich ein grimmiges, aber immerhin ein Lächeln auf sein Gesicht, als er sich zu den anderen umdrehte. »Na, wer hat Lust auf eine weitere Spritztour?« ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Die Autovermietung hatte gerade noch geöffnet, als Haruki hineingestürmt gekommen war und die Schlüssel auf den Tresen geknallt hatte, sodass der Spargeltarzan dahinter einen echten Sprung in die Luft gemacht hatte. Eine kurze Diskussion war entstanden, wie konnte es denn sein, dass er so einen eingeschrumpften Haufen Schrott bekommen hatte, obwohl er ausdrücklich nach einem Auto für mindestens fünf Personen gefragt hatte. Beide Kontrahenten konnten dabei nur die Hälfte des Problems der jeweils anderen Partei verstehen, da ihnen eine nur schwer zu greifende Mischung aus Englisch und Russisch um die Ohren flog. Doch als der Milchbart schließlich als letzten Ausweg die altbewährte »Da müssen Sie sich bei meinem Chef beschweren«-Taktik angewandt hatte, war es Haru letztendlich zu bunt geworden; er beendete die Debatte kurzerhand und verschwand aus dem Gebäude. Immerhin war er jetzt endlich seinen internalisierten Ärger losgeworden, nachdem er ihm Luft gemacht hatte, und fühlte sich gleich viel ruhiger, wie nach einer heißen Dusche. Am nächsten Morgen herrschte eine Unruhe in den Gängen des Hotels, die Cassy relativ unsanft weckte. Lautes Gelächter, eine ihr unbekannte Sprache und fröhliche Gesänge ließen darauf schließen, dass irgendwelche Touristen von einem grandiosen nächtlichen Ausflug zurückgekehrt waren, um ihren Kater den ganzen Donnerstag über auszuschlafen. Die Kanadierin stöhnte leise und presste das Gesicht in ihr Kissen, bis sie letztendlich beschloss, dass sie nun doch nicht mehr versuchen wollte zu schlafen, und sich stattdessen aufsetzte. Sie waren gestern nicht besonders spät ins Bett gegangen und die meisten Finals waren ohnehin müde von dem guten Essen und der hektischen vorherigen Nacht gewesen, also war das Einschlummern niemandem wirklich schwer gefallen. Die Zimmer hatten sie auch nicht mehr getauscht und so lag neben ihr noch immer Haruki, der sich von dem Lärm nicht hatte stören lassen und friedlich weiterschlief. Bewundernswert, fand Cassy. Wie hatte wohl Shawn geschlafen, mit dem Wissen, dass dies seine letzte Nacht zuhause gewesen war? Hatte er mit seinen Eltern gesprochen, wussten sie, dass ihr Sohn sie heute auf unbestimmte Zeit verlassen würde? Jedes Mal, wenn sie ein Land wieder hinter sich ließen, war es ein befreiendes Gefühl, einem Treffen mit Jackbell und damit der wahren Bedeutung ihrer Reise einen Schritt näherzukommen, aber auf der anderen Seite hieß das für einen von ihnen auch immer bitterer Abschied. Sie konnten nur hoffen, dass Shawn sich bei ihnen wohlfühlte, denn tatsächlich war es schier unmöglich, seine Gedanken aus seinem Gesicht abzulesen und sie hatte nicht einmal eine wirkliche Ahnung, ob er sie überhaupt leiden konnte. Cassy schwang die Beine aus dem Bett, rutschte träge an der Matratze herunter auf den Boden und fand sich vor ihrem Koffer wieder, den sie nur eine Zeit lang nachdenklich musterte, bis sie wieder aus ihrer Trance aufwachte. So vieles, was darin zu finden war, hatte sie noch gar nicht richtig betrachtet, doch jedes Kleidungsstück erinnerte sie an einen anderen Tag, an einen anderen Final. Der Sonnenhut an West Palm Beach und Eli, das weiße T-Shirt an Rhodesville und Hasret, die graue Strickjacke an Kawasaki und Haruki, und … Gott, hatte sie das lange nicht mehr in der Hand gehalten! Der schwarze Baumwollschal, den sie damals an ihrem letzten Tag in Willkins getragen hatte. Wer war eigentlich so blöd und trug auf einer Party einen Schal, auf der die Leute nackt auf den Tischen tanzten? Sie musste absolut behämmert und verloren ausgesehen haben, wieso hatte Haru überhaupt gerade sie angesprochen? Wie war es eigentlich dazu gekommen, dass er eine Party wie die von Carmen besucht hatte? Er war arbeitender Student im Ausland und trieb sich auf den Partys von High-School-Schülern herum, ziemlich schräg. Andererseits brachten an solchen Wochenenden so viele ihre Freunde und die Freunde ihrer Freunde mit, dass man irgendwann sowieso den Überblick verlor und die halbe Stadt sich plötzlich im Haus wiederfand. Der Schal war frisch gewaschen und roch auch noch so, nachdem Haruki ihn vor ein paar Tagen mit in die Reinigung genommen hatte. Cassy hatte seinen Fuß damit verbunden, als er sich in der Kanalisation verletzt hatte, und der provisorische Verband hatte sich daraufhin in der Kälte schnell in einen tief gefrorenen Gips verwandelt. Mittlerweile musste es ihm schon viel besser gehen, nachdem Bernhard sich später um den Fuß gekümmert hatte. Sie selbst hatte von ihrer Schlitterpartie durch den Gullydeckel noch immer Narben auf dem Rücken; ja, tatsächlich hatten sie beide so schrecklich ausgesehen, dass es an ein Wunder grenzte, dass man heute davon kaum noch etwas sehen konnte. Die Flucht, die Angst und die mörderische Kälte kamen Cassy heute vor, als wäre all das vor Jahren passiert, und nur noch Bruchstücke davon tauchten in ihrem Gedächtnis auf. ›Ich glaube, ich hab mir den Fuß verstaucht … warte. Gib mir deinen Schal, schnell.‹ Blitzschnelle Reaktion, Haru wusste immer, was zu tun war. Schon seit der ersten Sekunde, in der sie ihn getroffen hatte, sein sarkastisches Lächeln, seine dunklen Augen, er hatte alles unter Kontrolle gehabt. ›Wir müssen weitergehen, Cassy. Wenn du aufhörst dich zu bewegen, erfrierst du. Du musst in Bewegung bleiben, hast du verstanden? Ich kann alleine gehen, du musst mich nicht mehr stützen. Ich helfe dir, okay? Ich helfe dir aufzustehen.‹ Cassy musste schlucken. Sie war in den letzten paar Wochen ein anderer Mensch geworden. Ohne Haruki wäre sie damals vielleicht noch tagelang unterwegs gewesen, wäre krank geworden, oder schlimmer noch, hätte ihre Zehen verloren oder wäre erfroren … ganz egal wie realistisch es tatsächlich war, allein daran zu denken jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Mit einem Mal spürte sie die beißende Kälte wieder, das Eis an ihren Beinen hoch kriechen, ihre Tränen kristallisieren, alles um sie herum wurde dunkel, der faulige Geruch der Kanalisation in ihrer Lunge, der Schmerz und die Taubheit auf ihrer Haut, die schwere, nasse Kleidung, die auf ihren Armen und ihrer Brust klebte … »Oh ja …« Ein Blitzschlag fuhr durch Cassandras Körper, als sie die Worte hinter sich hörte und sie zuckte merklich zusammen. Haru hatte sich ebenfalls aufgesetzt, gab ein müdes Stöhnen von sich, rieb sich die Augen und gesellte sich dann neben sie, den Schal mit demselben Blick betrachtend wie seine Zimmergenossin, voller schmerzhafter Erinnerungen. Kaum hatte er das unscheinbare Stück Stoff in ihren Händen gesehen, war ihm alles auf einen Schlag wieder eingefallen und er war sofort hellwach. Ein erschöpftes Lachen kam aus seiner Kehle. »Das war vielleicht stressig, was?« »Das kannst du aber laut sagen!« Cassy gab ein angestrengtes Auflachen von sich und schüttelte müde den Kopf. Ein sehnsüchtiges und irgendwie trauriges Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie nach draußen sah und daran denken musste, dass sie und Haru sich bei genau solchen Temperaturen auf genau solch einem Balkon kennengelernt hatten. Es kam ihr vor, als würde sie ihn schon ewig kennen. So hatte all das angefangen … ihre Odyssee durch die USA und Japan und schließlich hierher nach Russland, sie hatten Bernhard und Eli getroffen, Hasret, Shawn, bald würden sie einem Araber begegnen, und schließlich dem letzten Mitglied. Emotionen und Erinnerungen fluteten Cassys Brust und quollen durch ihre Rippen in ihre Haut, ließen sie prickeln und beinahe stiegen ihr Tränen in die Augen. Bevor sie jedoch anfangen konnte tatsächlich loszuweinen, fiel sie Haru einfach stumm in die Arme; sie drückte ihren Körper an seinen, versuchte nicht zu zittern, presste das Gesicht an seine kräftige, warme Schulter, atmete seinen Duft ein, und grub ihre Finger in sein Shirt. Er selbst lächelte, obwohl er überrascht war, genoss das Gefühl aber, und legte das Kinn auf ihrem Kopf ab. Cassy war seine Freundin geworden. Er war für sie da und sie war für ihn da und von allen Leuten, die er bisher getroffen hatte, war sie ihm in dieser Zeit am meisten ans Herz gewachsen. Mit den anderen hatte er vielleicht auch noch nicht so viel Zeit verbracht, aber so ein Abenteuer im Abfluss schweißte einen schon ziemlich eng zusammen. Nach einer gefühlten Ewigkeit fing Cassy wieder an zu sprechen. Vielleicht eher zu murmeln. »Wo wären wir heute, wenn es kein Feuer gegeben hätte? Vielleicht hätten wir noch ein bisschen geredet und wären dann gegangen, hätten uns nie wiedergesehen … Venus nie gefunden, Eli, Hasret und Shawn nie getroffen … die würden jetzt zuhause sitzen und sich denken, wie gut sie im Moment ein bisschen Geld gebrauchen könnten … wenn Jackbell einfach andere Leute ausgesucht hätte, nicht uns … hätte Bernhard uns ohne diese Party vielleicht doch irgendwann konfrontiert, so wie wir bisher die anderen auch aufgabeln mussten? Ich verstehe das alles noch immer nicht, wenn ich ehrlich bin …« »Ich auch nicht, glaub mir.« Harus Schultern zuckten auf und ab, als würde er lachen. »Wir könnten uns wahrscheinlich stundenlang den Kopf darüber zerbrechen, was alles hätte sein können, aber rausfinden werden wir es ja doch nie. Wichtig ist, dass wir hier sind. Dass du hier bist, bei uns, bei uns allen. Mir ist im Augenblick egal was wir noch alles durchmachen müssen, irgendwann geht das vorbei. Und ich kann mich darauf verlassen, dass ihr alle da sein werdet. Eine andere Wahl habt ihr ja schließlich nicht.« Gerade noch war der Moment so schön und innig gewesen, doch jetzt mussten beide lachen. Ein kleiner Augenblick der Ruhe, bevor der Ernst der Reise losging, wenn man Lindys Worten Glauben schenken wollte. Cassy hatte es wirklich vermisst in den Arm genommen zu werden, und das bereits vor ihrem verhängnisvollen Zusammentreffen mit Haruki damals, doch nun fühlte sie sich wie neu, ihre Lebensgeister aufgefüllt, und sie war zu allem entschlossen, auch zu einer Reise nach Saudi-Arabien! Ein Klopfen an der Tür kündigte Eli und Hasret an, die ihre Teamkameraden zum Frühstück abholen wollten, und diese sprangen sofort vom Appetit beflügelt auf. Im Eiltempo zogen sich Haruki und Cassy um, schlüpften in ihre Schuhe und die vier begaben sich nach unten. Wie üblich verlief die Mahlzeit ruhig und friedlich, miteinander zu essen war einer dieser Momente, in denen man sich nicht allzu weit weg von zuhause fühlte und in denen man wieder auf den Boden der Tatsachen zurückfinden konnte. Es war überhaupt erstaunlich gewesen, dass es noch keine ernsthaften Streitigkeiten gegeben hatte, obwohl so viele verschiedene Menschen aus verschiedenen Umständen zusammengekommen waren und unter derartigen Druck gesetzt wurden, aber darüber waren auch alle ziemlich froh, wenn sie weiter darüber nachdachten. Es gab wahrscheinlich eine ganze Reihe von Leuten, die sie stattdessen als Partner hätten erwischen können, und die um einiges weniger einfach auszuhalten gewesen wären. Nach dem Frühstück verschwanden die Finals wieder in ihre Zimmer zurück um teilweise zu duschen und ihre Koffer zu packen, dann checkten sie unten aus und blieben in der Lobby sitzen, bis sie Bernhards Wagen draußen vorfahren sahen. Shawn saß schon hinten auf der Rückbank, den Kopf gesenkt und die Hände im Schoß gefaltet, offenbar mit den Gedanken wieder einmal woanders, und das ließ es irgendwie ein wenig so wirken, als säße er in einem Polizeiauto und würde für einen dummen Streich von den Beamten nachhause gefahren werden. Lindy fehlte hingegen, sie musste sicher schon am Flughafen sein und die Abreise vorbereiten. Bernhard hatte sich einen ziemlich großen Geländewagen besorgt, der Kofferraum war groß genug, dass sogar Haruki ohne großartige Verrenkungen hineingepasst hätte, doch sie beließen es dabei, nur die Koffer dort zu verstauen. Auf dem Beifahrersitz nahm Hasret Platz, der Rest quetschte sich um Shawn herum. Es gab zwar deutlich mehr Platz als in der fragwürdigen Rostlaube von gestern, doch langsam wurde ihre Anzahl wirklich immer suboptimaler für den Transport in herkömmlichen PKWs. Der blonde Russe wurde ganz links ans Fenster gedrückt, dicht gefolgt von Eli, Haru und auf der anderen Seite an der Tür Cassandra. »Hast du den Abschied gut überstanden?«, fragte Hasret ihr neustes Mitglied freundlich durch die Sitze hindurch, als sie abgefahren waren, und es dauerte ein paar Sekunden, bis Shawn aus seiner Trance aufwachte. Sein Blick war weiterhin aus dem Fenster gerichtet und seine dicken Augenbrauen bewegten sich unheimlich, während er die Stirn runzelte. »Hm-hm«, machte er abwesend und machte es der Texanerin damit schwer ihr Lächeln beizubehalten. Sollte sie ihn lieber in Ruhe lassen und warten, bis er sich von selbst öffnete, oder war er auf ihre Integrationshilfe angewiesen? Es war ein Dilemma mit ihm. »Waren deine Eltern sehr misstrauisch? Meinst du, du wirst sie vermissen?« Hasret hatte sich schließlich für die erste Methode entschieden und bereute diesen Entschluss sogleich. Shawn schwieg wieder für einen unendlich scheinenden Moment. »Denke nicht.« Die anderen Finals tauschten besorgte Blicke aus. Sie hatten keine Ahnung, wie sie den Russen einschätzen sollten, ob er in Wirklichkeit nicht doch traurig über seine Abreise war, oder ob diese schrecklich neutrale Art zu reden einfach nur üblich für ihn war und man sich keine Sorgen um ihn machen musste. Er hatte noch so gut wie kein Wort über seine Eltern verloren, sie hatten sie nicht kennengelernt und nur ein paar Zeilen über sie in Jackbells Notizbuch gelesen, doch es schien so, als stünde seiner Familie Shawn nicht so nah wie der Rest von ihnen. Es war überhaupt offensichtlich, dass er gar keine engen Bindungen zu irgendwem zu haben schien, er wirkte wie eine unbekannte Form zwischen Kreisen und Rechtecken, die nirgendwo hinpasste und die sich nur stetig durch die Masse bewegte um voranzukommen. Shawn Bagrov war ein Rätsel, ein Buch mit sieben Siegeln. Aber ihnen blieb wohl nichts weiter übrig, als ihm diese Zeit zu geben. »Wie schon gesagt, es geht heute nach Saudi-Arabien«, unterbrach Bernhard die Stille im Wagen, die bis auf das Summen des Motors herrschte. Das Thema behagte den fünf Reisenden nicht sonderlich, aber irgendwann mussten sie ja doch darüber reden. »Es gibt eine ganze Menge Dinge, die ihr da beachten müsst und es wird sich sehr anders gestalten als eure bisherigen Erlebnisse. Ich muss leider sagen, der Urlaub ist jetzt vorbei.« »Ja, aber was genau bedeutet das?«, drängelte Cassy endlich, die schon die ganze Nacht darüber nachgedacht hatte, was es mit dieser kryptischen Prophezeiung auf sich hatte. »Wir kommen, wenn alles glatt läuft, abends um sieben Uhr an und haben nur diese Nacht Zeit, um den nächsten Final abzuholen, kein Hotel, kein gar nichts. Sobald wir ihn haben, geht es sofort weiter im Programm.« »So schnell schon?!«, keuchte Eli alarmiert und drückte den gleichgültigen Shawn in seinem Wahn noch ein Stückchen näher gehen die Autotür. »Was ist denn, wenn derjenige so schnell nicht überzeugt werden kann? Und spricht er denn überhaupt Englisch? Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass jemand von uns Arabisch kann. Das kann unmöglich so Schlag auf Schlag funktionieren!« »Das muss es wohl«, erwiderte Bernhard ein wenig bitter. »Wir haben schon alle Vorbereitungen getroffen, die wir nur treffen konnten, an dem Final sollte es also nicht scheitern. Das Problem ist, dass es so ziemlich die Hölle war, überhaupt eine Einreisegenehmigung nach Arabien zu bekommen. Das Land ist komplett vom Islam geprägt und ich werde mich hüten, das irgendwie bewerten zu wollen, aber wenn ihr wüsstet, wie sehr Jackbell sich ein Bein ausgerissen hat, um ein Visum für eine Gruppe gemischtgeschlechtlicher, unverheirateter, nicht-muslimischer Teenager zu bekommen, dann würde euch schwarz vor Augen werden.« Das wurde es auch so schon. Cassy nahm einen tiefen Atemzug, der Fahrer fuhr fort. »Wir haben wirklich nur diesen einen Abend Zeit, länger dürfen wir nicht bleiben ohne schwere Konsequenzen zu fürchten, und ehrlich gesagt gibt es so viele kleine Dinge, auf die wir achten müssen, dass es wohl auch besser so ist. Eine falsche Bewegung, weil ihr es nicht besser wisst, und ihr landet im Knast, oder vermutlich sogar schlimmer.« »In Arabien gibt es noch die Todesstrafe«, fügte Haruki dem Gespräch wie beiläufig hinzu, was seine Teamkameraden nicht gerade motivierte, geschweige denn beruhigte. Eli wurde noch blasser als sonst und seine Lippen verschwanden fast. »Lindy und ich werden euch die ganze Zeit über begleiten. Wir landen zuerst an einem internationalen Flughafen, müssen uns durchchecken lassen und fliegen dann gleich weiter, die Stadt, in der unser Final wohnt, ist recht klein und weit ab vom Schuss. Andererseits können wir, so lange wir in der Luft sind, nicht so viele Gesetze brechen wie auf dem Boden.« Bernhard runzelte für einen Augenblick die Stirn. »Okay, vielleicht können wir das doch, aber es ist nicht so leicht … ihr bekommt für diese Reise noch einmal andere Reisepässe, Lindy und ich auch, wir sind nämlich für die nächsten vierundzwanzig Stunden verheiratet. Frauen dürfen in Saudi-Arabien ohne einen männlichen Vormund quasi keine Bewegung ausführen, was die ganze Sache noch ein wenig schwieriger macht, zumal unser Final auch ein Mädchen ist. Ich werde die ganze Zeit über an eurer Seite sein, sprecht mit niemandem, tut nichts ohne mich und tut immer das, was ich tue. Apropos Frauen … Miss Phan und Miss Vihre, ihr werdet euch an die Kleiderordnung anpassen müssen, fürchte ich. Es wird ziemlich heiß werden, aber um lange Kleider und Kopftücher kommt ihr wohl nicht herum, wenn ihr kein Aufsehen erregen wollt. Vor allem Miss Phan, deine … deine Haare dürfte nicht gerade zur Diskretion beitragen.« Die Mädchen nickten entschlossen. »Ich denke, dass sollten wir schaffen«, bestätigte Hasret. Immerhin würde Cassy sich dann nicht durch übermäßiges Schwitzen und Rotwerden verraten können, wenn sie in eine unangenehme Situation kamen. »Wir werden als so eine große Gruppe von Nicht-Arabern in verschiedenen Altersklassen schon genug aus der Reihe tanzen, es ist also keine Zeit für irgendwelche Späße. Es kann gut sein, dass man uns anspricht, die Polizeipräsens da ist um einiges höher als ihr es kennt, aber so lange niemand etwas Verdächtiges tut sollte alles dafür keinen Grund geben. Ich hab Papiere dabei, die uns aus dem Gröbsten raushalten sollten, aber wir sollten unser Glück auf keinen Fall überstrapazieren. Das wäre erstmal alles. Einzelheiten besprechen wir vor Ort.« Angespanntes Schweigen hing zwischen den Köpfen der Autoinsassen in der Luft. Schon all diese Vorbereitungen und Bedingungen klangen beängstigend und unnötig anstrengend, obwohl ihr größtes Problem doch eigentlich der neue Final sein sollte. Ein Mädchen aus Saudi-Arabien also … wie mochte so jemand wohl sein? Und vor allen Dingen, wie würde sie mit Jackbells außergewöhnlichem Auftrag zurechtkommen? Shawn hatte dem Gespräch zwar nur mit einem Ohr zugehört, hatte aber dennoch wie ein Schwamm alle Informationen in sich aufgesogen und sich gründlich durch den Kopf gehen lassen. Das klang wirklich unheimlich aufregend und spannend, aber die Vorsicht, die sie einhalten würden müssen, versalzte ihm gehörig die Vorfreude. Die arabische Welt und ihr Glauben gehörten zu den wenigen Dingen, über die Shawn wirklich kaum etwas wusste und obwohl Nachdenken zu seinen absoluten Lieblingsbeschäftigungen gehörte, wurde der Prozess hier deutlich von diesem Faktor ausgebremst. Was mochte ihn erwarten? Doch zuallererst, wie fühlte es sich überhaupt an, mit dem Flugzeug zu fliegen?
#ovf#original vs final#kapitel#da hier irgendwie überhaupt nichts passiert außer sanftem bonding und ein bisschen comic relief#hab ich das gefühl als müste ich nichts taggen (-:#ich weiß nicht?? ich bin so unbeholfen :-D
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Unnötige Meta-Facts: Kapitel 8
Wie ich bereits vor langer, langer Zeit erwähnte (8D), passiert hier die zweite Charakter-Exposition-Busszene™ auch bekannt als whiter boy sinniert2.pdf, und es geht um Shaaaawn heeeey, der Mann mit dem russischsten Namen der Welt!! (Es wird irgendwann erklärt warum er so heißt, keine Angst, und der Grund ist ziemlich gay tbj. Das merkt sich mit Sicherheit bis dahin wieder keiner, von daher wirkt es dann wie eine Überraschung .... gut so) Ich liebe Shawn und er ist ein freundlicher Junge und ziemlich anxious. Bitte erschreckt ihn nicht, er will nur seine Ruhe.
Shawn hieß früher mal mit Nachnamen 'Baklin'. Ich weiß nicht woher es kam, er war immerhin Majos Charakter (ist er theoretisch immer noch, ich habe ihn mehr oder weniger adoptiert ....), aber Anfang 2016 habe ich die Kinder ja alle noch einmal generalüberholt und sie einem ersten Redesign unterzogen und da hatte sich das dann auch schon geändert. Irgendwas musste man ja tun. :-D Und sein jetziger Name klingt immerhin noch sehr ähnlich.
Hier, meine Damen, Herren und Menschen anderen Geschlechtes, können Sie einen Orgy of Metaphors beobachten, weil Shawn ein verwirrender Junge und ich eine slut für Metaphern bin. (--: Ich hoffe, ich bekomme das alles ganz ok hin, weil es ist honestly auch manchmal so in meinem Kopf?? Gedankenströme und irgendwelche kryptischen Symboliken und ich will mit keinem reden und nur angestrengt aus dem Fenster gucken .... von daher ist es theoretisch nicht ganz so aus der Luft gegriffen wie man vielleicht annimmt, ich bin der lebende Beweis fürs Relatable Sein™.
Es ist so lange her, dass ich dieses Kapitel gelesen habe, dass ich keine Ahnung mehr hab, ob die ganzen Leute, die hier beschrieben werden, irgendeine versteckte Bedeutung hatten ... 8D Ich bin mir unsicher, aber ich glaube, die dicke Chemielehrerin ist eine Anspielung auf meine alte (und ebenso dicke) Chemielehrerin, die mich immer viel besser behandelt und benotet hat als ich verdient hätte, weil ich einfach nie was in Chemie gemacht hab, und ich habe sie geliebt. )-: Ich wolle jetzt nicht unbedingt, dass sie ins Weltall fliegt, aber das soll auch eigentlich nicht negativ klingen, ich weiß nicht was da los ist. 8DD
Millenial Bug und 2012-Referenzen. Die hatte ich auch vergessen. Klug von mir. Das Kapitel ist besser als ich in Erinnerung hatte. :'D
'Woher kamen sie und wohin hatten sie vor zu gehen?' WHERE DID YOU COME FROM COTTON EYE JOE. Was hab ich hier gemacht?! :'DDDD Voll geil. Beste Charakterintroduction bisher. Ich bin stolz auf mich. Und dann kommt eiskalt eine Alien-Referenz hinterher ... (ich hab den Film noch nie gesehen tbj) und DANACH klingt es schwer nach einer Green-Lantern-Referenz ... ich bin total in die Vollen gegangen hier, alter Schwede. Was hatte ich vor. 8D Klopft sich selbst auf die Schulter.
Hurrah, eine Liste mit Randfiguren! Freu freu.
(Spoiler: die Stimme, die ganz am Anfang nach Shawn ruft, ist einfach nur seine Mama, die ihm vermutlich einen schönen Tag wünscht oder ihn fragt, ob er auch frische Unterhosen angezogen hat oder so, was Mamas halt so fragen. Im Original kam sie sogar ganz kurz einmal vor, indem sie einfach .... in der Haustür stand und misstrauisch geguckt hat. ;-D) Die beiden Mädels von der Bushaltestelle sind voll die interessanten Charaktere, die nie wieder vorkommen werden und die nur deswegen interessant sind, damit man sieht, was für eine bemerkenswerte Auffassungs-(und Stalker-)gabe Shawn hat .... Ach ja btw: "HÄ WAS IST SHAWN DENN FÜR EIN NAME FÜR EINEN RUSSEN ALTAA?" Das hab ich Majo damals auch gefragt. Sie daraufhin super offended: "Ähmmm es gibt Immigranten??!!" Na ja, wie gesagt, sein Name wird später in einer süßen, intimen Exposition erklärt. Ein weiterer Taxifahrer gesellt sich zur Sammlung ... noice. Und eine weitere Rezeptionistin taucht auf. Ich liebe meine Randfiguren. =3=
Der Satz 'Vielleicht müssen wir seine Waffe ja aus dem Kinderbecken fischen' ist a) ein Satz aus dem Originalskript, den ich gerne wiederverwenden wollte, weil er die Absurdität dieser ganzen Scheiße so wunderbar hervorhebt und b) ist ein paar Kapitel später (im Original) tatsächlich so was ähnliches passiert, was das Ganze noch viel schlimmer macht .... :'D
Ok, die Stadt, in der Shawn wohnt, gibt es ausnahmsweise mal wirklich und um ehrlich zu sein musste ich da ziemlich viel nachgucken und bin auf Sachen gestoßen, auf die ich gar nicht stoßen wollte. :'DD Und zwar haben Majo und ich den Shawn-Ark damals im Urlaub geschrieben und dann kam der Moment, in dem wir auf die Schnelle eine russische Stadt brauchten und zum Glück lag im Zimmer ein Atlas rum, an dem wir uns bedienten. Das Problem, das wir erst Jahre später erkannten: Der Atlas war schon 2344 Jahre alt und die Stadt, die wir uns ausgesucht hatten, hieß inzwischen einfach mal anders, wie ich überraschend herausfand, als ich es googlete. :'DDDDD The more you know.
Merke: Bonding zwischen Cassy und Haru geschieht IMMER auf Balkons. ;-D das wird auch nicht das letzte Mal sein (voll die Drohung).
Mitten während der letzten Überarbeitung musste ich Shawn, den ich gerade erst auf siebzehn hatte altern lassen, wieder zurückschrumpfen, weil mir das russische Bildungssystem zu kompliziert war ... (-:, Jetzt ist er im Vergleich zu den anderen wieder voll das Baby ... aber ok. Das wird schon alles. Ich kann es schaffen. Augenlid zuckt.
Boah, kennt ihr das auch, wenn euer bester neurotypical™ Kumpel voll ableist ist und dann müsst ihr ankommen und ihn belehren und werdet voll fired up und versucht nicht dabei zu weinen und alle gucken euch an ...... Eli auch. Ok ich reveale jetzt mal voll die Sachen, Eli hat ADHS und Shawn ist wirklich austistisch und Eli fühlt sich so voll verbunden damit, weil Leute ihn auch immer schief angucken, wenn er hektisch rumwackelt und vergisst was er gerade wollte und will ihn verteidigen ...... er ist ein süßer Junge und will Gutes tun, seid nett zu ihm.
hasrets moralischer konflikt.pdf Hallo, ich studiere Philosophie und mein Charakter ist eine softe, lawful Altruistin, Kant hätte sie geliebt ... (Da fällt mir ein, dass Hasret ein ziemlich gutes Beispiel für Neutral Good ist .... äußerlich wirkt sie Lawful und verhält sich auch meistens so, aber wenn es um das Wohlergehen ihrer Familie geht .... oder im weitesten Sinne dann auch die Finals .... DANN LÜGT SIE SOGAR O:>>>)
Die besten Szenen sind doch wirklich die, in denen die doofen Kinder unauffällig wirken wollen, oder? ;-D (Jaa, Cassys Hut kommt vor :3c) Ich liebe diesen Trope, ich kann nicht genug davon kriegen .... 'benimm dich ganz natürlich!' *benimmt sich ausgesprochen unnatürlich*
Ich hoffe, ich habe Hasrets mörderische Nervosität mit diesen drei Seiten Nervositätsbeschreibung gut rübergebracht ... :-B (Diese ganze Stelle bei der Schule ist überhaupt so mmmm neeee, irgendwie gefällt mir das alles nicht so ganz, aber was weiß ich schon. :-/ )
Fakt: Shawns Akzent ist niedlich. Sehr subjektiv ausgeschildert von Majo, und das bereits vor mehreren Jahren, und auch ich muss es noch einmal erwähnen. Der ganze Shawn ist niedlich. Aber sein Akzent ..... macht die Welt zu einem besseren Ort. uwu
Wenn Shawn auf tumblr wäre, würde er voll auf diese Palette Challenges abfahren ..... hier ist übrigens sein Fave:
(btw ... es war nur eine Frage der Zeit, bis das Wort 'Schaf' in der Nähe von Shawn vorkam, auch wenn es dabei um Hasret ging. Für Majo und mich war er immer ein Schaf ... 1) weil weich und weiß und nett und 2) wegen 'Shaun das Schaf' ;----D wir sind traurige Gestalten,,)
Der Aufbewahrer von Shawns Waffe(l) hat btw keinen coolen, bedeutungsvollen Namen .... da hab ich einfach random was ausgesucht. :-D Ich Schuft. (Ich erinnere mich daran, dass ich den letzten Teil dieses Kapitels in der Uni geschrieben hab .... auf einem sehr unbequemen Sitzplatz. Und dann hatte ich ein Gespräch. Und ein sehr süßes Mädchen hat mich angelächelt. Das hat mich sehr fertig gemacht. In einer guten Art und Weise (-:, )
Das größte Problem mit diesem Kapitel, und auch zum Teil der Grund, warum es so lange gedauert hat, ist dass ich relativ viel Angst hatte, Shawns Autismus nicht richtig rüberzubringen. Ich will niemandem unangenehm aufstoßen oder ihn so mega ~special und nicht wie andere Kinder~ klingen lassen ... (-:,,, genauso wenig so mega hilflos, aber auch nicht super high functioning? I'm in a pinch. Er ist nur ein weicher Junge ok, und er ist noch ein Teenager ... ich bin eine unsichere Frikadelle, bitte validated mich. (--:
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8. Kapitel: FEUER
Sorry Not Sorry™, das Kerlchen hier ist drei Wochen zu spät!! ;---D Das hat drei Gründe: 1) Ich musste meine fragwürdige Shakespeare-Präsentation halten und hatte zwei Tage am Wochenende Blockseminar, 2) letzte Woche war ratsch da und hat mich okkupiert und wollte gekuschelt werden und 3) ich hatte sowohl keine Lust, als auch Bedenken mit diesem Kapitel (dazu später in den UMF mehr … denke ich). Ein neuer Boy ist in town. Er ist soft und denkt viel nach. Ich hoffe, ihr mögt ihn. Ich mag ihn sehr. Ich habe gestern den ganzen Tag gefühlt damit verbracht über das russische Schulsystem zu recherchieren und das war anstrengend. :-D Oh boy, ihr werdet euch noch freuen, dass das hier nur drei Wochen gedauert hat …. wenn ich erstmal bei Kapitel 10 bin …. ohh Junge. Wenn das überhaupt hochgeladen wird, man. Ich habe so eine harte Angst davor. (--: Vielleicht werdet ihr es niemals sehen aber ok. Ok, Motivation vorbei, jetzt habt bitte Spaß mit diesem fragwürdigen Kapitel, in dem alle nur schlafen wollen und Hasret nervös ist. ;-D Word Count: 11,7k Warnings: ableism (Haru rutscht die Zunge aus er meint es nicht böse..)
Durch seine Augen bekam alles irgendwie einen dunklen, bläulichen Schimmer. Der Kontrast verminderte sich, die scharfen Kanten verschwammen sanft, es fühlte sich an, als wäre er unter Wasser und betrachtete seine Umgebung lediglich durch die weiche, undeutliche Oberfläche, oder den unheimlichen Nebel, der im Herbst oft in Nadelwäldern herrschte. Vielleicht brauchte er ja langsam eine Brille, vielleicht würde er auch gleich ohnmächtig werden … eine Brille klang eigentlich gar nicht so schlimm. Vermutlich würde er sie ständig vergessen, sich möglicherweise einfach draufsetzen und sich dann fragen, wo sie geblieben war, aber sicherlich würde er gut damit aussehen. Oder vielleicht noch schlimmer als ohnehin schon. Wenn es eine zu starke Brille mit abgedunkelten, blauen Gläsern war, vielleicht würde die Welt dann ja so aussehen wie jetzt gerade, oder würde sich der Effekt aufheben und er hätte stattdessen die schärfste Sicht, die man sich vorstellen konnte? Von irgendwo hinter ihm kam ein Ruf, er antwortete jedoch nicht. Sein Kopf war zu sehr damit beschäftigt sein Augenlicht wieder klar werden zu lassen, doch es geschah nicht viel. Schwarz, grau, blau und grün, das waren die Farben dieser Landschaft. Zumindest alle, die er sehen wollte. Manchmal saß er stundenlang auf den Wiesen am Stadtrand, geduckt zwischen den Grashalmen, die seine Beine kitzelten, und versuchte die winzigen Punkte einzuordnen, die an seinen Augen vorbei flogen und sie waren schwarz, grau, blau und grün. Sein Rucksack war schwer, aber er konnte sich nicht daran erinnern was er eingepackt hatte. Hoffentlich war etwas zu essen darin, hoffentlich war Wasser darin. An Tagen wie diesen wurde er besonders durstig, wenn seine Kehle vor Kälte austrocknete und er die Eisblumen auf den Scheiben beobachtete, wenn er mit dem Bus zur Schule fuhr. Die Haltestelle war nur ein paar Schritte von seinem Haus entfernt und er war auch nicht der Einzige, der dort wartete. Zwei Mädchen standen jeden Tag zur selben Zeit hier, ein oder zwei Jahre jünger als er. Sie gingen in dieselbe Schule und er sah sie manchmal in den Gängen und vor dem Tor. Die Schwarzhaarige verbrachte die Pausen oft im Klassenzimmer und machte Hausaufgaben oder arbeitete an ihren Projekten, sie goss immer die Blumen auf der Fensterbank und hatte riesige Hasenzähne, die man gut sah, wenn sie lächelte, sowie eine Zahnspange um diesen Herr zur werden. Die Brünette hingegen war immer mit ihren Freunden unterwegs, die allesamt größer waren als sie. Sie weinte oft und das war ihr peinlich. Und sie verliebte sich jede Woche in einen anderen Jungen, der ihr das Herz brach, weil sie sich Hoffnungen machte, obwohl sie genau wusste was passieren würde. Er hatte noch nie mit den beiden Mädchen gesprochen, aber er wusste alles über sie, bis auf ihre Namen. Auch heute widmeten sie ihm nur einen flüchtigen Blick, bemerkten seine Ankunft, aber redeten nicht mit ihm. Sie hatten es am Anfang versucht, aber wohl schnell bemerkt, dass er nicht in ihre Umgebung passte. Das ging vielen Menschen so und er konnte es ihnen nicht übelnehmen, er vergaß manchmal, dass er in einem Gespräch war, weil er so viel nachdachte. Der hellblonde Pony wehte ihm durch die Augen, als eine Windböe aufkam, und das Frösteln ging wie ein kleiner Blitzschlag durch seinen Körper, ansonsten änderte sich jedoch nichts an seiner Miene. Fern, weise und irgendwie traurig, so wie immer, obwohl er überhaupt nicht traurig war. Er konnte nicht kontrollieren, was er für ein Gesicht machte, wenn er zu weit weg war, zu weit weg aus seinem Körper und über der Stadt, wo alles schwarz, grau, blau und grün war. In seiner Brust kräuselte sich ein stiller See, als hätte ein einzelnes Blatt die Oberfläche berührt. Der Bus war da. Er stieg ein, und so auch die Mädchen neben ihm. Drinnen saßen andere Jugendliche die er kannte, manche redeten und lachten, andere machten ihre letzten Hausaufgaben im Eiltempo, bevor es zu spät war. Hatte er seine Hausaufgaben gemacht? Ja. Hatte er sie zu Ende gemacht? Vielleicht nicht ganz. Er hatte Schwierigkeiten damit, sich zu konzentrieren, wenn ihn etwas nicht interessierte, wie man vielleicht vermuten mochte, und kurz vor Ende seiner Algebraaufgaben war der Mond aufgegangen. Es war ein riesiger, beinahe kugelrunder, silberfarbener Mond, den er einfach nicht hatte ignorieren können. Wie ein Werwolf hatte er aus dem Fenster gestarrt und die Scheibe am Himmel fixiert, Gesichter gesehen, die er kannte oder sich ausdachte, in seinem Kopf ein Lied geschrieben, eine Reise begonnen, darüber nachgedacht, ob jemals irgendwer seine staubige Oberfläche betreten hatte, bis er von den Wolken der Nacht verschlungen worden war. Ganz hinten war wie immer ein Platz frei, für ihn. Als der Bus losfuhr, wurde sein Körper sanft in das Polster gedrückt, er stützte das Kinn auf dem Arm ab und blickte aus dem Fenster, als seine nun nicht mehr ganz so blaue Sicht von Eisblumen umrahmt wurde. Melodien begannen in seinem Kopf zu spielen und er blendete die Geräusche und Stimmen der anderen aus, sie wurden immer leiser und die Musik immer lauter, er wollte am liebsten die Augen schließen und einschlafen, doch vermutlich würde er auf diese Weise die Haltestelle verpassen und unfreiwillig durch die halbe Stadt fahren, wenn das geschah. Der Winter war schon lange hier. Es war faszinierend, wie abrupt die Jahreszeiten hier manchmal wechselten, oder vielleicht fühlte es sich auch nur für ihn so an; wenn er sich endlich mit dem Sommer versöhnte, sich mit ihm anfreundete und ihn festzuhalten begann, dann rannte er jedes Mal davon und alles was zurückblieb war Kälte. Andersherum war es ganz genauso. Es war ein schmerzvoller Kreislauf von Verlieren und Vergeben, den er nicht durchbrechen konnte. Was für ein Tag war heute? Mittwoch, schoss es ihm durch den Kopf. Was geschah denn normalerweise an Mittwochs? Eine Stunde Algebra mit diesem alten, zerknitterten Mann, der aussah wie ein zusammengerolltes Stück Alufolie und der vor Schweiß auch genauso im Licht glänzte. Dann eine Stunde Chemie mit einer rothaarigen Frau, die so dick und rund war, dass er sich manchmal vorstellte, wie sie wie ein Heißluftballon langsam in den Himmel stieg und für immer dort mit den Sternen tanzte. Der Rest war ihm zu kompliziert. Er hatte keine Lust über diesen Tag nachzudenken und noch weniger wollte er über Donnerstag, Freitag und Samstag nachdenken, denn dort geschah einfach nichts. Die ganze Zeit über geschah nichts. Alles wiederholte sich, so wie das Jahr, der Kreislauf von Verlieren und Vergeben, und alles verschwamm in seinen blauen Augen zu einem Brei, in dem See in seiner Lunge zu einem Strudel. Wann würde die Entrückung kommen und er sich vom Angesicht dieser Erde verflüchtigen? Der prophezeite Weltuntergang war gerade erst vorüber, er hatte ihn, so wie die meisten, gut überstanden und wer konnte sich schon vorstellen, wann es Zeit für den nächsten war? Wann würde ein Meteor in die Stadt einschlagen und ein Loch in das Kloster reißen, sodass die Trümmer noch in der tiefsten Tundra gefunden werden würden? Hieß es Meteor oder Meteorit? Der Meteor schoss noch durch den Weltraum, der Meteorit hatte die Erdatmosphäre bereits erreicht, sofern er sich erinnerte. Vielleicht war es auch andersherum. Was war das eigentlich mit Meteoriten? Woher kamen sie und wohin hatten sie vor zu gehen? Woraus bestanden sie und was war in ihnen, wenn schon keine schleimigen Alieneier oder intergalaktischen Artefakte? Waren sie der Ursprung des Lebens auf der Erde, hatten sie die ersten Einzeller hierher gebracht, ausgerechnet auf diesen Planeten, der ihnen die Möglichkeit bieten würde zu überleben und sich zu entwickeln, in einen Haifisch oder ein Pferd oder einen Typen, der in einem Bus saß und über Meteoriten nachdachte, und was noch viel wichtiger war; würden sie das Leben, das sie angeschleppt hatten, eines Tages wieder auslöschen? Waren Meteoriten in Wirklichkeit der Gott, dem die Menschen ihr Leben zu Füßen legten, oder waren sie der Teufel, der in einer roten Höhle hauste und Seelen kochte? Jetzt schloss er doch die Augen. Die Musik war verstummt, die Stimmen noch immer gedämpft und weit weg und er hörte stattdessen den Motorengeräuschen zu, um nicht einzuschlafen. Bald, in einer Woche, würden sie in Algebra eine Prüfung schreiben, glaubte er … vielleicht würde die ja so ausgehen wie ein Meteoriteneinschlag. Wenn er sich ganz fest zusammenriss und es keinen Vollmond gab, vielleicht würde er sich dann sogar aufs Lernen konzentrieren können. Ein Geruch stieg in seine Nase, der immer aufkam, wenn der Bus fast an der Schule angekommen war und er wusste nicht, woher er kam und was er zu bedeuten hatte. Altes, nasses Holz und Harz, Klebstoff und Staub und Papier, als stünde er in einer alten Werkstatt, als wäre er zuhause, hörte beinahe seinen Vater mit seiner Bassstimme summen. Er öffnete die Augen wieder. Der Himmel war schwarz, grau, blau und grün. ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Sergijev Possad hieß die Stadt und sie sah in Elis Augen aus wie ein Spielzeugland. Das Herz der Gegend war ein Klosterkomplex mit strahlend blaugoldenen Zwiebeltürmen, ganz so wie man es von Postkarten aus Moskau erwarten würde, ein geradezu magischer Anblick. Als die Finals aus dem Taxi stiegen, wäre der Rotschopf beinahe einfach auf der Rückbank sitzengeblieben und weitergefahren, so ergriffen war er von der Umgebung, auch wenn der Himmel dunkel und rauchgrau war und die Farben, in denen die Stadt für gewöhnlich strahlen musste, deutlich überdeckte. Letztendlich zerrte Haruki seinen Partner mit sanfter Gewalt aus dem Auto und drückte ihm seinen Koffer in die Hand, bevor er noch einfror. Cassy überreichte dem Fahrer gerade so freundlich wie möglich lächelnd eine beachtliche Summe Rubel, die sie zuvor in einer Bank gegen Yen ausgetauscht hatten, während Hasret mit blau angelaufenen Lippen und den Armen um den Koffer geschlungen auf den Stufen zum Hoteleingang stand und mit den Zähnen klapperte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, bisher jemals eine solche Kälte erlebt zu haben, und es gefiel ihr ganz und gar nicht. Ja, die Stadt mochte hübsch sein, aber sie würde sie im Moment wirklich lieber durch ein Fenster in einem beheizten Hotelzimmer beobachten. Unter ihren grünen Augen, deren Pupillen inzwischen zu winzigen Punkten zusammengeschrumpft waren, zeichneten sich dank der Folgen ihres völlig zerstörten Biorhythmus dunkle Schatten ab. Eli ging es ähnlich, nachdem er erst einmal mehr oder weniger widerwillig aus dem Auto gestiegen war und sich neben die Texanerin gestellt hatte. Auch er hatte von Temperaturen wie diesen bisher nur geträumt, und wenn es nicht einmal Schnee gab, was war dann überhaupt der Zweck von Kälte? »Ich hoffe, der neue Final geht nicht gerne um diese Zeit ins Freibad. Wir haben zwar Schwimmsachen im Koffer, aber man muss es ja auch nicht übertreiben …«, brachte er durch seine klappernden Zähne hervor und wandte den Kopf mit einem gequälten Grinsen zu Hasret, um irgendwie die Stimmung aufzutauen. Sein Gesicht war genauso glasblau wie seine Augen, sodass er aussah wie eine Frostleiche. »Vielleicht müssen wir seine Waffe ja vom Bademeister holen und sie aus dem Kinderbecken fischen.« Hasret war eigentlich überhaupt nicht zum Witzemachen zumute, aber sie brachte es nicht fertig, Eli zu enttäuschen und schälte schließlich selbst ein mühsames Lächeln aus ihren eingefrorenen Gesichtszügen. Und tatsächlich, wie erwartet konnte sie die Luft damit doch ein wenig aufwärmen. Sie waren in der vergangenen Nacht nach Jackbells Weckruf tatsächlich rechtzeitig aufgestanden und beim Auschecken war alles glatt gelaufen. Mehr oder weniger schweren Herzens hatten sie Kawasaki verlassen, vor allem Haru hatte relativ geknickt gewirkt, und hatten am Flughafen einen nächtlichen Kaffee getrunken, um bis zum Abflug wachzubleiben. Die vier hatten wirklich schrecklich ausgesehen; graue Gesichter, verschwommene Blicke und zerzauste Haare ließen absolut jeden in der näheren Umgebung wissen, dass sie sich nur mit Mühe aus den Betten gequält hatten. Auch Hasrets Reisepass konnte problemlos die Sicherheitskontrollen passieren, der Aktenkoffer mit Harukis neuen Messern musste sich zu ihrem anderen Gepäck gesellen, und der Flug war wieder einmal für die Erste Klasse gebucht worden. Die Nacht wurde dank der Durchquerung mehrerer Zeitzonen unnötig in die Länge gezogen und die Finals konnten zwar alle ein wenig ausruhen, jedoch nie besonders lange und nicht ohne unterbrochen zu werden, weshalb sie jetzt noch immer wie Zombies aussahen und sich verzweifelt nach einem weichen Bett sehnten. Harukis kürzlich entwickelte Paranoia aufgrund einer gewissen Verona Moreno erschwerte es ihm zusätzlich einen ruhigen Flug zu genießen, auch wenn er sich ziemlich sicher war, dass all die Flugbegleiterinnen, die er in ihrer Maschine gesehen hatte, keine Abkömmlinge seines ewigen Albtraumes waren. Endlich in Russland angekommen lief der Rest bis zur Ankunft am Hotel traumartig leicht und wie am Fließband ab. Es wurde kaum geredet, und wenn, dann nur abgehackte Sätze, die Adresse des Hotels befand sich auf einem der Bernhard-Zettel und mit letzter Kraft hatte Eli es fertiggebracht, den Namen zu entziffern, sodass sie sich ein Taxi hatten bestellen können. Allerdings wurde so auch die nächste Hürde bald sichtbar: die Sprachbarriere. Niemand von ihnen sprach russisch, einzig Hasret kannte ein paar Worte und Standardphrasen, die für das nötigste ausreichen dürften, doch was, wenn ihr neuer Final kein oder nur sehr dürftiges Englisch sprechen konnte? Hoffentlich hatte sich Jackbell darüber Gedanken gemacht und jemanden mit seinem Glücksrad getroffen, mit dem sie halbwegs kommunizieren konnten. Nun standen sie jedoch endlich am Hotel, das Taxi war abgefahren und Haruki blickte routinemäßig auf seine nagelneue Armbanduhr. Es war acht Uhr morgens und sie hatten den ganzen, beschissenen Tag noch vor sich. Ein schmerzhaftes Seufzen entfuhr ihm. Das übliche Prozedere folgte, der Japaner fragte hoffnungsvoll auf Englisch an der Rezeption nach den Zimmern und bekam auch kurz darauf vom freundlichen Personal die Schlüssel überreicht, nachdem dieses die Buchung bestätigt hatte. Irgendwie wartete er noch immer darauf, dass Jackbell eines Tages einen Fehler machte und sie nicht einchecken konnten … er würde vermutlich Amok laufen. So jedoch schlurften die Finals nur in den Aufzug, in welchem Haru ein paar schwerfällige Worte über die Zimmernummern verlor und Hasret einen der Schlüssel in die Hand drückte. Schließlich verkrochen sich er und Cassy in der Nummer 276 und die beiden Neuzugänge zwei Zimmer weiter und verschlossen die Türen. Niemand hatte etwas gesagt, aber alle waren sich wortlos darüber einig geworden, jegliche von Jackbell aufgehalsten Pflichten vorerst zu ignorieren und mindestens bis Mittag durchzuschlafen. Cassy zog die Vorhänge zu und warf sich, ohne sich umzuziehen, auf das Ehebett. Es tat gut so ausgestreckt zu liegen, keine Platzprobleme, keine Nackenschmerzen und willkommene Dunkelheit um sie herum, die ihre brennenden Augen entspannte. Ein wohliges Kribbeln fuhr durch ihren Körper, als sie die Glieder wie ein Seestern zu allen Seiten ausstreckte und endlich die Augen schließen konnte. Der Japaner tat es ihr gleich und beide schliefen ohne weitere Worte innerhalb von Minuten ein. Hoffentlich würde ihr Auftraggeber nicht vorzeitig anrufen und sich nach dem Fortschritt erkundigen … der musste sich nun erst einmal hinten anstellen. Überhaupt sollte es ja eigentlich kein Zeitlimit für ihre Reise geben, oder? Immerhin war kaum abzusehen, wie viele Tage man benötigte um jemanden davon zu überzeugen, seine Schulkarriere und Familie für einen unbekannten Mann am Telefon hinzuwerfen. ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Cassandra schlief unglücklicherweise nicht besonders lange. Schon nach ein paar Stunden hatte sich ihre Erschöpfung ungefragt und plötzlich verabschiedet und sie konnte sich nur noch leise stöhnend in den Laken wälzen, dabei immer darauf bedacht, Haruki nicht aus Versehen zu schlagen oder mit ihrer Decke zu ersticken. Sie war so hellwach wie schon lange nicht mehr und konnte sich nicht erklären, woher dieses Gefühl kam, doch es war offenbar unmöglich, jetzt noch einmal einzuschlafen. Letztendlich setzte sie sich auf und ließ die Beine von der Bettkante baumeln, überlegend, was sie tun sollte. Haru zu wecken schien ihr keine gute Idee zu sein, er war mit Sicherheit noch nicht ausgeschlafen und sie würde auch nicht sonderlich viel davon haben, außer einen äußerst zerknitterten und mürrischen Zimmergenossen. Mit zusammengekniffenen Augen schielte Cassy auf seine Armbanduhr, was sich als nicht so einfach herausstellte, da er sein Handgelenk im Schlaf immer wieder gut zu verstecken und herumzuschleudern wusste, sodass sie zum Teil nur noch haarscharf ausweichen konnte. Es war halb zwölf, wenn Haruki seine Uhr schon umgestellt hatte, und nach dem behutsamen Öffnen der Vorhänge schien ihr diese Zeit dann auch ganz plausibel zu sein. Kurzerhand schnappte Cassy sich ihre Jacke vom Stuhl und huschte auf den Balkon. Zwar schien die Sonne und der Himmel war größtenteils frei von grauem Dunst, doch hinten am Horizont bahnte sich schon wieder eine dunkle Wolkenfront an. Der Schein trog allerdings, buchstäblich, denn es war immer noch so kalt wie am Morgen, wenn nicht sogar noch frostiger, und Cassy konnte den weißen Atem vor ihrer Nase sehen, wie er nach oben stieg. Mit angespannten Muskeln schlang sie die Arme um den Körper und rubbelte sich mit hastigen Bewegungen warm. Die Sicht erstreckte sich auf die Straßen von Sergijev Possad und darüber hinaus ins Grüne. Autos fuhren unter ihr durch die Stadt, einige Menschen strömten geschäftig an den Gebäuden vorbei, es war nicht laut, nicht bedrängt, aber lebendig. Genauso hatte sie sich Russland immer vorgestellt, es war wie im Bilderbuch. Schon wenige Minuten später wurde es Cassy endgültig zu kühl. Nach genauerem Überlegen hatte sie absolut keinen Bedarf nach kaltem Wind um sich zu beleben und drehte sich schon wieder um, den Rückweg anzutreten, da stieß sie gegen Haru, der ganz offensichtlich nun auch wach war und dieselbe Idee gehabt hatte wie sie. Mit einem Keuchen machte die Kanadierin einen Satz nach hinten, bis ihr Gegenüber, vollkommen von der Rolle, anfing, sie mit beschwichtigenden Gesten und verwirrtem Gemurmel zu beruhigen. »Ganz schön frisch hier draußen«, bemerkte er schlaftrunken, als der Schreck verflogen war. Cassy zog eine Grimasse. »Genau aus diesem Grund wollte ich auch wieder reingehen.« Sie drängelte sich an dem Japaner vorbei und dachte kurz darüber nach, ihre Jacke wieder auszuziehen, entschied sich dann aber dagegen, bis sich ihre Körpertemperatur wieder angepasst hatte. »Ich bin echt gespannt auf den neuen Final«, teilte Haruki ganz beiläufig mit, als auch er wieder ins Zimmer getreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Wenn es nach ihm ginge, dann könnten sie den Zuwachs ruhig sofort, ohne Fragen gestellt zu bekommen, abholen und dann das nächste Land bereisen, langsam aber sicher hatte er genug von dem ewigen Hin und Her. Er hoffte inständig, dass dieser Neuling ein unkomplizierter Mensch sein würde, der ihnen nicht allzu viele Steine in den Weg legte, auch wenn ihm bewusst war, dass es sich dabei um Wunschdenken handelte. »Ich auch.« Cassy fuhr mit der Zunge über die Innenseite ihrer Wangen und musste einen unangenehm blechernen Geschmack feststellen. Vielleicht war es nach dem stressigen Flug und der Ankunft langsam doch wieder Zeit um sich die Zähne zu putzen. »Ich hab kein gutes Gefühl dabei, wenn wir noch länger Zeit schinden. Jackbell wartet bestimmt schon ungeduldig darauf, uns den Startschuss zu geben.« »Da ist er nicht der Einzige«, schmunzelte Haruki, seine Miene wurde jedoch sofort wieder kühler. »Ich glaube, wir könnten alle etwas zu essen vertragen. Und dann müssen wir wohl oder übel wieder an die Arbeit.« Dagegen konnte Cassandra schlecht etwas einwenden und nachdem sich die beiden gewaschen, umgezogen und ihre zwei Teammitglieder geweckt hatten, stand erst einmal auf dem Plan, sich im Restaurant mit der heimischen Küche vertraut zu machen. Besonders Hasret schmeckten die Gerichte – sie schlang die Bissen so raubtierhaft herunter, dass sich niemand von ihren Kameraden traute, ihre Manieren auch nur anzusprechen –, es wurde vor Hunger kaum geredet und erst jetzt fiel den Finals auf, wie lange sie schon nichts mehr gegessen hatten. Die dauernden Reisen konnten ein Fluch sein, wenn es um Routine und Ess- oder Schlafgewohnheiten ging. Vermutlich hatten sie auch alle schon von dieser Unregelmäßigkeit ein paar Kilo zugenommen. Letztendlich bestellte die Gruppe in ihrem Rausch auch noch ein paar große Eisbecher zum Nachtisch, die Temperaturen draußen eisern ignorierend, und erst nachdem auch das geschafft war, wurde ihnen endlich klar, was sie für einen Fehler gemacht hatten; mit so vollem Bauch ein neues Mitglied zu finden, oder auch nur annähernd nachzudenken, könnte eine unbehagliche Angelegenheit werden. »Dann wollen wir mal loslegen«, seufzte Haru, als sich die vier in Cassys und seinem Zimmer eingefunden hatten. Ebendiese und Eli lagen rücklings auf dem Bett wie fette Seerobben und versuchten angestrengt nicht zu platzen, Hasret hatte es sich im Schneidersitz auf dem Boden bequem gemacht und er selbst saß auf einem Hocker, den er unter dem Schreibtisch hervorgezaubert hatte. Mit so wenig Bewegungsaufwand wie möglich streckte Cassy ihm das Handy entgegen, das Notizbuch und den Rest der Tasche schon auf der Brust verteilt liegend, als hätte ihn jemand dort ausgekippt. Es dauerte eine Weile, bis der Japaner das Telefon über die Distanz zu fassen bekommen hatte, da der Arm seiner Partnerin nicht allzu lang reichte und sie absolut keine Anstalten machte, ihm die Sache irgendwie zu erleichtern, doch am Ende konnte er wieder das wohlbekannte und beruhigende Husten ihres Auftraggebers auf der anderen Seite vernehmen. Langsam fragte er sich zum einen, wie Jackbell es jedes Mal schaffte, genau zum Anfang und zum Ende des Telefonates zu husten, als wäre dies ein geeigneter Ersatz für Begrüßung und Verabschiedung, und zum anderen, ob er vielleicht mit einer ernsthaften Krankheit kämpfte. »Wir sind bereit, um uns auf die Suche zu machen«, meldete Haru sich mit resignierter Stimme zu Diensten. »Das freut mich zu hören.« Er hätte schwören können, ein zufriedenes Schmunzeln am anderen Ende der Leitung gehört zu haben, würde sich aber nicht darauf festlegen. »Ihr fünftes Mitglied ist ein sechzehnjähriger Junge namens Shawn Bagrov und er geht ganz in der Nähe zur Schule. Ich schlage vor, Sie fangen ihn dort gleich ab, in einer Stunde sollte er Unterrichtsschluss haben. Mister Bagrov sollte Ihnen an sich kaum Probleme bereiten, allerdings muss ich Sie vorwarnen, dass es schwierig sein wird, mit ihm zu kommunizieren.« »Was heißt ›schwierig‹? Kann er denn überhaupt Englisch?« »Ja, sein Englisch ist in Ordnung, und es wird sich mit Sicherheit in den kommenden Wochen noch bessern. Was ich meine ist, dass es für ihn sehr schwer ist, sich zu öffnen und Beziehungen aufzubauen, besonders zu Fremden. Der erste Eindruck ist entscheidend, Mister Okui. Versuchen Sie nach Möglichkeit, ihm keine Angst zu machen oder zu schnell zum Thema zu kommen. Mister Bagrov ist nicht ganz einfach zu greifen und Sie werden vielleicht nicht immer seine Intentionen oder Gedankengänge verstehen, aber das Wichtigste ist, dass Sie ihm nicht das Gefühl geben, ein Außenseiter zu sein. Haben Sie soweit verstanden?« Haruki nickte langsam, erinnerte sich dann jedoch daran, dass er am Telefon war. »Alles klar. Freundlich und geduldig sein. Sonst noch etwas, was wir wissen müssen?« »Sie sollten versuchen sein Vertrauen zu gewinnen, indem Sie herausfinden, was seine Interessen sind und darauf eingehen. Das dürfte es Ihnen um einiges leichter machen. Ich denke, das wäre es dann. Alles Übrige steht in Ihrem Buch. Noch irgendwelche Fragen?« »Nein, keine.« »Sehr gut. Dann höre ich später von Ihnen.« Das Piepen in der Leitung bestätigte das Ende des Gespräches. Haruki hatte plötzlich gemischte Gefühle über den neuen Final. Sie hatten ja bereits Probleme damit gehabt, die offene Hasret anzusprechen, und jetzt wurde ihnen ein so in sich gekehrter Junge vorgesetzt? »Shawn also … klingt nicht unbedingt nach einem einheimischen Namen«, überlegte die Texanerin laut und runzelte die Stirn. Wie die anderen war sie höchst gespannt auf den Zuwachs und konnte es kaum erwarten, ihn kennenzulernen, auch wenn Jackbells Warnung auch ihr Sorgen bereitete. »Cassy, erleuchte uns bitte mit Fakten«, bat Haru seine Partnerin, die das Notizbuch schon aufgeschlagen hatte und mit gekräuselten Augenbrauen darin las. Das Foto von Shawn zeigte einen blassen Jungen mit kastenförmigen Schultern und kantigem Gesicht, weißblondem und ein wenig längerem Haar, dicken Augenbrauen, desinteressierten, himmelblauen Augen und einer großen, krummen und leicht geröteten Nase. Seine Lippen waren dunkel, wie vor Kälte angelaufen, und seine Miene machte es einem vollkommen unmöglich, irgendeine Emotion aus seinem Gesicht zu lesen. An sich wirkte Shawn irgendwie wie ein Stein, aber kein großer, schwerer, eher wie ein heller Kiesel, der mitten auf dem Weg lag und einem gleich in den Schuh rutschte; oder wie eines dieser Gemälde, deren Augen einen verfolgten, wenn man daran vorbeiging. »Shawn Bagrov«, begann Cassandra mit gedrückter Stimme und musste ein paar mal blinzeln, bevor sie weiterlesen konnte. Das Foto löste sich von der Seite und flatterte auf ihr Kinn. »Sechzehn Jahre alt, geboren am dreizehnten April Fünfundachtzig, Sternzeichen Widder. Die Mutter, Anastasija Bagrova, arbeitet als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei, der Vater, Valeriy Bagrov, besitzt eine Schreinerei, in der Holzfiguren und andere dekorative Elemente angefertigt werden. Dieser verbrachte dreiundzwanzig Jahre seines Lebens in den USA, kehrte aber danach wieder nach Russland zurück, um eine Familie zu gründen. Geschwister: Linus Bagrov, 24, macht eine Schreinerlehre beim Vater. Shawn besucht die elfte Klasse … das kann ich nicht lesen.« Sie räusperte sich beschämt. »Er hält sich in seiner Freizeit zumeist zuhause auf, Interessen größtenteils unbekannt. Extrem introvertiert, hat Schwierigkeiten Beziehungen aufzubauen, verliert schnell Geduld und Interesse an Gesprächen, hat vermutlich sehr gute Menschenkenntnisse und ist intelligent. Englischkenntnisse sind mittel bis gut. Stärken: Observation, liest den Gegenüber, findet schnell Stärken und Schwächen anderer heraus, Strategie, Taktik, Kraft ist nicht zu unterschätzen; Schwächen: Schnelligkeit, Ausführung, Konzentration stark unberechenbar, kann sehr hoch oder sehr niedrig sein, schwer bis unlesbar für Teammitglieder …« Die letzten Sätze ließ Cassy leiser ausklingen, als ob sie insgeheim hoffte, dass noch etwas folgen würde, doch das war wohl alles. Sie ging die Seite noch ein weiteres Mal durch, als hätte sie Angst, etwas ausgelassen zu haben. Stille legte sich im ganzen Zimmer nieder. »Irgendwie klingt dieser Shawn für mich nach einem Autisten oder so etwas«, murmelte Haruki und kratzte sich mit verzerrter Miene im Nacken. »Wir schaffen es ja kaum, normale Leute vernünftig anzusprechen und sie in diese Geschichte einzuweihen, und jetzt kommt jemand mit so gehemmten Sozialkompetenzen? Was hat Jackbell sich dabei gedacht?« »Was soll das denn heißen?!« Eli sprang überraschend vom Bett auf, begleitete vom Quietschen der Matratze, und wurde auf der Stelle hochrot im Gesicht. In seiner Brust brodelte es unangenehm, wie in einem Topf, der kurz vorm Überkochen war, obwohl man ihn die ganze Zeit über beobachtet hatte. Haru schien beinahe erschrocken von der offensichtlichen Empörung des Rotschopfes. »Wir haben Shawn noch nicht einmal kennengelernt und du fängst schon an ihn zu bewerten? Er ist doch nicht schwer behindert oder blöd, und selbst wenn, würde das einen Unterschied machen? Wahrscheinlich ist er genauso drauf wie wir, wird dieselben Ängste und Bedenken haben und so sollten wir ihn auch behandeln, oder etwa nicht? Für dich war es sicher auch schwierig zu verstehen, als Bernhard dir alles erklärt hat, oder? Du warst genauso misstrauisch und wolltest damit nichts zu tun haben, warum sollte es bei Shawn anders sein? Weil Jackbell es ausdrücklich gesagt hat?« Eli fasste sich an die Stirn und atmete schnaufend aus, so aufgebracht war er. »›Normale Leute‹ wie wir, hm? Vielleicht sind wir ja alle nicht so ›normal‹ wie du, schon mal darüber nachgedacht?« Mit einem brummenden Stöhnen und unangenehmem Zittern in der Stimme beendete er seine Standpauke, schüttelte heftig den Kopf, und stampfte zur Balkontür. Jetzt musste er dringend frische Luft zu schnappen und irgendwie vor dem unbehaglichen Starren fliehen, das ihm nun alle anderen widmeten. Tatsächlich waren die restlichen Finals ziemlich verblüfft von seinen Worten. »Wow, Eli …«, stammelte Haruki nach einer Zeit, in welcher er nur den Rücken seines Partners in der Tür hatte stehen sehen, unentschlossen, ob er völlig den Raum verlassen sollte oder nicht. »Ich wusste nicht, dass dich das so trifft. Es tut mir leid, ich hab voreilig reagiert, du hast recht … ich wollte dich nicht wütend machen. Es tut mir wirklich leid.« Ein paar Sekunden lang regte Eli sich nicht, Cassy und Hasret begannen schon einen Streit in der Luft zu spüren, doch dann drehte er sich um und nur noch seine Wangen waren glühend rot. »Auf dich kann man echt nicht lange sauer sein, oder? Du machst immer gleich alles besser, Haru, das ist wirklich schrecklich.« Das ewig währende Grinsen kehrte auf sein Gesicht zurück und alle konnten wieder durchatmen. Er wirkte zwar immer noch, als hätte er einiges auf der Zunge liegen, doch aus irgendeinem Grund schwieg er darüber. Vermutlich war das auch besser so, denn eine Auseinandersetzung konnten sie im Augenblick nun wirklich nicht gebrauchen. »Ich möchte einfach schnell hier fertig werden.« Haruki schlüpfte abwesend in seine Schuhe und fühlte sich noch immer nicht ganz reingewaschen von seinem schlechten Benehmen. »Lasst uns Shawn suchen gehen und die Sache klären, dann haben wir es hinter uns. Wenn wir einfach nett und freundlich sind, wie Jackbell vorgeschlagen hat, sollten wir das schon hinbekommen.« Er lächelte irgendwie schief in Elis Richtung, und zu seiner Erleichterung erwiderte er den schrägen Gesichtsausdruck. »Wenn jemand herausfindet, wie man den Namen seiner Schule ausspricht, oder zumindest, wie man dorthin kommt, wäre das sicher hilfreich«, bemerkte Cassy irgendwann, als eigentlich alle schon fast angezogen und aufbruchsbereit waren. Hasret, die sich ein klein wenig russisch zutraute, versuchte ihr Glück und nach einer Zeit nickte sie wissend. »Zu den Schulen fahren doch sicher Busse. Am besten fragen wir unten an der Rezeption nach, wie man hinkommt, möglichst unauffällig natürlich, und dann müssen wir nur noch warten und hoffen, dass wir Shawn nicht unter all den anderen Schülern verpassen. Das könnte knifflig werden.« Sie runzelte die Stirn. »Bevor wir einfach drauflos hoffen, dass alles gut geht«, hielt Eli die Gruppe noch ein letztes Mal auf, bevor sie alle tatbereit das Zimmer verlassen konnten. »Vielleicht sollten wir uns schon mal Gedanken darüber machen, wie wir Shawn in ein Gespräch verwickeln, wenn wir ihn erstmal gefunden haben?« »Ich denke, Hasret sollte diejenige sein, die spricht«, schlug Cassy vor und deutete mit einer fast schon übertrieben präsentierenden Geste auf die verdutzte Texanerin. »Nicht nur, dass du zumindest ansatzweise die Sprache beherrschst, du bist von uns auch sicherlich die am wenigsten bedrohliche Person für jemanden, der ungern mit Fremden redet. Du bist einfach so offen und zuvorkommend, da ahnt niemand etwas Böses. Außerdem seid ihr auch ungefähr im selben Alter.« Hasret lächelte zwar gutmütig, fühlte sich in Wirklichkeit aber gar nicht so wohl in dieser Rolle. Dass Haruki und Eli zustimmende Geräusche machten und verständnisvoll nickten, half ihr nicht gerade aus der Klemme. »Ich fühle mich geschmeichelt, dass ihr mir das zutraut, aber ich denke nicht, dass ich für ein komplettes Gespräch mit einem Russen schon bereit bin, vor allem nicht, wenn ich diejenige sein muss, die das meiste Reden übernimmt. Und die ganze Geschichte von Jackbells Waffen und allem drum und dran kann ich erst recht nicht übersetzen!« »Das musst du ja auch gar nicht«, beruhigte Eli seine Partnerin mit mehr oder weniger lässigen Gesten. »Wie Jackbell schon sagte, verwickle ihn einfach in ein ganz normales Gespräch, sag ihm, dass dir sein Shirt gefällt oder so etwas, irgendwann wird er sicher auch anfangen, mit dir zu sprechen und von da an kannst du auf ihn eingehen.« »Ich glaube, ihr stellt euch das viel zu einfach vor!« Hasret hob hilflos die Schultern und ihre Miene entgleiste immer mehr. »Bestimmt wird Shawn nicht mitkommen, nur weil ihn eine fremde Person anspricht, die er noch nie gesehen hat, und außerdem … sehe ich nun wirklich nicht aus wie eine typische Russin. Schon allein mein Akzent verrät mich, wenn es nicht das Aussehen vorher tut.« »Du könntest auch versuchen, die Touristenmasche durchzuziehen«, schlug Haruki vor und erinnerte sich dabei an seine atemberaubende Performance in Florida, auf die er noch immer irgendwie stolz war. Auch wenn eine gar nicht so kleine Hälfte seines gesunden Menschenverstandes ihm einflößte, er müsse sich dafür schämen. »Warte bis er vom Schulgelände herunter ist und frag nach dem Weg zum Kloster oder so.« »Wenn man sich das alles mal so durch den Kopf gehen lässt, dann klingen wir schon wie Trickbetrüger oder irgendwelche Kriminellen, die eine Entführung planen.« Cassy ließ den Blick eindringlich durch die Runde schweifen. Gerade jetzt schienen die anderen das ebenfalls realisiert zu haben, denn augenblicklich schlossen sich die Münder wieder, die etwas zu sagen gehabt hatten, und die Augen blickten betroffen zu Boden. Kaum mehr als zwei Wochen und schon dachten sie wie Verbrecher, sie, eine Gruppe kopfloser, unbeholfener Teenager aus allen Ecken der Welt, die von einem grimmigen, alten Piloten und einer geheimnisvollen Stimme am Telefon über den Globus gejagt wurden, nur um mehr von ihrer Sorte einzusammeln. »Ich kann nicht lügen«, gestand Hasret irgendwann, um die Stille zu brechen. Ihre grünen Augen waren so ernst und unmissverständlich, dass es schwer fiel, etwas zu erwidern. »Und ich will auch nicht. Es ist … einfach nicht meine Stärke, andere Leute anzulügen, schon gar keine Fremden, die mir vertrauen sollen. Ich habe mein ganzes Leben lang gelernt, immer freundlich zu bleiben, auch wenn ich wütend oder traurig bin, und das ist die größte Lüge, die ich zustande bringe, ich bin kein guter Köder! Und überhaupt, wie das schon klingt … als würden wir diesen Shawn tatsächlich entführen wollen.« »Ganz falsch ist das ja auch nicht«, gab Eli zu bedenken. »Aber es ist ja nur für eine kurze Weile. Sobald ihr ins Gespräch gekommen seid, kommen wir dazu und die Wahrheit hat freie Bahn, wir wollen nur erreichen, dass Shawn sich mit dir versteht. Und ich kann mir einfach niemanden vorstellen, mit dem man sich besser verstehen könnte, als mit dir.« »Lasst uns im Gehen weiter darüber sprechen«, fügte Haru dem Gespräch in Eile hinzu, bevor Hasret antworten konnte. »Wir wissen nicht, wie lange der Weg zur Schule ist und wenn wir erstmal da sind, können wir unsere weiteren Schritte immer noch planen.« ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Vor der Schule, in die Shawn ging, befand sich praktischerweise eine Bäckerei, vor die sich Haruki, Cassy und Eli stellen konnten um möglichst unauffällig auszusehen und dennoch Hasret zu beobachten, die auf der anderen Seite der Straße am Tor wartete. Noch war die Stunde nicht um und der Hof war wie leergefegt, doch wenn die Schüler erst einmal aus dem Gebäude geströmt kamen, würde es sicher schwierig werden, einen einzelnen Jungen zu erkennen und abzufangen. Zwar hatte sie sein Foto zur Sicherheit fest in ihrer Faust geknittert, um jederzeit einen Blick darauf werfen zu können, aber viel einfacher wurde es dadurch nicht. Hasrets Herz schlug ihr bis zum Hals und ihre Hände zitterten, je fester sie sie zu Fäusten ballte und je tiefer sich ihre Nägel in ihre Handballen bohrten. Außerdem war es immer noch eiskalt und sie wagte es trotzdem nicht sich zu bewegen. Irgendwie musste sie es schaffen, so locker und unaufdringlich wie möglich zu wirken, obwohl sie inzwischen über eine halbe Stunde lang stocksteif im Novemberwetter gestanden hatte. Um wenigstens ansatzweise wie eine Schülerin zu wirken, hatte sie Cassys Umhängetasche bekommen, die zwar längst nicht groß genug für Bücher und Hefte war, aber immerhin auf den ersten Blick keine verdächtigen Gedanken aufkommen lassen sollte. Die Texanerin fühlte sich so fehl am Platz und unwohl und in ihrer Rolle wie schon lange nicht mehr. Sie hasste es so sehr lügen zu müssen und würde mit Sicherheit alles vermasseln, wenn sie sich das auch noch anmerken ließ. Schon wenn Shawn ihr ansatzweise Vertrauen entgegenbringen würde, könnte sie vermutlich nicht mehr an sich halten. Es wäre nicht Hasret, der er vertraute, sondern nur ein falscher Schatten von ihr, der nicht wirklich existierte, sie konnte sein Zutrauen nicht besitzen, weil er es nicht ihr gegeben hatte, aber das verstanden die anderen einfach nicht! Letztendlich nutzte es nichts, es war ihre einzig sinnvolle Option, ein Gespräch zu beginnen und wenn es keine andere Möglichkeit gab, dann mussten ihre Ideale wohl hinten anstehen. Es war immerhin auch nicht so, als ob sie ein markerschütterndes, moralisches Verbrechen begehen würde, und sie musste immer daran denken, für wen sie das alles tat. Im Abstand von ein paar Minuten schielte Hasret immer wieder über die Straße zu ihren Teamkameraden zurück und immer wenn sie das tat, entspannte sich ihr Inneres zumindest ein wenig. Die waren allen Ernstes der Meinung, dass ihre Tarnung als normale russische Passanten, die einen Zwischenstopp beim Bäcker eingelegt hatten, irgendwie glaubwürdig aussah … Cassy hatte ihren großen Sonnenhut auf, der den Zweck hatte, ihre blauen Haare zu verstecken, die ab und zu gerne für aufmerksame Blicke sorgten, was bei diesem Wetter aber mehr als bedenklich aussah. Dazu las sie so unbekümmert wie möglich in einer Klatschzeitschrift, die sie sich zuvor gekauft hatte, das hieß, sie sah sich die Bilder an, denn die kyrillische Schrift war ihr keine große Verständnishilfe. Eli hatte tatsächlich ein Brot beim Bäcker gekauft, das er nun angestrengt mampfte, verkrampft lässig an eine Wand gelehnt und mehrere auffällige Meter von Cassy entfernt. Dabei bereute er zunehmend, dass er zuvor so viel zu Mittag gegessen hatte. Haruki trug ebenfalls eine Mütze, ein passenderes Modell für eine Tarnung, zugegeben, und patrouillierte den Gehweg an der Bäckerei entlang, indem er den Bürgersteig alle paar Minuten sorglos auf und ab spazierte und versuchte wie ein harmloser Bummler auszusehen. Die Finals schienen wirklich alles andere als eine Ahnung zu haben, wie man sich unverdächtig verhielt, zumal auch sonst kaum jemand auf der Straße war, der einen von ihnen ablenken konnte. Auf der anderen Seite gab es auf diese Weise aber auch niemanden, der sich so womöglich wundern konnte. Es hatte ein paar Minuten gedauert bis die Rezeptionistin verstanden hatte, wohin die Reisegruppe einen Bus brauchte und noch einmal eine unbestimmte Zeit, bis sie eine Antwort bekommen hatten. Ganz offensichtlich hatten sie schon dort verdächtig gewirkt, aber mittlerweile war es einfach schwer, dieses Problem zu umgehen, sie waren alle keine sonderlich guten Schauspieler und würden es vielleicht auch nicht mehr werden. Erst einmal hatte sie ihre Reise durch Sergijev Possad zu einem zentralen Umsteigeplatz geführt, von wo aus sie in einen zweiten Wagen hatten einsteigen müssen, der sie letztendlich zur Schule von Shawn gebracht hatte. Kaum angekommen froren sich die Vier nun in ihren energisch dargestellten Kunstrollen die Zehen ab. Die Finals wurden aufgeschreckt, als immer lauter werdende Stimmen zu hören waren und eine plötzliche Masse Kinder aus allen Ecken des Gebäudes zu strömen begann. Jetzt hieß es, Zähne zusammenbeißen und gründlich die Lage abscannen. Die Schüler kamen aus dem Haupteingang vorne, vom dahinterliegenden Schulhof, füllten und leerten die Bürgersteige und einige sammelten sich vor dem Tor an der Bushaltestelle, um auf ihre Mitfahrgelegenheit zu warten. Kaum eine Minute dauerte es, bis überall totales Chaos herrschte und man nicht mehr wusste, wohin man zuerst schauen sollte. Auch die Bäckerei wurde ins Visier genommen, was Haruki, Cassy und Eli in Alarmbereitschaft versetzte, da sie auf diese Weise eher in Gefahr gerieten, von irgendjemandem abgelenkt zu werden und Hasrets Aktivitäten aus den Augen zu verlieren. So energisch wie nur irgend möglich führten sie ihre Normale-Passanten-Vorstellung weiter durch, möglichst den Blick nicht vom Tor nehmend, doch Shawn war nirgends zu sehen. Dasselbe Problem hatte auch Hasret. Sie ließ die Augen geduldig und scharf wie die eines Adlers umherschweifen, fixierte verschiedene Gesichter, doch niemand sah dem Jungen auf dem Foto wirklich ähnlich. Stattdessen erntete sie selbst den ein oder anderen misstrauischen Blick und zuckte dabei jedes Mal zusammen, versuchte ihr Verhalten besser anzupassen und weniger verdächtig zu wirken, doch es schien einfach nicht zu funktionieren. Der Ansturm zog sich ewig hin und obwohl die Schülermassen nach und nach dünner wurden, kamen noch immer stetig Jugendliche aus dem Tor oder stromerten in kleinen Gruppen angeregt plaudernd an ihnen vorbei. Selbst der erste Bus war schon abgefahren, als noch immer keine Spur von Shawn zu sehen war. Sie musste ihn verpasst haben, war Hasrets einziger, heißer Gedanke, wenn er sich heute nicht verspätete, und sie hatte keine Ahnung, ob das normal für ihn war. Nun wandte sie den Blick immer öfter in Richtung ihrer Teamkameraden, als hoffte sie, von ihnen irgendeine Hilfe zu bekommen, doch deren leichtes Kopfschütteln und Schulterzucken sprach Bände. Langsam wurde Hasret immer nervöser. Ihre Augen begannen zu schmerzen und ihr Mittagessen machte einen kleinen Aufstand in ihrem Magen, ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, den sie aus Angst nicht herunterschlucken konnte. Sie würde nur ein paar Sekunden haben, um Shawn anzusprechen, wenn er an ihr vorbeikommen würde … wenn er es überhaupt noch tat. Was, wenn ihre Russischkenntnisse plötzlich versagten und ihr ein wichtiges Wort nicht einfiel? Wenn sie zu plötzlich reagierte und den ersten Eindruck vermasselte? Wenn sie kein Wort herausbekam und er einfach an ihr vorbeilief? Die anderen verließen sich auf sie, sie durfte jetzt keine Fehler machen! Hasret war erwachsen, sie arbeitete hart, sie machte keine Fehler. Alles war gut. Sie war immer konzentriert. Sie tat das für ihren Vater … Die Zeit blieb für einen Augenblick stehen, als sie das auffallend blonde Haar im matten Sonnenlicht weißlich in ihre Richtung strahlen sah. Er war kleiner als sie angenommen hatte, breit und kompakt geformt, hatte einen roten, schlampig geschnürten Rucksack auf den Schultern und starrte angestrengt auf den Boden, als er darauf achtete, nicht auf die Ritzen zwischen den Pflastersteinen zu treten, ohne dass es zu absichtlich aussah. Hasret blieb die Luft weg, in ein paar Sekunden würde Shawn an ihr vorbeikommen, was sollte sie sagen?! Und wenn sie erst einmal ein Thema gefunden hatte, wie sollte sie es in Worte kleiden? Wie sie befürchtet hatte, war die komplette russische Sprache auf einmal aus ihrem Gehirn ausradiert worden und sie konnte sich nur noch an unzusammenhängende Wortfetzen erinnern, die überhaupt nicht zur Situation passten. Obwohl sie am ganzen Körper fror, brach dem Mädchen plötzlich der Schweiß aus. Shawn war fast auf ihrer Höhe … sie hatte nur noch grob geschätzte zwei Sekunden Zeit. Haruki, Cassy und Eli auf der anderen Straßenseite renkten sich beinahe die Hälse aus, um sie mit ihren innerlichen Gebeten und stummen Zusprüchen zu erreichen. Sie musste die Chance ergreifen, ganz egal, was sie sagte, Hauptsache irgendetwas, nur schnell! »Hey, dein Rucksack ist offen!« Vor ihrem inneren Auge ohrfeigte Hasret sich mehrere Male selbst. Sie war nicht einmal sicher, ob sie die richtigen Worte benutzt und diese auch korrekt ausgesprochen hatte, aber auf alle Fälle hatte sie Shawns Aufmerksamkeit. Der Russe schreckte nahezu auf, starrte sie für ein paar entsetzliche Sekundenbruchteile benommen an, dann drehte er sich plötzlich um sich selbst wie ein kleiner Hund, der seinem Schwanz nachjagte. »Ach, wirklich?« »Ja, warte.« Trotz des beklemmenden Gefühls, das ihren Brustkorb zu sprengen versuchte, setzte Hasret ihr freundlichstes Lächeln auf und fingerte an der geschlossenen Tasche herum, bis sie das Gefühl hatte, genügend Zeit geschunden zu haben. Schon bald würden ihr nicht nur die Themen ausgehen, sondern auch die Begriffe. Wenn es nur irgendetwas gäbe, was sie als Anlass für ein Gespräch finden könnte … »Ich mag deinen Rucksack. Die Farbe ist cool!« Wie bescheuert! Was dachte sie sich dabei?! »Äh, danke«, würgte Shawn hervor und machte sich nicht die Mühe zu lächeln. Er fixierte sein Gegenüber ganz genau und seine Blicke blieben überall an ihrem Gesicht und ihrer Kleidung hängen, als würde er versuchen, sie so perfekt wie möglich mit seinen Augen zu zeichnen. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er ziemlich verwirrt war und Misstrauen in ihm aufstieg, was sie ihm wohl kaum verübeln konnte. Dennoch tat sie ihr Bestes. »Ich bin Hasret«, stellte sie sich hoffnungsvoll vor und streckte lächelnd die Hand zur Begrüßung aus. »Ach so«, war Shawns knappe Antwort. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er ihren Namen überhaupt verstanden hatte. Langsam wurde es wirklich brenzlig mit dem ersten Eindruck. Eine Weile blickte er noch auf ihre ausgestreckte Hand, dann hatte er sich doch endgültig dazu entschieden, sie zu ignorieren und machte Anstalten weiterzugehen. Jackbell hatte wirklich nicht übertrieben, als er seine sozialen Hemmungen beschrieben hatte. »Ich hab dich schon ein paar Mal hier gesehen. Wie ist dein Name?« Nun griff sie wirklich nach Strohhalmen. Ein Schweißtropfen rollte zwischen ihren Augenbrauen entlang über ihren Nasenrücken und hinterließ ein unangenehmes Jucken. Shawn war schon weitergegangen und sie folgte ihm, es wurde immer unangenehmer für sie, sie wollte alles andere als ihm Angst machen oder ihn bedrängen, doch sie hatte keine Wahl. »Nein, hast du nicht.« Der Russe klang plötzlich weniger argwöhnisch und eher, als hätte er nur eine beiläufige Bemerkung gemacht und nicht Hasrets komplettes Vorhaben zusammengestaucht. »Du kennst mich gar nicht, du kommst nicht von hier. Wieso versuchst du mich anzulügen?« Die Texanerin wurde mit einem Schlag aschgrau im Gesicht – als hätte jemand eine Ladung Bauschutt über ihrem Kopf ausgekippt. Ihr höflicher Gesichtsausdruck entgleiste letztendlich. Wenn sie etwas noch unangenehmer fand als jemandem etwas vorzuspielen, dann war es, wenn dieser Jemand sie durchschaute und an ihrer Stelle enttäuscht von ihr war. Ihr wurde direkt schlecht. »War das so … offensichtlich?« Sie war so verdattert, dass sie ganz vergaß, sprachlos und beschämt zu sein. Stattdessen blätterte die Scheinheiligkeit von ihrem Gesicht ab wie alter Putz und ein zumindest ehrlicher, aber dennoch schmerzvoller Blick kam darunter zum Vorschein. »Du hast einen ziemlich starken amerikanischen Akzent und siehst auch so aus«, murmelte der Blondschopf, nachdem er irgendwann stehengeblieben war. Während er die Worte aussprach, musterte er Hasret noch einmal eingehender. Ihre Sommersprossen, ihre Hautfarbe, ihre Haare und ihre leuchtenden Augen. Und dieses stets bemühte Lächeln. »Wieso tust du so, als wärst du von hier? Was willst du von mir?« Das war der Anfang des schlimmsten Teils. Jackbell hatte gesagt, sie sollten nicht so hastig und voreilig mit Shawn umspringen, aber wenn er doch selbst danach fragte? »Das ist … eine ziemlich lange Geschichte.« Wieder schaffte sie es zu lächeln, doch dieses Mal konnte Shawn erkennen, dass sie es ernst meinte. »Wollen wir uns vielleicht irgendwo hinsetzen? Meine Freunde würden dich auch gerne kennenlernen.« Oh nein, es wurde immer schlimmer … Shawn verzog eine zerknitterte Miene und schob die dichten Augenbrauen unangenehm nah zusammen. Er hatte etwas von einem kleinen, wilden Waschbären, den man kurz vor Einbruch der Dunkelheit erschrocken in der Mülltonne aufgefunden hatte. »Lieber … lieber nicht.« Hasret schluckte. Wenn sie jetzt darauf bestand, dass er doch mitkam, würde sie sein bereits brüchiges Vertrauen völlig verlieren. Sie hatte nur zwei Möglichkeiten, entweder versuchte sie ihn weiter zu überzeugen und versetzte ihn damit vielleicht unnötig in Panik, oder sie gab vorerst auf und er würde ihr entgleiten. Vielleicht hatten sie später noch eine Chance, vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich würde sie sich bis in alle Ewigkeit Vorwürfe machen, wenn sie es schaffte, Shawn so sehr zu verängstigen, dass er aufsprang und weglief. »Schon gut«, brachte Hasret mit erstickter Stimme und trockener Kehle heraus. Sie versuchte noch einmal zu lächeln, doch es klappte nicht ganz so einwandfrei wie sonst. »Ich will dir keine Angst machen oder so etwas. Ich geh dann besser wieder …« Gerade wollte sich der Final auf den Weg machen, als sie von der anderen Straßenseite Haruki zielstrebig auf sich zumarschieren sah. Ganz offensichtlich hatten die anderen sie nägelkauend und hoch gereizt bei ihrem Versagen beobachtet, bis es der Japaner nicht mehr ausgehalten hatte. Hasret rutschte das Herz in den Magen. Nein, nicht jetzt … dieser riesige, bedrohliche Kerl würde Shawn auf keinen Fall weniger skeptisch machen können, vor allem nicht, wenn er wie ein Footballspieler im Angriffsmodus auf sie zugerannt kam! Was hatte er vor? »Ist das einer von deinen Freunden?« Obwohl Shawns Stimme gelassen klang, sah sein Gesicht bestürzt, ja nahezu entsetzt aus, als würde er jeden Moment fluchtartig das Weite suchen wollen. Statt ihm zu antworten, setzte Hasrets Beschützerinstinkt ein, sie preschte schnellen Schrittes nach vorn und baute sich wie ein Wasserdamm mit weit ausgebreiteten Armen vor Haru auf, was diesen verdutzt mitten auf der Straße stehen bleiben ließ. »Was ist da bei euch los? Ich dachte, du hättest die Kontrolle verloren, deswegen wollte ich versuchen einzugreifen«, erklärte der Ältere hastig, doch Hasret schüttelte nur energisch den Kopf und zog eine qualvolle Grimasse. »Nein, nein, das ist jetzt der völlig falsche Zeitpunkt!«, zischte sie im Flüsterton, da sie nicht wusste, wie viel Shawn von ihrem englischen Gespräch mitbekommen würde. »Ja, ich hab ziemlich die Kontrolle verloren, aber wir können im Moment nichts tun! Wir müssen ihn vorerst gehen lassen, sonst wird es nur noch schlimmer. Er ist schon völlig verstört!« »Oh nein, nicht schon wieder …« Haruki erinnerte sich an die ewig langgezogene Woche in Texas, als sie Hasret selbst nicht hatten überzeugen können und der Gedanke, dasselbe hier in Russland durchzumachen, ging ihm deutlich gegen den Strich. »Gibt es nicht irgendetwas, irgendeine Möglichkeit, ihn doch noch umzustimmen? Was hast du ihm gesagt?« »Noch gar nichts! Er hat gefragt, was ich von ihm will und als ich ihm angeboten hab, es ihm zu erklären, wurde er unsicher. Shawn braucht noch mehr Zeit!« Haruki schwieg und legte die Stirn in tiefe Falten. Er verstand die Situation und die Bedenken seiner Partnerin, aber auf der anderen Seite machte diese ständige Verzögerung ihn langsam wahnsinnig. Alles wäre so viel einfacher, wenn Jackbell schon im Voraus selbst alles geklärt hätte und sie nicht mehr händeringend vor sich hin stottern müssten! Die betreffende Person würde einfach ohne große Komplikationen abgeholt, genauso wie die Waffe, und das war alles, aber stattdessen lag es jedes Mal an ihnen, diese nahezu unmögliche Arbeit zu leisten. Er war es einfach leid. »Wir können nichts unternehmen, Haru«, wiederholte Hasret noch einmal eindringlich. »Wir müssen seine Situation verstehen und so vorsichtig wie möglich handeln, so wie ihr es auch bei mir getan habt. Willst du es nicht besser machen als damals bei dir?« »Ja schon …« Völlig durchgefroren und ausgehungert durch die Nacht gejagt und anschließend in einem Motelzimmer eingeschlossen zu werden war wirklich etwas, was Haruki niemandem wünschte, das musste er zugeben, und schon gar nicht jemandem, den er nicht einmal kannte. Gerade holte Hasret wieder Luft um mit letzter Hoffnung irgendeinen Vorschlag zu machen, der den Japaner besänftigen könnte, als sie hinter sich Gelächter hörte und sich irritiert umdrehte. Niemand anderes als Eli hatte sich zum einsam und hilflos auf dem Bürgersteig herumstehenden Shawn gesellt und war ganz offensichtlich mit ihm ins Gespräch gekommen. Das Lachen war natürlich von ihm gekommen, und der Russe sah noch immer nicht begeistert von den eigenartigen Menschen aus, die plötzlich mit ihm Freundschaft schließen wollten, doch zumindest stand ihm nicht mehr das pure Entsetzen ins Gesicht geschrieben. »Was ist da los …« Der Satz war eher ein Seufzen als eine Frage. Haruki kniff die schmerzenden Augen zusammen und rieb sie sich zwischen Daumen und Zeigefinger, während Hasret fast schon erleichtert lächelte. Sie hatten vielleicht noch eine Chance. Cassy saß hingegen noch immer vor der Bäckerei und schielte angestrengt über den Rand ihres Magazins hinweg, um die Aktivitäten der anderen Finals und deren Fort- oder Rückschritte zu beobachten. »Ich habe noch nie so Leute wie euch getroffen«, brachte Shawn irgendwann auf Englisch hervor, nachdem Haru und Hasret sich ihm wieder genähert hatten, beide mit Gesichtsausdrücken wie reuevolle Hundewelpen, die etwas angestellt hatten. Er klang so durcheinander und nahezu ängstlich, seine Worte stockten, jedoch sah es danach aus, als würde seine Neugier nun doch den Sieg erringen. Sein Akzent war dick, aber verständlich, und irgendwie niedlich. »Ich bin … ich habe keine Ahnung, was ich denken soll. Was soll das alles? Wer seid ihr überhaupt?« »Das sind Haruki, Hasret und dahinten, mit dem bescheuerten Hut, das ist Cassandra. Du bist Shawn, nicht wahr?«, stellte Eli die Finals nacheinander vor und deutete dabei auf die entsprechenden Personen. Er schien sich schon recht gut mit dem Russen zu verstehen, zumindest für die gebotenen Verhältnisse. Wie erwartet nickte dieser langsam als Antwort, er konnte den Blick nicht von der Gruppe wenden, wusste aber kaum, wen er zuerst intensiv anstarren sollte. Sie waren einfach so ungewöhnlich für diese Gegend. »Tut mir leid, dass das alles so kommen musste«, sprudelte es nahezu verzweifelt aus Hasret heraus. »Tut mir leid, dass ich dich angelogen hab und dass unsere Vorstellung so unbeholfen war und dass wir uns so peinlich benommen haben … eigentlich wollen wir nur mit dir reden, das ist alles! Es geht um nichts schlimmes, wir wussten einfach nicht, wie wir dich sonst ansprechen sollten.« »Ja, okay«, murmelte Shawn monoton und nickte dabei wieder langsam, als würde er sich selbst bei irgendetwas zustimmen. »Das ist alles gerade ziemlich … schräg. Aber bevor ihr euch noch selbst verletzt oder so, können wir auch reden, wenn wir jetzt sowieso schon dabei sind. Jetzt möchte ich auch wissen, was hier überhaupt los ist.« Das war das Stichwort, das Haruki einen großen Stein vom Herzen nahm. Nicht alle, die darauf lagen, aber immerhin einen Teil. Shawn würde ihnen erst einmal zuhören und es lag an ihnen, ob er auch ihr Partner auf dieser Reise werden würde. ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Es dauerte mehr als zwei Stunden, bis die verhängnisvolle Geschichte über Jackbells Waffen und sein Vermächtnis vollständig erzählt worden war. Haruki, Cassy, Eli und Hasret wechselten sich immer wieder mit dem Sprechen ab, wenn sie nicht mehr weiter wussten, ein paar einzelne Worte mussten irgendwie auf russisch übersetzt oder zumindest mit bildlichen Handbewegungen erklärt werden, wenn Shawn den Kopf schiefzulegen begann, doch trotz alledem hörte er brav und aufmerksam zu und stellte keine Fragen. Die fünf hatten es sich auf einer Parkbank bei einem stillen Stück Grün bequem gemacht, von denen es hier auffällig viele gab, obwohl Sergijev Possad als Großstadt eingestuft war und die meisten von ihnen sich unter diesem Wort eine von grauen Hochhäusern und Bahnschienen zerquetschte Einöde vorstellten. Über ihnen warf ein halbkahler Baum seinen dürftigen Schatten und fing den eisigen Wind ein wenig ab, sodass es nicht allzu kalt wurde. Shawn hatte während der Erzählstunde zwar zugehört, doch seine Augen hatten sich voll und ganz den sonderbaren Leuten gewidmet, die gerade so verzweifelt versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erhalten. Cassandra, die von den anderen meist Cassy genannt wurde, sah irgendwie immer missmutig aus und als wäre sie jetzt lieber woanders, auch wenn er vermutete, dass das nur ihr ›entspannter‹ Gesichtsausdruck war. Da waren die beiden sich eigentlich schon recht ähnlich. Sie hatte unheimlich dunkle Augen, in denen er gar keine Farbe sehen konnte, weder braun, noch blau, als wären sie vollkommen entsättigt wie ein Schwarzweißfoto. In ihrem Gesicht und auf ihrem Hals gab es einige Muttermale, die er ab und zu zählte, manchmal kam Shawn auf siebzehn und manchmal auf achtzehn. Was ihn an Cassy jedoch am meisten fesselte, waren ihre blauen Haare. Völlig verrückt, so eine Farbe, wie kam man überhaupt auf eine solche Idee und wie machte man so etwas? Ging man einfach zum Friseur und fragte nach blauer Farbe, oder konnte man so etwas in Tuben kaufen, oder gab es spezielle Friseursalons für normale Haarfarben und für ungewöhnliche? Eigentlich waren ihre Haare dunkelbraun, das konnte er an ihren Augenbrauen und dem Ansatz erkennen, der an der oberen Hälfte ihres Kopfes aufblitzte, sich aber so gut wie möglich zu verstecken versuchte. Alles in allem passte Cassys Farbschema gut in seine Lieblingspalette hinein, man konnte sie prima in die Stadt stellen, und bestimmt würde sie ein schönes Fotomodell abgeben, vor dem Kloster oder im Park. Dann gab es da noch Eli. Er war der Jüngste von ihnen – sechzehn wie er selbst – und seine Haut war fast so bleich wie seine eigene, allerdings war er im Gegensatz zu Shawn über und über mit Sommersprossen bedeckt; als hätte jemand mit einer in Farbe getauchten Bürste über ein Sieb gerieben und er hätte direkt darunter gestanden, so gesprenkelt war seine Haut. Shawn wusste, wie man das machte, als er noch in der Grundschule gewesen war, hatte sein Bruder oft mit ihm gebastelt und mit Wasserfarben gemalt. Auch Elis Augenfarbe war ähnlich wie seine eigene, nur noch ein wenig heller, ja nahezu weiß, was seine riesigen Pupillen ein wenig geisterhaft wirken ließ. Zu den Sommersprossen kamen auch noch die roten Haare, die zwar nicht ganz so faszinierend waren wie Cassys, aber trotzdem selten hier, wo er wohnte. Eli schien nett zu sein, er sprach sehr gelassen und unbekümmert, was Shawn an Leuten stets bewundernswert fand. Für ihn selbst war es eine Tortur zu reden, die passenden Worte aus dem Archiv in seinem Gehirn herauszusuchen, sie aneinanderzuketten, sodass sie einen Sinn ergaben, und damit dann auch noch genau das ausdrücken zu können, was sich in seinem Kopf befand und was er den anderen mitteilen wollte. Eli schien überhaupt keine Probleme damit zu haben und das machte es gleich noch ein wenig interessanter ihm zuzuhören, wenn er mit Erzählen an der Reihe war. Der Älteste von ihnen, der auch am meisten sprach und irgendwie der Anführer der Gruppe zu sein schien, war riesengroß und muskulös wie ein Boxer. Shawn konnte sich seinen Namen nicht merken, wollte aber auch nicht nachfragen, es war irgendetwas Asiatisches. Seine Augen waren so dunkel wie Cassys, aber tiefbraun wie frische Blumenerde und sein Blick war irgendwie kalt. So als würde er nicht wirklich an diesen Ort gehören. Ausgeschnitten aus einer anderen Welt und hier in die Landschaft geklebt, mit unsauberen Kanten und weißem Rand, den nur er, Shawn, sehen konnte. Er machte es ihm schwerer als die anderen, ihn zu mögen, obwohl er sich wirklich Mühe gab. Sein undefinierbarerer Akzent, seine ruhige und freundliche Stimme, seine Geduld, das alles machte ihn sympathisch, aber etwas an ihm gab Shawn ein seltsames Gefühl. Er konnte einfach nicht sagen was. Die letzte war Hasret. Ihren Namen hatte er sich gemerkt, weil sie als Erstes mit ihm gesprochen hatte. Mit ihrer matt schimmernden, dunklen Haut war sie ihm sofort vor der Schule aufgefallen, ihre Haare waren gelockt, erinnerten ihn irgendwie an Schafswolle, und doch hatte sie es geschafft, die Mähne so ordentlich in einen Fischgrätenzopf zu stopfen, der über ihrer Schulter hing und dort wie ein Metronom baumelte, wenn sie lachte oder sprach. Wie lange es wohl dauerte, bis sie den Zopf fertig geflochten hatte? Hatte sie früher aufstehen müssen, um das hinzubekommen, oder machte sie es wohl so oft, dass es im Handumdrehen vonstatten ging? Aus Hasrets dunkler Silhouette stachen ihre smaragdgrünen Augen heraus wie Lichter in der Entfernung, er konnte das pure Leben in ihnen sehen, sie stachelten ihn beinahe dazu an, aufzuspringen und zu rennen, egal wohin, einmal im Kreis, Hauptsache er wurde dieses abenteuerliche Kribbeln in der Brust wieder los. »Und aus diesem Grund mussten wir dich so unbeholfen ansprechen. Noch einmal, tut mir leid, dass ich mich so seltsam benommen habe … aber ich hoffe, du verstehst jetzt, wie wir uns dabei gefühlt haben«, beendete Hasret die langgezogene Rede schließlich mit einem tiefen Seufzen und einem hoffnungsvollen Lächeln. Sie befürchtete beinahe, Shawn wäre zwischendurch eingeschlafen, ab und zu hatte er so abwesend gewirkt, aber sie war sich nie sicher gewesen, ob er tatsächlich aufgehört hatte zuzuhören, oder nur seine Augen ausruhen musste. Vielleicht sah er auch einfach immer so aus. Der Russe schwieg weiter beharrlich und ließ nur prüfend seinen Blick von Person zu Person schweifen, als hätte er gar nicht bemerkt, dass Hasret aufgehört hatte zu sprechen, und irgendwann wurde diese Situation so unangenehm, dass Haruki sich fordernd räuspern musste. »Also … sag doch was. Wir können verstehen, dass du verwirrt sein musst. Gibt es irgendetwas, was du nicht verstanden hast?« Shawns Brust hob sich, als er tief einatmete, doch es kamen noch immer keine Worte aus seinem Mund. Stattdessen schüttelte er nur ganz langsam den Kopf. Dann, als wieder ein paar Sekunden lang unangenehme Stille geherrscht hatten, sagte er doch etwas. »Was habt ihr gesagt, hat dieser Mann euren Eltern erzählt?« Er sprach jedes Wort mit einer Extrabetonung und ganz langsam aus, als wäre er sich selbst nicht ganz sicher, ob es die richtigen Satzbausteine waren. »Dass es eine langwierige Sprach- oder Klassenreise nach Europa ist. Damit niemand misstrauisch wird, und wir dürfen auch ab und zu zuhause anrufen, wenn wir alle Finals abgeholt haben«, erklärte der Japaner noch einmal geduldig. Wieder nickte Shawn nur bedächtig. »Nach Europa …«, wiederholte er nachdenklich. »Eine Klassenreise …« Er stellte den roten Rucksack auf seinen Schoß, öffnete ihn und kramte einen gefalteten Zettel heraus. »So wie das hier?« Stirnrunzelnd nahm Haruki ihm das Papier ab und ließ die Augen kurz darüberfahren, bis ihm auffiel, dass er kein Russisch lesen konnte und ihn stattdessen an Hasret weitergab, die jedoch auch keine Ahnung hatte, was dort geschrieben stand. Ihre Sprachkenntnisse waren ganz akzeptabel, aber mit dem Lesen hatte sie eindeutig Probleme. »Vor ein paar Tagen musste ich nach dem Unterricht länger bleiben und meine Lehrerin hat mir das hier gegeben. Sie hat gesagt, es wäre eine Art Austauschprogramm mit einer Partnerstadt in Nordeuropa, für das einzelne Schüler gezielt ausgewählt wurden, weshalb es auch nicht in der Klasse besprochen wurde. Ich fand das ziemlich dubios und seltsam, irgendwie, aber jetzt macht es doch ein wenig Sinn.« Cassy hob die Augenbrauen ziemlich weit nach oben. Dass etwas nach der Geschichte über Jackbell und die Finals Sinn machte, das hatte sie bisher auch noch nicht erlebt. Aber überhaupt hatte Shawn alles viel besser aufgenommen, als sie erwartet hatte. »Das würde heißen, Bernhard und Lindy waren schon hier. Das hat er also damit gemeint, dass sie noch was erledigen mussten …«, murmelte sie halb in sich selbst hinein, halb an die anderen gerichtet. Wenn das so war, dann schien es ab jetzt tatsächlich einfacher zu werden, wenn die kommenden Finals schon früher darauf vorbereitet würden, ihre Heimat für eine Zeit zu verlassen. »Und was hast du dabei gedacht?«, fragte nun Eli nach. »Ich meine, als du diesen Zettel bekommen hast. Hast du dich einfach damit abgefunden, bist du überhaupt bereit dazu, wegzugehen? Wissen deine Eltern schon bescheid?« Shawn zuckte lustlos mit einer Schulter. »Tja, denke schon.« Der Satz schien eine Antwort auf beide Fragen gewesen zu sein, so wie es zunächst den Anschein hatte, dann jedoch fügte er noch hinzu: »Meine Lehrerin hat sie schon angerufen und sie finden die Idee toll. Meine Mutter glaubt wahrscheinlich, dass ich da gleich ein Jobangebot bekomme.« Er machte einen Gesichtsausdruck, der ein bisschen wie ein zynisches Lächeln und ein bisschen wie ein Unfall aussah. »Falsch ist das ja nicht ganz«, gab Cassy mit einem ähnlich schmerzhaften Auflachen zu. »Jackbell bezahlt uns jede Unterkunft und jeden Flug, und wenn wir die Mission erfolgreich abgeschlossen haben, soll es ja auch noch eine mächtige Bezahlung geben, mit der wir uns das Leben schön machen können.« »Und ihr sollt mich jetzt holen … oder wie?« Shawn wirkte zwar nicht mehr so verstört und überrumpelt wie am Anfang, aber dennoch klang alles was er sagte so, als hätte er großen Zweifel an der Existenz der Realität oder als würde er in einem tiefgründigen Theaterstück mitspielen, für das er sich den Text nicht merken konnte. Haru hatte noch nie jemanden so sprechen hören, es war so ein unnatürliches Muster, so eigenartig und irgendwie geheimnisvoll, als hätte Shawn tausende von Sätzen und Gefühlen in seinem Hinterkopf, die er einfach nicht aus seinem Mund bekam. Langsam verstand er immer mehr, was Jackbell mit seiner Aufforderung zur Vorsicht gemeint hatte. »Na ja, wenn du sowieso schon bald abreisen solltest, wird das ja niemanden allzu sehr überraschen.« Eli brachte ein peinliches Grinsen zustande und hob seine spitzen Schultern so hoch, dass sie seine Ohren fast verdeckten. »Dabei hast du es echt besser als wir, uns wurde nicht so früh bescheid gegeben, wir wurden einfach aus dem Alltag gerissen …« Als wäre es abgesprochen, warfen Cassy und Hasret in diesem Moment die Köpfe zu dem kleinen Rotschopf und bedachten ihn mit einem warnenden Blick. Shawn über alle unangenehmen Seiten des Finaldaseins aufzuklären war vielleicht auch noch wichtig, aber nicht jetzt, wo noch nicht einmal feststand, ob er überhaupt mit ihnen kommen würde. Sofort schrumpfte Eli auf die Größe einer Rosine zusammen und hielt vorerst den Mund. »Und alles, was wir jetzt machen ist … mehr Leute einsammeln? Was dann? Wann sind wir vollständig?« Shawn klang irgendwie nicht, als wäre er wirklich auf diese Antworten angewiesen, sondern eher, als wäre er ein Reporter, der ein Interview führte und die Kommentare auf seine Fragen anschließend gut sortiert in einen Beitrag einarbeiten würde. »Nach dir fehlen uns noch zwei Mitglieder, wenn ich mich recht erinnere«, erwiderte Hasret und spürte eine kleine Erleichterung, als der Russe keine negative Reaktion darüber zeigte, selbst als Mitglied bezeichnet zu werden. »Wir wissen nicht, wer es ist und wo wir sie finden, das werden uns Jackbell oder Bernhard später verraten. Und erst einmal müssen wir davor noch die nächste Waffe abholen.« »Waffe …« Shawn legte die Stirn in tiefe Falten. So etwas Verrücktes und er hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, all das zu verdauen, oder auch nur annähernd ausreichend darüber nachzudenken. Gerade heute Morgen hatte er sich bei sich selbst darüber beschwert, dass ihm nie etwas Interessantes passierte, oder überhaupt in dieser Stadt, und nun kamen diese verrückten Menschen hierher und stellten alles auf den Kopf. Das gefiel ihm. Es war aufregend, sie waren aufregend, und sie machten ihm Lust auf mehr. Schon seit Jahren hatte Shawn ein Fernweh in der Brust, gegen das er nichts unternehmen konnte, jeden Tag geschah dasselbe, alles unterstand einer Kontrolle, auf die er keinen Einfluss hatte und die ihm sein Leben vorschrieb. Nun hatte er zum ersten Mal die Möglichkeit diesen Kreislauf zu verlassen. Die Frage war nur, ob es das wert war. Die Geschichte über Waffen und einen geheimnisvollen Feind hörte sich spannend und ausgesprochen faszinierend an, jedoch nicht wie etwas, was Erwachsene normalerweise sagten. Auf der anderen Seite stand das Austauschprogramm, vom dem seine Lehrerin erzählt hatte, und das beängstigende Parallelen zu dem Angebot der Finals aufwarf. Er war sich ziemlich sicher, dass diese Frau nichts von dem wahren Hintergrund dieser Reise wusste, aber immerhin hatte jemand es geschafft, sie davon zu überzeugen und das beeindruckte ihn ausreichend. Vielleicht sollte er sich einfach überraschen lassen. Was konnte denn schief gehen? Die vier Ausländer schienen keine schlechten Leute zu sein, das spürte er, vielleicht würden sie miteinander auskommen können. Sie schienen es immerhin noch nicht bereut zu haben, ihn angesprochen zu haben und das passierte selten. »Shawn?« Der blonde Russe zuckte zusammen und sah sich von Hasrets durchdringenden Augen gemustert, die ihn lächelnd ansah. Schon wieder war er von seinen Gedanken davongetragen worden, so wie es ständig passierte. »Ich hab gefragt, ob du noch irgendwelche Fragen hast. Oder was du überhaupt von der ganzen Sache hältst. Das kann ganz schon anstrengend und überfordernd sein, also sag uns bitte, wenn dich etwas bedrückt. Wir verstehen dich und wollen so gut wie möglich alles erklären, was wir können. Wie ist deine Einstellung zu der ganzen Sache?« Ohne wirklich die Frage verstanden zu haben, nickte Shawn mit angestrengtem Blick. »Wieso … soll ich mitkommen.« Er schnappte nach Luft und fing noch einmal von vorne an, nachdem er sein Gehirn ein wenig von Restgedankenfetzen gereinigt hatte. »Ich meine, woher kennt dieser Auftraggeber mich überhaupt? Warum bin ausgerechnet ich derjenige, der auf eurer Liste steht?« Diesmal beantwortete Cassy die Frage. »Das haben wir uns damals auch gefragt, und ich bin sicher, dass es einen Grund gibt, wieso wir ausgesucht wurden und niemand anderes, aber vorerst müssen wir uns wohl einfach darüber freuen. Ich hoffe, wir treffen Jackbell bald endlich in Fleisch und Blut, wenn alle Finals zusammengefunden haben.« Shawn schloss für einen Moment die Augen. Es gab jemanden auf der Welt, der ihn, Shawn Bagrov, für eine Person hielt, der man große Verantwortung auferlegen und in eine wichtige Position stellen konnte, zusammen mit anderen Menschen. Menschen, die anders waren als er, die sich in dieser Welt einfacher zurechtfanden als er, mit ihnen wurde er auf dieselbe Stufe gestellt, ihm wurden dieselben Fähigkeiten und derselbe Respekt beigemessen, er war genauso wichtig und genauso besonders wie vier andere Jugendliche, die von weit weg hierhergekommen waren um ihn abzuholen. Dieses Konzept war so verrückt, dass er es ein paar Mal in seinem Kopf wiederholen musste, und selbst dann konnte er es noch nicht recht glauben. Shawn hatte eine Möglichkeit, eine Gelegenheit, ihm wurde etwas zugetraut. Er hatte plötzlich das Privileg, noch einmal ganz von vorne anfangen zu können, ohne Vorurteile und ohne seine künstliche Frankenstein-Identität als seltsamer, eingebildeter Junge, der nie antwortete, wenn er angesprochen wurde. »Na gut. Wann fangen wir an?«, verkündete Shawn schließlich seine Zustimmung, nachdem er einen tiefen Atemzug getätigt und ein winziges, von Hasret inspiriertes Lächeln zustande gebracht hatte, das man jedoch nur erkennen konnte, wenn man ganz genau hinsah. In seinen sonst so kühlen, blauen Augen blitzte tatsächlich ein Funken Entschlossenheit auf. Man konnte förmlich hören, wie den anderen Finals kollektiv ein Stein vom Herzen fiel, als sie zufriedene Blicke austauschten. »Ich sag Jackbell Bescheid«, erklärte sich Haruki bereit und tauchte die Hand in die Umhängetasche, die noch immer über Hasrets Schulter hing, und begab sich auf die andere Seite des Baumes, um dort ein stilles Gespräch zu führen. Eli warf dem Neuzugang indessen ein schelmisches Grinsen zu und stieß ihm mit dem Ellenbogen freundschaftlich in die Seite. »Ich würde sagen, willkommen im Team, Kumpel!« Shawns Lippen wurden zu einem geraden Strich und seine Augenbrauen kräuselten sich, als er langsam einen Platz auf der Bank aufrutschte, den Haru zurückgelassen hatte, während der Amerikaner auch schon rot im Gesicht wurde und sich mit hastigen Handbewegungen und peinlich berührtem Flüstern entschuldigte. Cassy musste indessen kichernd den Kopf schütteln und Hasret war einfach nur glücklich, dass sie es wieder einmal geschafft hatten. Shawn hatte sich ihnen angeschlossen, jetzt mussten sie nur noch zwei Mal reisen und dann begann für sie alle ein ganz neues Kapitel. »Jackbell, wir haben Shawn gefunden und er wird mit uns kommen«, legte Haruki derweil den Statusbericht am Telefon ab. Ein anerkennendes Husten war die Antwort. »Sehr gut, das ging ja schneller als erwartet.« »Das haben wir uns auch gedacht …« »Bernhard und Lindy befinden sich mittlerweile ebenfalls bei Ihnen in Sergijev Possad und werden Sie morgen früh zu ihrem nächsten Ziel bringen können. Sie sollten von diesem Tag eigentlich noch genügend Zeit übrig haben, um Mister Bagrovs Waffe abzuholen, oder haben Sie da Einwände?« Wie automatisch warf Haru einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war fast fünf Uhr nachmittags und die letzte Nacht war nicht gerade erholsam gewesen, aber je schneller sie Russland verlassen und zum nächsten Wegpunkt aufbrechen konnten, desto besser. »Nein, alles bestens. Zu wem müssen wir?« »Der Aufbewahrer der nächsten Waffe heißt Nikolaj Ibragimov. Seine Adresse wird Ihnen Mister Bagrov sicherlich nennen können und alles weitere werden Sie dort erfahren. Sonst noch irgendwelche Fragen?« Der Japaner wollte schon wie üblich mit einem Nein antworten, als ihm doch noch etwas einfiel. »Haben Sie dafür gesorgt, dass Shawns Lehrer schon ein Alibi vorbereiten? Er sagte etwas von einer Klassenreise.« »Ah ja, ich hatte beschlossen, die Sache etwas zu beschleunigen, damit es für Sie und die neuen Finals in Zukunft leichter wird, ihre Heimatländer zu verlassen. Sie werden später noch sehen, was ich meine, aber eins nach dem anderen. Nikolaj Ibragimov, merken Sie sich den Namen. Auf Wiederhören.«
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Unnötige Meta-Facts: Kapitel 7
Im Original hat sich Hasret nicht mal persönlich von ihrem Dad verabschiedet, sie hat einfach einen traurigen Brief hinterlassen (und ich weiß auch nicht mal mehr, was sie da für eine Erklärung hatten), aber gerade weil sie ja so eine starke Beziehung zu ihm hat, wollte ich dazu auch was schreiben, auch wenn es nur kurz ist ...
Ja, hier geht es auf einmal wieder richtig zur Sache mit den Randfiguren™! Oder so.
Die Taxifahrersammlung wird größer. Ich konnte mich nicht mal selber erinnern wie viele es davon schon gibt. :'DD Dann sind da noch ein paar Popel, die nur dazu da sind um Harus Charakter Tiefe zu geben (8D) und ein paar gesichtslose Menschen, die mit Hasrets Familie zu tun haben. Niemand von diesen Leuten hat eine versteckte Bedeutung (glaube ich?). Kaori hat so ganz dezent um zehn Ecken vielleicht etwas mit dem Originalskript und dem Element von Harus Waffe(l) zu tun ..... 'Kaori' bedeutet 'Duft' und Düfte sind in der Luft (und reimen sich auch darauf ahha) und weil sie am Anfang im Original auf einen Berg geklettert sind (siehe später) und es gibt den Mt. Fuji, der da auch irgendwo in der Nähe ist .... das kann Zufall sein, aber ich tue jetzt mal so, als wäre das alles so gewollt. 8D
Oh Gott, ich merke erst jetzt, dass es in diesem Kapitel einen Mutter-Sonne-Vergleich gibt ... fuck, ich bin ein Genie, das hab ich einfach gar nicht gemerkt! :'DDD Das wird später noch wichtig, haltet die Äuglein offen!
LINDY KOMMT VOR. Sie ist ein komplett neuer Charakter ohne Wurzeln im Original, aber Bernhard brauchte dringend einen Copiloten und so entstand die süße Tante. Was in der vorherigen Version Bernhard alles alleine machen musste, das ist jetzt gerecht auf die beiden aufgeteilt. :'D
In der Szene, in der die Finals durch die Stadt gehen und alle total fasziniert und überrollt sind, sind sehr viele Ausdrücke und Zitate aus dem alten Skript, weil das irgendwie so überraschend gut war, wie ich feststellen musste, und ich wollte viel davon übernehmen ... ACH JA, und es fehlt eine 'bezeichnende' Szene aus dem Original, die jetzt in der Hölle schmort und auch besser da bleibt .... und zwar hatte sich Eli einen Yaoi-Manga gekauft, weil er offenbar keine Augen im Kopf hat und wir dachten das ist witzig, und Haru hat sich mega heftig darüber aufgeregt, der war richtig sauer, und Cassy und Hasret waren nur so "häh was ist das (-:" und es war einfach nur .... unnötig und sad und ich schäme mich. :'D
Eli hatte mal im Original eine zweite Obsession neben Mais, und zwar rosa Shampoo. Warum? Ich bin überfragt. :'D Auf jeden Fall wollte ich mit der Duschszene darauf anspielen, auch wenn ich es nicht wirklich wieder ausweiten wollte, und in einem späteren Kapitel wird auch noch mal darauf verwiesen, aber sonst ... Shampoo ist ihm irgendwie immer noch wichtig, aber es ist nicht mehr ganz so schlimm. :'D Wenn ich bedenke, wie viele bescheuerte Eli-Szenen hier schon gestrichen sind ..... man könnte heulen. 8D (Apropos Duschszene .... im alten Skript gab es vollkommen unzusammenhängend eine Szene, in der Haru sich vorgestellt hat wie Cassy [die damals noch sexy und skinny war und kein schläfriger Kloß] beim duschen aussieht und dabei voll den Boner gekriegt hat, und dann hat er an Eli gedacht und alles war wieder ok. :'DDDDDD Einfach so. Ich weiß es doch auch nicht.)
Alle himmeln Haru an und Hasret ist vielleicht doch nicht so perfekt wie sie aussieht .... (spoiler: sie ist trotzdem perfekt) Expositional Bettchen-Bonding-Szenen! :3c Ach, ich liebe es, wenn sie sich gegenseitig charakterisieren, das ist, als würde es von alleine passieren.
Hab ich's nicht gesagt?? Bonding mit Hasret und Cassy! *_* Sie lieben sich (und Eli ist ein ancient-history-nerd. Wie ich. Irgendwer muss ja, in einer Geschichte, die mit dieser Symbolik arbeitet)
Wann muss man sich nicht damit abmühen Dialoge zu schreiben? Wenn die Charaktere eine andere Sprache sprechen und man sich beruhigt darauf konzentrieren kann, zu verdeutlichen, wie sehr die anderen diese nicht verstehen! 8DDDD Ich bin einfach ein Genie.
Ein Fitzelchen mehr Jackbell-Exposition und mehr Haru-Charakterisierung. Zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Die Aufbewahrer wachsen mir immer so ans Herz ... :'D Sie sollten ihre eigene Story kriegen.
Kurze Zusammenfassung, wie sie im Original die Waffe(l) gefunden haben: Sie sind auf einen Berg geklettert, es war nebelig, Eli ist in blindem Wahn dagegen gerannt (es gab schon wieder einen Altar .... mitten auf dem Berg .... die Touristen waren bestimmt begeistert), Haru hat sich einen Ast gefreut und Eli fast umgebracht vor Freude und Eli fand das Ganze nicht so cool und Hasret hat die frische Luft genossen. ENDE (-:,
psa: Cassy ist super gay für Hasret und will nicht über Jungs reden, sondern über Hasret. Jeder will über Hasret reden. Lasst uns bitte nur noch über Hasret reden, ok? Cassy flirtet wie ich tbh ..... etwas vage Romantisches sagen und dann ganz schnell umdrehen und sich schämen und so tun als würde man schlafen. :'DDD Self drag.
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7. Kapitel: WIND
Upps, ganz schnell noch mal drübergeguckt und raus mit dem Schmand … :’D Warum sind meine Wochenenden so busy, was ist passiert? Nächstes könnte es auch wieder eng werden, weil mein letzten beiden Blockseminartermine sind (ich bekomme Bauchschmerzen vom drüber nachdenken haha, ich hab gar keine Panik vor meinem Referat oder so) Hier passiert jetzt nicht so mega viel? Characterdevelopment und Bonding, das ist eigentlich alles. (So wie jedes Kapitel) Wieso sage ich überhaupt noch was dazu. :’D Alle sind irgendwie in love mit Haru und Hasret, aber das ist ja allgemein bereits bekannt und auch ich zähle mich in diesem Fall zu ‘alle’. (-: Word Count: 12,1k Warnings: (-: keine Ahnung man, es werden so minimal Worte erwähnt, aber ich glaube nicht, dass ich das taggen muss? Nein wirklich (wenn doch sag an)
Michael Vihre verengte die dunklen Augen zu Schlitzen und schob sich die Brille viermal hintereinander zurück auf den Nasenrücken, nachdem sie viermal nach vorn gerutscht war, weil er seinen Kopf beim Lesen so schräg hielt. Seine Lippen bewegten sich dabei manchmal nachdenklich wie eine Raupe, die in seinem Bart wohnte, als würde er auf etwas kauen, was besondere Geschmackskenntnisse erforderte. »Ich weiß, es ist kurzfristig«, sagte Hasret leise und fuhr mit den Fingern immer wieder ihren Oberarm auf und ab, wie um sich selbst zu beruhigen. »Aber ist das nicht großartig? Meine Noten waren dieses Jahr so gut, dass sie mich dafür ausgesucht haben.« In ihrer Brust hämmerte ein alarmierendes Gefühl gegen ihre Rippen, es sträubte sich alles in ihr dagegen zu lügen, aber sie hatte keine Wahl. »Muss ich gar nichts unterschreiben?« Seine Stimme klang immer, als wäre er ein Geschichtenerzähler, wenn er mit ihr sprach, weise, gutmütig und voraussichtig. Keine Zustimmung, keine Ablehnung. Nur eine Frage. »Ich glaube nicht.« Sie machte eine Pause. Ihr Hals war trocken und von innen heiß. Hasrets Vater kratzte sich geräuschvoll am Kinn und starrte eine lange Zeit auf den Zettel in seiner Hand, las ihn noch einmal von vorne durch, erst gründlicher, dann überflog er ihn, untersuchte die Bedeutung hinter jedem einzelnen Wort. Schließlich machte er ein langes, summendes Geräusch, sodass man im ersten Augenblick meinen könnte, eine Biene sei ins Hinterzimmer geflogen. »Dann wird Richard wohl wieder ein paar Extraschichten einlegen müssen.« Hasret konnte die kleinen Rädchen hinter seiner Stirn rattern sehen, wie er die Wirtschaft für die kommenden sechs Monate neu verplante, jede Einzelheit einkalkulierte und all die Listen durchging, die in seinem Kopf abgespeichert waren. »Schaffst du das denn alles ohne mich?«, entfuhr es dem Mädchen verunsichert, bevor sie sich wieder hinsetzen und auf die Zunge beißen konnte. Es ging nicht anders, ihre Natur konnte sie einfach nicht davon abhalten sich Sorgen zu machen, es fiel ihr zu schwer, fühlte sich nicht richtig und nicht nach ihr an. Es war auffällig. »Ich kann auch …« Sie stockte, doch die Zügel glitten ihr weiter aus den Händen. »Hierbleiben und dir die zusätzliche Arbeit ersparen.« Sie wusste, dass es keine Option war. Aber sie konnte nicht anders als es zu versprechen. Doch ihr Vater schüttelte nur gemächlich den Kopf. »Um Himmels Willen, Hasret. Traust du deinem alten Herrn etwa nicht zu, das Hotel auch so auf den Beinen zu halten?« Seine Tochter lächelte gequält, aber dennoch irgendwie erleichtert. Nein, das tat sie ganz und gar nicht. »D-doch, natürlich … ich meine nur … bald ist wieder Saison, und Halloween in ein paar Tagen, wir haben mit dem Maislabyrinth noch gar nicht angefangen … bald ist Erntezeit. Gerade jetzt …« »Dann sehen wir das eben als Herausforderung an.« Ihr Vater stemmte die Hände auf seine Knie und stand schwerfällig von seinem Stuhl auf. Hatte sie gerade seine Knochen gehört oder war das Einbildung gewesen? »Ich hab doch noch deine Brüder, Richard, Estella, Colin … wir werden das Kind schon schaukeln. Bitte, Hasret, hab nicht das Gefühl, dass du von mir aufgehalten wirst. Wenn schon Alik und Esra ihren Traum aufgeben mussten, weil ihr alter Vater es nicht hinbekommt, allein ein Hotel zu führen, dann möchte ich wenigstens, dass du einen guten Abschluss bekommst und etwas von der Welt siehst. Du möchtest doch nicht ewig hier in Texas bleiben, oder?« Hasret schluckte das fest entschlossene ›Doch!‹ widerwillig herunter und überspielte ihre Verzweiflung mit einem Lächeln und mehreren Kopfbewegungen. »Sicher nicht …« Ein kleiner Teil von ihr hasste diese kleingeistige, engstirnige Stadt und die rassistischen alten Leute hier, doch die Liebe zu ihrem Zuhause, den Feldern und Sonnenuntergängen war stärker als das. Wenn ihr Vater nur wüsste, dass sie das alles für ihn tat … dass sie niemals freiwillig von hier weggehen würde, wenn es ihre Zukunft nicht in trockene Tücher hüllen würde. »Dann ist ja alles gut. Bring uns ein paar schöne Souvenirs aus Europa mit! Die machen sich sicher gut im Restaurant«, lachte er mit holpriger Stimme und verwahrte den Zettel gut bedacht in einem Ordner auf seinem Schreibtisch. Hier gab es keine Unordnung, alles war an seinem Platz und würde sich nicht so einfach verlieren lassen. »Versprochen. Den größten, kitschigsten Eiffelturm, den sie haben«, versicherte Hasret mit einem erlösten Lächeln und feuchten Augen. »Und vergiss nicht ab und zu anzurufen, wenn du Zeit hast. Du weißt ja, wann ich an der Rezeption bin.« Hastig nickte das Mädchen, schniefte leise, kniff die Augen zu und wischte sich mit den Handballen die Tränen weg, die sich in ihren Augenwinkeln gesammelt hatten. In ihrem Herzen war ein Loch, das mit jeder Minute größer wurde, doch bevor es alles um sich herum konsumieren konnte, musste sie sich daran erinnern, was die Zukunft bringen würde. Sie tat das für ihre Familie, ganz egal, was ihre verwirrten Gefühle ihr sagten. »Ich glaube, ich hol schon mal die Vogelscheuche aus dem Keller … sonst bleibt sie wieder in der Tür stecken, wie letztes Jahr.« ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Hasret hatte ein flaues Gefühl im Magen, als sie aufwachte. Sie war noch nie zuvor mit dem Flugzeug geflogen und in Jackbells Privatjet ließ es sich wirklich leben, es gab sogar einen Kaffeeautomaten, aber gewöhnen würde sie sich sicherlich nie an das Gefühl tausende von Metern über den Wolken dahinzugleiten. Sie hatte sich in ihrem Traum ein letztes Mal von ihrer Heimat verabschiedet, von ihrer Familie, ihren Kollegen, Freunden, den Pferden und der Sonne, die stets wie eine liebevolle Mutter über ihren Köpfen gewacht hatte. Bernhards Plan war aufgegangen, alles hatte funktioniert und niemand hatte Verdacht geschöpft, wie es den Eindruck gemacht hatte. Als sie am Morgen mit Koffern und Taschen aus der Tür getreten war, hatte sie ihren Vater und ihre Brüder noch einmal innig in den Arm genommen und sich mindestens fünfmal unter Tränen verabschiedet, sodass Bernhard schon langsam ungeduldig geworden war. Um zehn waren sie in Houston angekommen, hatten Haruki, Cassy und Eli, die ziemlich zerknautscht aussahen, aus dem miefigen Gasthaus abgeholt, in dem sie für die Nacht einquartiert worden waren, und erst zirka anderthalb Stunden später waren sie in die Lüfte abgehoben. Das ekelhafte Gefühl in ihren Ohren und ihrem Hals würde Hasret so schnell nicht wieder vergessen. Der Flug sollte nach Bernhards eigenen Angaben siebzehn Stunden dauern und gerade deswegen, weil dies ihr erster Flug war, war das nicht gerade eine angenehme Art, sie in die Kunst des Ständig-hin-und-her-Fliegens einzuführen, aber er hatte sich das wahrscheinlich auch nicht ausgesucht. Die ersten paar Stunden hatten die Finals noch damit verbracht sich angeregt zu unterhalten, über ihr vorheriges Leben, ihre Eltern, die Schule und Theorien, ob Jackbell vielleicht ein Außerirdischer war, doch nach ein paar Stunden verging ihnen die Lust am Reden langsam. Cassy war als erste eingeschlafen, dicht gefolgt von Eli, und Hasret selbst war nicht mehr lange genug wach geblieben um Haru einnicken zu sehen. Vermutlich war er ganz aus dem Häuschen, seine Heimat früher als gedacht wiederzusehen, zumindest nahm sie an, dass sein zufriedenes Lächeln so viel wie ›Ich bin aus dem Häuschen‹ in seiner Körpersprache bedeutete. Sie war sehr davon überzeugt, dass dieser Mann unheimlich emotional war, nur sein Äußeres hinderte ihn üblicherweise daran, es so theatralisch auszudrücken wie Cassy. Kaum hatte sich Hasret von ihrem Doppelsitz, auf dem sie die letzten Stunden über ausgebreitet gelegen hatte, aufgerappelt, ertönte eine weibliche Stimme durch die Lautsprecheranlage, die verkündete, dass sie bald landen würden. Erst blickte die Texanerin reflexartig aus dem Fenster und wurde gleich von einem bunten Sternenmeer auf der Erde begrüßt, das energisch die anfallende Dunkelheit des Himmels bekämpfte, dann sah sie in den Gang und erkannte die drei anderen Finals, die bereits wach waren und sie zuversichtlich anlächelten. Erst nach ein paar Sekunden begann Hasret sich zu fragen, wer gerade gesprochen hatte – nach Bernhard hatte das eher weniger geklungen –, bis ihr wieder einfiel, wer am Flughafen in Houston zu ihnen gestoßen war. Jackbells vertrauter Bote hatte ihnen am Airport eine Frau namens Lindy Maheshwar als seine heutige Copilotin präsentiert. Bisher war er die Finals stets allein geflogen, da die Strecke nicht allzu lang gewesen und er sich offenbar für ziemlich selbstständig hielt, auch wenn das alles andere als vorschriftsmäßig war und er dafür schon einige Male von seinem Chef den Hintern gerettet bekommen hatte. Aber siebzehn Stunden am Stück, das konnte man selbst dem Superhelden Bernhard nicht zumuten. Seinem zerknautschten Gesicht zufolge hatte Jackbell ihn wohl buchstäblich dazu zwingen müssen. Lindy, eine großgewachsene und drahtige Frau Mitte vierzig mit langen, schwarzen Haaren, war offensichtlich ebenfalls in die Geheimnisse der Finals eingeweiht, oder zumindest stellte sie keine Fragen, und wirkte im Gegensatz zu ihrem barschen Pilotenkollegen wie eine Kindergärtnerin; motiviert, aufgeweckt und mit einem gutgelaunten Lächeln im Gesicht. Die Landung geschah angenehm und ohne Probleme und wie schon bei ihrer Ankunft in Florida klaubte die Gruppe rasch ihr Gepäck zusammen. Hasret überlegte zweimal, ob sie ihr mitgebrachtes Handgepäck mitschleppen sollte, da das wichtigste ja sowieso in Cassys Tasche verstaut war, und entschied sich letztendlich dagegen. Wie erwartet war Haruki derjenige, der als erstes aus der Maschine stürmte, kaum dass die Treppe zum Betreten bereit war, und blieb gleich darauf unten stehen um die Arme auszubreiten, die Luft seiner Heimat einzuatmen und dann am ganzen Körper einen kalten Regenschauer zu spüren. Ein weiterer Klimaschock nach dem schwülen Florida und dem trockenen Texas. Innerhalb von Sekunden hatte der glückliche Japaner seine Fassung wiedergefunden und wartete nun unten auf seine drei Partner, die mit wackligen Beinen aus dem Flugzeug stiegen und mit zusammengekniffenen Augen versuchten, die Stufen vor sich auszumachen und nicht zu stolpern. Die Luft war kühl und feucht und wehte ihnen um die Nase, in Hasrets wuscheligen Locken setzten sich tausende von kleinen, glitzernden Tröpfchen fest, und Eli, der nun wirklich kein Fleisch auf den Knochen hatte, bebte förmlich, als wäre er in Wirklichkeit ein Presslufthammer in Hemd und Hose. Nach ein paar ziemlich frostigen Minuten kam schließlich auch Bernhard mit gewohnt säuerlicher Miene aus dem Cockpit geschlängelt und reichte ihnen wieder einmal einen seiner sagenumwobenen Zettel. Schweren Herzens und mit dem Wissen, dass sie wohl wieder einmal Elis Dechiffrierungsgabe benötigen würden, steckte Cassy das Papier in ihre Tasche. »Diesmal läuft das Ganze etwas anders ab«, begann der ältere Mann mit rauer Stimme, während sein abstehendes Haar sich auf seinem Kopf wog wie das Maisfeld der Vihres und seine Augen hinter seiner dick beschlagenen Brille schon nicht mehr zu sehen war. Er klang ziemlich danach, als wäre er, wie sie selbst, gerade erst aufgewacht. »Ich bin eine Weile nicht mehr für euch da, die Waffe müsst ihr wieder selber abholen und auch der nächste Flug ist per Passagierflugzeug, alle weiteren Anweisungen erhaltet ihr von Jackbell. Ich stoße im nächsten Land dann wieder zu euch. Bevor ich es vergesse …« Er kramte vier Flugtickets aus seiner Mantelinnentasche, in der es – wie auch in Cassys Umhängetasche – einen unendlichen Negativraum geben musste, und drückte sie Eli in die Hand, der gerade freistand. »Das Datum und die Uhrzeit stehen drauf und es sollte ja nicht allzu lange dauern, Mister Okuis Prototypen abzuholen. Lindy und ich müssen wieder los, Jackbell hat seinen Zeitplan ein wenig umgekrempelt und wir haben noch einiges zu erledigen und vorzubereiten … das dient natürlich alles nur dazu, damit ihr schneller an die restlichen drei Finals herankommt und es weniger Komplikationen gibt. Noch irgendwelche Fragen?« »Wie lange bleiben wir hier?«, sprudelte es aus Haruki heraus, der sich ziemlich schwer damit tat, nicht allzu hoffnungsvoll zu klingen, so als wäre er womöglich gerne zuhause. Bernhard gab ein kehliges Knurren von sich. »Zwei, drei Tage, ich weiß nicht genau, achtet einfach auf die Daten auf den Tickets. Wenn es sonst nichts mehr gibt, macht euch aus dem Staub, die Mechaniker kommen.« Die Vorhersage traf ein und die Maschine wurde, kaum waren seine Worte ausgesprochen, auch schon von allen Seiten inspiziert. Wäre Bernhard so stehengeblieben und hätte sich nicht bewegt, wäre vielleicht auch er auf Defekte und Makel geprüft worden, doch in diesem Moment trat auch Lindy zu ihnen und klopfte ihrem Copiloten brüderlich auf die Schulter. »Beweg dich schon, Bernie, wir haben noch zu tun. Lass die Kinder ihren Auftrag erledigen, die schaffen das schon.« Sie lachte herzhaft und Cassy begann plötzlich zu vermuten, dass sie und Bernhard vor langer Zeit einmal ein und dieselbe Person gewesen waren, die von einem mächtigen Zauberer in eine helle und eine dunkle Seite aufgespalten worden waren. Haru übernahm die Führung der Finals und weil er von allen die längsten Beine hatte, war es ziemlich mühevoll für den Rest ihm auch zu folgen ohne auf dem Flugplatz und anschließend in der überdachten Halle verloren zu gehen. Nach einem befriedigenden Blick auf seine neue Uhr stellte Haruki fest, dass es definitiv nicht fünf Uhr morgens war und wartete auf die nächstbeste Möglichkeit, auf Ortszeit umzustellen, die er auch schnell ausmachen konnte. Sechs Uhr abends, gerade der richtige Zeitpunkt für ein herrliches Dinner, doch er musste sich trotz gewaltigem Kohldampf zurückhalten. Noch waren sie nicht in Kawasaki, dafür musste zunächst ein Taxi gerufen werden. Das dürfte kein Problem sein, er erinnerte sich noch genau an diesen Flughafen, den Haneda Airport in Tokyo, erst vor ein paar Monaten war er selbst allein hier gewesen um seinen Flug nach Vancouver zu erwischen. Von hier waren es nur ein paar Kilometer bis in seine Heimatstadt und wenn sie erst einmal da waren, konnte er seinen Kameraden jeden seiner Lieblingsplätze zeigen und wenn er eigenes Geld dabei gehabt hätte, würde er auch allen großzügig die Spezialitäten seines Lieblingsrestaurants spendieren, so musste jedoch Jackbells Geld herhalten. Die Begeisterung des Ältesten schien nicht unbemerkt zu bleiben. »Ich wusste gar nicht, dass Haruki so enthusiastisch aussehen kann«, flüsterte Hasret atemlos in Cassys Richtung, welche nur angestrengt auflachte. »Ich bin auch erschüttert … immerhin kenne ich ihn von euch am längsten.« Zwei oder drei Tage länger als Eli, aber die hatten ausgereicht, um sich sicher zu sein, dass man dem Japaner sein Leben in die Hände legen konnte. »Wie ein Fisch im Wasser.« Eine halbe Stunde später, in der sie in einem Taxi nach Kawasaki gesessen hatten, standen sie vor einer Bank, in welche Haruki im Eiltempo hineinsprintete um schleunigst Jackbells Dollar in Yen umzutauschen, damit sie den Fahrer bezahlen konnten, der mehr oder weniger ungeduldig, aber ohne jegliche Beschwerden vor dem Gebäude wartete. Ganz so wie die drei ausländischen Finals, die wohl als kurzfristiger Pfand herhalten mussten. Sobald das geschafft war, Haru wieder zu ihnen stieß und Cassys übliche Trinkgeldspende mit übernahm, konnte es für ihn losgehen. Er nahm einen tiefen Atemzug, inhalierte den Sprühregen und spürte wie seine trockene Kehle wieder zum Leben erwachte, wie sie sich über die angenehmen Laute seiner Muttersprache freute. Es war schön wieder etwas anderes als Englisch zu sprechen, denn obwohl er es unheimlich gut beherrschte, Japanisch war noch einmal ein ganz anderes Gefühl auf der Zunge. Allerdings machte ihn das auch zum einzigen Final, der auf dieser Reise mit den Einheimischen sprechen konnte, denn die anderen verstanden offensichtlich kein Wort in diesem Land. »Eli, übersetz uns mal bitte den Hotelnamen …«, begann Cassy und wollte gerade den Zettel aus ihrer Hosentasche fummeln, als ihr ältester Teamkamerad mit einem drängenden Räuspern eine hastig abwinkende Geste machte. »Wollen wir nicht vielleicht vorher etwas essen? Ich kenne ein wirklich grandioses Restaurant in der Nähe, ich verspreche euch, ihr werdet begeistert sein!« »Tja, das hört sich doch nicht schlecht an«, stimmte Hasret höflich lächelnd zu und warf ihren beiden Kollegen einen kurzen Blick zu, doch auch Cassy und Eli schienen nichts dagegen zu haben. Gut, vielleicht war ›nichts‹ ein wenig zu radikal ausgedrückt, Elis Einstellung zu Fisch war bekannt und in der typisch japanischen Küche würde es mit Sicherheit eine Menge davon geben, aber nichts läge ihm ferner, als Haru das Herz zu brechen, also willigte auch er ein. Beinahe beschwingt führte er seine Reisegruppe durch die Innenstadt, wobei diese nicht umhin kam, ab und zu einfach stehenzubleiben um die Faszination der Stadt auf sich einwirken zu lassen. Hasret fühlte sich deutlich unwohl zwischen all den Gebäuden, Straßen und Autos, sie war endlose Weiten und eine Menge Himmel gewohnt, hier jedoch schien es, als stünden die Häuser und Läden im Konkurrenzkampf mit dem Horizont, wer den bestehenden Platz einnehmen durfte. Ähnlich ging es auch Cassy, die von den bunt leuchtenden Werbetafeln, unbekannten Schriftzeichen und der aufdringlichen Werbung an jeder Ecke vollkommen überrumpelt war. Ihre Gedanken rotierten nur so, doch sie hoffte innig, dass sich dieses Gefühl bald legen würde. Möglicherweise war es auch nur die Aufregung nach dem langen Flug. Eli hingegen war schier begeistert von Kawasaki und verspürte vor jedem neuen Geschäft einen großen Drang, hineinzugehen und sich mit Comics und dem dazugehörigen Merchandise einzudecken. Nach einem gewissen Fußmarsch durch die Straßen kamen die Finals letztendlich am Bestimmungsort an, einem gemütlichen, traditionell eingerichteten Restaurant in einer Seitengasse, in dem nicht allzu viel los war. Es war angenehm warm nach diesem ungemütlichen Wetter, die Stimmung war erhaben, überall an den Wänden befanden sich altertümliche Malereien von Sagenhelden und Märchen, wie Cassy schätzte, und sie bekamen einen Platz in einer besonders behaglichen kleinen Ecke. Als Haruki sich wie selbstverständlich eine Speisekarte nahm und nichts weiter sagte, blickten die Übriggebliebenen sich nur hilflos an und warfen ebenfalls ein Auge auf das laminierte Papier, doch klüger wurden sie dadurch nicht. Irgendwann traute Hasret sich, das Problem anzusprechen, dass sie leider überhaupt nichts lesen konnten, sodass Haru sich beschämt lachend entschuldigte und gleich darauf seine Empfehlungen aussprach. Er schien tatsächlich so aufgeregt, dass er ganz vergessen hatten, dass das für ihn selbstverständliche Alphabet für die anderen nur wie ein verschnörkeltes Durcheinander aussehen musste. Wie zu erwarten war bestellte sich der Älteste eine Portion seines Lieblingssushi, die Spezialität des Hauses, Cassy schloss sich ihm an, Hasret gab sich mit Miso-Suppe zufrieden und Eli probierte eine Nudelsuppe. Er hatte einige Mühe damit, die Stäbchen zu bedienen und kämpfte mit jeder einzelnen Nudel, sein Sitzplatz verwandelte sich mit jeder Minute mehr in ein Schlachtfeld, während Cassy sich beinahe schon mit dem rohen Fisch im Seetangmantel anfreunden konnte. Die heimische Küche war ganz ausgezeichnet und schmeckte vor allem Eli besser als dieser zunächst angenommen hatte, und sättigte sie für den Abend voll und ganz. Dazu kam noch, dass ihr japanischer Teamkamerad ein guter Lehrer war, was die Essgewohnheiten und richtige Bedienung des Bestecks anbelangte, geduldig und dennoch unmissverständlich. »Und, wie gefällt es euch bisher?«, fragte Haru irgendwann ohne jeglichen Kontext und schaute neugierig in die Runde, versuchte, ganz genau die Gesichter der anderen zu lesen, sodass diese es nicht wagten, ein negatives Wort über Kawasaki zu verlieren. Sein kindliches Strahlen war wirklich ungewohnt, aber es stand ihm nicht schlecht. »Also, das Essen ist gut«, begann Eli mit einer Antwort, die hoffentlich danach von den Mädchen weitergeführt werden würde, während er möglichst diskret eine Nudel mit spitzen Fingern vom Unterteller fischte und sie zurück in die Schüssel beförderte. Fast schon flehend schielte er aus dem Augenwinkel zu Cassy und Hasret, doch die tauschten nur ihre eigenen Blicke aus und mussten milde lachen. »Es ist nichts für mich«, gestand die Texanerin schließlich mit einem entschuldigenden Blinzeln. »Ich meine die Stadtatmosphäre. Aber es ist wirklich motivierend zu sehen, wie glücklich du bist!« Haruki schien plötzlich seine ganze Fassung zu verlieren, presste die Lippen aufeinander und katapultierte ein Sushiröllchen in seinen Mund, um die Zeit zu schinden, die er sich soeben selbst eingebrockt hatte. Dabei wurden sogar seine kantigen Wangen ein wenig rosa. Jetzt konnte auch Eli sich ein breites Grinsen nicht mehr verkneifen. »Aber dafür musst du dich doch nicht schämen, Haru!«, neckte der Jüngste ihn mit säuselndem Ton und piekte dessen Oberarm mit der Rückseite seiner Stäbchen. »Du bist von uns allen schon am längsten von zuhause weg, es ist nur natürlich, dass du dich freust wieder hier zu sein«, beschwichtigte auch Cassandra ihn mit weicher Miene. Langsam hatte der Älteste den Dreh raus, wie er sich wieder in eine lässige, distanzierte und respekteinflößende Person verwandeln konnte. Er schluckte das letzte Stückchen Seetang herunter und räusperte sich. Seine Miene war wieder abgekühlt. »Langsam wird es spät. Lass doch mal Bernhards Zettel sehen, Cassy«, bat er anschließend in seiner vollkommen ruhigen und gewohnt tiefen Stimme, woraufhin die Kanadierin ihm – noch immer mit einem Schmunzeln auf den Lippen – seinen Wunsch erfüllte. Haruki nahm ihr das Papier ab und tat so, als könnte er die bestürzende Handschrift ihres Mentor lesen, doch selbst wenn das Chaos auf seiner Sprache sein sollte, so half ihm das auch kein bisschen. »Ich übernehme das.« Elis Tonlage war hart und stockernst, er bemühte sich, wie ein Geheimagent mit einem glasklaren Ziel zu wirken, hatte jedoch dieses Mal auch Probleme damit, das Gekrakel zu entschlüsseln, da er nicht sicher war, ob es die Worte auch tatsächlich gab, die er zu sehen glaubte. »Yamasaki Inn?«, las er mit einem Fragezeichen auf der Zunge vor und ließ die Augen dabei fragend zu Haru schweifen, welcher zu seiner Erleichterung jedoch wissend nickte. »Ich weiß, wo das ist. Wir können sogar zu Fuß hin, wenn ihr nichts gegen ein paar Schritte im Regen habt.« Grundsätzlich hatten sie das nicht, aber wenn sie neben ihren Tisch blickten, wo sich die vier Koffer türmten, dann sah das mit der Motivation schon ein wenig anders aus. Trotz der unliebsamen Schlepperei fassten sie jedoch den Entschluss, dass es vermutlich länger dauern würde, auf ein Taxi zu warten, und immerhin konnten sie ja auch schon wieder ins Bett, wenn sie erst einmal angekommen waren. Der Regen war stärker geworden und obwohl die Temperatur wohl kaum noch mehr gesunken sein konnte, fühlte sich die Luft schon richtig eisig an. Ihre Koffer wechselten alle paar Minute die Hände, wenn sie zu schwer wurden, und eigentlich war Haruki der Einzige, der wirklich einen Weg einschlug und zielgerichtet ging, der Rest der Finals folgte ihm nur wie eine Schar Entenküken, die die Trockenheit des Nestes suchten. Aus den versprochenen paar Schritten wurden ein, zwei Kilometer und Hasret hatte irgendwann so viel nasses, schweres Haar im Gesicht, dass ihr nichts anderes mehr übrigblieb als beim Laufen auf den Boden zu starren. Endlich in der warmen, hell erleuchteten Lobby angekommen, stellte Cassy für einen kleinen Moment ihr Gepäck ab, drückte die Wirbelsäule durch und strich sich stöhnend über die Schultern, während der älteste Final an der Rezeption nach den Zimmern fragte, die auf den Namen ›Jackbell‹ reserviert waren. Ihre Umhängetasche war zwar nicht besonders prall gefüllt, aber so lange ein Gewicht an derselben Stelle zu tragen wirkte sich irgendwann doch auf die Gelenke aus. Viel Zeit zum Ausruhen hatte sie jedoch nicht, denn Haru klimperte schon wenige Minuten später mit zwei Schlüsseln in seiner Hand und machte eine Kopfbewegung in Richtung Lift. Ein Glück gab es wenigstens so etwas hier … Kaum im zweiten Stockwerk eingetroffen, blieb der Final plötzlich mitten im Gang stehen und die anderen stießen beinahe gegen Harus Rücken, als dieser ohne Vorwarnung seine Schritte unterbrochen hatte. »Wir haben zwei Zimmer für jeweils zwei Leute. Wie möchtet ihr euch aufteilen?« Diese Frage überforderte die Mannschaft völlig. Verwirrt und mit größtenteils offenen Mündern tauschten sie Blicke aus, man hörte geräuschvolles Einatmen, als wollte jemand etwas sagen, aber schließlich wagte es dann doch niemand einen Vorschlag zu machen. Der Jetlag hatte etwas verspätet, aber dafür besonders erbarmungslos zugeschlagen. »Alles klar …«, seufzte Haruki letztendlich resignierend und strich sich mit der freien Hand durch die nassen Haare. »Ich gehe mit Hasret, Eli mit Cassy. Ist das in Ordnung?« Natürlich hatte niemand etwas einzuwenden, was durch ein gemeinschaftliches Schulterzucken und lustloses Nicken unterstrichen wurde. »Das ist bestimmt auch keine schlechte Möglichkeit, um uns untereinander besser kennenzulernen. Ich meine, wir hängen wahrscheinlich noch eine ganze Weile lang zusammen …« Als Cassy die Schlüssel in die Hand gedrückt bekam, schien sie plötzlich doch aus ihrer Lethargie zu erwachen und blinzelte irritiert, als wäre sie gerade ziemlich grob geweckt worden. »Sollen wir zum Frühstück eine Uhrzeit ausmachen? Dann treffen wir uns morgen im Restaurant und können danach gleich den Tag planen.« Hasret nickte müde. »Das klingt gut. Wie wär’s mit neun?« Das Vorgehen war beschlossene Sache. Die Finals wünschten sich noch eine gute Nacht, dann verschwanden Haruki und Hasret in Zimmer 139 und Cassy und Eli in der 140. Mit einem langgezogenen Stöhnen schob die Kanadierin ihren Koffer vor den Schrank und streifte dann mit minimalem Aufwand ihre Schuhe von den Hacken. Das Gepäckstück auch noch auszuleeren würde sich für die zwei oder drei Tage, die sie hier verbringen würden, nicht lohnen. Andererseits war sie selbst jetzt schon eine Woche unterwegs … der Koffer war zwar kompakt, doch es passte eine ganze Menge hinein und an den letzten beiden Stationen ihrer Reise hatte sie ordentlich geschwitzt, ganz zu schweigen von den miefenden Klamotten, die sie in der Kanalisation ruiniert hatten. Morgen würde sie Haru fragen, ob es hier irgendwo einen Waschsalon gab. Eli verschwand mit einem kleinen Wäschehaufen unter dem Arm wortlos im Bad und kam eine halbe Stunde später frisch geduscht und umgezogen wieder heraus. Ein breites, entrücktes Lächeln lag auf seinen blassen Lippen und er machte einen tiefen Atemzug. »Das hauseigene Shampoo riecht … woah … probier es.« Cassy hatte sich auf das Doppelbett gesetzt, ihr ausgewähltes Nachtgewand auf ihrem Schoß liegen und betrachtete ihren Partner und Zimmergenossen eingehend. Sie würde mit ihrem breiten Hintern vielleicht mehr Platz wegnehmen, aber Eli war ein schmales Klappergerüst, das mit ein paar Zentimetern Matratze auskommen würde, zumindest hoffte sie das für ihn. Wieso hatte sich dieser Satz so angehört, als ob er das Zeug getrunken hätte? »Davon will ich mich auch überzeugen«, murmelte sie erschöpft und trat an seiner Stelle in das neblige Bad. Der Spiegel und die Fliesen waren beschlagen und die Luft war warm und reinigte ihre Atemwege. Als Cassy die Kleidung abstreifte, blieb sie noch ein paar Momente so in der feuchten Wärme stehen und tat so, als stünde sie in einer Sauna, dann huschte auch sie unter die Dusche. Eli sollte recht behalten, die Luft duftete nach Hibiskusblüten und Honig und das schaumige rosa Zeug, das dafür verantwortlich war, verlieh auch ihren Haaren diese Note. Sie fühlte sich fast wie in einer Haarpflegewerbung, in der ein Model mit glänzender Wellenmähne in Zeitlupe den Kopf in den Nacken warf. Ästhetisch. Jetzt überkam sie die Erschöpfung endgültig von allen Seiten, Cassys Lider wurden immer schwerer, der süße, heiße Dampf um sie herum lullte sie zusätzlich ein und existenzielle Gedanken fluteten ihr Gehirn. Was mochten die drei unwissenden Finals wohl gerade tun, die sie noch nicht aufgesammelt hatten, wo waren sie und woran dachten sie gerade? Wo mochte Jackbell sitzen, woher wusste er all die Dinge, die er wusste, und wie war es ihm möglich, ihre Umgebung jedes Mal so gezielt zu manipulieren, dass sie problemlos mitten im Schuljahr verschwinden konnten, ohne dass es jemanden störte? Wie mochten Eli und Hasret ihre Abreise wirklich überstanden haben, vermissten sie ihre Familien schon? Welches Land würden sie als nächstes bereisen und was geschah, wenn alle Teammitglieder beisammen waren? Wer war dieser Original, von dem Bernhard gesprochen hatte, was hatte er vor und wie sollten sie ihn finden? Alles was sie bisher erlebt hatte kam ihr mit einem Mal wie ein Traum vor, der viel zu lange dauerte und einfach keine ihrer Fragen beantwortete. Nur mit Mühe schaffte Cassy es sich fertig zu duschen, die Haare zu trocknen und ein T-Shirt überzustreifen, woraufhin sie wie eine Schnecke aus dem Bad schlurfte und todmüde aufs Bett fiel. Eli, der bereits darauf gelegen hatte, wurde ein paar Zentimeter in die Luft und dann an den Rand katapultiert, wenn auch nicht von ihr getroffen. Die Matratze war weich und man konnte darin versinken, und das half ihr nicht unbedingt beim Wachbleiben. »Du willst wahrscheinlich schlafen, oder?«, analysierte der Rotschopf mit einem ganz kleinen Bisschen Enttäuschung in der Stimme, als Cassy sich langsam in eine einfachere Schlafposition quälte und unter der Decke verschwand. Jetzt noch ein längeres Gespräch mit ihm zu führen, dazu hatte sie tatsächlich im Augenblick wenig Lust. »Eigentlich schon.« Das ›Eigentlich‹ ließ Raum für Diskussionen, die sie gar nicht führen wollte und umgehend bereute sie es, das Wort verwendet zu haben. »Haru ist schon süß, wenn er sich so freut«, begann Eli schließlich doch eine Unterhaltung in fast schon beschämt leisem Ton, als fürchtete er, der erwähnte Haru könnte ihn vielleicht hören. Cassy musste müde schmunzeln und ein wohliges, warmes Gefühl strömte von ihrer Körpermitte aus, als sie sich noch tiefer in die Kissen sinken ließ. »Da muss ich dir wohl recht geben«, seufzte sie und zog ihre Decke höher. »Und wie er erst Luftsprünge machen wird, wenn wir seine Waffe finden … auf einmal ist er ein ganz anderer Mensch.« »Er ist so cool, oder?« Eli war plötzlich wieder so energiegeladen, dass er beinahe aufsprang. »Wie er sich als Tourist ausgegeben und völlig zum Affen gemacht hat um mir aus der Klemme zu helfen, als er sich für seine Ausraster entschuldigt hat und man gesehen hat, dass es ihm wirklich leid tat … Haru ist so ein richtiger Anführer. Wir können froh sein, dass wir ihn haben.« Cassandra nickte abwesend. Es war angenehm zu wissen, dass sie nicht die Einzige war, die Haruki für so einen Helden hielt, doch wie Eli ihn anhimmelte, das war wirklich herzerwärmend. Jetzt wo er längere Zeit ohne seinen Vater auskommen musste, konnte er ein männliches Vorbild sicherlich gut gebrauchen. Ob Haru wohl ein guter Vater wäre? Streng, aber liebevoll, mit Sicherheit. Eli brabbelte noch eine Weile lang und Cassy hatte sich kurzerhand dazu entschlossen, nur noch ab und zu mitfühlend zu nicken, sodass dem Amerikaner erst nach einer ganzen Zeit auffiel, dass sie eingeschlafen war. Auch Haruki und Hasret hatten eine Dusche genommen und sich danach in ihren Betten breitgemacht, die im Gegensatz zu den Schlafstätten ihrer Teamkameraden einzeln daherkamen. Nur noch die Nachttischlampen waren eingeschaltet, warfen helle Flecken an die weißen Wände, sowie den bedrohlichen Schatten von Hasrets in die Luft gestreckten Beinen. Die Texanerin lag auf dem Bauch, das Kinn auf ihre Hände gestützt und lächelte ihren Partner amüsiert an. »Ich dachte, ich platze gleich«, beendete Haru seine Geschichte mit einer resignierenden Handbewegung und schüttelte den Kopf. »Und als dann auch noch Eli plötzlich aufgesprungen und in die Dunkelheit gelaufen ist, dachte ich, es ist vorbei. Zum Glück ist dein Vater so ein entspannter Typ, in seiner Nähe vergisst man gleich, dass man eigentlich sauer war. Ich hab mich sofort aufs Bett geworfen, als ich ins Zimmer gefunden habe. Tja, und das war eigentlich alles, was wir erlebt haben, bevor du dazugekommen bist.« Er nahm einen tiefen Atemzug und seine trockene Zunge machte dabei ein schmatzendes Geräusch, so viel am Stück zu reden war anstrengender als er in Erinnerung hatte, doch das war es wert gewesen. Hasret prustete los, als hätte sie das Lachen die letzten Minuten über zurückgehalten. »Tut mir leid, aber ich komme noch immer nicht über die Stewardess hinweg! Da wäre ich echt gerne dabei gewesen«, schmunzelte sie und wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. Die anderen Finals fühlten sich nach dieser Geschichte gleich viel vertrauter an, als würde sie sie schon länger kennen und nicht erst seit knapp einer Woche. Es war wirklich großes Glück gewesen, dass solche netten Menschen von nun an an ihrer Seite sein würden, sie kannte genügend Leute, mit denen sie einen Trip wie diesen im Leben nicht ausgehalten hätte. »Ganz ehrlich, manchmal liege ich nachts wegen dieser Frau wach und frage mich, ob sie vielleicht nur ein Traum war! Wenn Eli nicht live dabei gewesen wäre, ich weiß nicht, ob ich meinen gesunden Menschenverstand noch beweisen könnte.« Wieder musste sie lachen und vergrub am Ende das Gesicht im Bettlaken unter ihr. Die Dunkelheit war angenehmer in ihren Augen als sie angenommen hatte. Ihre erste Reise mit einem Flugzeug und sie hatte auch noch den Großteil davon geschlafen … gut, was hätte man sonst auch Großartiges tun sollen? Doch je länger sie sich nicht bewegte, desto mehr musste Hasret zugeben, dass sie sich mehr und mehr ausgelaugt fühlte und ihr Kopf und ihre Glieder zu schmerzen begannen. Wahrscheinlich war das nur ein Nebeneffekt des Fliegens. »Bin ich froh, dass ich morgen bis neun Uhr schlafen kann … angezogen ist man ja schnell und dann können wir gleich runtergehen. So spät bin ich seit Jahren nicht aufgestanden«, murmelte sie, nachdem sie ihr Gesicht wieder an die Luft gelassen hatte. Haruki machte große Augen. »Ernsthaft, seit Jahren? Wie lange schläfst du denn normalerweise?« »An Wochentagen steh ich um sechs auf um zur Schule zu gehen, und am Wochenende um fünf bis sechs, je nachdem, wie viel zu tun ist.« Hasret zuckte nur träge mit einer einzelnen Schulter, doch Haru sah wirklich betroffen aus. »Meine Güte, das klingt hart!«, brachte er anerkennend heraus. »Ihr habt echt eine ganze Menge zu tun, wie es aussieht. Wirklich erstaunlich, dass eure Familie das jeden Tag hinbekommt. Hast du keine freien Tage zwischendurch, wenn es was zu Feiern gibt oder so etwas?« »Na ja, ganz allein sind wir ja auch nicht, es gibt tolle Leute, die bei uns arbeiten und auf die man sich verlassen kann. Und meine Ferien bestehen meist darin, dass ich noch ein bisschen Extraarbeit übernehmen, wenn ich nicht zur Schule muss. Vor allem zur Erntezeit oder in der Feriensaison gibt’s eine Menge zu tun, oder wenn es einen neuen Stallmieter gibt.« So leichtfertig wie Hasret darüber sprach konnte Haru nur schlucken, wenn er sich vorstellte, wie viel es in so einem Hotel zu tun geben musste. Auch er hatte im letzten Jahr einiges aufgelastet bekommen, hatte sich eine Wohnung und einen Job suchen und mächtig für die Uni lernen müssen, da war oft nicht viel Zeit für Partys und Schlafen gewesen, und er war im Gegensatz zu vielen, die er kannte, schon ziemlich diszipliniert, aber Hasret hatte wirklich ordentlich zu schuften. Wenn sie ein kurzärmeliges Shirt trug, konnte man die harte Arbeit deutlich an ihren Armen sehen. »Aber denk jetzt nicht, mein Vater würde mich zwingen so viel zu übernehmen!«, fügte die Texanerin schnell hinzu. »Ganz im Gegenteil, er versucht ständig mich davon abzuhalten, damit ich stattdessen in einen Schulclub gehe oder Zeit für meine Freunde habe, aber es ist meine eigene Entscheidung. Es ist kein leichtes Leben, aber ich liebe es. Ich habe genug zu essen, ein Dach über dem Kopf und eine Familie, die mich liebt, da gibt es Menschen, die es viel schlimmer getroffen hat und ich bin dankbar, dass ich einen solchen Segen erfahren habe.« Haruki nickte langsam und respektvoll. Jemanden wie Hasret konnten sie auf ihrer Reise sicherlich gut gebrauchen, und dazu war sie auch noch so freundlich und herzensgut, dass man in ihrer Gegenwart einfach nicht anders konnte als zu lächeln. Aber dennoch betrübte ihn etwas. »Wenn ich das so höre, dann tut es mir echt leid, dass wir dich einfach so aus deinem Alltag gerissen haben … du hängst ja wirklich an deiner Heimat und man scheint dort ziemlich auf dich angewiesen zu sein. Stattdessen musst du jetzt mit uns durch die Welt gurken und dich mit Jackbells Anrufen rumschlagen …« Hasret lächelte beruhigend. »Ihr habt damit ja gar nichts zu tun, dir muss das nicht leidtun. Und wir müssen stets mit der Zukunft im Hinterkopf handeln, vielleicht erschwere ich meiner Familie gerade jetzt im Moment das Leben, aber wenn das alles vorbei ist, werden wir genügend Geld haben um uns nie mehr Sorgen um unser Land zu machen. Mein Vater wird einen sicheren Ruhestand genießen können, meine Brüder können studieren und ich vielleicht auch, mal sehen. Obwohl ich glaube, dass ich meinen Platz mit dem Hotel und den Pferden schon gefunden habe.« Mit einem Seufzen streckte sich der Final und krabbelte dann unter ihre Decke. Haruki hatte irgendwie keine Worte für all das. Er bewunderte Hasret für ihre Stärke und Einstellung, sie war so nobel, dass sie ihr altes Leben dafür aufgab, ihrer Familie die Tage zu erleichtern, und hatte auch noch eine Menge Vertrauen in ihren Auftraggeber. Er hingegen wollte nur selbst über die Runden kommen und gerade jetzt fiel ihm auf, dass er noch nicht ein einziges Mal an seine Eltern gedacht hatte, seit er zurück in Japan war. Die wohnten irgendwo hier und es konnte theoretisch geschehen, dass er ihnen morgen beim Einkaufen in der Stadt über den Weg lief. Er war ein unabhängiger Mensch, kein Einzelgänger, doch nach der Schule hatte er es gar nicht abwarten können, sich sein eigenes Leben aufzubauen, zu tun was er wollte, einen Job anzunehmen und vielleicht eines Tages eine Frau zu finden, mit der er eine Familie gründen könnte. Sein perfektes Leben bestand aus den klassischen Klischees, aber für ihn war dieser Gedanke Vollkommenheit. »Was ist mit dir?«, hörte er Hasret aus der Ferne fragen, als er zurück in die Wirklichkeit kam. Das Licht war ausgeschaltet, beide lagen unter ihren Decken und waren bereit, um von diesem Tag Abschied zu nehmen. »Wie ist deine Familie so?« »Ich wohne schon länger nicht mehr bei meinen Eltern«, antwortete Haruki, nachdem er eine Zeit lang überlegt hatte, wie er es ausformulieren sollte ohne herzlos zu wirken. »Ich hab mich schon damit abgefunden, unabhängig von ihnen zu sein und sie nicht so oft zu sehen. Meine Wohnung ist in Tokio, einige Kilometer weit weg von hier. Aber ich war nie so eng mit ihnen verbunden wie du mit deinem Vater, schätze ich.« »Ich glaube, das bin ich auch nicht«, kam es aus der Dunkelheit vom Fenster. Plötzlich war es so still im Zimmer, es wurde direkt unheimlich. »Abhängig, meine ich. Ich weiß zwar nicht, wie lange ich ohne meine Familie aushalte, bis ich Heimweh oder so bekomme … aber ich weiß, dass alles, was ich tue für sie ist. Ich kann es selber schaffen, wenn ich ein Ziel vor Augen habe. Sie sind diejenigen, die von mir abhängig sind.« Darauf wusste Haru keine Antwort. Sein Blick lag noch eine ganze Weile auf Hasret, stirnrunzelnd, bis er schließlich nur ein zustimmendes Brummen von sich gab und die Augen schloss. Er hatte keine Ahnung wie er das Gespräch weiterführen sollte und es schien ihm klüger es einfach zu beenden. Es war spät und morgen würden sie sich auf die Suche nach seiner Waffe machen … dafür musste er fit wie ein Turnschuh sein. ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Cassy hätte ruhig noch ein paar Stunden weiterschlafen können, doch ganz offensichtlich hatte Eli ein besseres Zeitgefühl als sie und weckte sie pünktlich um viertel vor neun. Er selbst war zu dieser Stunde schon frisch angezogen, gewaschen und grinste sie breit an. Kaum hatte die Kanadierin überhaupt die Möglichkeit bekommen, ihre Augen an das Licht zu gewöhnen und mit der Tatsache klarzukommen, dass sie nun aufstehen musste, da hatte sich ihr Zimmergenosse schon verabschiedet und war aus der Tür verschwunden. Schlaftrunken und mit zerknittertem Gesicht erhob sich der Vampir namens Cassy aus seinem Sarg und blieb ein paar Sekunden lang auf der Bettkante sitzen, bevor sie nach passender Kleidung suchen und sich die Müdigkeit aus dem Gesicht waschen konnte. Sie durfte doch nicht allzu spät eingeschlafen sein, ging es ihr durch den Kopf, aber wahrscheinlich musste sie einfach ein paar Minuten in der Welt der Lebenden verbringen um sich wieder daran zu gewöhnen. Eli war indessen ins Zimmer von Haruki und Hasret verschwunden, beziehungsweise hineingeplatzt, womit er den beiden einen ganz schönen Schrecken eingejagt hatte. Zum Glück waren die zwei Finals schon wach gewesen, doch Haru ließ es sich dennoch nicht nehmen, eine mahnende Standpauke zu halten, während Hasret im Hintergrund kicherte. Die beiden hatten offenbar ebenfalls gut geschlafen, die Texanerin war schon seit einigen Stunden wach, da ihre innere Uhr noch immer auf Arbeit und Schule eingestellt war, und hatte eine ganze Zeit lang tatenlos herumgelegen, was sie überhaupt nicht gewohnt war. Wenig später fanden die vier im Restaurant wieder zueinander und setzten sich gemeinsam an einen Tisch. Glücklicherweise war Haruki bei ihnen um der Kellnerin die Zimmernummern zu verraten und es entstanden keine peinlichen Situationen. Das Frühstück sah nicht nur wunderschön und bunt aus, es schmeckte auch wunderbar. Neben dem kontinentalen Standardangebot wie Brot und Butter, das auch jedem westlichen Besucher schmecken würde, fand sich eine Reihe von regionalen Köstlichkeiten wieder, die Haru begeistert genoss. Er wirkte so entrückt und verträumt, dass seine Teammitglieder sich währenddessen schon wieder kaum trauten etwas zu sagen und ihn womöglich aus seiner Fantasie zu reißen. »Was für ein Gefühl das heute morgen war, einfach mal nichts zu tun und im Bett liegen zu bleiben«, schwärmte Hasret mit einem Seufzen und biss schmunzelnd von einer Scheibe Brot ab. »Ist wirklich Ewigkeiten her.« »Ab und zu mussten wir auch schon früher aufstehen«, beschwerte sich Eli mit einem undeutlichen Murmeln und schielte aus dem Augenwinkel zu Haru und Cassy herüber, als wollte er sich bestätigen lassen. »Aber sicher nicht so früh wie Hasret«, kam es von Cassy. »Und dafür hatten wir auch immer einige Stunden wettgemachte Schlafzeit auf den Flügen.« »Apropos Flüge!«, riss sich Haru selbst aus seiner Frühstückstraumwelt und hatte sofort wieder in Sekundenschnelle ein ernstes Gesicht aufgesetzt. Mittlerweile konnte er damit aber keinen seiner Freunde mehr täuschen. »Ich hab vorhin mal einen Blick auf die Tickets von Bernhard geworfen. Wenn ich richtig gelesen habe, ist unsere nächste Haltestelle Russland und der Flug geht heute Nacht um vier. Das heißt also, heute schleunigst unsere Arbeit erledigen und dann früh ins Bett gehen.« Der Großteil der Finals stöhnte erschöpft auf. Jackbell schickte sie ganz schön herum, einen weiteren Tag hätte er ihnen ruhig noch gönnen dürfen … »Russland«, wiederholte Hasret mit einem sanften Lächeln auf den Lippen. »Das wird sicher kalt um diese Jahreszeit. Hoffentlich hat die Person, die unsere Koffer gepackt hat, auch an ein paar warme Pullover gedacht.« »Hat sie«, bestätigte Eli kurzerhand und dann, als er nur überraschte Blicke zugeworfen bekam, fügte er hinzu: »Ich hab zwischendurch mal ein bisschen drin rumgewühlt, mir war langweilig …« Cassandra verzerrte das Gesicht beim Gedanken an die Kälte, die sie in Russland begrüßen würde, sie war froh gewesen, aus ihrer Heimat vorerst an ein paar wärmere Orte geschickt worden zu sein, aber diese Zeit war wohl vorbei. Ab jetzt ging es nur noch bergab mit der Temperatur. Und wie musste sich das erst auf Eli und Hasret auswirken, die zwei lebten ja praktisch schon auf der Sonne. »Wo wir gerade von Koffern und Pullovern sprechen«, fiel der Kanadierin dann wieder ein und sie wandte sich an Haruki. »Gibt es hier in der Nähe zufällig einen Waschsalon oder so etwas? Wir haben mittlerweile alle, glaube ich, ein bisschen Schmutzwäsche angehäuft und wir beide haben auch noch immer unsere stinkenden Sachen von letzter Woche …« Der Japaner nickte langsam. »Du hast recht, keine schlechte Idee. Es gibt einen ein paar Straßen weiter. Sollen wir jemanden bestimmen, der den Haushalt für uns erledigt?« Er schmunzelte. »Ganz alleine als Amerikaner in Kawasaki?« Eli kniff ein Auge zu und zog eine unglückliche Grimasse. »Andererseits, wenn du gehst, können wir indessen auch nirgendwo hin.« »Immerhin müssen wir niemanden mehr suchen«, merkte Cassy mit bedeckter Stimme an. »Das wäre ja ein schöner Mist gewesen, wenn wir mit unserem Englisch noch einen Japaner hätten auftreiben müssen …« »Ich versuche mich zu beeilen«, versprach Haruki. »Bleibt währenddessen einfach im Zimmer und lasst euch von Jackbell die nächsten Anweisungen geben, seht auf Bernhards Zettel nach, oder was auch immer. Vielleicht gibt es an der Rezeption ja Stadtpläne, dann könnt ihr euch schon mal schlau machen, wohin wir später müssen.« Mit dem Plan waren alle soweit einverstanden und nachdem das Frühstück verspeist war, Haru sämtliche schmutzige Wäsche in die Hand gedrückt bekommen hatte und verschwunden war, sammelten sich die restlichen Finals in Zimmer 140 um das Vorgehen zu planen. Cassy fischte das Handy aus ihrer Tasche und starrte es eine Zeit lang tatenlos an. »Hasret, möchtest du vielleicht mal …?«, fragte sie nach einer Zeit und wandte sich mit zerknautschter Miene an ihre Partnerin, ihre schwarzen Pupillen waren um ein paar Größen geschrumpft, doch Hasret nickte nur grinsend und nahm bereitwillig die Last von Cassys Schultern. Vielleicht würde es sich ja anfühlen, als wäre sie der Präsident, der einen höchst geheimen Auftrag ausführen lassen musste. »Jackbell, wir sind bereit für die nächste Aufgabe!«, grüßte sie ihren Auftraggeber voller Elan und erhielt als Antwort vorerst nur ein bescheidenes Husten. »Miss Vihre, Sie habe ich ja nicht erwartet«, kam ein paar Sekunden darauf die Entgegnung. Auch Jackbell klang beinahe gutgelaunt, obwohl man ihm das nie so richtig anmerken konnte, er war immerhin eine frei schwebende Stimme im Orbit. »Natürlich, die nächste Waffe, Mister Okui … Sie werden sie wie auch zuvor bei einer Privatperson der Stadt abholen können. Der Name der Aufbewahrerin ist Kaori Fujiwara, sie wohnt nicht weit von Ihrem Hotel entfernt und Sie sollten zu Fuß ganz einfach hinkommen. Die Adresse sollte Bernhard Ihnen eigentlich gegeben haben, oder irre ich mich da?« Hasret drehte den Kopf hastig hinter sich und suchte Antwort bei ihren Teamkameraden. Eli, der den besagten Zettel bereits in der Hand hielt, nickte bestätigend. Ganz sicher war er sich zwar nicht, ob er die Buchstaben richtig entziffert hatte, aber Haru würden ihnen später sicher dabei helfen können. »Ja, wir haben die Adresse«, stellte sie klar. »Irgendetwas, was wir beachten müssen? In Rhodesville musste Bernhard eine Sicherheitsfrage beantworten, damit wir die Waffe bekommen haben. Das soll eine Anweisung von Ihnen gewesen sein, die selbst Bernhard nicht kannte, wenn es dieses Mal also wieder so etwas gibt, wäre es vielleicht besser, uns die Antwort jetzt zu verraten.« Jackbell hustete einsichtig. »Ja richtig, das hätte ich beinahe vergessen, gut dass Sie fragen. Halten Sie etwas zum Schreiben bereit.« Eli im Hintergrund hatte schon Kugelschreiber und Notizbuch zur Hand und wartete mit ausgestrecktem Hals auf die Antwort wie ein Vogelküken auf sein Mittagessen. »Die Antwort lautet ›Henrietta‹. Nicht allzu lang.« »Henrietta«, wiederholte Hasret, damit ihr Partner das Wort auch mitschreiben konnte. Sie war gespannt, auf welche Frage dies die Antwort war, wollte aber genauso wenig nachfragen. Sie würde es ja später sowieso erfahren. »Danke, ich glaube, das war alles.« Jackbell verabschiedete sich noch begleitet von einem letzten Husten, dann legte er auf und Hasret stieß einen langgezogenen Seufzer aus. »Mich würde interessieren, wieso er diese Sicherheitsfragen überhaupt so plötzlich eingeführt hat. Hat er vor irgendetwas Angst?« »Könnte wegen Bernadette Sparks aus Florida gewesen sein«, mutmaßte Cassy. »Dieser Einbruch hat ihn verständlicherweise aus dem Konzept gerissen und ich kann mir kaum vorstellen, wie das für jemanden sein muss, der sonst immer alles so perfekt durchplant. Da fällt mir ein, wir hätten auch noch mal nach der alten Frau fragen können …« »Bestimmt informiert er uns schon, wenn er was rausgefunden hat«, überlegte Eli laut und widerstand endgültig dem Drang, das Notizbuch durchzublättern um einen Blick auf den mysteriösen russischen Final zu werfen, indem er es zuklappte. Anschließend ließ er sich rücklings auf das Bett hinter sich fallen und betrachtete die Deckenlampe. Das Hotelzimmer war lange nicht so rustikal und gemütlich wie in Texas, aber auch nicht so luxuriös und pompös eingerichtet wie er erwartet hatte, es war ein einfacher, nüchterner Stil, aber ziemlich modern und designermäßig. »Ich frage mich, wie Harus Waffe aussehen wird. Was meint ihr, was würde zu ihm passen? Und wie wird das Ding heißen?«, murmelte der Rotschopf mit abwesendem Gesichtsausdruck und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Cassy und Hasret tauschten ein paar Blicke aus. »Keine Ahnung, vielleicht ein mächtiger Runenstab«, schmunzelte Cassandra, doch Eli hob den Kopf nur kurz und formte die Augen gekränkt zu Schlitzen. »Ich meine es ernst … der Bogen zum Beispiel passt meiner Meinung nach perfekt zu Hasret. Was ich mit meinen Waffen anfangen soll, das weiß ich noch nicht so recht, aber auf jeden Fall sehen sie cool aus. Haru ist groß und stark, ich wette, er könnte jemandem mit bloßen Händen die Arme ausreißen.« Hasret machte ein Geräusch, das halb erschrocken, halb lachend klang, und hielt sich die Hand vor den Mund. »Sicher könnte er das, aber dafür ist er viel zu nett.« »Er kann auch ganz schön wütend werden«, murmelte Cassy kaum hörbar, ihre Partnerin fuhr jedoch fort. »Vielleicht so etwas wie Schlagringe? Offenbar ist ja alles Mögliche dabei, und so etwas könnte er sicherlich gut bedienen.« »Hört sich super an! Wenn auch unkonventionell«, bestätigte Eli mit einem breiten Grinsen. »Die Planeten, die noch fehlen, sind … lass mal sehen … Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun und Pluto. Hm, Jupiter würde passen, oder? Er ist der Größte von uns und so etwas wie der Anführer, darauf haben wir uns wohl alle geeinigt.« »Du weißt eine ganze Menge Zeug, Eli«, fiel Hasret auf und sie lächelte anerkennend. »Mal sehen, ob sich deine Vorhersehungen bestätigen.« »Pluto ist doch der Hund von Mickey Maus …«, war schon der zweite abwesende Kommentar von Cassy in diesem Gespräch und dieses Mal musste Hasret laut auflachen. Der passiv-aggressive Humor und die stets beschämte und irgendwie zurückhaltende Art des blauhaarigen Mädchens machten sie ihr mit jedem Tag sympathischer. Sie versuchte immer, wie eine Mutter an der Seite von Gruppenvater Haruki – oder Göttervater, wie Eli sagen würde – zu wirken, doch sie verlor stattdessen immer wieder selbst den Boden unter den Füßen, ohne dass es dabei schlimm wäre. Hasret hatte ihre neuen Partner wirklich schon lieb gewonnen, und Cassy mochte sie ganz besonders. Vielleicht, weil sie die einzigen Mädchen bisher waren, vielleicht auch, weil es so viel Spaß machte, sich mit ihr zu unterhalten. Einige Zeit später kehrte auch Haruki zu ihnen zurück, in den Armen eine Tüte voll frisch gewaschener und gut duftender Kleidung, die er wie der Nikolaus unter seinen Freunden verteilte. Kurz darauf wurde ihm von dem Gespräch mit Jackbell und den dabei entstandenen Erkenntnissen berichtet. »Kaori Fujiwara, das sagt mir irgendwas … ich glaube, ich war mit ihr auf der Schule«, überlegte er und warf einen Blick auf den hilfreichen Zettel, doch ohne Elis Hilfe konnte er darauf nur Kauderwelsch erkennen. Der Amerikaner kam ihm gleich darauf zur Hilfe und ließ sich die Worte bestätigen, die er schon eifrig übersetzt hatte. »Das überrascht mich ehrlich gesagt nicht«, murmelte Cassandra stirnrunzelnd und verschränkte die Arme. »Bisher hatte jeder der Aufbewahrer eine Verbindung mit dem zur Waffe gehörigen Final, wenn auch nur eine sehr lose. Ich kann mir gut vorstellen, dass Jackbell diese Leute gezielt aussucht, damit man vielleicht nicht so großes Misstrauen gegenüber dem anderen hat.« »Die Adresse ist hier um die Ecke«, fand Haru letztendlich mithilfe seines stolzen Partners heraus. »Auf alle Fälle können wir wieder zu Fuß hingehen.« »Dann lasst uns gleich los!« Hasret sprang voller Tatendrang auf und stand schon beinahe in der Zimmertür. »Ich hole unsere Jacken und dann, auf geht’s!« »Ich hoffe, die Waffe ist nicht so groß wie Terra, ansonsten könnte es schwierig werden, sie ohne Aufsehen zu erregen zurück zum Hotel zu bringen«, dachte Cassy laut nach, während sie sich feste Schuhe über die Füße streifte und nach ihrer Jacke griff. »Aber das hätte uns Jackbell ja gesagt, oder? Oder Bernhard wäre jetzt hier.« »Das glaube ich auch.« Haruki nickte zunächst, blieb dann aber abrupt in der Bewegung stehen und verzerrte stattdessen das Gesicht. »Andererseits hat Bernhard auch vergessen, was Terra überhaupt war, bis er den Bogen wieder gesehen hat.« »Dann hoffen wir eben auf das Beste. Was anderes bleibt uns wohl nicht übrig.« Kaum hatte Eli den Satz beendet, kam Hasret zurück ins Zimmer gestürmt und warf dem Japaner voller Enthusiasmus seine Jacke zu. Mit Cassys Umhängetasche im Schlepptau und abgeschlossenen Türen hinter sich marschierten die Finals die Treppe herunter in den Eingangsbereich und vor das Hotel, wo die gesamte Motivation plötzlich in feuchtem, kaltem Nieselregen ertränkt wurde. Das Wetter war kaum besser als am Abend zuvor, außer dass der Regen nicht mehr allzu stark war. Wie auch zuvor übernahm Haruki die Führung und dirigierte seine Teamkameraden, die wie Entenkinder hinter ihm her dackelten, durch alle möglichen Straßen. Dabei verlief er sich kurzfristig sogar einmal, was ihm aber niemand übel nahm, denn die verwirrenden Symbole auf den Straßenschildern hätten sie selbst nicht viel besser interpretieren können. Immer noch hatte Eli große Lust, sich in dieser Stadt einem Kaufrausch hinzugeben, etwas zu Lesen zu besorgen wäre bestimmt auch keine dumme Idee, wenn man bedachte, wie oft sie noch mit dem Flugzeug unterwegs sein würden. Das Problem war nur, dass er kein Japanisch verstand, und schon gar nicht lesen konnte. Ganz im Gegensatz zu Bernhards Handschrift. Und alles andere würde vermutlich lange nicht zum Einsatz kommen, wenn die nachfolgenden Monate tatsächlich so stressig werden würden wie Jackbell es ihnen versprochen hatte. Vielleicht konnte er ja mit dem verdienten Geld eines Tages wieder nach Japan fliegen und Haru besuchen, wenn all das vorbei war, und nebenbei einen Großeinkauf hier oder in Tokio machen. Eli wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als die Gruppe vor einem Mehrfamilienhaus angekommen war. Es war hell gestrichen und sah eng aus, die Fenster standen dicht nebeneinander wie in einem Bus, schön konnte es sich hier nicht wohnen lassen, wie der erste Eindruck vermuten ließ. »Das muss es sein«, verkündete Haruki das Ende ihrer kurzen Reise und suchte die Klingelschilder nach dem entsprechenden Namen ab. Ein Knopfdruck und Abwarten, dann meldete sich aus der Gegensprechanlage eine männliche Stimme, die vermutlich nach dem Besucher fragte. Die Finals tauschten vielsagende Blicke aus, sollte hier nicht eine Frau wohnen? Nun ja, immerhin war irgendwer zuhause und offenbar stand die Wohnung auch nicht verwüstet leer. Haru hatte sich indessen an einer Antwort versucht, mit der er wohl irgendwie erklärte, was sie hier wollten und nach einer Zeit erklang tatsächlich ein schrilles Geräusch, welches das Öffnen der Tür ankündigte. Auf dem Weg nach oben waren die Besucher jeder auf seine Art fasziniert davon, wie schnell und einfach es klang, wenn Haru Japanisch sprach, schon wenn er Englisch redete, war es erstaunlich fließend und akzentfrei, aber hier in Kawasaki war er voll in seinem Element. Cassy, Eli und Hasret waren so begeistert davon, dass sie sich nicht einmal fragten, was die Worte wohl zu bedeuten hatten. An der entsprechenden Tür angekommen öffnete ihnen ein junger Mann mit ziemlich verwirrtem Gesichtsausdruck. Er war um einiges kleiner und schmächtiger als Haruki und sah ziemlich eingeschüchtert von dessen Präsens aus. Der Bewohner stellte eine Frage, woraufhin ihr Anführer einen lockeren Wortschwall entfesselte, der überhaupt nicht gezwungen klang und eher so, als wäre das alles hier ganz selbstverständlich. Als Kaoris Name fiel, ging der Mann – wohl unwillkürlich – in eine Defensivhaltung, nickte aber langsam. Cassy schätzte, dass es sich bei Harus Gesprächspartner um den Freund der Gesuchten handelte, oder zumindest einen Freund oder Bruder, auf alle Fälle schien er sich von dem muskulösen Kerl, der nach seiner Mitbewohnerin fragte, eindeutig bedroht zu fühlen. Nicht ganz unverständlich, dachte sich Cassy. Irgendwann zwischen seinen Worten hatte der Mann auch einen Blick an Haruki vorbei auf seine Anhängsel geworfen, die er fast noch bestürzter beäugte. Sie sahen zwar nicht gerade wie die typischen Japaner aus, aber das war ja kein Grund gleich so angewidert dreinzublicken … Letztendlich, nach einer kurzen Diskussion, wurden sie doch hereingebeten und angehalten, im Flur zu warten. Tatsächlich war die Wohnung ziemlich klein und vier Leute auf einmal hatten kaum Platz im schmalen Durchgang, vor allem, weil etliche Paar Schuhe sich mit ihnen den Boden teilten. Mit einem Flüstern bedeutete Haruki seinen Freunden aus dem Westen, ihre Schuhe ebenfalls auszuziehen, was hier wohl zum guten Ton gehörte, wenn man jemanden besuchte. Eli war noch immer mit seinen Schnürsenkeln beschäftigt, da kam aus einem der Nebenräume eine junge Frau geschlichen, mit langem, glattem, schwarzem Haar, einer schmalen, gestreckten Figur und feinen Gesichtszügen. Mit angespannt gefalteten Händen und ihren braunen Augen blickte sie vorerst misstrauisch drein, schien Haruki aber dann zu erkennen und widmete ihm ein Lächeln und eine Begrüßung. Dieser erwiderte beides und stellte dann auch ohne Umschweife die restlichen Finals vor, die nur geknickt lächeln konnten. Nachdem Cassy mit einer vorsichtigen Verbeugung begonnen hatte, taten es auch Eli und Hasret ihr nach. Haru erklärte indessen den Grund ihres Besuches, zumindest wurde das vermutet, und Kaori schien zu verstehen worum es ging, auch wenn sie noch immer ein wenig ängstlich wirkte. Vielleicht war das ja auch einfach ihre Art. Gut, sie waren immerhin bei der richtigen Person angekommen, die halbe Miete war bezahlt. So langsam begann auch Harukis lässige Fassade zu bröckeln, er fing an zu schwitzen und verhaspelte sich ab und zu, schließlich musste er ganz alleine diese Aufgabe erledigen und konnte nicht auf die Hilfe der anderen hoffen. Kaori schluckte und setzte einen tapferen Blick auf. Haru hingegen drehte sich zu den anderen um und hielt sich, eher aus Gewohnheit, die Hand vor den Mund, damit sein Geflüster nicht belauscht werden konnte. »Sie weiß bescheid über Jackbell und den Koffer, den sie bekommen hat. Es gibt allerdings eine Sicherheitsfrage, die wir vorher beantworten müssen, um ranzukommen. Hat unser Anrufer da irgendetwas erwähnt?« Eli nickte hastig, das war sein Stichwort. »Die Antwort ist ›Henrietta‹!«, zischte er dem Japaner zuversichtlich zu und dieser schob die Augenbrauen zusammen, holte sich mit einem kurzen Blick an die Mädchen eine Bestätigung und wandte sich dann wieder der Aufbewahrerin zu. Sie schien nicht wirklich ein behagliches Gefühl dabei zu haben, den Koffer bei sich zuhause liegen zu haben und nun kamen ein riesiger Kerl und seine verrückt aussehende Truppe in ihre Wohnung und wollten das geheimnisvolle Gepäckstück abholen. Allerdings schien sie mit der Antwort auf die Sicherheitsfrage zufrieden zu sein und bedeutete Haruki mit einer zaghaften Handbewegung, ihm zu folgen. Die restlichen Finals wollten ebenfalls mitkommen, doch der Älteste hielt sie zurück. Er wollte die zerbrechliche junge Frau nicht noch mehr aufregen und die beiden verschwanden in einem der Zimmer. Kaoris Freund tauchte im selben Moment wieder im Türrahmen auf und musterte die übrige Gruppe mit einem höchstargwöhnischen Blick, als hätte er Angst, sie würden das Haus auf den Kopf stellen, sobald er sie aus den Augen ließ. Cassy, Eli und Hasret blieb wohl nichts anderes übrig, als stocksteif im Flur stehenzubleiben und zu hoffen, dass Haru bald zurückkehrte. Dieser stand mittlerweile im Schlafzimmer der beiden Bewohner, das gerade genug Platz für ein Doppelbett zu haben schien, und beobachtete Kaori dabei, wie sie zur Hälfte im Wandschrank steckte und in den Tiefen ihrer Kleidung nach etwas suchte. »Du siehst gut aus, Haruki«, hörte er sie irgendwann in seiner Sprache sagen und sie klang bei den Worten fast etwas traurig. »Ich hab gehört, du studierst in Tokio. Das muss schön sein …« »Es ist anstrengend«, murmelte Haru abwesend und versuchte, sich auf die Einrichtung des Zimmers zu konzentrieren. Dass er gerade auf geheimer Mission unterwegs war um eine gefährliche Waffe aus ihrem Schrank abzuholen, das verschwieg er lieber. »Tut mir leid, dass Satoru so unfreundlich ist, er vertraut selten Leuten, die er nicht kennt, vor allem, wenn sie nach mir suchen. Er ist ein bisschen besitzergreifend, das ist nicht immer einfach.« »Übel kann ich es ihm nicht nehmen. Ist er dein Freund?« Kaori lachte leise und streckte den Kopf wieder aus dem Schrank. Dieses Mal hatte sie einen schwarzen Aktenkoffer in der Hand, der den ersten beiden zum Verwechseln ähnlich sah. »Ja, ich hab ihn auf der Arbeit kennengelernt. Wir wohnen erst seit ein paar Monaten zusammen.« »Er scheint nett zu sein.« Kaori schüttelte mit einem beschämten Lächeln den Kopf, setzte sich aufs Bett und legte den Koffer auf ihren Schoß. »Was hat es mit diesem Koffer auf sich? Er kam mit der Post, begleitet von einem Anruf von einem Kerl, der wollte, dass ich ihn für viel Geld aufbewahre. Uns fehlt noch eine Menge Einrichtung und wir konnten es wirklich gebrauchen, also habe ich den Auftrag angenommen, ohne dass Satoru etwas davon wusste. Ich habe nicht gewusst, dass gerade du kommen würdest, um ihn zu holen.« Sie sah Haruki kurz an, wandten den Blick dann aber schnell wieder zum Koffer auf ihrem Schoß und eine dunkle Wolke erschien vor ihrer Stirn. »Es ist aber nichts Gefährliches darin, oder? Drogen oder Diebesgut … oder eine Bombe oder so etwas. Was sind das für Leute, die du mitgebracht hast? Ich will dir wirklich nicht misstrauen, aber ich bin einfach so verwirrt …« Mit einem sanften Lächeln, aber bestimmter Gestik nahm Haru den Koffer und bedachte Kaori mit einem beruhigenden Blick. Auch wenn sein neutrales Gesicht immer irgendwie angespannt aussah, schaffte er es manchmal, nicht wie ein Fels in der Brandung auszusehen. »Glaub mir, es ist nichts Gefährliches darin.« Was für eine Lüge, vermutlich. »Aber ich kann dir leider nicht sagen, was das Ganze zu bedeuten hat, zum einen, weil es eine Anweisung ist und zum anderen, weil ich mir selbst nicht ganz sicher bin. Ich weiß nur, dass du dir absolut keine Sorgen machen musst, ich bin sicher und du bist es auch. Danke, dass du darauf aufgepasst hast.« »Kannst du mir wirklich nicht sagen, was drin ist?« Sie klang alles andere als überzeugt von seinen Worten, ging aber nicht weiter darauf ein. Das war sein Glück. Haruki schüttelte bedauernd den Kopf und klemmte den Koffer unter den Arm. Er wollte am liebsten jetzt sofort hineinsehen, die Neugier auf seine Waffe war so brennend, aber er musste wohl oder übel warten, bis sie aus der Wohnung raus waren, ansonsten bestand die Gefahr, dass Kaori etwas mitbekam. Er bedankte sich stattdessen noch einmal eindringlich und beide verließen betreten schweigend den Raum. Draußen im Flur standen die noch immer eingefrorenen Finals unter dem strengen Blick von Satoru, der jedoch nachließ, als er seine Freundin und den mysteriösen, gutaussehenden Mann unversehrt aus dem Zimmer kommen sah. »Wir können gehen«, murmelte Haru seinen Freunden zu und zeigte auf den Koffer unter seinem Arm, woraufhin diese große Augen machten und selbst ein wenig ungeduldig wurden, die Schatztruhe zu öffnen. Schuhe wurden wieder angezogen, es wurde sich höflich verabschiedet und Kaori sah tatsächlich ein wenig betrübt aus, ließ es sich aber nicht zu sehr anmerken. Haru warf ihr noch einen letzten Blick zu, als sie wieder durch die Tür gingen und ein Stockwerk nach unten hasteten, bevor die Finals ihren Anführer dazu drängten, den Koffer zu öffnen, als sie in einer unbeobachteten Ecke standen. »Ihr ward mal zusammen, oder? Von wegen ›Ich glaube, die kenne ich‹.« Cassys Lächeln war enttarnend und hatte etwas Teuflisches. Haruki machte nur mehrere, nichtssagende Schulterbewegungen und verzog als Antwort das Gesicht in verschiedene Richtungen, während er am Zahlenschloss des Koffers herumhantierte. »War das so offensichtlich?« »Dafür muss man kein Japanisch können.« Obwohl für sie die Geschichte glasklar zu sein schien, waren Eli und Hasret völlig überrascht von dieser Enthüllung. Vielleicht mussten sie noch ein wenig an ihrer Auffassungsgabe schrauben. Letztendlich knackte Haru den Code und mit einem Klicken öffnete sich der Deckel des Aktenkoffers. Alle vier hielten die Luft an und beugten sich über die Offenbarung, um ja nichts von der neuen Waffe zu verpassen. Haruki entfernte noch rasch und mit wissendem Blick den falschen Boden, unter dem auch schon Venus und Mercury versteckt gewesen waren, bevor das Geheimnis gelüftet werden konnte. Es waren nicht nur eine, sondern sieben. Kurze, gerade Messer, behutsam nebeneinander platziert, mit heller, fast weißer Klinge, und die festen, handlichen Griffe waren, wie auch Cassys Venus, mit größter Vorsicht und Ordentlichkeit bemalt worden. Ein Morgenhimmel mit kleinen, schwarzen Vögeln und bauschigen Wolken war auf jedem einzelnen Dolch zu erkennen, auf allen sieben Griffen anders und jedes Mal voller Sorgfalt. Jemand hatte sich wirklich Mühe damit gegeben. Harus Augen strahlten förmlich, er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie die Messer im Kampf zu gebrauchen waren, wenn der Opponent eine Pistole besaß, aber ihre Schönheit raubte ihm buchstäblich den Atem. »Uranus«, las Eli mit leiser, enttäuschter Stimme von den Klingen vor. »Schade, falsch getippt …« »Die sehen echt toll aus«, bestätigte Hasret atemlos und konnte ebenso wenig wie Haru ihre Augen von den künstlerischen Messern nehmen. »Ich frage mich, wer sich so viel Mühe mit dem Design gegeben hat. Vielleicht ist Jackbell ja heimlich ein Künstler.« Sie musste bei dem Gedanken kichern, dass ein gesichtsloser, alter Mann in seiner Küche saß und summend bei einer Tasse Tee Keramikgeschirr bemalte. »Nicht ganz was ich mir vorgestellt hatte.« Haruki warf noch einen letzten Blick auf Uranus, dann schloss er den Koffer wieder und nahm den Griff lässig in die Hand, als würde er ganz gewöhnlich ein paar Akten und Papiere mit sich herumtragen. »Andererseits kann ich auch nicht sagen, was ich mir tatsächlich dabei erhofft habe. Vielleicht eine Bombe oder ein Scharfschützengewehr.« Er schmunzelte und trat den Weg nach unten an. »Also hätten wir das auch geschafft.« »Was mich noch interessiert«, begann Cassy, als sie wieder draußen auf der Straße standen und erleichtert bemerkten, dass der Regen aufgehört hatte. Die Luft begann allerdings nach Gewitter zu riechen. »Auf welche Frage war ›Henrietta‹ die Antwort? Muss ja irgendetwas mit Jackbells Leben zu tun gehabt haben.« »Ich vermute eher Schreibers Leben.« Haru sah sie nicht an und sein Blick galt eher der wertvollen Fracht in seiner Hand. »Die Frage lautete ›Wie war der Zweitname meiner Mutter, so wie mein Vater sie gerne nannte?‹« Die Gruppe beschloss Jackbells Empfehlung zu folgen und den Tag früh ausklingen zu lassen. In der Zwischenzeit zeigte Haruki seinen amerikanischen Freunden ein paar seiner Lieblingsplätze in der Stadt, seine alte Schule, seine Lieblingsgeschäfte, die Parks und ein paar weitere Sehenswürdigkeiten, bis es irgendwann wieder stärker zu regnen begann und sie gezwungen waren, ins Hotel zurückzukehren. Dort wurde am Abend noch einmal fürstlich gespeist – Haru genoss die letzte, gute Portion Sushi für die kommenden Monate – und die Koffer größtenteils gepackt, damit es in der Nacht leichter fiel, für den Flug aufzustehen. Der Auftraggeber wurde ebenfalls benachrichtigt, dass Uranus ohne Komplikationen gefunden worden waren und Jackbell erklärte sich bereit, um zwei Uhr anzurufen, um die Finals zur passenden Zeit zu wecken. Diese Nacht tauschten sie auch ihre Zimmergenossen aus, sodass Hasret in 140 bei Cassy einzog und Eli in der 139 bei Haruki. Die beiden Jungs philosophierten noch eine Weile über das Leben, die Welt und Harukis Exfreundin, von der er allerdings nun wirklich keine besonderen Geschichten erzählen wollte, und so begaben sie sich relativ schnell in Schlafposition, auch wenn es noch ziemlich früh war. Eli konnte lange Zeit nicht einschlafen, weil ihm so viel durch den Kopf ging, das bisher Erlebte, die Waffen, Jackbell, Bernhard und Lindy und all die Leute, die sie auf ihrer Reise noch treffen würden. Was mochte der Russe oder die Russin für ein Mensch sein? Es war jedes Mal so aufregend, wenn ein neuer Final hinzukam und erst einmal überzeugt werden musste sie zu begleiten. Wie konnte sich Jackbell so sicher sein, dass es immer wieder klappen würde, auch wenn es sich kompliziert gestaltete? Hatte er all das auch mit eingeplant, und wenn ja, wie bloß? Letztendlich war von Haruki nur noch ein Schnarchen zu hören, und auch Eli brach irgendwann mitten in seinem Gedankennetz ab und versank stattdessen in einem Traum voller Sushi und Maisfelder. In Cassys und Hasrets Zimmer hingegen herrschte noch eine Weile reger Betrieb und Gelächter lag in der Luft. Die beiden Finals verstanden sich bereits so gut, es wirkte fast wie ein Mädelsabend am Wochenende nach einer langen Schulwoche, wo man sich über alles mögliche lustig machen und tratschen konnte. »Ich war echt überrascht, dass Eli nicht mal ein kleines bisschen gekichert hat, als er den Name von Harus Waffe gesehen hat. Immerhin ist er ein Teenager.« Cassy grinste schelmisch und beobachtete in Hasrets Gesicht, wie sie langsam den Witz hinter der Sache verstand. Prompt begann sie selbst zu lachen. Dass sie selbst nur knapp zwei Jahre älter war, schien sie bewusst zu ignorieren, aber gut, immerhin war der Rotschopf keine eins fünfundsechzig groß, da konnte man sein tatsächliches Alter auch schon mal vergessen. »Daran hab ich erst gar nicht gedacht! Aber jetzt, wo du es erwähnst.« »Nein, das ist nicht witzig, nur kleine Jungs lachen über so etwas!« Mit gespielter Empörung rüttelte die Kanadierin an der Schulter ihrer Zimmergenossin, die aber nur noch weiterkichern musste. Ihr Lachen war so ansteckend und füllte einen mit zischend aufsprudelnder Wohligkeit, dass Cassy nicht anders konnte, als irgendwann mitzumachen. Ihre Mundwinkel hoben sich gegen ihren Willen. Sie war so gerne mit Hasret zusammen und es hatte sich wirklich gelohnt, dass sie so viel aufgebracht hatten um sie letztendlich zu überzeugen. Sie konnte sich kaum erklären, wie die Texanerin es fertig brachte, einem immer wieder mit ihrer bloßen Anwesendheit neuen Mut zu geben. »Man, das muss ganz schön unangenehm für Haru gewesen sein, als er Kaori heute wieder getroffen hat«, murmelte Hasret, als sie sich wieder beruhigt hatte und betrachtete ihre Hände auf der Decke, unter welcher der Rest von ihr verschwunden war. Sie waren lange nicht mehr so sauber gewesen und sie vermisste den Staub ein wenig. »Und dann musste er auch noch ihrem neuen Freund erklären, dass er sie allein sprechen muss. Bei jemandem der so gut aussieht wie er kann man da schon misstrauisch werden.« Cassys Gesicht entgleiste und sie musste schlucken. Die Unterhaltung hatte plötzlich eine rasante Wendung in die Richtung genommen, die sie normalerweise vermied, und das waren Gespräche über Jungs. Wer sah gut aus, wer war angesagt, wer hatte eine Freundin. Und dass Hasret Spaß an so etwas hatte, damit hätte sie nicht gerechnet. »Ja … schon.« »Aber er scheint mir nicht die Art von Mann zu sein, der anderen die Freundin ausspannt, auf jeden Fall nicht, wenn man ihn kennenlernt.« »Haru geht sehr respektvoll mit Frauen um!«, schoss es aus Cassy heraus, als wollte sie ihn vor bösen Worten verteidigen, die niemand ihm angehängt hatte. Hasret musste unwillkürlich schmunzeln. »Mich mit ihm durch die Kanalisation zu kämpfen war das Beste, was mir hätte passieren können. Äh, also, dass ich dabei ihn als Partner erwischt hab und niemand anderen. Und auch als wir später im Motel gelandet sind, hatte ich überhaupt keine Bedenken. Jemanden wie ihn findet man kein zweites Mal.« Das Grinsen auf Hasrets Gesicht wurde exponentiell breiter. »Bist du vielleicht verknallt oder so etwas?« Cassy schaffte es tatsächlich, nicht ein bisschen rot zu werden. Sie schüttelte nur nichtssagend den Kopf und wandte den Blick angestrengt nach vorn auf ihre Füße am anderen Ende des Bettes. Vielleicht war sie das ja tatsächlich. Aber nicht so, wie Hasret vielleicht glaubte. »Eli ist genauso süß«, wechselte ihre Zimmergenossin das Thema, als sie bemerkte, dass Cassy die Sache nicht so behagte. »Er versucht immer zu helfen und dafür, dass er so kopflos ist, hat er die Sache wirklich gut im Griff. Kein Gequengel und kein Babysitting, das hätte ich echt nicht erwartet!« Cassy hatte ebenfalls wieder ein Lächeln auf den Lippen, war aber noch nicht vollkommen von ihren Gedanken befreit. »Eli ist ganz schön tapfer für seine Verhältnisse. Er musste seinen Vater ganz alleine zurücklassen, ich glaube nicht, dass viele das geschafft hätten. Aber du kennst das ja selbst.« Mit einem Mal fühlte sie sich unglaublich verantwortlich für all die schweren Entscheidungen, die ihre Freunde bereits hatten treffen müssen. »Ich hab in meinem Leben schon so viele furchtbare Männer kennengelernt, die man alle in die Tonne treten konnte, aber die beiden sind wirklich anders. Ich glaube, wenn man Haru oder einen älteren Eli als Freund hätte, müsste man sich um nichts mehr Sorgen machen.« In Hasrets Brust machte ihr Herz einen Sprung und ihre sommersprossigen Wangen wurden noch dunkler. »Das glaube ich auch …« »Bei dir ist es dasselbe.« Der Satz war draußen. Cassy versuchte, so wenig wie möglich auf den überraschten Blick ihrer Zimmergenossin zu reagieren und keine Miene zu verziehen. »Ich spreche wahrscheinlich für alle, wenn ich gestehe, dass man mit dir als Freundin um nichts mehr Angst haben müsste. Du bist eine richtige Beschützerin und würdest einen verdammten Drachen töten, wenn er die Leute bedroht, die du liebst … davon gehe ich aus. Bei jemandem wie dir fühlt man sich einfach sicher.« Mit jedem Wort versank Cassy ein wenig mehr unter ihrer Decke und knipste am Ende des Satzes demonstrativ das Licht aus. So musste sie nicht mehr mit ansehen, wie Hasrets erstauntes Gesicht noch dunkler wurde. »D-danke … das hab ich gar nicht so eingeschätzt«, murmelte die Texanerin in die Dunkelheit hinein. »Das ist wirklich süß von dir …« »Schlaf gut, Has …« Cassandra hatte sich mit einem Ruck auf die Seite gedreht und die Decke bis zu den Ohren hochgezogen. Sie wollte nicht weiter nachdenken und bald würden sie wieder aufstehen und aufbrechen müssen. Alles was gesagt werden musste, war gesagt worden, und sie hatte eine große Last von ihrem Herzen geschubst. »Du auch, Cassy«, hörte sie nur noch gedämpft, aber sanft von der anderen Seite des Bettes und erst in diesem Augenblick fiel ihr auf, dass sie schon wieder einen Spitznamen vergeben hatte, ohne vorher gefragt zu haben. Es schien Hasret aber nicht zu stören, sonst hätte sie es erwähnt, oder? Mit einem wohligen Gefühl im Magen schloss auch diese die Augen und umklammerte ihr Kissen mit beiden Armen. Sie konnte nicht sagen warum, aber sie war so aufgeregt, das Land wieder zu verlassen und ein anderes zu besuchen, mit den anderen Finals, mit ihren Freunden. Den Menschen, die sie in so kurzer Zeit so lieb gewonnen hatte. Der Regen aus der Luft befand sich noch immer in den Lungen der Mädchen und ließ rasch sie innerhalb weniger Minuten einschlafen.
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Unnötige Meta-Facts: Kapitel 6
Dass Cassy und Hasret zu diesem Zeitpunkt die einzigen Mädchen bei den Finals sind und das auch noch offen ansprechen ist schon von Anfang an ein großer Schubs in Richtung ihrer Freundschaft gewesen und irgendwie fand ich es dann auch verdammt süß ... zumal es dann später noch richtige girly-sleepover-Szenen gibt, wo sie kichern und über Jungs reden und der ganze Müll. 8D Klischees sind gut und müssen sein.
Oh nein, ein Konflikt! O: Und dann auch noch einer, den ich tatsächlich erst in der neuen Fassung eingebaut habe, weil ... es ist einfach unrealistisch, dass alle so tralala mitkommen ohne etwas zu hinterfragen, und außerdem konnte ich auf diese Weise expositional Infos über Jackbell einstreuen. >:3c Dinge, die im Original zu kurz gekommen sind und außerdem lernt auf diese Weise auch die Leserschaft (alle beide) mit und vertraut dem Opa vielleicht ein bisschen mehr. Oder auch nicht, das liegt dann nicht mehr an mir ...
Außerdem: Die Babys schmusen!!! (-:
Die pingelige Liste™ lass ich heute auch mal weg, weil sie wieder relativ kurz ist und jetzt nicht so mega aufschlussreich ... Hasrets Büder kommen vor und der Bibliothekar und der racist Onkel und das war's dann auch eigentlich. :'D
Was hab ich gesagt? Cassys Hut findet noch Verwendung! Stell dir vor, dein geschmacksverirrter Kumpel beleidigt einfach deinen Hutgeschmackt ... the audacity. Ich wäre auch laut geworden. (Ich erinnere mich daran, dieses Kapitel an einem angenehm regnerischen Samstag geschrieben und stundenlang nach der accessability von Universitätsbibliotheken in Houston gegoogled zu haben ... ein wilder Ritt)
Oh boy, Zeit sich Titel für Physik-Arbeiten auszudenken und nichts zu wissen! (-: Die Metaphysik hat sich da eingeschlichen, weil ... Philosophie die einzige Wissenschaft ist, die ich beherrsche ok. Ich meine, in den Büchern kann ja auch sonst was drinstehen. 8DD Der alte Mann ist voll querfeldein gegangen mit seinen Naturwissenschaften, der wollte sich nicht festlegen. Jetzt stellt euch mal vor, wie kurz dieses Kapitel gewesen wäre, wenn die damals schon Smartphones gehabt hätten. 8DDDD In die Bibliothek gehen und nach einem Namen suchen ... wtf .... wohnen die im Mittelalter oder was altaa.
UPPS EIGENTLICH WOLLTE ICH ELI ERST SEHR VIEL SPÄTER OUTEN aber ich wollte unbedingt, dass diese Situation, in denen er Hasrets Brüder sieht und sich in diese wunderschönen Männer verknallt auch definitiv im Canon vorkommt, also ist es bei der letzten Überarbeitung plötzlich passiert! :'D Und wenn man so Heterosexually Oblivious™ ist wie Haru kann man die Sache ja auch noch als Witz verstehen, wenn man unbedingt will. (Spoiler: es ist toternst)
Die ganze Reitszene ist pure Nostalgie ... ich hab sie an einen meiner Reiturlaube an der Ostsee angelehnt, das waren wahrscheinlich die besten Tage meines Lebens ... :'D (okay das ist übertrieben, aber es war schon geil, ich war 12 und total gut drauf)
Jaaa, Elis Mais-History! Jaaa, Elis Motivation! Jaaa, Eli! :'D Ich hoffe, die ganze Maisgeschichte macht halbwegs Sinn, denn wie gesagt, ich wollte sie echt gerne drinlassen, aber mit mehr Hintergrund ... der bekloppte Junge, man. Ich muss dran denken, dass ich den Mais später nicht vergesse.
Wollt ihr wissen, was ursprüglich in der Cassy-haut-Haru-aus-Versehen-aufs-Maul-Szene passiert ist ... Eli meinte plötzlich so "SCHLAG MICH CASSY", weil er auch von Hasret betüdelt werden wollte und Cassy hat ihm eiskalt aufs Maul gegeben (sie war ja ~schlagfertig~, wir erinnern uns) und Hasret nur so "Haha du bist ja voll dumm (:" Das war so bescheuert, aber ... wenn ich näher darüber nachdenke, ist es irgendwie immer noch ziemlich passend für Eli. 8D Ich glaube, das einzige Problem war, dass er zu dieser Zeit einfach noch nicht sooo dicke mit allen ist, sowas Bescheuertes braucht immerhin seine Zeit.
Der Spitzname 'Zahnstocher' für Elis Waffe(l)n ist ein alter Insider und musste bestehen bleiben ... es sind sehr teure Zahnstocher.
Kleine super interessante Faktenstunde für heute: Die Namen der Aufbewahrer (klingt epischer als es ist) haben grob mit den Elementen zu tun, die mit den Waffen/Finals assoziiert sind! Bei Eli war es 'Sparks' für Elektrizität, bei Hasret 'Wood' für Vegetation/Pflanzen etc., und so weiter. Das hab ich mir schlau ausgedacht, was? 8D
Dieser mega #deepe Satz über schmerzvolle Sehnsucht am Ende ist auch mehr oder weniger exakt aus dem Original zitiert, weil .... er so schön war .... und weil 'Sehnsucht' ein wichtiges Hasret-Stichwort ist. :'D Das kommt aber später noch einmal vor.
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6. Kapitel: VERANTWORTUNG
Huhu, jetzt ist es wieder halbwegs konsistent, juchhu! :‘D (Man hat vielleicht gemerkt, dass ich immer versuche diesen Fick zwischen Freitag und Sonntag hochzuladen, das ist total genau und so) Allerdings hab ich mir überlegt, ob ich nach dem ersten Ark erst mal eine Pause einlegen soll (keine Angst, das sind noch 6 weitere Kapitel), weil ich dann an dem ganzen Dinge weiterarbeiten will. Es ist immerhin noch mittendrin, ich wollte einfach zwischendurch mal Validation, darum lad ich es gerade hoch. 8D Mal sehen. Das ganze Vorbereiten kostet auch eine Menge Zeit. Hier passieren ein Babykonflikt und Exposition. Eigentlich ist es ziemlich einfach runterzulesen, hatte ich den Eindruck, na ja. Das sehen wir dann. 8DD Ab hier kommen nur noch zweifach überarbeitete Versionen, nicht wie bisher dreifach. Das liegt daran, dass ich letzten Dezember Majo zu Weihnachten die ersten 6 Kapitel geschenkt hab und zu diesem Zweck eben noch mal extra drübergeschleckt habe … äh, gesehen. Ich hoffe, das zeigt sich nicht zu krass … (mit dem Sabber, der runterläuft) Word Count: 12,2k Warnings: racial slurs
»Ich versteh das alles nicht«, brachte Hasret nur betroffen hervor, als Cassy damit fertig war, ihr die Geschichte von Jackbells Fehler, dem verrückten Original und dem geheimen Programm zu berichten, in das sie eingetreten waren. Ein großer Teil von ihr glaubte dem blauhaarigen, höchst überforderten Mädchen aus Kanada zwar – sie machte wirklich alles andere als einen zu Späßen aufgelegten Eindruck –, der andere Teil jedoch wollte sich selbst packen und ordentlich durchrütteln, dafür, dass sie so einem Schwachsinn anfänglich Bedeutung beigemessen hatte. Hasret hatte zunächst versucht Cassy zu beruhigen, ihr gut zuzureden, so leid hatte sie ihr getan, und schließlich war die ganze Geschichte einfach aus ihr herausgesprudelt und obwohl Hasret ihren Ohren kaum zu trauen wagte, hatte sie brav zugehört und nichts eingeworfen. Doch jetzt wurde es ihr einfach zu viel. »Seid ihr so etwas wie … eine Sekte?«, fragte die Texanerin stockend und krallte dabei die Fingernägel gespannt in ihre Oberarme. Ihre Zähne knirschten unruhig aufeinander, doch ihr Blick wurde langsam wieder tapferer. »Ich meine, ich kann doch nicht einfach alles hier hinter mir lassen, um … bei so was mitzumachen. Oder?« »Eine Sekte, oh mein Gott, nein!« Cassy stellten sich die Nackenhaare auf, sie war nahezu bestürzt, als Sektenmitglied bezeichnet zu werden, aber gleichzeitig machte ihr diese Frage auch klar, wie wahnsinnig sie sich tatsächlich für andere Leute anhören musste und was für einen großen Fehler sie vermutlich begangen hatte. Ihre Chancen Hasret zu überzeugen standen zwar wieder ein wenig besser und insgesamt hatte sich die Situation glücklicherweise beruhigt, aber dadurch fühlte sie sich auch nicht mehr im Recht. Sie konnte ihr keinen Vorwurf machen. »Wir sind keine Sekte, wir beten niemanden an, wir sind nur … im Grunde wissen wir auch nicht, was wir hier tun. Wir bekommen Geld, das war bisher unser einziger Vorteil an der Sache. Aber das muss ja nicht bedeuten, dass nicht noch etwas kommen kann …« Cassy ritt sich selbst mit Pauken und Trompeten in die Scheiße. Je mehr sie versuchte zu argumentieren, desto mehr entglitt sie ihrer eigenen Position. »Aber was ist mit meiner Familie? Mein Vater, meine Brüder, was ist mit dem Hotel und den Pferden, was ist mit der Schule?« Hasret schüttelte abwesend den Kopf. »Selbst wenn ich euch Glauben schenken würde, und das versuche ich wirklich, ich kann doch nicht einfach abhauen ohne etwas zu sagen und alle allein zurücklassen! Meine Familie braucht mich.« Sie schluckte. »Ich habe Pflichten zu erfüllen. Könnt ihr euch nicht einfach … jemand anderes suchen? Wieso gerade ich? Ich habe überhaupt keine Erfahrung mit Waffen und mich bisher noch nicht einmal geprügelt. Ich weiß nicht, warum gerade ich auf eurer Liste stehe!« »Das wissen wir genauso wenig!«, entfuhr es Cassy beinahe verzweifelt, dann jedoch fing sie sich wieder und schnappte nach Luft. Es war in der vergangenen halben Stunde noch heißer geworden, ihr Gesicht brannte und sie musste sich immer wieder die klebrigen Haarsträhnen und den Schweiß von der Stirn wischen. »Das ist alles Jackbells Werk. Er hat uns die Liste gegeben, die Adressen und Hotels, die Waffen … es hat sicher irgendeinen Grund, warum ausgerechnet wir dafür ausgesucht wurden, aber da müssen wir ihn wohl oder übel selbst fragen.« »Ihr habt diesen Jackbell noch nie gesehen, nicht wahr?«, hakte Hasret ernst nach. »Woher wisst ihr, ob ihr ihm trauen könnt? Ihr habt keine Ahnung, ob er wirklich real ist, ob seine Geschichte stimmt, was, wenn er in Wirklichkeit der Kriminelle ist und euch da mit reinzieht? Das kommt mir alles so falsch vor. Wieso sollte man ein paar Kinder bei so etwas mitmachen lassen, wie alt ist Eli, vierzehn, fünfzehn? Tut mir leid, Cassy, aber das ist doch verrückt!« Dem konnte Cassy wohl nichts entgegenbringen. Sie selbst hatte sich die Frage heute Morgen gestellt und war zu keinem Ergebnis gekommen. »Wir haben tatsächlich keine Möglichkeit dazu uns zu vergewissern, Bernhard hat Haru und mich auch nur deswegen dazu bringen können, weil er uns genügend finanzielle Unterstützung für die nächsten Jahre versprochen hat … wir haben das Geld gebraucht. Und das muss Jackbell irgendwie gewusst haben.« Hasret sah sie lange und intensiv an, und ihr Blick war nur schwer erträglich, als wäre sie, Cassy, eine Verräterin an allen Idealen, die man nur haben konnte. Dann jedoch wurde die Stimme der Texanerin wieder weicher und klang eher besorgt. »Was ist denn mir dir? Wurdest du genauso aus deinem Leben gerissen? Was ist mit deiner Familie und deiner Schule?« Cassandra schluckte. Dann jedoch schlich sich endlich wieder ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht. »So ziemlich. Kurz nachdem ich Haru kennengelernt habe, mussten wir von der Party fliehen, auf der wir waren, weil ein Feuer ausgebrochen ist, und sind stundenlang durch die Kanalisation gewatet. So lange, bis wir einen Koffer mit einem Handy und einer Pistole gefunden haben, den ersten Anruf von Jackbell bekamen und daraufhin in einem Motel untergekommen sind, wo wir den ganzen folgenden Tag in Unterwäsche herumgehangen und gehungert haben. Das war ganz schön turbulent. Und meine Eltern habe ich erst ein paar Tage später anrufen dürfen, nachdem wir Eli schon in Florida aufgesammelt hatten. Jackbell hat sogar einen Privatjet, das muss man sich mal vorstellen … und was die Schule angeht … dieser Typ hat dafür alles vorbereitet und wird für jedes Problem irgendwie eine Lösung finden, oder zumindest eine Ausrede dafür, dass wir eine Zeit lang nicht zuhause sind. Meistens geht es um irgendein Schulprogramm. Noch sind wir beide zwar auch die einzigen Mädchen, aber vielleicht ändert sich das ja noch mit der Zeit. Und bisher war es wirklich eine schöne Möglichkeit, um herumzukommen und sich die Welt anzusehen!« Auch Hasret lächelte zaghaft, aber immer noch niedergeschlagen. Sie mochte Cassy, und auch Haruki und Eli schienen wirklich nett zu sein, aber das war leider nicht genug um sie zu überzeugen. Sie war Teil eines bestehenden Systems und konnte nicht einfach ausbrechen, um einer so windigen Sache beizutreten. Ihre Entscheidung stand fest. »Es tut mir leid.« Sie stand auf und ballte die Hände zu Fäusten. »Aber ich kann meine Familie nicht für so eine verrückte und gefährliche Geschichte im Stich lassen. Sie verlassen sich auf mich und ich habe Pflichten zu tragen und zu erledigen. Es tut mir wirklich leid, Cassy, aber ihr müsst wohl jemand anderen auftreiben, ich kann einfach nicht mitkommen.« Sie machte eine kurze Pause, um ihre Stimme wieder aufzufangen. »Ich muss jetzt gehen, ich hab noch einiges zu tun. Ich hoffe, ihr habt noch einen schönen Restaufenthalt hier, aber wenn ihr geht … ich meine … es war wirklich schön, euch kennengelernt zu haben! Das ist nur einfach nichts für mich. Auf Wiedersehen.« Hasret drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verschwand aus der Scheune. Cassy blieb vollkommen aufgelöst zurück und stemmte die Stirn in die Hände. Haruki lag zwar mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett und starrte augenscheinlich gelangweilt an die Decke, in Wahrheit aber saß er auf heißen Kohlen und könnte jeden Moment aufspringen und mit rauchendem Schädel im Zimmer auf und ablaufen. Cassy war jetzt schon ganz schön lange mit Hasret in der Scheune und er begann sich Sorgen zu machen. Er wusste mittlerweile, dass seine Partnerin Schwierigkeiten damit hatte mit Fremden zu sprechen und schnell ihre Nerven und die Kontrolle über solche Situationen verlor, weshalb er selbst gern die Rolle als Redner übernahm, aber wenn sie es unbedingt versuchen wollte, dann wollte er ihr dabei auch nicht im Weg stehen. Vielleicht hätte er aber genau das tun sollen. Eli ging es ähnlich. Er spähte mit wachsamem Blick aus dem Fenster und scannte alle paar Minuten die Gegend nach einem der beiden Mädchen ab, doch von hier aus war es nicht so leicht das Tor im Auge zu behalten, das in die entgegen gesetzte Richtung zeigte. »Glaubst du, da geht alles gut?«, fragte der Jüngere irgendwann ohne den Kopf zu bewegen, den er auf seinen Armen auf dem Fenstersims abgelegt hatte. Haru antwortete eine Zeit lag nicht, sodass Eli seine Frage fast schon wiederholen wollte, als schließlich doch eine Erwiderung kam. »Ich denke schon. Ich vertraue Cassy.« Natürlich hatte er im Moment große Zweifel. Aber das wollte er sich selbst nicht eingestehen. Er mochte gar nicht darüber nachdenken, wie knifflig es noch werden würde, Hasret in einem zweiten Versuch zu überzeugen, sollte es gerade nicht geklappt haben. »Ich glaube, sie kann eine gute Anführerin sein«, murmelte Haru ohne den Blick von der weiß gestrichenen Decke zu nehmen. »Sie ist vielleicht nicht der Meinung, dass sie besonders gut reden kann, ich allerdings schon. Wusstest du, dass sie diejenige war, die sich zuerst für dieses Projekt gemeldet hat, als Bernhard uns eingeweiht hat? Ich fühle mich viel sicherer, wenn sie bei uns ist und hab immer das Gefühl, dass jemand da ist, dem ich vertrauen kann und der mich ein bisschen runter bringt, wenn mir dumme Ideen kommen.« »Die Sache vor Misses Sparks’ Haus gestern mit der Pistole war aber nicht sonderlich entspannt.« Eli wandte die Augen in den Raum zurück und musterte den auf dem Bett liegenden Japaner. »Ich glaube, das hat sie gar nicht lustig gefunden.« Er grinste schief. »Die Idee war aber auch nicht dumm!«, verteidigte sich Haruki empört und setzte sich wieder auf. »Ein bisschen unkonventionell vielleicht. Am Ende sind wir doch reingekommen, Cassy hat ein erstes Gefühl für ihre Waffe entwickelt und wir haben immerhin gesehen, was es damit auf sich hatte. Das sind eine ganze Menge Vorteile und ich kann wirklich nichts sehen, was daran dumm gewesen sein soll.« Die Art, wie Haru sich und seinen Einfall rechtfertigte, brachte Eli schwer zum schmunzeln. Er hatte eine ziemlich gute Voraussicht, wie es aussah, auch wenn die Sache auf den ersten Blick vielleicht kritisch schien. »Ist ja gut, ich wollte deine Gefühle nicht verletzen«, feixte Eli und streckte die Arme über dem Kopf aus. »Ich bin echt gespannt, wie man diese Waffen überhaupt verwenden soll. Was Hasret bekommt, was du bekommst. Und was die anderen für Leute sind und was sie können. Am liebsten würde ich mir Jackbells Notizbuch jetzt schon durchlesen, aber andererseits will ich mir selbst auch die Überraschung nicht verderben …« In diesem Moment schwang die Tür auf und Cassy stand wieder vor ihnen. Gerade wollte die Frage aus dem Rotschopf heraussprudeln, wie das Gespräch gelaufen war, als er Hasrets Abwesendheit und Cassandras betrübten Gesichtsausdruck bemerkte. Sofort ließ auch er die Arme wieder hängen und verzog eine Miene. »Wie ist es gelaufen?«, fragte stattdessen Haru zaghaft, bevor der Final sich knurrend auf ihr Bett fallen ließ und die Arme niederschmetternd über dem Kopf zusammenschlug. »Mhhgffghhbm«, stöhnte sie geknickt in die Matratze unter sich und dann, als sie den Kopf wieder gehoben hatte, wiederholte sie: »Hasret will nicht mitkommen.« Die beiden Jungs schwiegen betreten. Das war zwar ihr schlimmster Zweifel gewesen, aber was sie nun tun sollten, da die Situation tatsächlich eingetroffen war, das wussten sie auch nicht. »Was hat sie denn … genau gesagt?«, hakte Eli zögerlich und mit bedeckter Stimme nach, als Cassy die Sache nicht weiter ausführte. »Dass sie ihre Familie nicht alleinlassen kann und so.« Sie wischte sich hastig durch das Gesicht, um weitere Tränen zu verschleiern, die sich mit den Worten wieder unter ihren Lidern angestaut hatten. »Sie glaubt uns zwar, ist aber ziemlich misstrauisch gegenüber Jackbell und sieht keinen Sinn darin, ihre Heimat und Familie für eine solche Sache zu verlassen, über die sie kaum etwas weiß. Und ganz ehrlich … ich kann es ihr einfach nicht krumm nehmen!« Sie warf die Umhängetasche vor sich aufs Bett und starrte bitter darauf. »Wir kennen Jackbell und Bernhard überhaupt nicht richtig. Was ist, wenn er irgendein kranker Psychopath ist, der seine Spielchen mit uns spielt? Oder wenn er die Waffen selbst nur gestohlen hat und uns braucht, um sie zu verstecken, oder was auch immer, diese ganze Geschichte macht überhaupt keinen Sinn, wenn man mal genauer darüber nachdenkt!« »Ich will dich wirklich nicht noch mehr aufregen, aber ist es für diese Überlegungen nicht ein bisschen spät?«, erwiderte Haruki mit zaghafter Säure in der Stimme. »Ich hab manchmal dieselben Gedanken, aber wir können im Moment nicht aus dieser Sache raus. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist zu warten, bis alle Finals beisammen sind und wir Jackbell gegenüberstehen. Ich verstehe deine und Hasrets Bedenken auch, aber wir müssen die nächsten Wochen wohl oder übel mitspielen.« »Und irgendwelche Kids aus ihrem Zuhause wegreißen, mit Argumenten, von denen wir selbst nicht wissen, ob sie wahr sind, nur um am Ende vielleicht zu sagen ›Oh, tut uns leid, ihr könnt doch wieder nachhause, das war alles ein Missverständnis‹?!« Cassandra schluckte ihre Tränen ein weiteres Mal herunter, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Stimme zu wanken begann. Der Tag hatte sie fertig gemacht und war noch immer dabei. Haru öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch er musste ihn wieder schließen, weil ihm keine passende Antwort einfiel. Natürlich hatte seine Partnerin nicht ganz Unrecht, doch auch wenn es so war, was sollten sie unternehmen? Alle drei von ihnen waren hunderte Kilometer weit weg von zuhause und selbst wenn sie jetzt in diesem Moment herausfinden würden, dass Jackbell ein Wahnsinniger war, der gerne Kinder verspeiste, sie hätten keine Möglichkeit unbemerkt irgendwohin abzuhauen. Er warf einen hilflosen Blick zu Eli, doch dieser war genauso sprachlos wie er. »Ich rufe ihn jetzt an«, verkündete Cassy mit dunkler Stimme, als sie sich wieder ein wenig beruhigt und ihre Stimme sich normalisiert hatte. Sie griff in die Tasche und wählte die bekannte Nummer aus. »Jackbell«, redete sie mitten in seinen Hustenanfall hinein, bevor er selbst sie begrüßen konnte und schaffte es damit sogar, ihren beiden Teamkameraden einen Schauer über den Rücken zu jagen. »Ah, Miss Phan. Irgendwelche Neuigkeiten? Haben Sie schon mit Miss Vihre gesprochen?« Noch klang der erkältete Mann unbekümmert, aber das würde sich gleich ändern. »Das habe ich tatsächlich und sie weigert sich, mit uns zu kommen!« Cassy klang so bissig und sauer wie schon lange nicht mehr. »Was sollen wir jetzt tun? Sie zwingen, ihre Familie und ihr Zuhause zu verlassen, gegen ihren Willen, nur weil irgendein Typ am Telefon das so will? Haben Sie eigentlich eine Ahnung wie schwer ist es diese Entscheidung zu treffen?! Wir haben absolut keinen Grund dazu, Ihnen zu vertrauen! Entweder wir bekommen irgendwelche Beweise von Ihnen, dass Sie überhaupt eine echte Person sind, oder wir brechen das Ganze ab und fliegen schnurstracks wieder nachhause!« Haruki und Eli klappte die Kinnlade herunter. Hatte Cassy das gerade wirklich getan? Ihr Mund sagte zwar ›Rebellion!‹ aber ihre Augen sahen viel eher nach ›Ich bluffe wie noch nie jemand vor mir, mache mir gleich in die Hosen und würde niemals so mit jemandem von Angesicht zu Angesicht reden‹ aus. Und Jackbell schien genauso beeindruckt, denn er schwieg eine ganze Weile lang, doch Cassy legte nicht auf, sie erwartete eine Antwort und würde noch zehn Mal zurückrufen, wenn er sie ihr verweigern würde. Sie stand zwar am Abgrund ihrer Beherrschung und würde gleich zu einer jämmerlichen Pfütze zerfließen, aber ein paar Minuten konnte sie diese Fassade noch aufrecht erhalten. »In Ordnung«, antwortete Jackbell schließlich mit erstickter Stimme und beinahe demütig. »Zwei Dinge; geben Sie Miss Vihre noch ein paar Tage Zeit. Ihre vorläufige Entscheidung ist nachvollziehbar und Sie sollten sie nicht einschüchtern, das würde es nur schlimmer machen. Lassen Sie sie für einige Zeit in Ruhe und sprechen Sie dann noch einmal mit ihr. Sie wird sich umentscheiden, aber gehen Sie behutsam mit ihr um. Zweitens; besuchen Sie eine Bibliothek, am besten in einer Universität, wenn sie an eine herankommen. Fragen Sie nach Büchern oder Zeitungsartikeln über Lucius Schreiber. Lesen Sie sich alles durch, was Sie finden können, bis Sie zufrieden sind. Sie werden schnell erkennen, was ich meine. Auf Wiederhören.« Ohne ein weiteres Wort legte Jackbell auf. Cassandra atmete mit bebender Kehle ein und aus, dann presste sie die Hand vor den Mund um nicht laut loszuschluchzen. Ihr Körper zitterte und aus ihren zusammengekniffenen Augen flossen Tränen über ihre Wangen, auf die sie keinen Einfluss mehr hatte. Eli sprang entschieden von seinem Fensterplatz auf und nahm seine Partnerin so fest in den Arm, wie er es mit seinen mageren Ärmchen hinbekam. »Das war echt mutig von dir«, flüsterte er anerkennend in ihr Ohr und legte den Kopf auf ihre Schulter. Haruki zögerte noch eine ganze Weile, bevor er ebenfalls dazu stieß. Seine Arme waren so lang, dass er problemlos beide Finals umfassen konnte. Stille verteilte sich im Raum, verdiente und rechtmäßige Stille, die eine Weile hierbleiben und die Wogen glätten musste. Die Entscheidungen würden nicht einfach sein, es würde noch viel auf sie zukommen. Und sie hatten noch nicht einmal richtig gefangen. ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Die kommenden zwei Tage waren größtenteils von Jackbells Anweisungen gefüllt. Seltsam, obwohl genau diese es eigentlich gewesen waren, die die Finals vorerst hatten vermeiden wollen. Sie versuchten Hasret so gut es ging in Frieden und sie über die Geschichte nachdenken zu lassen, wobei sie sich ziemlich sicher waren, dass sie das tatsächlich tat, denn leicht zu vergessen war der ganze Mist mit Sicherheit nicht. Sie trafen sie wie erwartet mehrere Male auf den Gängen des Hotels, im Restaurant oder draußen, doch obwohl sie stets freundlich von ihr gegrüßt und angelächelt wurden, so verschwand das Mädchen doch stets darauf wieder, bevor sie auch nur die Möglichkeit dazu gehabt hätten ein echtes Gespräch anzufangen. Beim Abendessen lernte Haruki auch die älteren Vihre-Geschwister kennen, die unter anderem dort kellnerten. Zwei schlanke, großgewachsene junge Männer, die nahezu genauso gutmütig und höflich waren wie der Rest ihrer Familie. Ein paar Mal überlegte der Japaner, ob er Alik und Esra nach Hasret fragen sollte, verwarf den Gedanken aber schnell wieder. Vermutlich würde es ziemlich eigenartig und verdächtig wirken, vor allem, wenn sie am Ende tatsächlich mit ihr davonfliegen würden. Seltsam, dass diese aufdringlichen Gäste genau dann auscheckten, als die Tochter und Schwester verschwunden war … Es war nicht einfach, die ›freien‹ Tage zu genießen, in denen sie warten sollten, auch wenn die drei es mit aller Kraft versuchten. Die Überlegung, dass es sicher angenehm werden würde, so durch die Welt zu reisen und verschiedene Orte kennenzulernen, die Cassy am Anfang ihrer Reise noch geäußert hatte, revidierte sie sofort wieder. Es war sogar frustrierend. Die Kanadierin schnappte sich am Donnerstag Haruki und brachte ihn dazu, mit ihr eine Bibliothek in Houston zu besuchen um Jackbells geheimnisvollen Namen zu recherchieren. Eli wollte den Tag lieber in Rhodesville verbringen um sich die Maisfelder in Ruhe anzusehen und vielleicht ein wenig in der Stadt zu bummeln. Dabei fiel es ihm zwar nicht leicht, Jackbells Geld nicht für cool aussehende Schuhe, Süßigkeiten oder anderen Kleinkram auszugeben, doch immerhin war er beschäftigt. Haru und Cassy nahmen diesmal den Bus in die Großstadt, um nicht wieder Unmengen an Geld für ein Taxi aus dem Fenster zu werfen. Dafür mussten sie zwar ein paar Schritte gehen, da sich die nächste Haltestelle in der Innenstadt von Rhodesville befand, aber ohne Koffer in der Hand und Wut im Bauch war dieser Weg nicht einmal mehr halb so schlimm. Zunächst tourten die beiden durch die halbe Stadt, um in eine der Universitätsbibliotheken hineinzukommen, doch das stellte sich ohne gültigen Ausweis als viel zu heikel heraus. Bevor es noch zu Komplikationen kam und Konflikte entstanden, entschlossen die Finals sich lieber dazu, eine öffentliche Bibliothek zu besuchen. Haruki fragte in allen möglichen Läden nach und sie hatten am Ende sicherlich vier verschiedene Stadtführer in der Tasche, bis sie letztendlich einen geeigneten Ort fanden, an dem man sich hinsetzen und lesen konnte. »Wenn eines der Bücher uns besonders weiterhilft, kannst du es sicher unter deinem lächerlichen Hut nach draußen schmuggeln, ohne dass es jemand bemerkt«, wisperte Haruki seiner Partnerin zu, als sie das klimatisierte Gebäude betraten, in dem es totenstill war und angenehm nach Papier und Staub roch. »Ich dachte, du findest ihn auch hübsch!«, empörte sich Cassy zutiefst verletzt, und das unwillkürlich so laut, dass sie ein paar mahnende Blicke von anderen Besuchern erhielt. Bei einem der Bibliothekare fragte Haruki schließlich nach allem Inhalt, den man über einen Lucius Schreiber bekommen konnte und der junge Mann blickte zwar zunächst überrascht drein, den Namen zu hören, nickte dann aber und verschwand für einige Zeit zwischen den hohen Regalen. Haru und Cassy warteten geduldig am Schalter und das eine ganze Zeit lang, bis der Bibliothekar einen Arm voll dicker und dünner Bücher herbeischleppte, sie ihnen in die Hände drückte und dann, zurück an seinem Schreibtisch, noch einen Zettel vollkritzelte. »Ich bringe Ihnen gleich noch die Zeitungsartikel«, versprach er außer Atem und machte eine Handbewegung in Richtung der Arbeitsplätze. »Einen Augenblick bitte.« Die zwei Touristen bedankten sich benommen und suchten dann mit den Büchern im Arm nach einem freien Tisch. Dort angekommen nahm Haru einen der Schinken in die Hand und betrachtete ihn fasziniert. Er sah nicht besonders alt aus und im Einband stand das Datum 1971. »›Der Elektromagnetismus und die menschliche Muskelmechanik‹, von Professor Doktor Lucius Schreiber«, las er stirnrunzelnd den Titel vor. »Klingt nach einer wissenschaftlichen Arbeit.« »›Chemiewaffen ohne Chemie‹.« Cassy deutete auf einen weiteren Titel, das Buch war diesmal kleiner. »›Der Krieg im einundzwanzigsten Jahrhundert: Eine Analyse der Zukunft‹, ›Hundert vergessene Köpfe der Physik‹ … was soll uns das helfen?« »Wir haben wohl keine andere Wahl als zu lesen«, schloss Haruki mit zuckenden Schultern und nahm sich eines der Bücher vor. Die beiden verstanden kaum etwas von dem Inhalt der Werke, sie waren offensichtlich eher für Leute geschrieben, die sich ohnehin schon mit der Materie von Chemie, Physik und Technik auskannten und nach Quellen für ihre Abschlussarbeit suchten, aber einzelne Details klangen doch interessant. Es war viel von revisionistischen Theorien die Rede, die irgendwelche Naturgesetze umwarfen und ganz eigene aufstellten, manchmal klang das Ganze schon fast nach Verschwörungstheorien. Als der Bibliothekar mit ein paar oberkörpergroßen Lederbänden zu ihnen stieß, waren die Finals schon tief in Schreibers Bücher vertieft, obwohl sie nur ein Viertel davon gerade ansatzweise verstanden. Es waren die fordernden Wortwahlen und scharf formulierten Thesen, die sie so in ihren Bann zogen, bis Haruki sich letztendlich von dem Fachchinesisch trennte und eine der Zeitungssammlungen aufschlug. Er musste eine Weile suchen, bis er schließlich einen kleinen, leicht zu übersehenden Artikel fand. »Professor Doktor Lucius Schreiber, momentan Lehrender an der Universität von Detroit und international anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet der Physik und Biochemie, besuchte letzten Dienstag die Stadt Houston, um seine Vortragsreihe ›Physik gegen Metaphysik‹ an der städtischen Universität vorzustellen …«, las er leise vor und warf einen Blick zu Cassy, als diese gerade den passenden Artikel in ›Hundert vergessene Köpfe der Physik‹ gefunden hatte und ihn in kleinen Stücken überflog. »Aloys Lucius Schreiber, geboren am vierzehnten März 1933 in Wien, Österreich … Familie floh 1936 zurück in die USA … Physiker, Biochemiker … vielversprechende Karriere, beteiligt an zahlreichen kleineren und größeren Entdeckungen in der Naturwissenschaft …« »… vermisst seit Februar 1984«, beendete Haruki mit einem Satz aus einer der Zeitungen. Beide hielten inne und blickten sich ratlos an. Sie hatten seit geraumer Zeit beide denselben Gedanken gehabt, doch erst jetzt traute Cassandra sich ihn auch auszusprechen. »Jackbell ist dieser Schreiber, oder?«, flüsterte sie zwischen ihren Zähnen hindurch, damit es auch wirklich niemand außer Haru hören konnte. Dieser nickte langsam. Ein handfester Beweis für die Identität des geheimnisvollen Auftraggebers war das zwar noch lange nicht, aber immerhin hatten sie jetzt mehr Gründe ihm zu glauben. Und vielleicht konnten sie dieses Wissen auch verwenden, um Hasret zu überzeugen. Ein vermisster Wissenschaftler hatte sie rekrutiert, um so etwas wie sein ehemaliges Experiment einzufangen … auch wenn das Bild immer klarer wurde, konventionell glaubwürdig war es noch immer nicht. Aber Cassys Glauben war dennoch wieder gefestigt. Die Finals verbrachten noch eine weitere Stunde in der Bibliothek, fanden aber mit Ausnahme von einigen wenigen Details nicht mehr viel Wissenswertes über Schreiber heraus und gingen vor der Fahrt nachhause noch schnell etwas essen, bevor der Bus sie zurück aufs Land bringen sollte. Dem Japaner tat der Abschied von Houston zwar ein wenig weh, denn obwohl Texas nicht gerade auf der Liste seiner liebsten US-Staaten ganz oben stand, würde er noch immer eher hier als in Rhodesville bleiben wollen, aber man konnte eben nicht alles haben. Es war schon dunkel, als sie das Hotel erreichten und Eli war auf Cassandras Bett eingeschlafen, vermutlich aus erschöpfender Langeweile, in diesem Haus keinen interessanten Aktivitäten nachgehen zu können, jedenfalls nicht ohne möglicherweise Hasret dabei anzutreffen. Seine Kollegen weckten den Jüngsten mehr oder weniger sanft und berichteten von ihren Recherchen und ihrer These, dass es sich bei Jackbell um einen seit über fünfzehn Jahren vermissten Physiker und Biochemiker handelte, der ziemlich verrückte Bücher geschrieben hatte. Das Ganze deckte sich außergewöhnlich gut mit Bernhards Beschreibung von Jackbells Leben und dass er untergetaucht war, nachdem die USA und die Sowjetunion sich um seine Nullpunkt-Prototypen gestritten hatten. Eli fand die Sache ungeheuer spannend und platzte fast vor Enttäuschung darüber, dass er nicht mitgekommen war um sich selbst von der skandalösen Verschwörung zu überzeugen. Wahrscheinlich hätte er in den Büchern noch weniger als seine älteren Teamkameraden verstanden, vor allem, weil er sich sowieso kaum für Naturwissenschaften interessierte, aber allein der Gedanke zählte. Auf Cassys Frage hin, was er während ihrer Abwesendheit so getrieben hatte, wurde Eli plötzlich ein wenig nervös, seine bleichen Wangen verdächtig rot und er stammelte irgendwas dahin, von wegen er habe sich unten an der Bar einen Saft bestellt und dabei Hasrets Brüder kennengelernt, und die kurzen Worte, die er mit ihnen gewechselt hatte, hätten ihn in seiner Sexualität verwirrt. Während Haruki über die Bedeutung dieser Erklärung allerdings nur nachdenklich die Stirn runzelte, begann Cassy plötzlich unverhohlen zu lachen und um das Ganze nicht noch unangenehmer zu machen als es ohnehin schon war, lachte Eli einfach trocken mit, wobei seine Sommersprossen nach und nach aufzuleuchten begannen wie Weihnachtslichter. ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Freitagmittag hielt Eli es nicht mehr aus. Sie mussten mit Hasret sprechen, es musste weitergehen, und auch sie selbst konnte nicht länger so tun, als wäre nie etwas zwischen ihr und den Finals vorgefallen. Der Rotschopf hatte an seinem freien Tag alle möglichen Angebote des Hauses durchstöbert und etwas über Anfänger-Ausritte durch den Ort gelesen, bei denen man sich die Gegend ansehen und die erhabenen Tiere kennenlernen konnte, in Gruppen, Familien oder einzeln, und das unter der Aufsicht von niemand geringerem als Hasret Vihre. Warum also nicht das Nützliche mit dem Praktischen verbinden, zum vierten Mal die Maisfelder betrachten und dabei auch noch ein Gespräch mit der sich ziemlich rar machenden Zielperson führen? Auch Haru und Cassy fanden die Idee nicht schlecht, selbst wenn sie nicht ganz wussten, ob der kleine Chaot es allein auf die Reihe bekommen würde Hasret zu überzeugen mit ihnen zu kommen. Sie hing wirklich sehr an ihrer Familie und ihrer Heimat und machte nicht den Eindruck, als würde sie es sich noch einmal anders überlegen wollen, aber vielleicht war es ja gerade diese Einstellung, die die beiden vereinte. Auch Eli war es zum Schluss doch schwer gefallen, seinen Vater für die Finals zu verlassen, und aus genau diesem Grund konnte er sie wohl am besten verstehen. Eli meldete sich noch in derselben Stunde beim Rezeptionisten unten an, welcher ihm fröhlich versicherte, dass es gleich am Abend losgehen könnte. Zwar schien das Hotel im Augenblick eigentlich angemessen besucht, aber die Familien oder Eltern mit Kindern würden erst in ein paar Wochen herkommen, wenn wieder Ferien waren, und ohne die waren die Ausritte wohl nicht allzu begehrt. Wenige Stunden später stand Eli grinsend auf und abwippend vor dem Stall und wartete dort vorfreudig auf seine Reitlehrerin. Aus einem Fenster weiter oben im Gutshaus wurde er unbemerkt von Haruki und Cassy beobachtet, die ihm für die Überzeugungsmission ebenso gespannt die Daumen drückten. Als Hasret mit einem hellen, langhaarigen Pony am Zügel aus dem Stall kam und den aufgedrehten Jungen erblickte, sank ihr gleich das Herz in den Magen. Gerade diese Leute hatte sie doch vermeiden wollen … aber weigern konnte sie sich wohl auch schlecht, es war immerhin ihr Job und ihr Vater verließ sich auf sie. Also seufzte sie nur resignierend und setzte ein schwermütiges Lächeln auf. »Hallo, Eli …« »Hey, Hasret! Wer ist denn das?« Mit großen Augen schlenderte Eli auf das friedlich schnaubende Pony zu und streichelte unbeholfen seinen Hals. Schon allein die Tatsache, dass es dabei nicht panisch davonrannte oder ihm in die Finger biss ermutigte ihn, sich nachher sogar auf dieses Wesen draufzusetzen. Er musste ein Naturtalent und Pferdeflüsterer sein. »Sein Name ist Bluebottle. Er ist besonders lieb und mein Liebling in Papas Stall, also geh vorsichtig mit ihm um«, erklärte Hasret liebevoll und kraulte das Tier zwischen den Ohren. »Bist du schon mal geritten?« Eli schüttelte den Kopf und Hasret nickte bedächtig. »Das dachte ich mir. Ich werde dir alles zeigen, aber erstmal helfe ich dir beim aufsteigen. Geh auf die Seite, halt dich an beiden Enden des Sattels fest und stell deinen Fuß in den Steigbügel.« »Ungefähr so?« Elis Knie stieß fast an sein Kinn und er hüpfte auf einem Fuß hinter Bluebottle her, als dieser abgelenkt und nur milde empört einen Schritt zur Seite machte. Hasret musste doch tatsächlich ein wenig kichern. »Ja, genau! Jetzt stößt du dich mit dem anderen Fuß von Boden ab und ziehst dich mit den Armen nach oben. Dabei aufpassen, dass du nicht zu viel Schwung hast, sonst fällst du auf der anderen Seite wieder runter.« Eli brauchte ein, zwei Anläufe, schaffte es dann aber ganz ohne Hilfe und thronte anschließend auf dem Rücken des Ponys wie ein Herzog auf der Jagd. Obwohl Bluebottle kaum so groß war wie er, hatte er das Gefühl, dutzende von Metern über dem Boden zu schweben. Seine Beine fühlten sich seltsam auseinandergedrückt an, so ein Pferderücken war von oben definitiv breiter als er aussah, und er wusste nicht recht wohin mit seinen Händen. »Oh, ganz vergessen. Schön den Helm aufsetzen!« Der Reitlehrerin reichte ihrem Schüler eine harte, mit schwarzem Samt überzogene Kopfbedeckung, die dieser sofort auf seinem Kopf platzierte, während Hasret seine Füße in beide Steigbügel schob und ihm danach zeigte, wie er die Zügel halten musste. »Also gut, es kann losgehen!«, verkündete sie nach den erforderlichen Sicherheitschecks vergnügt. »Irgendwelche besonderen Wünsche, wohin du möchtest?« »Maisfelder!«, strahlte der jüngste Final mit einem sonnigen Grinsen und Hasret musste schon wieder lachen. Das hatte sie sich fast schon gedacht, und das obwohl sie noch kaum mit Eli gesprochen hatte. Sie befestigte einen Strick an Bluebottles Trense und führte ihn langsam vom Hof herunter auf die schmale Straße. Der komplette Eli wackelte bei seinen ersten Schritten noch leicht beunruhigend auf dessen Rücken hin und her wie eine Gummipuppe, hatte aber letztendlich schnell den Dreh heraus, wie man wie ein würdevoller Reiter aussah. Die Sonne ging langsam am blanken, wolkenlosen Horizont unter und tauchte Rhodesville in ein tiefes, saftiges Orange. Der Mais bewegte sich sanft im Wind, raschelte dabei verheißungsvoll und beobachtete die Einmannkarawane auf der Straße. Zum Glück musste Eli nicht selbst lenken, sonst hätte er sich mittlerweile wohl schon längst verlaufen. Hasret hatte noch immer ein wenig Angst vor Konfrontation, nun da sie mit einem der Finals allein war, so warf sie ihm immer wieder lange, besorgte Blicke zu, doch Eli war offensichtlich ausschließlich auf den Mais konzentriert, manchmal klopfte er auch geistesabwesend Bluebottles Hals. Es war ein friedlicher und entspannender Ausritt, selbst für Hasret, die ihre Anspannung schließlich mit jedem Schritt mehr verlor. »Was ist das mit dir und Maisfeldern?«, fragte sie irgendwann, als die Stille langsam doch begann ihr ein unbehagliches Gefühl zu geben. Das war das Erste, was sie je von seiner Persönlichkeit mitbekommen hatte und sie wollte Eli nicht das Gefühl geben, dass sie ums Verrecken nicht mit ihm sprechen wollte. »Sie machen mich einfach glücklich. Erinnern mich an schöne Tage, als ich noch klein war«, erwiderte er wie selbstverständlich, als hätte er die Antwort schon einmal vorbereitet. »Früher hatte ich sogar Angst vor Maisfeldern. Wir waren oft am Wochenende bei meinen Großeltern auf dem Land und auf dem Weg dorthin standen eine Menge Maisfelder, an denen ich nie vorbei wollte. Der Mais war so hoch und ich war so klein, ich hatte ständig das Gefühl, als würde er mich beobachten oder mich angreifen wollen. Klingt bescheuert, ich weiß, aber ich war eben ein Kind … ich hatte auch Angst vor Monstern unter meinem Bett oder im Schrank, und all solche Dinge. Ich dachte, wenn ich einmal in ein Maisfeld eintrete, verlaufe ich mich für immer und finde nie wieder nachhause, oder schlimmer noch, werde von Monstern oder irgendwelchen Verbrechern entführt. Eines Tages haben mich meine Eltern an die Hand genommen und sich mit mir vor ein Maisfeld gestellt. Es sind nur Pflanzen, hat mein Vater gesagt, damit werden Tiere gefüttert oder leckere Chips hergestellt. Sie können uns niemals verletzen oder bedrohen. Es sind friedliche Orte, keine unheimlichen, er selbst sei als kleiner Junge oft hierhergekommen und habe sich versteckt, wenn er sich mit meinen Großeltern gestritten hatte oder einfach seine Ruhe haben wollte. Es war ein magischer Platz, der nur ihm gehörte und an dem er manchmal vor der Realität flüchten konnte, lang bevor es Videospiele und Fernsehserien gab. Und ich glaubte ihm. Ich überwand meine Furcht und betrat das Maifeld, zusammen mit meinem Vater. Und ich erkannte, dass ich tatsächlich keine Angst haben musste. Seitdem bin ich jedes Mal, wenn wir bei meinen Großeltern waren, dorthin gegangen, habe mich versteckt, gelesen oder gespielt und mich nie wieder gefürchtet. Aus der Angst ist ein Freund geworden. Ich denke, das ist ein guter Gedanke, den viele Menschen nicht verstehen, aber ich erinnere mich jedes Mal daran, wenn ich Maisfelder sehe. An den Tag, an dem ich aus Angst eine schöne Erinnerung gemacht und dort die besten Stunden meiner Kindheit verbracht habe. Darum sind sie wichtig für mich.« Hasret schwieg und warf einen Blick auf das Feld neben sich. Eli hatte recht, der Mais wuchs an einigen Stellen so hoch, dass er beinahe einschüchternd wirkte, aber sie verband ähnliches damit. Kindheit, Heimat und glückliche Erinnerungen. Etwas, das sie niemals vergessen wollte. »Ich verstehe«, murmelte sie. »Das ist eine wirklich schöne Geschichte …« Eli sagte eine Zeit lang gar nichts und fixierte Bluebottles Ohren, die manchmal zuckten um Fliegen zu verscheuchen oder sich in unterschiedliche Richtungen drehten, aus denen leise Geräusche kamen. »Ich weiß, wie du dich fühlst. Du liebst deinen Vater sehr, nicht wahr? Bei mir ist es genauso.« Hasret schnappte leise nach Luft und biss sich auf die Unterlippe, sie wollte nicht wieder darüber sprechen, doch jetzt hatte er sie an der Angel. Das hatte sie sich mit ihrer Neugier selbst eingebrockt. »Meine Eltern sind geschieden und meine Mutter wohnt fast achtzig Kilometer von uns entfernt. Er ist jetzt allein. Ich habe ihn alleingelassen, für Jackbell, Haru und Cassy.« »Aber warum?!«, sprudelte es aus mit einem Mal aus Hasret heraus, beinahe verzweifelt. Sie schüttelte den Kopf und presste die Faust gegen die Stirn. »Du weißt nichts über sie! Ich meine … es ist deine Entscheidung gewesen und ich kann dich dafür nicht verurteilen, das werde ich auch nicht. Aber … es geht einfach nicht. Ich werde meine Familie nicht alleinlassen. Sie schaffen es ohne mich nicht.« »Ich tue all das nur für meinen Vater«, erwiderte Eli ernst. »Jackbell hat uns mehr Geld versprochen, als wir wahrscheinlich ausgeben können. Mein Vater ist nur ein Barkeeper und verdient hin und wieder ein paar zusätzliche Dollar mit seinen Komikerauftritten. Meine Mutter finanziert uns zwar den Großteil unseres Hauses, aber … das wird nicht ewig so weitergehen. Sie will selbst leben, eine neue Familie gründen und kann uns nicht mehr alles geben, was sie hat. Wer weiß, wie stabil so ein Job in einer Bar ist? Irgendwann will ich aufs College, woher soll ich das Geld nehmen? Das hier ist das Einzige was ich tun kann. Es ist mit Sicherheit gefährlich. Aber meine Eltern haben so viel für mich getan … und wenn das meine einzige Chance ist, um es ihnen zurückzuzahlen, dann bin ich mehr als bereit das zu tun.« Hasret lachte plötzlich trocken auf. Es klang so sarkastisch, bitter und unglücklich, dass Eli im ersten Moment kaum glauben konnte, dass es aus dem Mund dieses strahlenden Sonnenscheins kam. »So ein Hotel zu führen, die Pferde zu versorgen und ein Maisfeld zu bewirtschaften ist nicht gerade ein Zuckerschlecken, weißt du?« Sie verzog das Gesicht, als hätte sie einen ekelhaften Geschmack auf der Zunge. »Wir müssen Personal bezahlen, uns um unsere Tiere und die anderer Leute kümmern … mein Vater hat in der Nacht oft nur knapp vier Stunden Schlaf. Morgens füttert er die Pferde, bringt sie auf die Koppel, muss je nach Jahreszeit das Feld ernten, besähen, düngen … dazu sitzt er auch noch den Großteil des Tages und der Nacht an der Rezeption und schlägt sich mit irgendwelchen Städtern herum, die wissen wollen, wo der Pool ist … und all die Jahre lang hat er sich nicht einmal beschwert! Er war immer freundlich, höflich zu den Gästen, hat das Leben genommen, wie es kam … wenn er krank war, hat er weitergemacht, als Mutter gestorben ist, hatte er keine Zeit um zu trauern … er ist eine Maschine. Und trotzdem hat er immer ein Ohr frei für mich und meine Brüder. Er hat uns noch nicht einmal das Gefühl gegeben, dass wir ihn überfordern. Papa ist ein Held. Er und Mama haben sich all das selbst aufgebaut, trotz all der Leute, die sie in ihren Läden nicht bedienen wollten, einen Neger und eine Ausländerin mit Kopftuch, und sie haben dennoch all das hier erschaffen! Niemand zwingt mich dazu, dieses Leben zu führen. Es ist meine eigene Entscheidung, meine eigene Pflicht, mein eigener Sinn im Leben; ich will so sein wie meine Eltern. Meine Familie ist der größte Schatz, den ich besitze und ich werde absolut alles dafür geben, um ihn zu erhalten und zu schützen.« Eli hatte einen dicken Kloß im Hals. Er traute sich kaum, darauf zu antworten, sein Respekt für Hasret war gerade ins Unermessliche gestiegen und er war sich sicher, dass er ihr sein Leben anvertrauen könnte und würde. »Das Hotel ist gut besucht, aber das ist nicht genug«, fuhr die Texanerin mit gesenktem Haupt und bedrückter Stimme fort. »Es ist wie bei dir. Niemand sagt etwas, aber ich weiß genau, dass es eines Tages nicht mehr ausreichen wird. Mein Vater wird alt, Alik und Esra wären gerne an die Universität nach Houston gegangen, aber sie mussten hierbleiben und helfen. Eines Tages sind wir ohne ihn, alleine. Ich habe bereits beschlossen, dass ich das Werk meiner Familie um jeden Preis weiterführen will, aber das kann ich nicht, wenn es nicht mehr da ist. Ich will nicht, dass wir etwas verkaufen, uns von irgendetwas trennen … das hier haben meine Eltern aus dem Nichts aufgebaut. Es ist mehr als ein Hotel, mehr als ein Stall, mehr als ein Feld. Es ist Teil meiner Familie. Es ist meine Pflicht, meine Familie zu beschützen …« Sie schluckte und sah Eli in die Augen. Dieser fiel beinahe von Bluebottles Rücken, so entschlossen und mächtig war ihr Blick. »Ich muss dafür sorgen, dass unsere Familie zusammenbleibt. Und vielleicht … muss ich sie dafür ja verlassen.« Eli suchte verzweifelt in seinem Gehirn nach Worten, indem er nur erschrocken vor sich hinstotterte, dann schüttelte er den Kopf und biss die Zähne zusammen. »C-cassy hat viel über das nachgedacht, was du vor zwei Tagen gesagt hast. Sie hat Jackbell angerufen und wollte … wollte Antworten von ihm, wollte wissen, wer er ist, es war wirklich beängstigend, wie entschlossen sie war. Daraufhin war sie mit Haru in der Bibliothek und hat sich … na ja, schlau gemacht, über einen Namen, den Jackbell ihnen gegeben hat, Lucius Schreiber. Er ist wahrscheinlich ein Physiker, der vor einigen Jahren verschwunden ist, und nun taucht er wieder auf um uns zusammenzusuchen. Dein Misstrauen hat uns weitergebracht, Jackbell weiß jetzt, dass er mit uns nicht mehr machen kann, was er will! Hasret, ich bin sicher … wenn du ein Final werden würdest, könntest du deinem Vater alles zurückgeben, was du glaubst ihm schuldig zu sein.« Ihr Blick bewegte sich keinen Zentimeter von seinem. Er war stark, unerschütterlich und fest entschlossen, der Blick einer Kriegerin, nein, einer Königin, die wenn nötig allein in die Schlacht reiten würde um ihr Reich mit allem zu verteidigen was sie hatte. »Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade tue.« Eli und Hasret zwängten sich durch einen Hintereingang auf einer Feuertreppe in den ersten Stock, damit sie an der Rezeption nicht ihrem Vater begegneten. Je seltener er seine Tochter mit einem der Finals sah, desto weniger eigenartig würde es ihm vorkommen, wenn sie in wenigen Tagen verschwand um auf eine Klassenfahrt oder etwas Ähnliches zu gehen. Hasret hatte ihre Entscheidung zwar neu getroffen, war aber noch immer besorgt darüber, wie Jackbell es schaffen wollte, ihren Vater davon zu überzeugen, dass sie eine ganze Weile lang weg sein würde. Er durchschaute Lügen besser als jeder andere den sie kannte und würde sich nicht mit ein wenig Geplauder abspeisen lassen. Eli klopfte an die Tür von Zimmer 23 und Haruki öffnete ihm nur eine Sekunde später, als hätte er schon davor gewartet, ein erleichtertes Lächeln auf den Lippen, als er hinter ihm Hasret stehen sah. »Schön, euch zu sehen«, grüßte er fast gar nicht gekünstelt und ließ die beiden hinein. Hasret kannte den Raum nur zu gut, sie war mit jedem der Zimmer vertraut, hatte überall schon einmal die Betten bezogen, den Fußboden gesaugt oder die Toilette geputzt. Umso schneller beschlich sie eine unwillkürliche Zufriedenheit, als sie sah, dass die drei Gäste gepflegt mit dem Zimmer umgingen und keinen sichtbaren Dreck machten. »Hey«, lächelte sie zaghaft und hob kurz die Hand. Cassy saß am Fenster und vermied die Blicke ihrer neuen Partnerin, sie schämte sich noch immer für ihr Versagen vor ein paar Tagen und hatte Hasret seitdem auch nicht wieder getroffen. Sie wusste nicht einmal wieso, aber irgendwie fühlte sie sich als hätte sie ihr etwas Schlimmes angetan. »Sieht so aus, als hätte Eli mich breitgetreten«, seufzte Hasret resignierend, aber mit einem ehrlichen Blick. »Ich komme mit euch, wenn es sein muss. Aber eine Bedingung habe ich.« Die Finals wurden hellhörig und wandten nun doch all ihre Blicke zu der Texanerin. »Ich möchte persönlich mit diesem Jackbell sprechen. Ich muss einfach wissen, mit wem ich es zu tun habe.« Haruki nickte verständnisvoll. »Ich denke, das wird kein Problem sein. Jetzt da du dich uns angeschlossen hast müssen wir ihn sowieso kontaktieren, damit wir unsere Anweisungen bekommen.« Er war bemüht, so behutsam wie möglich mit dem neuen Final umzugehen, damit sie sich schnell bei ihnen wie zuhause fühlte und das Gefühl bekam, in guter Gesellschaft zu sein. Er schätzte sie als wirklich angenehme und freundliche Person ein, fühlte sich aber dennoch ein wenig so, als würde er einen Welpen an seine neue Umgebung gewöhnen. Während Haru mit seinen Gedanken beschäftigt war, gesellte sich Hasret zögerlich zu Cassy und sah sie eine Weile lang unbeholfen an, bis sie mit ihr zu reden begann. »Ich war ziemlich grob zu dir, das tut mir leid. Ich weiß, dass du nur versucht hast mir zu erklären, was schon dir erklärt wurde … du brauchst nicht zu glauben, dass du etwas falsch gemacht hast oder so. Ich bin jetzt wohl eine von euch, dazu habe ich mich entschieden und jetzt sollten wir alle das Beste draus machen. Sind wir Freunde?« Sie streckte hoffnungsvoll die Hand aus und lächelte wieder so warm und liebevoll wie an dem Abend, an dem sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Cassy rutschte das Herz in die Hose. Dann erwiderte sie das Lächeln und nahm dankbar ihre Hand. »Auf jeden Fall!« »Hasret hat sich uns angeschlossen«, hörten sie in diesem Moment Haruki vom Bett aus ihren Status melden. An seinem Ohr war wie erwartet das geheimnisvolle Handy aus dem Aktenkoffer. »Nach einigen Komplikationen, aber im Endeffekt hat Ihre Enthüllung sie wohl überzeugt. Uns auch.« Er sprach r��tselhaft, aber Jackbell schien zu verstehen, wovon er redete. Er hustete am anderen Ende einsichtig. »Das freut mich zu hören. Hat sich die Situation bei Ihnen wieder einigermaßen beruhigt? Wie geht es Miss Phan?« »Den Umständen entsprechend.« Haru verzog eine Grimasse, wohl in dem Wissen, dass sein Gesprächspartner diese nicht sehen konnte. Seine Art mit Jackbell zu sprechen war in der letzten Woche unverschämter geworden. »Wie sieht es mit weiteren Aufgaben aus? Wo müssen wir Hasrets Waffe suchen, wann können wir hier wieder weg und wohin? Sehen wir Bernhard demnächst mal wieder, uns geht nämlich das Bargeld aus.« Er musste selber ein wenig darüber schmunzeln, wie fordernd er klang. Vielleicht fühlte er sich nach den Recherchen in der Bibliothek ein wenig zu selbstsicher. »Bernhard wird morgen früh ebenfalls im Hotel einchecken, gehen Sie also zeitig ins Bett. Er wird Ihnen auch die nötigen Informationen über Miss Vihres Waffe geben, sowie Sie am Montag zum nächsten Standort bringen. Das wird Ihnen gefallen, Mister Okui, Sie sind nämlich als nächster dran, es geht nach Japan.« Beinahe wäre Haruki ein Freudenruf entglitten. Endlich wieder nachhause, wenn auch nur für ein paar Tage, das klang wunderbar. Echtes, authentisches Sushi … endlich einmal wieder seine Muttersprache sprechen, lesen und hören. Aber für Wiedersehensfreude war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, vorläufig ging es um Hasret. Umgehend setzte Haru wieder ein seriöses Gesicht auf. »Gut. Jetzt möchte Hasret Sie noch sprechen, wenn das in Ordnung ist.« »Ja, natürlich, ich werde alle Fragen beantworten, die ich beantworten kann.« Wortlos reichte der Älteste seiner neuen Teamkameradin das Handy, welches diese neugierig, aber auch mit einem misstrauisch distanzierten Blick annahm. »Ja, hallo?«, sagte sie verwirrt, obwohl ihr Kopf eigentlich voller Fragen war, die sie dem geheimnisvollen Mann gerne an den Kopf werfen würde. Ihr Mund war wohl nur groß genug für diese zwei Worte gewesen. »Guten Abend, Miss Vihre. Mein Name ist Jackbell, Sie haben sicher keinen sonderlich guten Eindruck von mir erhalten, wie ich von Miss Phan gehört habe. Ich werde Ihnen gerne alle Fragen beantworten, die Sie haben, wenn auch nicht sofort. Wenn es dennoch etwas gibt, was Sie umgehend geklärt haben möchten, zögern Sie nicht.« Jedes Wort zerfloss in ihrem Ohr, Hasret hätte ihn unheimlich gerne unterbrochen und sofort drauflos gefragt, doch ihre guten Manieren hinderten sie daran. »Ist es wahr, dass wir Unmengen an Geld bekommen, wenn diese sogenannte Mission vorbei ist?«, platzte es dann aus ihr heraus. »Sie haben ja anscheinend alle möglichen Informationen über mich und meine Familie, dann wissen Sie sicher auch, wie es um unsere Betriebe steht. Können Sie all das tatsächlich retten und meinem Vater seinen Ruhestand finanzieren?« »Das kann und werde ich. Sie können sich darauf verlassen, Miss Vihre, dass Ihre Familie sich nie wieder um Geld sorgen muss, wenn all das vorbei ist. Sollte in der Zwischenzeit etwas passieren, was mein Eingreifen erfordert, werde ich selbstverständlich auch nicht zögern, Sie zu unterstützen. Ich will mir Ihrer Hilfe immerhin auch sicher sein können.« »Und was wollen Sie meinem Vater sagen? Er braucht meine Hilfe hier dringend und ich weiß zwar, dass er mich gehen lassen würde, wenn ich ihm sage, dass ich auf Klassenreise oder so etwas gehe, aber es muss für ihn einen Grund geben, das auch zu glauben.« »Auch das ist kein Problem. Ich werde diese Nacht alles einleiten und schon morgen werden Sie mit ihm darüber sprechen und ihn auf Ihren Abschied vorbereiten können. Sollte er versuchen, Ihre Schule zu kontaktieren, ist dann ebenfalls alles in Ihrem Interesse. Sie müssen sich nicht die geringsten Sorgen machen.« Hasret warf einen kurzen, fragenden Blick zu ihren neuen Teamkollegen, doch diese bestätigten Jackbells Worte nur mit einem Nicken. »Also gut«, schloss sie dann. »Ich glaube, das ist alles … d-danke für diese Möglichkeit, schätze ich.« »Nichts zu danken. Wenn es sonst keine Fragen gibt, morgen lernen Sie Bernhard kennen, der wird Ihnen alles Weitere erklären, was Sie wissen müssen. Ich wünsche eine gute Nacht.« Er legte auf, ohne wirklich gewartet zu haben, ob es noch Rückfragen gab, so wie er es in letzter Zeit oft tat. Er schien von der vorausschauenden Ruhe, die er noch ganz am Anfang ausgestrahlt hatte, plötzlich nicht mehr so viel übrig zu haben. »So, da das jetzt geklärt ist …« Cassy ließ sich neben Haruki auf das Bett fallen, wobei dieser gerade aufstehen wollte und bei einem ausgiebigen Streckversuch ihren Arm ins Gesicht bekam. Das ganze Zimmer sprang sofort auf. »Oh mein Gott, Haru, das tut mir leid!«, stammelte die Kanadierin schockiert und schlug sich beschämt die Hände vor den Mund. Der Betroffene hatte sich wieder auf die Matratze fallen gelassen und hielt sein taubes Nasenbein zwischen Daumen und Restfingern, wie um es wieder gerade zu rücken. In seinen zusammengekniffenen Augen war der Schmerz zwar deutlich zu erkennen, ansonsten sah er aber eher grimmig aus als wirklich verletzt. »Aua«, murmelte er monoton, als sich schleunigst Hasret zu ihm setzte und die Unfallstelle besorgt begutachtete. »Aua!«, wiederholte auch sie und atmete kopfschüttelnd ein, als wollte sie noch etwas sagen, was aber nicht herauskommen wollte. »Brauchst du vielleicht eine Kühlung oder ein Pflaster, ich kann dir etwas holen …!« »Nein, nein, schon gut«, beschwichtigte er die Texanerin und setzte sich langsam wieder auf. Ein loses, kurzes Lachen entfuhr ihm. »Cassy, meine Güte, es ist doch gar nichts passiert.« Die Angesprochene hatte das dunkelrot angelaufene Gesicht unter ihren Handflächen vergraben und schickte im Sekundenabstand kleine Entschuldigungen von sich. Je mehr Haruki versuchte sie beruhigen, desto peinlicher wurde ihr die Situation und desto mehr mussten nicht nur Haru, sondern auch Eli lachen und desto öfter wollte Hasret wissen, ob sie nicht doch Erste Hilfe besorgen sollte, und das ging so lange weiter, bis letztendlich doch alle kichern mussten. »Macht ihr so was öfter?«, fragte Hasret irgendwann nach, als sie sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln gewischt hatte. »Ja, manchmal prügeln wir uns einfach ohne Grund!«, erklärte Eli mit dem ernsthaftesten Gesichtsausdruck, den er bieten konnte, doch auch der täuschte niemanden. »Ich glaube, wir sollten jetzt bald schlafen gehen«, entschied Haruki, nachdem er sich mehrere Male geräuspert hatte, um seine Stimmbänder zu lockern. »Morgen müssen wir wieder auf Schatzsuche gehen, und aus Erfahrung wissen wir ja, wie anstrengend das sein kann.« Dem hatte niemand etwas entgegenzusetzen oder hinzuzufügen, also verabschiedeten sie sich von Hasret, die die kommenden Nächte noch in ihrem eigenen Zimmer schlafen durfte, und machten sich selbst bettfertig. Sie alle waren gespannt, was sie finden würden, wie Hasret damit umging und bei wem sie diesmal dafür einbrechen mussten. Hoffentlich fanden sie nicht noch ein verwüstetes Haus vor … ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Wie versprochen trafen die Finals am nächsten Morgen gleich auf Bernhard, als sie zum Frühstück das Restaurant betraten. Der ältere, stets schlecht gelaunt aussehende Mann saß allein an einem Tisch und ließ sich die frische Auswahl schmecken. Diesmal trug er sogar ein kurzärmliges Hemd, eine absolute Neuheit für seine bis vor kurzem noch drei Schützlinge, die seine haarigen, narbigen Unterarme noch nie zuvor gesehen hatten. Das Muster darauf war allerdings genauso hässlich wie üblich. Mit vollen Wangen und Krümeln im Bart winkte er sie zu sich. »Miss Vihres baldiges Verschwinden ist abgeklärt«, verkündete Bernhard, als er den letzten Bissen auf seinem Teller heruntergeschluckt hatte und Haruki, Cassy und Eli sich ebenfalls etwas am Buffet geholt hatten. »Ich habe da auch noch einen Zettel in der Tasche, den ich ihr nachher geben werde, mit dem Wappen der Schule, Unterschrift des Direktors und allem drum und dran, den kann sie ihrem Vater dann zeigen. Der Mann an der Rezeption, ein großartiger Kerl, glaube ich, arbeitet sehr hart und schafft es trotzdem gute Laune vorzutäuschen. Bewundernswert.« Er nahm einen großen Schluck Kaffee und lehnte sich dann erschöpft auf der Bank zurück, als hätte ihm die Mahlzeit tatsächlich einiges abverlangt. »Wirklich grandios, das Essen hier. Es geht doch nichts über ein Landhotel und ein kräftiges Frühstück.« »Schön, Sie wiederzusehen«, begrüßte Haruki ihn zaghaft, bekam aber nur ein brummendes Geräusch als Antwort. Eli fiel in diesem Moment auf, dass er den Boten bisher nur am Telefon gehört und ihn noch nie live und in Farbe zu Gesicht bekommen hatte. Er hingegen schien das völlig vergessen zu haben. Die Finals warfen sich mehrere vielsagende Blicke zu. Irgendwie hatten sie Bernhard ja vermisst, mit seiner schrulligen, direkten Art … ganz zu schweigen davon, dass er irgendwie immer wusste, was zu sagen war und nie Zweifel an irgendetwas zu haben schien. Nach einer sättigenden Mahlzeit begab sich die Gruppe zurück in Zimmer 23, Bernhard machte zuvor einen kurzen Abstecher in sein eigenes Zimmer und kam mit einem Koffer und einer leicht gefüllten Plastiktüte wieder. Beides breitete er auf Harus Bett aus und räusperte sich aufmerksamkeitserregend. »Hier ist das Bargeld, das ihr bestellt habt.« Er drückte Cassy mehrere Bündel in die Hand, welche diese schnurstracks in ihrer Umhängetasche verstaute. »Wo zum Teufel habt ihr das ausgegeben, was ich euch damals zugesteckt hab?« »Taxifahrten sind ganz schön teuer«, antwortete Haruki knapp. Dass Cassy gerne mal ein großzügiges Trinkgeld gab und sie auch sonst eher wenig sparten, wenn es um Essen oder ähnliches ging, verschwieg er lieber. Jackbell verlangte ihnen einiges ab, da brauchten sie sich nicht schlecht dabei zu fühlen, wenn sie seinen Reichtum auch ein wenig ausnutzten, oder? »Das Gefühl kenne ich … ach ja, da fällt mir ein, Mister Okui, ich soll dir von Jackbell das hier geben.« Er griff in die Tüte und holte eine kleine, quadratische Schachtel heraus, welche er dem verwunderten Japaner überreichte. »Eine kleine Entschuldigung. Ihr werdet es sicherlich brauchen können.« Neugierig streckten auch Cassy und Eli die Köpfe über die breiten Schultern ihres Partners, als dieser die Schachtel vorsichtig öffnete – und beinahe vergas zu atmen. Innen befand sich eine glänzend polierte, hochwertige Armbanduhr mit dunklem Zifferblatt und fein gezeichneter Beschriftung, bedächtig tickenden Zeigern und bescheidenem Lederarmband, das ihm äußerst gut stehen würde. Mit riesigen Augen starrte er Bernhard an und nahm das Geschenk heraus. »D-danke …« Ihr Mentor winkte nur schnaubend ab. »Für Jackbell ist das eine Kleinigkeit. Er ist ja auch kein Unmensch, im Gegenteil, er ist sogar ein ziemlich gutherziger Mann, auch wenn das vielleicht für euch nicht so rüberkommt. Und jetzt, da ihr sogar vorzeitig seine Identität aus ihm herausgekitzelt habt, muss er wohl mal etwas Bestechung anwenden.« »Also ist Jackbell Lucius Schreiber!«, wollte Eli sich bestätigt wissen und schlug unwillkürlich mit der Faust auf das Fensterbrett, als hätte Bernhard gerade seine letzte Bingozahl hinausposaunt. Haruki legte indessen seine neue Uhr um und betrachtete sie entrückt im Sonnenlicht. »Und wie er das ist. Aber shh, das bleibt schön geheim, verstanden? So eine falsche Identität aufzubauen ist kein Kinderspiel und sie zu erhalten erst recht nicht. Also.« Er rieb sich die Hände und sah sich um. »Wollen wir anfangen? Möchte vielleicht jemand Miss Vihre holen?« Eli erklärte sich bereit und rannte gleich darauf aus dem Zimmer, bevor noch jemand etwas sagen konnte und ein paar Minuten später saß Hasret bei ihnen. Er hatte sie wie üblich auf dem Hof aufgegabelt, wohin sie reflexartig am Morgen als erstes gegangen war um ihren täglichen Pflichten nachzugehen, dank mangelnder Information über den nächsten Treffpunkt der Finals. »Tag, ich bin Bernhard und zuständig dafür, dass ihr alle wisst was zu tun ist«, stellte der ältere Mann sich vor und schüttelte der Texanerin mehr oder weniger grob die Hand. Diese lächelte zwar benommen, war sich aber noch nicht ganz sicher, was sie von diesem Kerl halten sollte. Er wirkte auf jeden Fall … locker. Kurzerhand reichte Bernhard ihr daraufhin den gefälschten Zettel ihrer Schule. »Du kannst ihn dir durchlesen, wenn du willst. Du gehst auf ein Austauschprogramm nach Europa, dort ist auch Mister Dalton laut offiziellen Angaben.« »Das bin ich«, fügte Eli hinzu, der sich nicht daran erinnern konnte, dass Hasret seinen Nachnamen schon erfahren hatte. »Und meine Schule weiß bescheid? Wenn mein Vater die Lehrer anrufen will?« »Selbstverständlich, alles geklärt. Niemand wird merken, was los ist.« Bernhard klang richtig stolz, dass er Teil einer so fähigen Verschwörung war. Irgendwie konnte man es ja schon als solche bezeichnen. »Mir ist gestern Abend noch etwas eingefallen«, bemerkte Cassy plötzlich und machte sich an ihrem Koffer zu schaffen. »Eli, hol mal deine Zahnstocher raus«, gab sie mit wedelnder Hand die Anweisung. Es dauerte erst eine Weile, bis der Angesprochene verstand, was sie von ihm wollte, dann jedoch öffnete er ebenfalls seinen Koffer und beide entwirrten ihre Waffen aus Küchentüchern und Kleidungsstücken, um sie in der Mitte zwischen den fünfen präsentierend auszubreiten. »Das sind Venus und Mercury«, stellte Cassy den Revolver und die Messer vor. »Elis und meine Nullpunkt-Prototypen. Ich dachte, vielleicht möchtest du dich mal selbst davon überzeugen, wovon wir die ganze Zeit gesprochen haben.« Mit Erfurcht, Neugier und auch ein wenig zurückhaltendem Respekt betrachtete Hasret die Waffen genauer und traute sich nach und nach immer näher an sie heran. Unglaublich, so etwas hatte sie bisher noch nie gesehen, es erinnerte sie ein wenig an Spielzeuge mit den mystischen, abgestimmten Farben, doch das glänzende Metall und die Schärfe von Mercurys Klingen sprachen eine andere Sprache. »Wahnsinn … und so etwas kriege ich auch? Was ist es?«, fragte sie atemlos nach und warf einen Blick zu Bernhard, doch der zuckte nur mit den Schultern. »Hab ich vergessen. Sehen wir ja bald.« Haruki musste unwillkürlich losprusten. Hasret verzog eher eine Miene. »Also gut, was müssen wir tun? Cassy hat erwähnt, dass sie Elis Waffe irgendwo abgeholt haben. Wer und wo ist denn dieser Aufbewahrer?« Bernhard räusperte sich noch einmal. »Richtig, richtig. Jackbell hat jede Waffe bei einem Bewohner der Stadt versteckt, aus der der zugehörige Final kommt. Die Person weiß über alles bescheid und wartet nur noch darauf, dass wir das gute Stück abholen kommen. Miss Vihre, deine Waffe befindet sich bei einem Mann namens Clarence P. Wood. Irgendwo im Wagen habe ich seine Adresse, ich fahre euch gleich hin, wenn ihr bereit seid.« »Das ist der Besitzer des Pfandhauses in Rhodesville, glaube ich«, bemerkte Hasret gedankenvoll, dann warf sie ihren Blick zu den drei anderen, die ebenfalls zu allem entschlossen aussahen. »Ich denke, wir können los.« Niemand hatte etwas einzuwenden. Die Waffen wurden wieder verstaut, dann nahmen Bernhard, Haruki, Cassy und Eli wie üblich den gewöhnlichen Weg die Treppe hinunter und an der Rezeption vorbei, während Hasret wieder einmal die Feuertreppe herunterturnte, um nicht erkannt zu werden. Vor dem Gutshaus traf die Truppe sich wieder und stieg in Bernhards Mietwagen ein, der im Gegensatz zum letzten ein wenig größer war, damit auch alle hineinpassten. Haruki wollte sich kaum vorstellen, wie es aussehen würde, wenn sie auch die drei übrigen Finals gefunden hatten und einen halben Kleinbus brauchten, der sie herumkutschierte. Zwar hätten sie zu Fuß nur zwanzig Minuten in die Stadt gebraucht, doch wenn Hasrets Nullpunkt-Prototyp sich als etwas Größeres herausstellte, könnte es vielleicht befremdlich wirken, wenn sie damit durch die Kleinstadt spazierten. Bernhard konnte doch nicht ernsthaft vergessen haben, was sie überhaupt suchten … oder? »Hat Jackbell eigentlich schon herausgefunden, was mit Bernadette Sparks passiert ist?«, fragte Cassy auf halbem Weg und beobachtete dabei Bernhard neben sich auf dem Fahrersitz, der nur ab und zu einen Blick auf den Zettel vor sich warf, auf dem in seiner unlesbaren Schrift die Adresse des Ziels stehen musste. Während Hasret hinter ihr Haruki fragend ansah und dieser ihr daraufhin die Kurzfassung des Abenteuers in West Palm Beach schilderte, zuckte der Fahrer nur wieder einmal desinteressiert mit den Schultern. »Keine Ahnung. Sieht nicht so aus. Aber ich bin sicher, er ist an dem Fall dran.« Die Antwort war nicht sonderlich befriedigend, aber mehr würden sie wohl nicht bekommen. Jetzt, wo das Thema wieder aufkam … wer mochte die Person gewesen sein, die das Haus derzeit durchsucht hatte? Und das offensichtlich nur wenige Tage oder sogar Stunden vor ihrer eigenen Ankunft. Sie hätten der Person rein theoretisch begegnen können. Es musste der Original gewesen sein, oder zumindest jemand, der in dessen Auftrag gehandelt hatte. Ob er ihnen auch bis hierher gefolgt war? Ob er auch Clarence Woods Wohnung durchsucht hatte? Was wenn sie den Aufbewahrer auch diesmal nicht antrafen? Cassy musste schlucken. Schwebten sie womöglich schon jetzt in Gefahr? Nach kurzer Zeit erreichten die Finals und ihr Mentor Rhodesvilles Innenstadt. Die schmale Straße, die durch den Ort führte, war holprig und rüttelte sämtliche Insassen des Autos ziemlich durch, doch nah des Geschäftes mit der Aufschrift ›Pfandhaus‹ befand sich tatsächlich ein enger Parkplatz. Sie waren fast die einzigen darauf, neben einer kleinen Klapperkiste auf der gegenüberliegenden Seite. Die Gruppe stieg aus und sah sich ein wenig um. Heute war es nicht mehr allzu heiß, eher angenehm, ein sanfter Wind wehte durch die Straßen und der Himmel war mit einer weißen Wolkenwand verschlossen. Bernhard streckte stöhnend die Arme über dem Kopf aus und machte dann eine Handbewegung, die den Finals das Zeichen geben sollte, ihm zu folgen. Hasret hatte ein Kribbeln zwischen den Rippen, sie war unglaublich gespannt darauf, was sie dort finden würden, als sie ein Brummen neben sich wahrnahm. »Langsam reicht mir dieses Landzeug …«, murmelte Haruki mürrisch durch seine Zähne hindurch, bemerkte dann aber den Blick der Texanerin und biss sich auf die Zunge. »Ich meine, nichts gegen dein Zuhause … aber ich komme mit diesem Leben einfach nicht klar.« »Kein Problem, ich verstehe dich. Mir würde es in der Großstadt genauso gehen.« Sie lächelte versöhnlich, Haru seufzte innerlich. Dann wird sie am nächsten Wegpunkt aber keine große Freude haben, schoss es ihm durch den Kopf und die kindische Vorfreude auf seine Heimat kehrte in seine Gedanken zurück. Eine Türglocke läutete, als sie das Geschäft betraten. An der gegenüberliegenden Wand befanden sich Tresen und Kasse, der Weg dorthin war geschmückt und teilweise zugestellt von tausenden Kleinigkeiten, allerlei Alltagsgegenständen, großen und kleinen Möbeln, Geschirr, Figuren, Schmuck, soweit das Auge reichte. Es erinnerte schon fast eher an einen Antiquitätenladen. Bernhard kämpfte sich zur Kasse durch und schellte dort eine weitere Klingel, als die Vorherige den Besitzer des Ladens nicht angelockt zu haben schien. Die Finals hingegen waren ganz hingerissen von all den Sachen, die sich hier an den Wänden türmten. Haruki stand vor einem deckenhohen Regal, das mehr oder weniger authentisches chinesisches Porzellangeschirr, altmodische Kristallgläser, kitschige Glas- und Tonfiguren und ein Schmuckkästchen mit ein paar unterschiedlich großen Perlenketten enthielt; Eli versuchte den Boden einer schmalen Porzellanvase mit verblichenen Blumen darauf zu ergründen, in der mehrere Schirme, Gehstöcke und eine Schrotflinte steckten; Cassy betrachtete mit angewidertem Gesicht eine Reihe von ausgestopften Mardern, Füchsen und Hasen, sowie Geweihen und anderen Jagdtrophäen an der Wand dahinter. Wer gab so etwas beim Pfandhaus ab? Was bekam man dafür bitte ausgezahlt? »Komme ja schon, mein Gott!«, kam es von hinter einem Vorhang jenseits des Tresen, aus dem wenige Sekunden später ein dicker Mann mit zotteligem Bart und Sonnenbrille kam, der ungefähr so alt sein musste wie Bernhard. Sogar seine Stimme war ähnlich. Mit einem Geräusch, das ein wenig wie ein Hundebellen klang, richtete er die Ärmel seines Hemdes und lehnte dann die Unterarme auf den Tresen, um seine mutmaßlichen Kunden genauer zu begutachten. »Haben Sie was für mich? Sie hab ich hier noch nie gesehen.« Wie automatisch fiel sein Blick seitlich auf Hasret, welche ein Buch betrachtete, das vor ihr lag. Er kannte sie, sie spürte seine Augen, erwiderte den Blick aber nicht. Er war kein wirklich netter Mensch. »Nein, aber Sie haben etwas für mich«, erwiderte Bernhard geheimnisvoll und lächelte grimmig. Dann zog er etwas Kleines aus seiner Hemdtasche und legte es vor sich auf den Tresen. »Sie sind Mister Wood, nicht wahr? Ich bin im Auftrag eines gewissen Jackbells hier. Wir würden gerne etwas abholen.« Wood kniff die kleinen Augen hinter seiner Sonnenbrille zusammen und betrachtete Bernhard eine Weile lang argwöhnisch. Dann kratzte er sich geräuschvoll an seinem gräulichen Weihnachtsmannbart. »Jaja, ich erinnere mich. Aber ich soll diese Kiste nicht einfach so an jeden rausgeben, der hier reinkommt. Sie müssen erst beweisen, dass Sie der richtige Kerl sind«, forderte er verschwörerisch und warf einen kurzen Blick auf die Kleinigkeit, die Bernhard vor ihnen abgelegt hatte. Es war eine Art Ausweis, zumindest stand sein Name darauf, ein Porträt von ihm, wie auch einige weitere Daten, die man von weitem nicht erkennen konnte. »Das reicht nicht?«, fragte Jackbells Bote verblüfft und auch eine Spur genervt. Die Finals hatten sich indessen von dem Ramsch abgewendet, den sie soeben noch begutachtet hatten und schenkten ihre volle Aufmerksamkeit jetzt dem Geschehen an der Kasse. »Das ist mein Foto, was wollen Sie noch?« »Sorry, das sind Anweisungen.« Der Pfandhausbesitzer kramte nach etwas hinter dem Tresen, bis er ein zerfleddertes Notizbuch fand und eine Weile darin herumblätterte. »Sicherheitsfrage, hat mir Ihr Chef gegeben. ›Wie hieß das erste Buch, das ich veröffentlicht habe?‹« Bernhard wirkte zunächst angespannt, als er jedoch die Frage hörte, schien aller Zweifel von seinen Schultern abzufallen und er seufzte lediglich erleichtert. »›Die Logik der Elemente‹, 1957. Mein Gott, da hätte sich der Alte aber auch was Schwereres ausdenken können.« Wood nickte langsam, immer noch mit zusammengekniffenen Augen, als er die Antwort mit der in seinem Büchlein verglich, und verschwand dann wieder hinter dem Vorhang. Auch die Finals staunten nicht schlecht. Bernhard musste Jackbell wirklich gut kennen, so schnell war seine Antwort aus der Pistole geschossen gekommen. Man hörte es leise poltern und Pappen wurden dem Geräusch nach durch den Raum geschleudert, so energisch, dass Hasret schlucken musste und Angst um ihre Waffe bekam. Ein paar Minuten später, in denen die Besucher peinlich berührt vor sich hin geschwiegen hatten, kam Clarence Wood zurück in seinen Laden und knallte eine riesige, längliche Kiste auf den Tresen, kurz nachdem Bernhard seinen vermeintlichen Ausweis davor hatte retten können, darunter begraben zu werden. Die Waffe schien größer zu sein als die zwei bisherigen, die schwarze Kiste, die einem Instrumentenkoffer ähnelte, war gut einen Meter lang und noch einmal halb so breit und hoch. Bernhard stellte wie selbstverständlich eine Nummer am Sicherheitsschloss ein, welche diesmal allerdings nicht schon vorher eingegeben war, und öffnete vorsichtig die Kiste. Die Finals hinter ihm beugten sich unwillkürlich immer weiter vor und spähten neugierig an ihm vorbei. Im Koffer befand sich ein Bogen. Modernes Design, bestehend aus vielen kleinen Einzelteilen und Rädchen, ein fraktaler, kristallartiger Schliff, der irgendwie mystisch wirkte, in verschiedenen Metallicgrün und -bronzetönen. Er hatte schon fast etwas Phantastisches an sich. Am schwarzen Griff, der dem von Elis Mercury ähnelte, konnte man kurz den Namen lesen – Terra. Mit einem Ruck klappte Bernhard den Koffer wieder zu, sodass er beinahe Hasrets und Elis Nasen einklemmte, die sich indessen vor Neugier immer weiter vorgestohlen hatten. »Ach ja, jetzt weiß ich wieder was es war«, bestätigte er überflüssigerweise und mit ein klein wenig Vergnügen in der Stimme. »Danke fürs Aufbewahren, Mister Wood, ich sage Jackbell bescheid, dass wir die Ware abgeholt haben. Auf Wiedersehen.« »Wiedersehen«, brummte der Pfandleiher mit tiefer Stimme und murmelte den Rest seines Satzes in seinen Bart hinein, als er seinen Tresen wieder ein wenig herrichtete, der vom Koffer verwüstet worden war. Seine Blicke klebten noch so lange an den Besuchern, bis diese seinen Laden endgültig verlassen hatten, und Cassy hatte den Verdacht, dass er wie auch sie ordentlich von Jackbell für diesen Aufbewahrungsaufwand entlohnt wurde. Als Bernhard beinahe mit der Riesenkiste auf dem Arm gestolpert wäre, bot sich Haruki als helfende Hand an und die beiden brachten die Waffe unbeschädigt zum Auto zurück, wo sie sie mit ein wenig Mühe in den Kofferraum quetschten. »Was für ein cooles Teil!«, platzte es begeistert aus Eli heraus, als sie wieder unter sich waren. »Ein Bogen passt toll zu dir, Hasret, du siehst sicher richtig authentisch damit aus!« Cassy wollte ebenfalls etwas sagen, ihr fiel aber nichts Interessantes ein, also nickte sie nur angestrengt und zustimmend. Die Texanerin lachte beschämt. »Meinst du wirklich? Ich hab so ein Ding noch nie benutzt, außer vielleicht früher mal als Spielzeug … keine Ahnung, ob ich damit überhaupt zielen kann.« »Das lernt ihr alles noch«, murmelte Bernhard und schaffte es mit einem letzten Ruck die Kofferraumtür zu schließen. »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich das Teil ab jetzt mitnehme und im Jet verstaue, oder? Ich meine, du siehst ja, wie unhandlich das ist und ihr werdet mit der Zeit noch genug Gepäck mitschleppen müssen. Und wenn wirklich mal eine Gefahrensituation eintritt, habt ihr immer noch Venus und Mercury.« Den Teil über Gefahrensituationen ignorierend nickte Hasret zustimmend. »Natürlich. Ich wüsste auch nicht, wohin mit dieser Kiste, wenn ich ehrlich bin.« Insgeheim war sie ein bisschen enttäuscht darüber, den Prototypen so schnell wieder abgeben zu müssen, denn obwohl es sich dabei um eine gefährliche Waffe handelte, Bogenschießen war genauso ein Sport. Und irgendwie wirkte der Bogen auf sie weniger bedrohlich als eine Pistole, auch wenn sie nicht ganz sagen konnte, worin dieser Unterschied lag. Die Finals stiegen wieder ins Auto ein und traten den Rückweg zum Hotel an. Es war gerade erst früher Nachmittag und sie hatten noch anderthalb Tage Zeit bis zum nächsten Flug. So langsam waren die Möglichkeiten von Rhodesville ausgeschöpft, auch wenn es hier wirklich schön war. »Um ehrlich zu sein, ist es ein echt komisches Gefühl zu wissen, dass dieser Bogen mir gehört«, murmelte Hasret gedankenverloren. »Einfach so, aus dem Nichts … und irgendwann soll ich damit kämpfen. Verrückt.« »Ich verstehe, was du meinst«, stimmte Cassy zu. »Mir ist es auch so gegangen. Irgendwie seltsam, jeder von uns bekommt etwas ganz für sich allein, mit so einer Kraft dahinter … wir hätten rein theoretisch die Möglichkeit jemanden zu töten. Da bekommt man richtig Gänsehaut.« »Zu töten oder zu beschützen«, fügte Haruki mit weiser Stimme hinzu. »Es kommt darauf an, wie wir diese Macht einsetzen. Ich habe ganz bestimmt nicht vor, jemanden umzubringen.« »Oh, das wirst du ganz anders sehen, wenn du erstmal ein Messer an der Kehle hast«, unterbrach Bernhard das Gespräch bitter. »Man weiß nie, in welche Situationen man noch kommt und vor allem wie man handeln wird. Das kann vorher keiner sagen. Aber es wird ja hoffentlich noch etwas dauern, bis es soweit ist.« Haru schluckte mit ernstem Blick. Ehrlich gesagt wollte er über solche Momente noch gar nicht nachdenken, am besten sowieso niemals, sie hatten immerhin jetzt noch andere Probleme. Zumindest war bei Wood niemand eingebrochen und die Waffe war intakt. »Terra ist aber gar kein Planet …«, nuschelte Eli irgendwann wenig verständlich, während er angestrengt aus dem Fenster blickte. »Was hast du gesagt?« »Venus und Mercury sind Planeten. Terra ist keiner. Das passt nicht in Jackbells Ordnung«, wiederholte der Rotschopf gedankenverloren und es machte den Eindruck, als hätte er die vergangenen sieben Minuten über nichts anderes nachgedacht. Cassy schnaubte belustigt. »Natürlich, das ist die Erde! Die hat eben keinen coolen, lateinischen Namen«, erwiderte sie halbwegs sicher und damit war Eli dann auch beruhigt. »Ich bin die Erde …«, murmelte Hasret so leise, dass es die anderen nicht verstehen konnten, verschränkte die Arme und versank in ihrem Sitz, verloren in dem Gedanken, was das wohl zu bedeuten hatte. Zurück auf dem Landgut der Vihres angekommen führte Hasret die anderen zur Besprechung der weiteren Maßnahmen lieber in die Scheune, als noch ein fünftes Mal die Feuertreppe hinauf zu sprinten und sich dabei wie Tom Cruise in Mission Impossible zu fühlen. »Okay, hier ist der Plan«, begann Bernhard, der es sich auf dem staubigen Schemel bequem gemacht hatte, welchen Cassy vor ein paar Tagen besessen hatte. »Morgen Abend checken Mister Okui, Miss Phan, Mister Dalton und ich aus, ich allerdings ein paar Stunden früher, damit es nicht allzu auffällig rüberkommt. Ich halte mich bis dahin so lange im Ort auf, dann hole ich euch ab und fahre euch nach Houston, wo ich euch eine Nacht lang kurz einquartiere. Am nächsten Morgen komme ich noch einmal zurück, um Miss Vihre abzuholen, hab mir bis dahin einen anderen Wagen besorgt, getarnt als eine Fahrgemeinschaft zur Schule. Du kannst dich also bis dahin noch von deinem Vater verabschieden, am besten besprichst du gleich erstmal alles, was auf dem gefälschten Brief steht ganz entspannt mit ihm, du hast ja noch genug Zeit. Deine Sachen brauchst du auch nicht zu packen, euch wird allen ein Koffer von Jackbell zur Verfügung gestellt, deinen hab ich schon mitgebracht, er steht im Zimmer der anderen. Wenn es irgendetwas Besonderes gibt, was du doch gerne einpacken möchtest, ich hab nichts dagegen, wenn du versuchst es in den Koffer zu quetschen. Ansonsten wäre es das. Macht euch die letzten Tage noch eine schöne Zeit, Montag um Acht hole ich Miss Vihre ab und der Rest von euch checkt morgen Abend um sieben aus. Alles so weit verstanden?« Die Gruppe nickte. Keinem fiel eine Nachfrage ein. Hasret hatte zwar einen schweren Stein im Magen liegen, den musste sie allerdings ganz allein bekämpfen. Wenn Jackbell tatsächlich alles geklärt hatte, dann dürfte es ja nicht schwer sein, ihrem Vater irgendwie weis zu machen, dass sie sich die nächsten Monate in Europa befinden würde. Einerseits war sie zwar dankbar dafür, dass sie noch einen Tag hier verbringen konnte, aber auf der anderen Seite konnte sie es plötzlich gar nicht mehr abwarten, endlich ihre Heimat zu verlassen und in ein Flugzeug zu steigen. Schon bald würde dieser Ort nur noch eine bittersüße Erinnerung sein, die zu weit von ihr entfernt war, als dass sie sie bald wieder ergreifen konnte. Ihr Zuhause war nun mehr nichts weiter als der Auslöser der schmerzvollen Sehnsucht, die sie bald schon Tag und Nacht plagen würde. Sie würde in den kommenden Tagen ein wenig Zeit für sich brauchen, vielleicht einen Ausritt machen um sich von den Feldern und der Idylle zu verabschieden, Bluebottle ihre Sorgen erzählen, etwas mit ihren Brüdern unternehmen … und natürlich ihre Pflichten auf keinen Fall vergessen. Die würden sich in Kürze ändern, doch sie hatten dennoch dasselbe Ziel; ihre Familie um jeden Preis zu unterstützen. Sie würde ein guter Final werden, ihre Waffe zu meistern lernen und Jackbells Befehle befolgen, Haruki, Cassy und Eli zur Seite stehen und ein unerschütterliches Team mit ihnen bilden. Hasret Vihre trug eine Verantwortung. Und jetzt war sie ein Final.
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Unnötige Meta-Facts: Kapitel 5
Ich hab keine Ahnung von Sternbildern, aber der Schütze ist bei der Aufzählung am Anfang nur dabei, weil Hasret in Wirklichkeit Katniss ist, und sie hat noch nicht mal Schütze als Sternzeichen, das wäre dann doch ein bisschen ZU convenient. :'D
Der Anfang ist einfach so unnötig deep, und ich weiß überhaupt nicht mehr wieso ich das so geschrieben hab, aber wir brauchten die Exposition ...! Und Hasrets Schulleben kommt auch irgendwie nie mehr vor, ganz im Gegensatz zu ihrem Familienleben, von daher wollte ich auch einfach mal davon ein bisschen einbringen. Sie kommt einem gleich vor wie so ein Loser ohne Freunde, obwohl das nicht ganz richtig ist; sie hat einfach keine Zeit für Freunde, sie ist ein hardworking country ranch girl?! O:
Hasrets Lieblingspony ist extra für die neue Fassung dazugekommen. Sie war schon immer ein good old Pferdegirl, und dieses Mal hatte ich auch mal echtes Fachwissen in einem Bereich, weil ich früher auch das mega intensive Pferdegirl war und ja, man ist immer so cuddly mit seinen Ponys, man will sie knutschen und AHH! :'D Ponys sind super.
Nicht viel, aber immerhin. Ich war, zugegeben, recht pingelig dieses Mal.
Hier sind jetzt auch nicht unbedingt interessante Menschen drin ... ich könnte jetzt nicht wirklich etwas zu irgendwem sagen und das soll schon was heißen. :'D Warum Kate Kate heißt ist ein Rätsel, aber ich tu jetzt einfach mal so, als wäre das eine schon lange geplante Hommage an Ratsch und nicht ein Zufall. (-;
Hier ist sie, in all ihrer strahlenden Schönheit und Ruhmreichhaltigkeit: Die weltberühmte Verona-Moreno-Szene! Abgesehen von den wirklich spannenden Szenen mit dem Antagonisten meine absolute Lieblingsstelle in der ganzen Geschichte von OvF! (Übrigens auch in den Worten des Google-Übersetzers auf diesem Blog zu finden) Die Szene entstand, während Majo und ich auf deviantART per Notes schrieben und ich aus irgendwelchen Gründen nach meinem letzten Post weg musste. Majo, daraufhin mit ihrer Kreativität und Motivation alleingelassen, verfasst kurzerhand die schwindelerregend lange Begegnung von Haruki und Verona Moreno, seinem ganz persönlichen Dämon (Der Endboss von Harus Silent Hill wäre sie). Ich weiß noch nicht mal wieso, aber ich finde die Szene einfach so abartig witzig, und sie war so charakterbildend für Haru! :'D Seine mürrische Art wird aufgegriffen, aber genauso seine Bemühungen trotzdem freundlich zu sein, was ihm aber schlussendlich nicht gelingt, Veronas total bekloppter und nerviger Charakter und schließlich wird eine herrliche Beziehung hergestellt, die mich ein bisschen an Hape Kerkelings "Der Römertopf!" - "Der Deckel!" erinnert. (Ich weiß nicht mal mehr woher das war ... ich glaube 'Ein Mann, ein Fjord'? Ich hab den Film vor 1297 Jahren mal gesehen, glaube ich. 8D)
Ist das eine sorgfältig versteckte Kritik am Kapitalismus und Mindestlohn in der Taxifahrerszene? Wer weiß das schon? 8D
Das hier ist ein Haruki-ist-sauer-Kapitel. Zumindest die erste Hälfte. Er ist so ein verwöhnter Stadtjunge, das ist so niedlich. :'D
Elis Maisfetisch ist irgendwann mal in der Originalfassung während des Hasret-Abschnitts als Running Gag entstanden und er hat ziemlich oft "Maisfeeeeld!" geschrien, weil ... er bescheuert war und wir dachten, das wäre lustig. 8DD Weil er aber nach wie vor der "Maisjunge" ist und wir ihn nicht von seinem Mais trennen wollten, habe ich einfach mal versucht, diese intensive Liebe irgendwie sinnvoll klingen zu lassen (im nächsten Kapitel wird das noch genauer erklärt). Eli ohne Mais ist wie ich ohne Zwiebeln. uwu
This just in: Hasrets Papa ist ein wunderbarer Engel und ein guter Mensch und ich denke, sein Faceclaim dürfte Morgan Freeman sein. 8DDD
Der Begriff "skandalöse Bettfrisur" entfaltet seine Wirkung erst koplett, wenn man bedenkt, dass Harus Haare literally zwei oder drei Zentimeter lang sind ... 8D
Endlich. Nach all den Kapiteln. Cassys gay ist showing. Oder eher ihr pan. Aber ihr wisst schon, was ich meine. (-; Auch eine Sache, die erst später dazugekommen ist. So wie ich ist auch Cassy erwachsen und gay geworden. OvF war ohnehin früher viel zu hetero, daran musste ich dringend schrauben.
Cassy ist in diesem Kapitel wieder mal ziemlich #relatable (obwohl, Haru eigentlich auch). Jammert, stottert, ist awkward, peinlich und anxious. Sie ist ich. Das ist so ein großer Kontrast zu ihrer ~schlagfertigen~ Art von früher ... ich wiederhole mich in diesen UMF ständig, kann das sein? 8D Ich finde die Endszene eigentlich ziemlich gut gelungen, einfach weil Cassy so völligen Stuss redet und selbst überhaupt nicht weiß was los ist. Jedes Mal, wenn ich eine neue Überzeugungsszene schreibe, merke ich selber, wie bescheuert die ganze Sache ist. 8D
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5. Kapitel: VEGETATION
Heeey, sorry dass letzte Woche das Kapitel ausgefallen ist, ich war auf Achse und hatte auch vorher keine Lust was vorzubereiten. :’D Zum Glück gab es keinen hardcore Cliffhanger, das wäre ja wirklich … unverantwortlich gewesen. Ich denke, dieses Kapitel ist ganz … gut? Es enthält eine meiner absoluten Lieblingsszenen im ganzen Buch (siehe später auch die UMF), die Charaktere sind meiner Meinung nach ziemlich gut getroffen (ich bin immerhin fast die Einzige, die das beurteilen kann … 8D) und Hasret kommt endlich vor. Sie ist precious und eine cinnamon roll. Sie rettet noch so manche Situation, das kann ich schon mal ganz frivol spoilern. Word count: 11,7k Warnings: ich glaube, noch immer nichts?? Ich bin mir nicht sicher, aber ich wüsste echt nichts unangenehmes, was hier passiert :’D
Nur ein paar Minuten. Nur eine ganz kurze Pause. Die warme Luft genießen, die abkühlende Böe, die sie vorsichtig zerteilte, um sich selbst hindurchzustehlen. Die Sterne beobachten, stutzen, wenn man das Gefühl bekam, dass sie sich bewegten, Linien zwischen den weißen, schimmernden Punkten ziehen und zu einem riesigen Bild voller Ecken und Kanten verbinden. Sich vorstellen, mit einem Schiff die Milchstraße hinunterzufahren, das Fernrohr herauszuholen und damit die Sterne zu erfassen, die so weit weg waren, dass man sie von hier unten gar nicht mehr sehen konnte. Der große Wagen, der Schwan, der Schütze … sie hatte keine Ahnung, ob man zu dieser Jahreszeit überhaupt diese Sternbilder sehen konnte, aber für sie waren sie da, hier, überall ein Stück von ihnen. Sie konnte ganz einfach neue Sternbilder erfinden, wenn sie wollte! Letztendlich waren diese astronomischen Kunstwerke doch nichts weiter als kaum zu erkennende Tupfen, die von den Augen der Menschen mit Linien verbunden worden waren. Nichts, was sie nicht auch konnte. Sie schlang die Arme um ihre Knie und verhakte ihre rauen, erdigen Finger ineinander, legte den Kopf in den Nacken und atmete langsam ein und wieder aus, immer wieder, ganz bewusst, sodass sie langsam ihre Lungenflügel zu spüren begann. Sie war am Leben, war frei und gut, konnte atmen und die frische Luft auf ihrer Zunge schmecken. Hinten am Horizont flossen die Lichter des Himmels wieder zurück in eine Stadt, sie konnte nicht sagen welche. Das Gras an ihrem Hosenboden war feucht, obwohl es schon hellbraun war, das Stroh stach sanft in ihren Rücken, wie jemand, der einem immer wieder auf die Schulter tippte, ihre Stiefel glänzten vor Nässe. Ob es wohl jemanden gab, der gerade an sie dachte? Jemand auf der anderen Seite des Universums, der genau wie sie in die Sterne schaute und sich fragte, ob es da draußen wohl Leben gab? Ihre dunklen Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln und sie schloss die Augen, atmete noch einmal tief durch und stand dann langsam wieder auf. Sie war stets den ganzen Tag über beschäftigt, sie war in der Schule, arbeitete zuhause, redete mit Leuten, kümmerte sich um tausend kleine und große Dinge, immer mit einem Lächeln auf den Lippen, aber wann hatte sie sich zum letzten Mal einfach nur hingesetzt und den Himmel betrachtet? Einfach nur geatmet, nachgedacht und ihre Fantasie spielen lassen? Es war so ein wunderschönes Gefühl, aber sie vergaß es meist einfach wieder. Gerade wenn sie über etwas nachdenken wollte, riefen sie die Pflichten wieder, die sie sich selbst auferlegt hatte. Es störte sie nicht, ganz im Gegenteil. Anderen Menschen den Tag zu verschönern, wenn auch nur ein kleines bisschen, das war es, was sie liebte. Sie war keine Anführerin und keine Organisatorin, wollte ihren Namen nicht in Goldbuchstaben lesen. Die anderen konnten sich um die Spitze der Pyramide streiten, sie selbst hatte alles, was sie brauchte. Sie war keine große Philosophin, doch sie glaubte daran, dass jeder seinen Platz in der Welt und sein eigenes Schicksal selbst finden musste, und das hatte sie schon vor langer Zeit getan, ganz gleich, dass sie erst siebzehn Jahre alt war. Manche Menschen starben ohne zu wissen was sie antrieb. Mit einem unverständlichen Murmeln an sich selbst klopfte sie sich den Staub von der Hose und stemmte die Hände in den Rücken, um ihn durchzudrücken und zu begradigen. Ihre Zeit war vorbei, es war wieder Zeit für andere. Dankbar, und dennoch sehnsüchtig, verabschiedete sie sich von dem kleinen, überdachten Fleckchen hinter dem Stall, wo die Strohballen vor dem Regen geschützt standen, und ging hinein. Weißes, elektrisches Licht floss von der Tür aus an der Decke entlang bis zum anderen Ende des Raumes und reflektierte die abblätternde, rote Farbe an den Boxen, die nun eher nach blutorange aussah, sowie die neugierigen Gesichter der Tiere, die sich nach ihrem Besucher umsahen. Sie lächelte warm und erleichtert, als hätte sie insgeheim befürchtet, die Gesichter eines Tages nicht mehr vor sich zu haben, wenn sie hereinkam. Mit einem leisen, schläfrigen Summen auf den Lippen ließ sie eine Hand in ihre Tasche gleiten, als sie mit einer Schubkarre in der anderen den ganzen Weg bis zur letzten Box ging, wo ein kleiner Kopf seine Schnauze über die Boxentür schob und aufgeregt die schwarzen Nüstern blähte. Sie bekam beinahe Tränen in den Augen, als sie das vanillefarbene Pony sie so eifrig begrüßen sah, alle Schmerzen und jeder schlechte Gedanke, der je in ihrem Körper gewesen war, wurde durch das freundliche Schnauben bereinigt und in wattige Wolken verwandelt. »Was hat mein kleiner Mann denn heute gemacht?« Ihre Stimme klang nur hier in diesem Stall so, wenn sie allein war, nur wenn sie mit einem Tier sprach. Sie spitzte die Lippen und blähte die Wangen auf, als sie dem Pony ein krümeliges Stück Zucker zuschob, das es mit seinen weichen Lippen aus ihrer Handfläche aufsaugte. »Soll ich dir von meinem Tag erzählen? Du wirst mir ja eh nichts von deinem verraten.« Sie nahm die dicken, hellbraunen Handschuhe von ihrem Gürtel und streifte sie über die Finger, griff dann nach der Mistgabel, die an der Wand lehnte und öffnete vorsichtig die Stalltür. Mit knisternden Hufschritten tänzelte das kleine Pferd aus dem Weg um ihr Platz zu machen. »Diese Kate aus meiner Parallelklasse hatte heute eine neue Hose an. Alle waren ziemlich begeistert davon, glaube ich, es war eine ganz enge mit Stickmuster auf den Taschen, Strasssteinchen und Pailletten. Ich finde, die helle Jeans von Montag hat ihr besser gestanden, aber das ist ja egal. Offenbar war das eine Designerhose, habe ich gehört. Kannst du dir vorstellen, dass man für so etwas Geld ausgibt, nur weil ein Namensschild eingenäht ist?« Sie kicherte kopfschüttelnd, als sie mit der Mistgabel ins Stroh stach und die erste Ladung in ihre Schubkarre ausleerte. »In der Mittagspause hat sie ziemlich oft zu mir rüber gesehen und ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, ob sie mich ansprechen wollte oder angeekelt war oder so etwas. Auf jeden Fall konnte ich mich die ganze Zeit über nicht konzentrieren und hab dann meine Hausaufgaben nicht fertig machen können … darum bin ich auch erst jetzt hier, ich musste für morgen noch einiges vorbereiten. Heutzutage gibt es ganz schön viel zu lernen in der Schule, sei froh, dass du mit so was nichts zu tun hast, Bluebottle …« Sie seufzte langgezogen und schwieg dann beinahe minutenlang nachdenklich, brav die Mistgabel schwingend, bis ihr schließlich auffiel, dass sie einfach das Gespräch abgebrochen hatte. Mit einem traurigen Lächeln schüttelte sie den Kopf und tätschelte dem Pony dann den Hals. »Tut mir leid, ich hab mich wohl ablenken lassen. Ich bin ganz schön müde … was ist mit dir? Haben die großen Jungs heute mit dir gespielt?« Das Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück, sie gab dem Pony einen Kuss auf die staubige Stirn und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Bluebottle schnaubte leise und verständnisvoll, und es klang beinahe so wie ihr Seufzen. Hätte sie sich in der Schule heute nicht von Kates schiefen Blicken ablenken lassen, hätte sie ihre Hausaufgaben fertig machen und früher die Ställe ausmisten können. Jetzt war es spät und sie müde von dem langen Tag, aber es half nichts, irgendjemand musste es ja tun. Und ihr Vater hatte nun wirklich genug mit den Gästen zu tun, da konnte sie sich nicht einfach so ins Bett legen. Es gab immer etwas zu tun, egal wohin man sah und wohin man ging, und das hing nicht davon ab, ob es auch jemanden gab, der diese Dinge bewältigen konnte. Manchmal waren Sachen eben nicht ›fair‹. Aber es gab keine andere Möglichkeit, als damit zu leben und das Beste daraus zu machen. Sie war doch glücklich … wieso sollte sie verbessern, wo es nichts zu verbessern gab? ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Erste Klasse. Jackbell war unglaublich. Gerade eben waren sie noch sauer darüber gewesen, dass sie den Komfort seines Privatflugzeuges nicht mehr genießen konnten – so verwöhnt waren sie auch nach ein paar Tagen schon von ihm – und jetzt kam er ihnen mit der Ersten Klasse, in der alles still war, keine Kinder schrien, niemand schnarchte und niemand seine Rückenlehne energisch in den Magen seines Hintermannes presste. Wie Cassy es prophezeit hatte, wurde auf dem Flug sogar ein Film gezeigt, dem sich Eli so lange mit einem Paar unbequemer Drahtkopfhörer widmete, bis er einschlief. Vor ihm befanden sich Cassandra – am Fenster, ebenfalls nach einer Stunde eingenickt – und Haruki. Dieser war ziemlich erleichtert, dass sie Elis Angst hatten besänftigen können und freute sich jetzt auf ein paar ruhige Stunden nach den Sicherheitsinstruktionen und der Ansprache des Kapitäns. Jede Stunde Schlaf, die er seit Samstagnacht bekommen hatte, kam ihm wie ein Gottesgeschenk vor, denn obwohl der Aufenthalt in West Palm Beach wirklich angenehm gewesen war, zumindest im Gegensatz zum kühlen Motelzimmer in Willkins, kam es ihm doch trotzdem so vor, als hätte er bisher noch nicht eine freie Minute gehabt, in der er sich wirklich keine Sorgen hatte machen müssen. Immer warteten sie nur auf einen Anruf, Bernhards Anweisungen oder suchten irgendetwas. Etwas wie zum Beispiel Eli. Umso willkommener war Haru nun auch dieser Flug, denn hier wusste er immerhin, dass er ein paar Stunden lang nicht erreichbar sein würde und selbst wenn Jackbell versuchen sollte, sie zu kontaktieren, er würde es nicht können. Das war ein wirklich angenehmes Gefühl, fand Haruki. Ungefähr fünf Stunden sollten für ein ausgiebiges Nickerchen doch reichen, und wenn sie in Texas ankamen, dann noch zum Hotel kommen mussten und schließlich bettfertig sein würden, war es ohnehin schon wieder Mitternacht. Oder zumindest nah dran. Wie sich herausstellte, brauchte Haru ziemlich lange um eine geeignete Schlafposition zu finden. Er drehte den Kopf mal nach links und mal nach rechts, streckte die Beine aus oder zog sie heran, versuchte möglichst, Cassy neben sich nicht zu erschlagen, doch in seinem Kopf waren so viele Gedanken, dass er die ganze Zeit über konsequent wach blieb, ohne irgendwie seine Ruhe zu bekommen. Ab und zu überlegte er, ob er vielleicht stattdessen den Film ansehen oder irgendetwas anderes tun sollte, aber dann wiederum kam ihm der Gedanke, dass er doch vielleicht gerade kurz vorm Einschlafen war und wenn er jetzt wieder die Augen öffnete, wäre alles zunichte gemacht. Aus diesem Grund hatte er keine Wahl als weiter in diesem Höllenzustand zu verweilen und fest zu hoffen, dass sein Gehirn sich bald auf den Energiesparmodus einstellen würde. »Entschuldigung, Sir?« Als Haruki es beinahe geschafft hatte, in das wunderbare Land der Träume überzugehen, riss ihn ruckartig eine Hand zurück in die Realität, die ihn ungewöhnlich stark an der Schulter rüttelte. Sein Magen krampfte sich zusammen, teils vor Schreck und teils vor Ärger über die Störung. Die Stimme, welche das Rütteln begleitet hatte, war eine hohe und entenähnliche Frauenstimme. Anders konnte Haru sie nicht beschreiben, nicht in seinem jetzigen Zustand. Gequält öffnete er die verklebten Augen und musste feststellen, dass tatsächlich eine Frau vor ihm stand und ihn strahlend anlächelte. Sie war klein, schlank, vielleicht ungefähr Mitte dreißig, hatte ein sonnengebräuntes Gesicht und trug ein hochgeschlossenes, blaues Kostüm mit heller Bluse und einem Rock, der ihr bis zu den Knien ging. Ihr blondes Haar, bei dem der dunkelbraune Ansatz sich bereits wieder schelmisch ankündigte, war zu einem straffen Knoten zusammengebunden, und oben auf ihrem Kopf saß ein seltsamer Deckel, dessen Zugehörigkeit zu einer Uniform er noch nie richtig verstanden hatte. Diese Frau grinste zwar von einem Ohr bis zum anderen, sah aber ansonsten ziemlich seriös, brav und langweilig aus, wie Haruki fand. Eine Lederjacke und ein Totenkopfstirnband hätten ihr sicherlich gut gestanden und seine eigene, unwillkürlich missmutige Miene hellte sich ein wenig auf, als er sich diesen Anblick genauer vorstellte. Dann vielleicht noch eine Sonnenbrille und ein Motorrad unter dem Hintern, das würde schon einen ganz anderen Eindruck machen … »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Haru verwirrt, aber so höflich er konnte und sah sie verstört an. Auch daran konnte er nicht viel ändern, er war gerade durch die Hölle gegangen und nun besaß diese Person die Frechheit, ihn dorthin zurückzuwerfen, nachdem er endlich das Tor zum Paradies gefunden hatte. »Ja, sehr sogar!«, erklärte die blonde Frau begeistert. »Mein Name ist Verona Moreno und ich bin eine der vier Stewardessen an Bord …« Weiter hörte Haruki nicht mehr zu. Er beobachtete nur noch, wie sich ihre dezent geschminkten, herzförmigen Lippen auf und ab bewegten und ihre Sätze so schnell vorüber flogen, dass es sich anhörte wie ein einziges, ellenlanges Wort. Ab und zu hob sich ihre Stimme unwillkürlich und schrillte ziemlich, was nicht nur seine Schultern offenbar zum Zittern brachte. Am liebsten hätte er sich einfach demonstrativ die Ohren zugehalten und weitergeschlafen, doch vielleicht ging es ja um etwas Wichtiges. »Könnten Sie es bitte kurz machen? Was ist denn nun?«, unterbrach Haru sie irgendwann mit gequältem Blick und versuchte selbst noch ein letztes Lächeln zustande zu bringen, doch es fiel ihm im Augenblick wirklich schwer, nicht einfach eklatant unfreundlich zu sein. Verona machte ein Geräusch, das ein wenig wie ein Seufzen klang, doch ihr angeklebtes Berufslächeln blieb. »Das habe ich Ihnen ja gerade erklärt … ich fange einfach noch mal an. Mein Name ist Verona Moreno und ich bin eine der vier …« »… Stewardessen an Bord!«, beendete Haruki ihren Satz stöhnend und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. »Was ist denn nun das Problem?« Die Flugbegleiterin sah langsam ebenfalls genervter aus, doch das konnte man nur am sanften Zucken ihres rechten Augenlides erkennen, wenn man genau hinsah. Der Rest ihrer Fassade war perfekt, sie wurde immerhin dafür bezahlt, stets freundlich zu sein und zu lächeln. Hinauswerfen konnte sie Haruki ja wohl auch schlecht, es sei denn … »Sind wir schon gelandet?«, fragte der Japaner hoffnungsvoll und verkniff es sich, aus dem Fenster und zu Cassy neben sich zu sehen, die all das gerade nicht miterleben musste. Verona schüttelte bedauernd den Kopf. »Möchten Sie vielleicht ein paar Snacks?«, fragte sie nun, ihr Grinsen war wieder vollständig repariert, ihre Stimme schrill und hoch wie zuvor, und sie wies mit der einen Hand auf den Schiebewagen hinter sich. »Wir haben Käsebrote, Schinkenbrote, Kekse, oder vielleicht einen kleinen Salat …« »Deshalb haben Sie mich … geweckt?!« Haruki blieben die Worte fast im Hals stecken und er würgte sie regelrecht heraus. Seine Geduld hielt sich mit aller Kraft an ihrem letzten Faden fest und weigerte sich, dem schwarzen Loch unter sich die Stirn zu bieten. Miss Moreno machte ein undefinierbares, ohrenbetäubendes Geräusch und nickte hastig. »Hätten Sie gerne etwas, Sir? Ein Käse- oder Schinkenbrot, Kekse oder einen Salat …«, begann sie sich zu wiederholen, ihr Gesicht wurde wieder krampfhafter und ihre Mundwinkel begannen zu wackeln. Ihr war die Situation genauso zuwider wie Haruki, doch jetzt mussten sie beide die Suppe gemeinsam auslöffeln. Haru spannte die Lippen an und kniff die Augen zusammen. »Nein, ich möchte keine Snacks, ich möchte bitte schlafen!«, entfuhr es ihm forsch und er drehte den Kopf demonstrativ zur Seite, wo Cassy immer noch seelenruhig schlummerte. Eine Sekunde lang tat ihm der Ausrutscher leid, dann jedoch hoffte er, einfach nie wieder mit dieser Frau konfrontiert zu werden und beschloss, sie von nun an zu ignorieren. Ein mutiger Vorsatz, wie sich sogleich herausstellte. »Ich bringe Ihnen gerne ein Kissen und eine Decke, wenn Sie möchten!«, bot Verona beinahe verzweifelt an, ihre Stimme hatte einen minimalen Schlenker gemacht, der Haruki aber angemessen Genugtuung gab. Sie rüttelte noch ein paar mal an seiner Schulter. »Entschuldigung, Sir?«, wiederholte sie sich noch einmal, doch sein Entschluss stand fest, er kniff die Augen zu und ignorierte sie nach Leibeskräften, bis sie schlussendlich aufgab und das Quietschen der Schiebewagenräder ihm verriet, dass sie sich von ihm abgewendet hatte. Zaghaft wagte er es, einen kurzen Blick in Richtung des Ganges zu werfen und sah, dass Miss Moreno zum nächsten Sitz gezogen war, um jemand anderem ihre Snacks anzudrehen. Ein erleichtertes Seufzen entglitt seinen Lippen, nachdem er diese Tortur endlich überstanden hatte. Reflexartig wollte Haru auf die Uhr an seinem Handgelenk blicken, doch dann erinnerte er sich daran, dass diese wohl für immer verloren war und sah stattdessen aus dem Fenster. Schwärze, ein paar Wolken, ein paar Sterne. Es war definitiv Nacht, aber eine Uhrzeit konnte man aus dem Mondzyklus nicht herauslesen. Zumindest konnte er das nicht. Er würde nur darauf hoffen, dass sie bald landen und das Hotel betreten konnten und am nächsten Morgen ein wenig Zeit zum ausschlafen hatten. Dieser Wunsch war ihm im Moment das Liebste, doch er hatte eine grobe Ahnung, dass er unerfüllt bleiben würde. Vielleicht war es ja diesmal ein wenig leichter, ihren nächsten Teamkameraden zu finden … Gerade, als Haruki wieder die Augen schließen wollte, schob sich ein bleiches, sommersprossenbeflecktes Gesicht zwischen seinem und Cassys Sitz hindurch, das ihm mit vollen Wangen geräuschvoll ins Ohr kaute und verdächtig nach Schinken roch. »So hab ich dich ja noch nie erlebt. Ich dachte, in Japan sind immer alle so höflich und freundlich zueinander«, murmelte Eli mit gedämpfter Stimme gegen Harukis Schläfe. Noch vor einer Sekunde hatte dieser einen unbändigen Zorn in sich gespürt, doch mit Veronas Abwendung von ihm hatte sie auch seine Wut mitgenommen und nur noch Müdigkeit und Erschöpfung übriggelassen. »In Japan vielleicht. Überall anders lasse ich meinen angestauten Frust raus«, nuschelte Haru halbscherzend als Antwort, sodass er unsicher war, ob Eli ihn überhaupt verstanden hatte, aber es war ihm im Augenblick auch egal. Sein Bewusstsein schien nach dieser Auseinandersetzung endlich seinen Frieden gefunden zu haben und wollte ihn schlafen lassen, also tastete er träge mit der Hand um sich, kam zwischen die Sitze und erfasste Elis Nase, die dabei ein trötendes Geräusch machte und eines, das sich anhörte wie jemand, der sich an einem Schinkenbrot verschluckte. Sein Weg ging ein Stück weiter nach rechts, wo er seine Wange erwischte und ihm behutsam einen Klaps darauf gab. »Nichts für un…«, säuselte Haruki, bis sich im Rest des Satzes seine Worte ineinander verfingen und zu einem unverständlichen Gemurmel wurden. Als eine Durchsage den Landeanflug des Flugzeugs ankündigte, schlug Cassy so lässig die Augen auf, als wäre sie die ganze Zeit über wach gewesen. Ihre Innereien drehten sich Sekunden später einmal um sich selbst und sie verzog säuerlich das Gesicht. Das hatte zwar einfach ausgesehen, war aber bitter und schmerzhaft gewesen. Verwirrt und mit noch ein wenig verschwommenem Blick sah sie sich um und erinnerte sich dann wieder wo sie war. Immerhin hatten sie diesen Flug überstanden und Eli dürfte endgültig beruhigt sein. Insgeheim musste Cassy zugeben, dass auch sie nach seiner kleinen Panikattacke am Flughafen plötzlich ein paar unschöne Bilder hinter der Stirn gehabt hatte, aber der Schlaf hatte die meisten davon in den Hintergrund gedrängt und ihr Gehirn ein wenig ausgewaschen. Jetzt galt es, so schnell wie möglich ins Hotel zu kommen und dort genüsslich weiterzuschlafen … Haruki hingegen wurde nicht durch die Landeansage geweckt, sondern einige Sekunden früher dadurch, dass er im Schlaf mit der Hand gegen etwas Hartes stieß, was um einiges sanfter war als Cassandras Erwachen. Verschlafen blickte er sich um und sah auf der einen Seite seine Partnerin, die ziemlich geknickt aussah und auf der anderen Seite Verona Morenos Schiebetisch, den sie gerade aus dem Gang zu zerren versuchte. Wie er während des Landeanfluges dort hin gekommen war und warum er offenbar feststeckte, wollte er lieber gar nicht wissen. Haru gähnte ausgiebig, streckte sich kurz, strich sich über die Oberschenkel und wandte sich dann an Cassy. »Sind wir da?«, murmelte er in ihre Richtung, war sich jedoch selbst nicht sicher, mit wem er genau sprach. Und er schien da nicht der Einzige zu sein. »Ja, wir landen in wenigen Minuten!«, antwortete Verona mehr oder weniger freundlich auf seine Frage, als sie mit einem letzten Ruck den Schiebewagen aus dem Gang befreite und dabei noch ein letztes Mal gegen Harukis Ellenbogen stieß, welcher diesen erschrocken zurückzog. »D-danke«, erwiderte er irritiert, hoffte allerdings, dass sie ihn nicht mehr hörte, da sie schon wieder auf dem Weg in ihre persönliche Ecke war. »Diese Frau bringt mich noch ins Grab …«, flüsterte er in Cassys Richtung, doch als sie ihn nur fragend ansah, erinnerte er sich daran, dass sie den Diskurs vor ein paar Stunden gar nicht mitbekommen hatte. Bevor sie nachfragen konnte, winkte er nur mit gerunzelter Stirn ab. »Du kannst mich deiner Freundin später vorstellen«, murmelte sie nur kopfschüttelnd zurück und warf dann einen Blick aus dem Fenster. Die Lichter der Städte waren schon beunruhigend groß geworden und sogar die mit leuchtenden Punkten markierte Landebahn konnte man aus dieser Entfernung schon erkennen. Auch Eli hinter ihnen machte ein paar Geräusche, die ihnen verrieten, dass er wach und bald bereit zum aussteigen war. Wenig später ertönte der Abschied des Kapitäns durch die Lautsprecher und wurde langsam vom Packen der Passagiere übertönt, die miteinander zu reden begannen, ihr Handgepäck in den Gang schmetterten und dann aus der Maschine strömten wie Rinder am letzten Tag des Sommers von der Weide. Cassy blickte zufrieden drein, als sie die riesigen Rucksäcke und Handtaschen der anderen sah und schob die Hand in Bernhards graue Umhängetasche, die ihr einziges Handgepäckstück bildete. Haruki vermied Verona Morenos Blick auf dem Weg nach draußen intensiv, als die vier freundlich lächelnden Flugbegleiterinnen sich von den Passagieren verabschiedeten, und auch sie schien ihn mit einem »Auf Wiedersehen!« auszulassen, doch das konnte auch nur Einbildung sein. Auf alle Fälle bekam Cassy einige irritierte Blicke von den Geschäftsmännern und -frauen ab, als sie an ihr vorbeikamen; ein paar sommerlich gekleidete Teenager, und dazu auch noch einer mit blauen Haaren, das war in der teuren Ersten Klasse wohl eher ein seltener Anblick. Ein Shuttle brachte die Insassen des Flugzeuges zum Gebäude und bald konnten die Finals auch wieder ins Licht treten. Ein ziemlich grelles Licht, musste man zugeben. Der Airport war wie erwartet beschäftigt und voller Leute, und eine große Uhr an der Wand, deren Zeiger sich majestätisch bewegten, verriet, dass es mittlerweile halb zehn war. Höchste Zeit um wieder ins Bett zu kommen also. In einer Ecke, in der sie niemandem im Weg stehen konnten, quartierten die drei sich ein um die Köpfe zusammenzustecken. »Okay, ich schlage vor, ihr beide stellte euch schon mal an das Gepäckband und ich rufe in der Zeit ein Taxi«, verriet Haruki seinen Plan. »Dafür brauche ich Bernhards Zettel. Cassy, den müsstest du doch haben?« Die junge Frau nickte hastig und wühlte ein paar Sekunden in ihrer Tasche, bis sie das Papier hervorgekramt hatte. »Eli, übersetzen bitte. Wohin müssen wir?« Mit triumphalem Blick nahm der Rothaarige den Zettel an sich, tat so, als würde er eine nicht-existente Brille zurechtrücken und ließ dann die Augen über Bernhards Sauklaue gleiten. In dieser Situation fühlte er sich immer wie ein Archäologe, der vergessene Chiffren entschlüsselte. »Blue Acres Ranch Hotel, Rhodesville«, las er mit erhobener Stimme vor und ging die Buchstaben dann noch einmal durch, um ganz sicher zu gehen. »Hier steht keine konkrete Adresse … kann wohl kein so großer Ort sein.« Auch Haru schob die Augenbrauen zusammen, zuckte aber dann nur mit den Schultern. »Na gut, wenn das da steht … ich bin bald zurück.« Er verschwand zwischen den Menschen, in der Hoffnung, irgendwo ein Taxi rufen zu können, während Cassy und Eli sich dem Gepäckband zuwandten. »Was meinst du, sehen wir hier echte Cowboys?«, fragte der Jüngere mit blühendem Interesse und funkelnden Augen – es war Cassy ein Rätsel, wie er um diese Zeit noch so aufgedreht sein konnte –, während sie selbst auf den mit Vorhängen verdeckten Anfang des Laufbandes starrten, aus dem die Koffer nach und nach gespuckt wurden. »Wohl eher nicht … vielleicht ein paar Schnurrbartträger, die mit Schrotflinten auf ihren Veranden sitzen und«, sie imitierte leise einen Südstaaten-Akzent, »›Runter von meinem Rasen!‹ schreien …« »Wow, du bist echt bitter, was Texas angeht, oder?« Cassy zuckte mit den Schultern. »Ich kenne ein paar Kids von hier und die sind wirklich eine Plage. Ich möchte wirklich keine Vorurteile haben, aber ich hoffe stark, dass unser Final nicht so eine Art von Mensch ist. Haru und du, ihr seid echt nett und ich würde es wirklich mies finden, wenn jemand dazwischenfunkt und unser Teamwork kaputt macht.« Eli lachte plötzlich auf und bewegte dann in einem erstaunlichen Tempo seine Augenbrauen rauf und runter. »Du willst uns wohl ganz für dich allein haben, was? Haru ist so riesig, da ist genug für jeden dabei.« »Lass ihn das bloß nicht hören!«, prustete sie mit roten Wangen und schlug ihm spielerisch gegen die Schulter. Vor Lachen hätten sie beinahe die ersten beiden Koffer verpasst, doch im richtigen Moment konnte Eli sich noch daran festklammern und ihn mit Cassys Hilfe in Sicherheit bringen. Der dritte Koffer kam einige Gepäckstücke später, gerade rechtzeitig, um von Haruki abgefangen zu werden, der von seinem Abenteuer zurückgekehrt war. »Was gibt’s denn hier zu lachen?«, fragte er mit gespielt ernstem Ton, doch seine Partner tauschten nur grinsend Blicke aus und schüttelten dann unschuldig die Köpfe. »Unser Taxi ist in zehn Minuten da. Ich würde sagen, wir holen uns alle noch etwas Essbares zum mitnehmen. Es sei denn, du bist noch von deinem Schinkenbrot satt, Eli.« Diesmal blieb der Insider unter den beiden Jungs und Cassy war diejenige, die keine Ahnung hatte, wovon gesprochen wurde. Ein kurzer Abstecher bei einem Fastfood-Imbiss, dann scheuchten sich die Finals gegenseitig um Ausgang und blieben im Wind stehen, wo sie zusammen mit ein paar anderen Reisenden auf ihr Taxi warteten. Hier in Houston war der Himmel zwar klar, aber leer wie ein schwarzes Loch, die Stadt war verdammt groß und hatte offenbar jede Nacht Hunger auf Sternenlicht. Es war kühl, der Wind wehte zaghaft, aber wenn man ihn nicht gerade direkt von vorn abbekam, war das Wetter noch angenehm. Als ihr Taxi durch die Einfahrt kurvte, übten die Finals ihre üblichen Rollen aus, Cassy und Eli kümmerten sich um das Verstauen ihres Gepäcks und Haru fragte höflich und dieses Mal auch ein wenig nervös nach dem Hotel, das Bernhard ihnen aufgeschrieben hatte. Der dicke, bärtige Mann auf dem Fahrersitz runzelte eine Weile die Stirn, dann nickte er säuerlich und erklärte, dass Rhodesville eine ziemlich kleine Stadt sei, die gut zwei Stunden vom Flughafen entfernt sei. Die Worte kamen nur widerwillig aus seinem Mund und niemand konnte es ihm übel nehmen, es war bereits spät und wer wusste, wie lange dieser Kerl schon unterwegs war? Nicht nur Harukis Gesicht fiel nahezu in sich zusammen und er seufzte schmerzerfüllt, als er Cassy zu sich rief um nachzusehen, wie viel Bargeld sie noch bei sich hatten. Wenn das so weiterging, dann konnten sie nur hoffen, dass sie Bernhard bald wiedertreffen und ihn um mehr bitten konnten … Haru schüttelte entrüstet den Kopf darüber, wie grauenhaft sich dieser Gedanke anhörte. Da hatten sie schon alles Geld der Welt auf Jackbells Kreditkarten verstaut und es scheiterte am Baren. »Sie bekommen ein großes Trinkgeld im Voraus! Es würde uns wirklich sehr viel bedeuten, wir sind schon den ganzen Tag unterwegs!«, versuchte Haruki ihren Fahrer beinahe verzweifelt zu überreden, bettelte schon fast, ihre Fahrt nicht zu verweigern. Denn tatsächlich waren die bunten Papierscheine in ihrer Tasche das Einzige, was sie in dieser normalen Welt so einflussreich machte, sie, ein paar müde Jugendlicher auf der Durchreise, die eigentlich morgen in der Schule und um diese Zeit im Bett sein müssten. Der Mann starrte eine lange Zeit auf das Geldbündel in Harus zittriger Hand, sorgfältig abwägend, ob ihm diese ewig lange Fahrt das wert war, aber glücklicherweise war seine Bezahlung wohl doch so lausig, dass er keine andere Wahl hatte. Resignierend brummte er und machte eine Handbewegung, die sie zum Einsteigen aufforderte. Die drei bedankten sich tausendmal voller Anerkennung, bis es ihnen selbst zu peinlich wurde, stiegen ein und verschwanden in die Nacht. Zwei Stunden … wehe, wenn dieses Ranch Hotel nicht der absolute Luxus war, Haruki würde an die Decke gehen. Und er ging an die Decke. So sehr, wie er noch nie zuvor an die Decke gegangen war. Rhodesville war seiner Auffassung nach keine Kleinstadt, sondern ein schlammiges Kaff mitten in der Prärie. Weit und breit waren nur kleine Spielzeughäuser verteilt, den Großteil des Ortes machten Felder und Weiden aus, man konnte kaum etwas sehen, es war von Glück zu reden, dass es überhaupt Straßenbeleuchtung gab und gerne hätte Haru dem Taxifahrer alles Geld gegeben, das sie in der Tasche hatten, denn jetzt verstand er dessen Unwillen besser, als er sich je hatte vorstellen können. Das Blue Acres Ranch Hotel war ein charmantes Gutshaus mit großem Anbau, in dem vermutlich Platz für Zimmer war, einer hölzernen Fassade, komplett mit Stall und Scheune dahinter, und umrahmt von Maisfeldern und Pferdeweiden. Cassy fand, dass es wirklich wunderschön und idyllisch hier aussah, aber Haruki verlor beinahe den Verstand. Der Geruch von frisch gedüngten Wiesen, Pferdemist und Stroh stieg in seine Nase und ließen es ihm speiübel werden. Nichts hätte er jetzt lieber, als zurück in Houston zu sein und dort eine Stadtsuite zu bewohnen, am besten mit direktem Anschluss an den Pool, oder noch besser in ihrem Zimmer in West Palm Beach zu übernachten … Haruki hatte seit gefühlten zehn Jahren nicht mehr geweint, aber jetzt hatte er gerade den Eindruck, dass ihm bald die Tränen in die Augen steigen würde und das lag nicht ausschließlich an dem Landgestank. »Der Vollidiot will mich doch verarschen!«, zeterte er fassungslos und hätte vor Wut beinahe die Koffer vor sich geworfen, stampfte stattdessen aber nur stöhnend mit dem Fuß auf. Es war anzunehmen, dass er über Jackbell sprach. »Das soll ein Hotel sein?! Wo sollen wir denn hier schlafen, im Stall vielleicht?!« Eli fielen dutzende Kommentare ein, die jetzt eine würzige Antwort auf Harukis aufgebrachte Gefühle wären, aber leider musste er sich alle verkneifen, wenn ihm sein Leben lieb war. Auch er war das Landleben nicht gewohnt und eher ein Kind der Stadt, doch ihm gefiel die Abwechslung ganz gut und er freute sich schon auf die Innenausstattung des Hotels. »Hey, das ist ja … rustikal«, traute Cassy sich zu sprechen, wobei sie davon ausging, dass ihr Kommentar unter Harus Wuttiraden sowieso unterging und brachte zur allgemeinen Versöhnung ein gequältes Lächeln zustande. Ihr selbst war das alles hier nicht allzu fremd, ihre Heimatstadt war selbst unscheinbar und von Wäldern umringt, als Kind hatte sie Bauernhofurlaube immer geliebt. Andererseits konnte sie ihrem Partner seinen Ärger auch nicht übelnehmen. »Moment mal, ist das …«, begann Eli plötzlich, ließ seine Koffer scheppernd fallen, sodass die beiden anderen zusammenzuckten, und brachte dann das strahlendste Lächeln des Tages zustande. »… Mais?!« Wie von der Tarantel gestochen rannte der Rotschopf plötzlich los und jagte Cassy einen riesigen Schrecken ein, sodass diese ebenfalls kurzfristig in die Luft springen musste. Blitzschnell schaltete sich ihr Mutterinstinkt ein. »I-ich hol ihn zurück! Geh schon mal rein und frag nach unserem Zimmer!«, stammelte sie dem aufgebrachten Japaner entgegen und verfolgte dann Eli, bis beide irgendwo in der Dunkelheit hinter der Scheune verschwunden waren. Haruki zitterte am ganzen Körper, sein Gesicht war hochrot, doch es half jetzt nichts mehr. Langsam hielt er die Luft an und zählte bis zehn. Er konnte nicht einfach in dieses Hotel marschieren und herumschreien wie ein Berserker, er musste höflich bleiben, er konnte es schaffen. Der arme Rezeptionist konnte schließlich nichts für seine Misere. Mit leicht verlangsamtem Puls und allen drei Koffern in den Händen bewegte er sich in den Empfangsbereich, wo ein älterer, dunkelhäutiger Mann mit kurzem, aber dichtem Bart saß und ihn gutmütig anlächelte. »Guten Abend, was kann ich Ihnen Gutes tun, Sir?« »Es müsste … ein Zimmer … reserviert sein … vielleicht auch zwei«, brachte Haruki atemlos hervor und versuchte, seine stockende Stimme als Erschöpfung zu tarnen. »Auf den Namen ›Jackbell‹.« Cassy hatte indessen ihren jüngeren Teamkameraden gefunden, der mit riesigen Augen und einem beeindruckten Lächeln vor dem nächsten Maisfeld stand und sich keinen Zentimeter rührte. »Was ist denn in dich gefahren?!«, schimpfte Cassandra mit bedeckter Stimme, sie wollte keinen großen Aufstand machen, so mitten in der Nacht. »So was kannst du doch nicht machen, wenn Haru hier fast der Kragen platzt! Der bringt uns beide um, wenn wir reinkommen, darauf kannst du dich aber verlassen, was ist los mit dir?!« Eli legte sanft den Zeigefinger auf die Lippen und machte mit der anderen Hand eine beruhigende Geste in Richtung Cassy, welche immer noch völlig irritiert war. Alle um sie herum schienen auf die eine oder andere Art wahnsinnig geworden zu sein. »Was denn?!« »Nicht so laut … hörst du das?« Bevor sie eine patzige ›Was?‹-Antwort geben konnte, zog die Kanadierin es vor, tatsächlich für einen Moment die Klappe zu halten und dem Geräusch zu folgen, das Eli meinte. Sie hörte nichts außer dem Wind, der sachte durch den Mais rauschte. Der Rothaarige atmete tief ein und wieder aus. »Versuch es auch mal. Ist wirklich beruhigend.« Mit argwöhnischem Blick und einem kurzen Zögern folgte sie seiner Empfehlung und nahm einen tiefen Atemzug. Was auch immer diese plötzliche Unordnung ausgelöst hatte, so leicht würde er sie sicherlich nicht schlichten können … der Duft von Erde und Gras stieg in ihre Lungen und doch, tatsächlich, nach ein paar Sekunden beruhigten sich auch ihre Nerven wieder ein wenig. Da es Herbst war, war der Mais erstaunlich hochgewachsen und würde vermutlich sogar Haruki überragen, was etwas Erhabenes an sich hatte. »Mais ist so unglaublich. Siehst du, wie hoch er wächst und wie langsam er sich im Wind bewegt? Da kann man direkt Angst bekommen«, murmelte Eli mit weicher Stimme und löste den Blick nicht von dem Feld, fast als würde er über ein liebes Familienmitglied reden. »Wenn man hineingehen würde, könnte man sich innerhalb von Minuten verlaufen und ewig nach dem Ausgang suchen. Er ist unheimlich und irgendwie bedrohlich, wie er so auf einen herunterstarrt … aber auch genauso beruhigend. Es ist nur Mais, im Endeffekt. Nur eine Pflanze, sie kann mich nicht verletzen, im Gegenteil, ich kann mich bei ihr verstecken, im Feld Schutz suchen, wenn ich mal ein bisschen Ruhe brauche. Es gibt nichts, wovor ich Angst haben müsste. Ich liebe die Geschichten der Felder.« »Das hast du aber schön gesagt.« Ruckartig drehten Cassy und Eli sich um, nur um dort ein junges Mädchen zu erblicken, das sich in der Dunkelheit hinter sie gestohlen hatte und sie entschuldigend anlächelte. Ihre Hände waren in dicke, braune Handschuhe gekleidet und auch sonst trug sie nur robuste, praktische Kleidung, wie eine dicke Jeans, schlammige Stiefel und ein rosafarbenes, kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. »Tut mir leid«, lachte sie peinlich berührt. »Ich wollte eigentlich ein bisschen strenger sein und fragen, was ihr um diese Zeit bei unseren Feldern macht, aber dann habe ich dir beim Reden zugehört und vergessen, was ich sagen wollte! Gefällt dir so was, Versteckspielen im Maisfeld? Bald ist Halloween, da bauen wir hier jedes Jahr ein Maislabyrinth für die Kinder auf, das ist sehr beliebt! Und einen Preis kann man auch gewinnen. Dafür ist man nie zu alt.« Das Mädchen hatte ein kurzes, herzförmiges Gesicht mit runden, vollen Lippen, einer Stupsnase und großen, dunkelgrünen Augen, die in der Nacht fast schon leuchteten. Ihre glänzenden Wangen hatten die gleiche warme Farbe wie das Innere einer Sonnenblume und überall in ihrem Gesicht und auf ihren kräftigen Armen waren Sommersprossen verteilt, dicker und dunkler als bei Eli, wie eine invertierte Version des Sternenhimmels über ihnen. Ihre dunkelbraunen, rückenlangen und fein gelockten Haare waren in einen Zopf geflochten, der schwer über ihrer Schulter hing. Und ihr Lächeln strahlte eine solche Wärme und Freundlichkeit aus, dass beide Finals plötzlich auf der Stelle verliebt waren. »Seid ihr neue Gäste? Oder habt ihr euch nur verlaufen?« Das Mädchen verschränkte die Arme hinter dem Rücken, langsam wurde ihr Blick immer unsicherer, als ihr niemand antwortete und sie nur weiterhin ehrfürchtig angestarrt wurde, da fiel Cassy wieder aus ihrer Starre und gestikulierte ausgiebig, wie sie das immer gerne in Stresssituationen tat. »Ja, w-wir sind gerade angereist! Tut mir leid, wir wollten hier nicht rumstreunen, wir gehen gleich wieder rein!« Sie packte Eli streng am Jackenärmel und zog ihn näher zu sich, sodass auch er aus seiner Trance gerissen wurde. »Das ist nicht schlimm«, winkte das Mädchen gutmütig ab. »Ich mache mir nur immer ein wenig Sorgen um unsere Sachen, man weiß ja nie, was für Leute vorbeikommen. Na ja, ich hoffe, euch gefällt es hier und ihr habt einen schönen Aufenthalt! Ich geh jetzt auch wieder rein, vielleicht sieht man sich ja noch mal! Gute Nacht.« Sie hob zaghaft den Arm und winkte, dann drehte sie sich mit einem letzten Lächeln um und verschwand hinter dem Gutshaus. Cassy und Eli starrten ihr so lange hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen war und die Kanadierin bemerkte nicht einmal, dass die ganze Zeit über ihr Mund offengestanden hatte. Alle Gedanken waren wie aus ihren Gehirnen geblasen und sie hatten kurzfristig vergessen, was sie hier wollten und warum sie vor einem Maisfeld standen. »Die war vielleicht süß«, murmelte Eli vollkommen entgeistert und musste schließlich schlucken, weil er das die letzten Minuten über versäumt zu haben schien. »Und wie«, bestätigte Cassy genauso geblendet und schüttelte dann irritiert den Kopf, als wollte sie einen Dämonen loswerden, der sie gerade noch besessen hatte. »Komm schon, Haru macht uns einen Kopf kürzer, wenn wir hier noch länger rumlungern! Du kannst dich sonst auch im Maisfeld verstecken, wenn du ihm lieber aus dem Weg gehen willst.« Mit hektischen Schritten liefen die beiden Finals zurück in die Einfahrt und dann in den Eingangsbereich des Hotels, wo sie von dem freundlichen Rezeptionisten begrüßt wurden, der ihnen verriet, dass ihr Freund schon mit dem Gepäck in Zimmer 23 verschwunden war. Hastig bedankten sich die zwei und Eli, der einen Schritt schneller war, drehte sich erst einmal im Kreis, bevor er die Treppe hinter der Rezeption entdeckt hatte. Die sah ziemlich lang aus … keine Fahrstühle auf dem Land, hier mussten noch echte Pferdestärken ran. Vollkommen außer Atem, und obwohl sie überhaupt keine schweren Koffer bei sich hatten, schleppten Cassy und Eli sich die Treppe hinauf und durch den Gang, bis sie schließlich Zimmer 23 erreichten und erleichtert die Tür aufstießen. Der Raum war genauso rustikal und gemütlich eingerichtet wie der Eingangsbereich, es wirkte heimelig und warm, hier wollte man sich gerne ins Bett verkriechen und an einem regnerischen Gewittertag ein Buch lesen. Es standen sogar selbstgepflückte Wiesenblumen auf dem Fenstersims, ein unheimlich liebevolles Detail, wie Cassy fand, für das sie aber um diese Uhrzeit nicht so viel Anerkennung übrig hatte wie sonst vielleicht. Auf einem der Betten lag Haruki bäuchlings, immer noch in all seiner Alltagskleidung, bloß Hose und Schuhe hatte er neben sich auf den Boden fallen lassen, sowie all ihre Koffer und Jacken. Er atmete leise ein und aus, hatte wohl endlich seinen Frieden gefunden, als würde er schon schlafen. Aber ganz egal, ob das nur eine Fassade war, oder er tatsächlich eingeschlummert war, Cassy hatte absolut kein Interesse daran, ihn zu wecken und schloss nur leise die Tür hinter sich. Dicht neben Harus Schlafplatz stand noch ein zweites Bett in derselben Größe, und an der gegenüberliegenden Wand ein kurzfristig aufgebautes Klappbett, das um einiges weniger gemütlich aussah. Ein einziger, flehender Blick von Cassandra genügte, damit Eli sich mit diesem zufrieden gab, er hatte keine Kraft mehr um zu streiten und ihm war ohnehin jede Unterlage recht. So zogen auch die beiden nur das nötigste aus und legten sich umgehend hin, um den anstrengenden Tag endgültig hinter sich zu lassen. Morgen würde der ganze Spaß wieder von vorne losgehen … ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Der Morgen war unglaublich heiß. Cassy war diejenige, die als Erste aufwachte und kaum hatte sie die Augen aufgeschlagen, strömte ihr eine drückende, verklumpte Luft um die Nase, die einen Schweißfilm auf ihrer gesamten Hautoberfläche zurückließ. Sie blähte die Wangen auf und prustete leise aus, dann schälte sie sich aus dem viel zu dicken Oberbett und öffnete so diskret wie möglich das Fenster. Die Temperatur wurde dadurch zwar nicht besser, aber immerhin kam frischer Sauerstoff ins Zimmer, dicht gefolgt von strahlendem Sonnenlicht, welches dem aus Florida um nichts nachstand, sowie der beißende und unverkennbare Duft von erwärmtem Mist. Es machte keinen Unterschied, dachte sich Cassy, entweder erstickten sie an mangelnder Frischluft oder an diesem bestialischen Gestank, irgendeine Wahl musste man ja treffen. Wieder auf ihrem Bett sitzend warf die junge Frau einen Blick auf die Uhr auf ihrem Nachttisch und stellte erschrocken fest, dass es schon fast elf war. Sie hatten den Schlaf bitter nötig gehabt und anscheinend hatte das auch ganz gut geklappt, wenn man sich Haruki und Eli ansah, die immer noch seelenruhig in ihren Betten lagen und vom kommenden Ernst des Lebens noch nichts wussten. Haru hatte sich offenbar die ganze Nacht lang kein Stück bewegt, denn seine Beine ragten immer noch über die Matratze hinaus und Elis Atem blubberte leise aus seinem weitgeöffneten Mund und seinen flatternden Nasenlöchern. In Momenten wie diesen wünschte sich Cassy wirklich, eine Kamera in ihrem Koffer zu haben, mit der sie diesen hinreißenden Anblick für die Nachwelt festhalten konnte, doch sie glaube eher weniger daran, dass Jackbell an so etwas gedacht hatte. Plötzlich sprang sie wie von der Tarantel gestochen auf, hatte sich daran erinnert, dass es beinahe Mittag war und sie gar keine Ahnung hatten, ob und wann hier im Hotel Mahlzeiten angeboten wurden. Hastig griff sie in ihren Koffer, der achtlos neben Harukis Bett geworfen worden war, und zog ein paar frische Kleidungsstücke heraus, ohne genauer darauf zu achten. Sie schlüpfte in ihre Schuhe ohne sie zuzubinden, schnappte sich den Zimmerschlüssel, der neben dem Japaner in die Decke eingebettet lag, und verließ so leise wie möglich das Zimmer, um niemanden aufzuwecken. Unten an der Rezeption saß noch immer – oder schon wieder – derselbe gutmütig lächelnde Mann wie am Abend zuvor und durchblätterte gedankenverloren einen Ordner, dabei die schmale Brille auf seiner Nase immer wieder richtend, da sie ihm offenbar zu groß war. »Entschuldigen Sie?«, fragte Cassandra zaghaft und lehnte sich, um wenigstens ein wenig cool zu wirken, mit einem Ellenbogen auf den Tresen. »Habe ich das Frühstück schon verpasst? Oder gibt es noch etwas? Tut mir leid, wir sind gestern erst eingecheckt und …« »Ja, ich erinnere mich«, unterbrach sie der Rezeptionist so höflich, wie man jemanden nur unterbrechen konnte, und legte seinen Ordner beiseite. »Und Sie kommen gerade rechtzeitig, das Frühstück wird in genau fünfzehn Minuten abgeräumt, Sie sollten sich also beeilen.« Cassys Augen wurden erst groß, dann senkte sie resignierend den Kopf und warf einen Blick an ihrem Gesprächspartner vorbei, wo sie den Eingang zum Speisesaal ausmachen konnte, aus dem noch immer Stimmen und Geschirrklirren zu hören war. »Oh, das wird dann wohl nichts mehr … die anderen schlafen noch … na ja, trotzdem vielen Dank.« Sie wollte sich schon umdrehen, da beugte sich der Rezeptionist zu ihr, sah einmal nach links und nach rechts und gab dann ein schelmisches Schmunzeln zum Besten. »Sie können aber auch kurz reinhuschen und sich ein paar Teller mit auf Ihr Zimmer nehmen, wenn Sie wollen … es wäre ja auch schade, wenn die übrigen Brötchen trocken würden. Und so lange Sie das Geschirr beim Mittag- oder Abendessen wieder in die Küche bringen, kommt dabei auch niemand zuschaden … die Getränkebar im Restaurant ist den ganzen Tag geöffnet, Sie können sich also später auch noch einen Kaffee bestellen, wenn Sie wollen.« »D-das macht auch wirklich keine Umstände?! Wir können auch bis zum Mittagessen warten, das ist kein Problem!«, stammelte Cassy gerührt und machte dabei wieder mehrere hektische Handbewegungen, die wohl beruhigend oder abwinkend wirken sollten. Der Rezeptionist schüttelte jedoch nur sachte den Kopf. »Das sind wirklich nicht schlimm. Nehmen Sie alles mit, was Sie tragen können, irgendjemand muss es ja essen!« Er lachte heiter, wobei seine Stimme ein wenig heiser klang, und Cassy bedankte sich noch mehrere hundert Male erleichtert, bis sie ins Restaurant wuselte, die größten Teller an sich nahm, die sie finden konnte und von allem etwas darauf lud, von dem noch Reste übrig waren. Sie hatte keine Ahnung, was Haruki und Eli gerne zum Frühstück aßen, aber irgendetwas würde wohl dabei sein, was ihnen schmeckte. Die vollen Teller auf allen Gliedmaßen balancierend schepperte sie die Treppe hinauf, und das in einem Tempo, das sie befürchten ließ, sie würde erst heute Abend vor der Zimmertür stehen, als ihr – dort angekommen – auch schon das nächste Hindernis im Weg stand; sie hatte keine Hand frei um sie zu öffnen. Gerade überlegte sie noch, wie sie möglichst effektiv und ohne Essen auf dem Boden zu verteilen hineinkommen könnte, da löste sich das Problem ganz von selbst, als Haruki die Tür öffnete und sie verwundert ansah. »Woher kommst … was hast du … guten Morgen?«, stammelte er zunächst verwirrt, bis er auf die Idee kam, seiner Partnerin ein paar Teller abzunehmen, bevor noch etwas in die Brüche ging. Offensichtlich war er gerade aufgestanden, denn auch er hatte frische Kleidung an und musste auf dem Weg nach unten sein. »Ich hab Frühstück mitgebracht!«, ächzte Cassandra mit einem erleichterten, aber atemlosen Lächeln und schlängelte sich an Haruki vorbei in den Raum, wo sie die restlichen Teller auf dem Schreibtisch abstellte, der sich neben Elis Bett befand. Ebendieser kam im selben Moment aus der Badezimmertür und war wie sie neu eingekleidet. Zunächst bemerkte er seine Teamkollegen gar nicht und war eher damit beschäftigt, sich mit der Kleiderwahl abzufinden, die Jackbell oder Bernhard ihm zusammengestellt hatten, als er jedoch das reich gefüllte Geschirr mit frischen Broten, Ei, Butter und allerlei Belägen erblickte, war er plötzlich ganz aus dem Häuschen. Wenig später saßen die drei gemeinsam auf Harus Bett und füllten ihre Bäuche mit allem, was sie ergreifen konnten. Die Auswahl war zwar schlicht, aber alles schmeckte ausgezeichnet und Cassy war sich ziemlich sicher, dass der Speck, die Milch und die Eier aus der unmittelbaren Umgebung stammten, denn wenn man hier etwas außer Mais anbauen konnte, dann war das wohl ein reichhaltiges Frühstück. Haruki hielt plötzlich mitten in der Bewegung inne und runzelte die Stirn. An irgendetwas hatte er kurz nach dem Aufstehen gedacht, irgendetwas wichtiges, aber es war ihm kurze Zeit später auch schon wieder entfallen … langsam das Brot zu Ende kauend besann er sich auf den vergangenen Tag und ließ Revue passieren, was alles geschehen war. Unsanftes Erwachen durch Jackbell, eine abenteuerliche Busreise und anschließend eine hindernisreiche Schatzsuche im Gruselhaus, ein heißer Strandspaziergang, ewiges Warten am Flughafen, ein Dämon namens Verona Moreno, eine Odyssey zum Hotel, ein Wutausbruch und dann war endlich alles still. Ein dunkler Fleck breitete sich in seinem Magen aus und hinterließ einen unangenehmen Geschmack in seiner Kehle. »Es tut mir leid«, brachte er irgendwann hervor, als er ein paar Minuten lang unbeobachtet nachgedacht hatte und zog damit zwei überraschte Blicke auf sich. Als Eli seinen Bissen hinuntergeschluckt hatte, hakte er verwundert nach. »Was tut dir leid?« »Alles. Gestern«, druckste der Älteste herum und sah betroffen zu Boden. Ihn schien wirklich irgendetwas ganz gewaltig zu reuen, aber die anderen konnten sich nicht recht vorstellen, was das sein konnte. Er machte eine unangenehme Pause. »Ich war … ein Arsch. Ich hab so viele Probleme gemacht, mich ständig grundlos aufgeregt, in Misses Sparks’ Haus und gestern Nacht im Taxi, ich muss euch ganz schön fertig gemacht haben und ich will mich dafür entschuldigen. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, ich hatte so viel im Kopf und vielleicht auch einfach nur Angst, aber es war nicht richtig von mir, das an euch auszulassen. Ich werde so gut wie möglich versuchen, mich in Zukunft nicht mehr so zu benehmen. Es tut mir leid!« Als Abschluss seiner Rede schloss Haruki die Augen und nickte, wie um das Gesagte noch ein drittes Mal zu unterstreichen. Die beiden anderen Finals starrten ihn noch immer vollkommen entgeistert an und alles war so erstarrt, dass man meinen könnte, jemand hätte die Zeit angehalten, dann wimmerte Cassy plötzlich schniefend und legte beide Hände auf den Mund, als hätte sie soeben ein Verbrechen beobachtet. Nachdem sie ihr Gesicht wieder zeigte, hatte sie Tränen in den schwarzen Augen und ein süßliches Lächeln auf den Lippen. »Oh Gott, Haru … du musst dich dafür doch nicht entschuldigen, oh mein Gott! Wir haben dir gar nichts vorgeworfen, du hattest vielleicht einen schlechten Tag, das kann doch jedem mal passieren …« Sie lachte ehrlich und legte dann, zugegeben mit einem kurzen Zögern, die Hände auf seine breiten Schultern. »Wir sind dir zu keiner Zeit böse gewesen, Haru. Aber danke dafür, dass du dich entschuldigt hast. Oh mein Gott …« Cassy schüttelte den Kopf und betrachtete ihn von oben bis unten wie ihren Sohn, der gleich zum Schulball aufbrechen würde. »Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du zu unserem Team gehörst. Du bist einfach unglaublich, ich kann es nicht oft genug wiederholen, du bist bisher immer für uns dagewesen, hast die Führung übernommen … danke dafür.« »Soll ich euch vielleicht alleine lassen, oder …«, zerstörte Eli die Stimmung murmelnd und machte eine Geste in Richtung Tür, bevor er von Haruki und Cassy gleichzeitig unter einem Schwall Beschwerden und empörter Rufe rücklings auf das Bett geschubst wurde, wo er beinahe auf der anderen Seite wieder herunterpurzelte. Die drei lachten allesamt vergnügt und herzlich über die Situation und spürten mit einem Mal eine befreiende Leere in ihrer Brust, als hätte sich ein strammer Knoten gelöst, der die letzten Tage über dort drin gewesen war und ihnen das Atmen erschwert hatte. Es würde noch viel auf sie warten, vermutlich gefährliche Dinge, schwierige Entscheidungen, schwieriger als die, die sie schon getroffen hatten, aber in diesem Augenblick schien einfach alles … okay zu sein. Richtig, in Ordnung, an seinem Platz. Sie waren an ihrem Platz. Ein melodisches Geräusch unterbrach die ausgelassene Stimmung und Haru streckte den Kopf aus dem Chaos nach oben wie ein Taucher. Der Ton war das dumpfe Klingeln des Handys, das mitsamt der Tasche irgendwo auf dem Fußboden lag und verzweifelt um Aufmerksamkeit läutete. Er befreite sich aus dem Gewimmel und zog die Tasche auf seinen Schoß, sowie das Telefon möglichst hastig an sein Ohr, sodass er sogar vergas, vorher auf den grünen Hörer zu drücken. »Ja, Jackbell?«, meldete er sich brav, als er das Versäumnis nachgeholt hatte und sich mit der Hand flüchtig durch das Haar gefahren war, als hätte er Angst, jemand könnte einen Blick auf seine skandalöse Bettfrisur erhaschen. »Guten Morgen, Mister Okui. Sind Sie drei wohlauf?«, erkundigte die geheimnisvolle Stimme sich höflich und mit einem begleitenden Husten dazu. »Ja, alles in Ordnung. Wir sind in Texas angekommen. Was soll das bitteschön für ein Hotel sein?!« Der letzte Satz entfleuchte seinem Mund einfach ohne Vorwarnung und klang viel schneller und schnippischer als die Worte davor, als hätte jemand anderes durch ihn gesprochen. Sofort mäßigte der Japaner seinen Ton wieder und räusperte sich. »Sachte, sachte, dafür gibt es eine Erklärung. Es hat in der Tat einen Grund, warum ich Sie in genau diesem Hotel einquartiert habe, ob Sie es glauben oder nicht. Das bringt mich gleich zum Zweck meines Anrufes, danke für die Überleitung. Wenn Sie einmal Ihr Notizbüchlein aufschlagen wollen, dann finden Sie dort die Seite einen jungen Dame namens Hasret Vihre. Sie ist nicht ganz zufälligerweise die Tochter des Inhabers, was Ihnen die Suche nach ihr deutlich erleichtern sollte. Andererseits sollten Sie deshalb aber auch vorsichtig sein, dass Sie nicht allzu viel Aufmerksamkeit erregen und behutsam mit ihrer Familie umgehen. Alle wichtigen Informationen, die Sie eventuell brauchen könnten, stehen wie immer in Ihrem Buch. Wenn Sie doch noch weitere Fragen haben, rufen Sie mich zurück, ich bin momentan in Eile. Auf Wiederhören.« Zum ersten Mal seit sie ihn kannten hatte Jackbell sich nicht nach Nachfragen erkundigt und ohne weitere Worte aufgelegt. Noch immer irritiert davon schlug Haruki langsam das Notizbuch auf und blätterte so lange darin, bis er das Kapitel mit den Steckbriefen erreichte, wo ihm sofort der Name Hasret Vihre am oberen Rand der Seite auffiel. Ein interessanter Name, er fragte sich, woher er kam. »Das ist doch nicht wahr«, flüsterte Eli plötzlich in beunruhigender Nähe zu Harus Ohr, sodass dieser zusammenzuckte und sich erschrocken zu ihm umdrehte. Der Rotschopf starrte ungläubig auf das Foto eines zaghaft lächelnden Mädchens mit grünen Augen, dunklen, sommersprossigen Wangen und ebenholzbraunem, lockigem Haar. »Das ist ja …« »Dieses süße Mädchen von gestern«, beendete Cassy den Satz schluckend. Ein Stein fiel ihr vom Herzen, es war also kein mürrischer Schnurrbartträger mit Cowboyhut, der sie – hoffentlich – begleiten würde, sondern jemand, der zumindest schon einen guten Eindruck gemacht hatte. »Von gestern?«, hakte Haru verwirrt nach, woraufhin Eli ihm erklärte, dass Cassy und er Hasret am vorigen Abend schon flüchtig kennengelernt hatten. Die Kanadierin nahm ihm indessen das Notizbuch ab und studierte den Steckbrief des neuen Finals. Wie auch zuvor bei Eli, las sie nun aus deren Leben. »Hasret Vihre.« Sie brauchte ein paar Anläufe, um den Namen hoffentlich richtig auszusprechen. »Siebzehn Jahre alt, geboren am dreißigsten August Vierundachtzig, Sternzeichen Jungfrau. Halbwaise; die Mutter, Cansu Vihre, starb 1988 an Brustkrebs, der Vater, Michael A. Vihre, besitzt ein kleines Landhotel, das Blue Acres Ranch Hotel, Pferdestallungen und Land in Rhodesville, Texas. Geschwister: Alik Vihre, 22, und Esra Vihre, 22, Zwillinge, arbeiten im Hotel des Vaters. Hasret besucht die elfte Klasse der South Rhodesville High School und verbringt ansonsten fast ausschließlich Zeit auf ihrem Grundsstück, wo sie im Hotel, Stall und bei der Felderbewirtschaftung aushilft. Hat eine große Affinität zu den Pferden im Stall ihres Vaters, reitet seit elf Jahren. Stärken: Ausdauer, Schnelligkeit, Kraft, generell athletisch, sehr teamfähig; Schwächen: Taktik, Strategie, vernachlässigt eigenes Wohlbefinden aufkosten anderer, lässt sich schnell ablenken. Wow, das ist eine ganze Menge …« Cassy runzelte die Stirn und betrachtete das Foto eine Weile lang. Es fühlte sich seltsam an, so viel über eine Person zu wissen, die wiederum noch nicht einmal ihren Namen kannte. »Der Rezeptionist muss Hasrets Vater sein. Ein echt netter Typ.« »Sie wird sicher um die Zeit noch in der Schule sein«, mutmaßte Haruki und steckte gähnend die Arme über dem Kopf aus. »Das heißt wohl, dass wir so lange noch warten müssen … na ja, ich werde dann mal duschen gehen.« So lässig und unbekümmert wie möglich stand er auf, klopfte sich auf die Oberschenkel und verschwand dann im Badezimmer. Eli, der bereits frisch gewaschen war, erklärte sich bereit, das Geschirr wieder nach unten in die Küche zu bringen und sich noch einmal im Namen aller Zimmerbewohner zu bedanken. Cassy lehnte sich indessen aus dem Fenster und bewunderte die Aussicht, die sich ihr bot. Sie konnte von hier aus auf den Stall blicken, sowie auf das Maisfeld dahinter, dort wo sie gestern Hasret getroffen hatten. Die Weiden waren nun von friedlich grasenden Pferden bevölkert, und irgendwo in der Ferne türmte sich langsam eine Stadt auf. Der Himmel war hellblau, das Wetter trocken und heiß und der Geruch war längst nicht mehr so schlimm wie zu Anfang. Nicht einmal Haru hatte sich noch einmal beschwert, obwohl das Fenster sperrangelweit geöffnet war. Was würde Hasret Vihre wohl dazu sagen, dass sie hier waren, um sie für eine Weltreise abzuholen? Wäre sie so verstört wie sie und Haruki, oder würde sie sich veralbert fühlen wie Eli, welche Reaktionen würde man ihr entlocken können und was für ein Mensch war sie? Was wäre, wenn sie nicht mitkommen wollte oder Angst bekäme? Keins von beidem könnte man ihr wirklich übelnehmen, aber würde Jackbell sie zwingen? Sie bestechen? Ihr sogar drohen? Nach alledem wusste immer noch keiner von ihnen, was für eine Art Mensch dieser geheimnisvolle Anrufer war, wo er saß und was genau er vorhatte. Sie befolgten die Befehle eines reichen Phantoms, ohne wirklich zu wissen, was dahintersteckte. Er hatte sie aus ihren Heimen gelockt, ihre Familien und Freunde belogen und war auf dem Weg, sie auf eine gefährliche Mission zu schicken, bei der sie seine strenggeheimen Forschungsprojekte verwenden sollten, um die sich schon zwei Supermächte gestritten hatten. Das alles war völlig absurd und bescheuert! Wieso war Cassy überhaupt hier, wieso hatte sie sich auf so etwas eingelassen?! War sie wirklich so gierig, dass sie nur an das Geld gedacht hatte, das Jackbell ihr versprochen hatte? Oder hatte sie tatsächlich keine Wahl gehabt, ohne es zu bemerken? Unsinn. Man hatte immer eine Wahl. Oder vielleicht auch nicht … das alles fühlte sich so irreal an, so wie ein Traum, der unendlich viele Details hatte, und jedes Mal, wenn sie Jackbells Geschichte noch einmal erzählte, glaubte sie sich selbst kein Wort. Als würde es sie zwingen, sich jedes Mal daran zu erinnern, wie verrückt und höchstwahrscheinlich lebensmüde sie war. Die kommenden zwei Stunden nutzen die Finals dazu, den Ort kennenzulernen und machten einen Spaziergang um das Stück Land der Vihres herum. Auf den Straßen war kaum etwas los, bis auf die Traktoren und ein paar Reiter, die ebenfalls einen Ausflug machen wollten. So weit ab von der Zivilisation war Rhodesville wohl doch nicht, denn schon nach zwanzig Minuten Fußweg kamen sie in die Stadt, sie war klein und gemütlich, es gab einen Supermarkt, einen Bäcker, eine Bank und eigentlich alles, was man zum Leben brauchte, nicht mehr und nicht weniger. Lang schafften es Haruki, Cassy und Eli allerdings nicht, an der frischen Luft zu bleiben, denn schon nach kurzer Zeit war ihnen so heiß geworden, dass sie sich möglichst schnell wieder zurück zum Hotel schleppen mussten. Speziell Cassandra hatte große Probleme mit der Hitze, das war sie zu dieser Jahreszeit nicht gewohnt und ihrer Migräne tat die stetige Klimaveränderung auch nicht allzu gut, da half auch ihr neuer Hut nicht besonders. Nun ja, immerhin bekam sie auf diese Weise keinen Hitzeschlag. Leider war ihr Hotel dieses Mal nicht mit einem Pool ausgestattet, obwohl sie gerade das jetzt besonders hätten gebrauchen können, aber das Schicksal meinte es mit ihnen wohl einfach nicht so gut. Es blieb wie immer bloß die Hoffnung, dass das nächste Reiseziel angenehmer werden würde. »Ich weigere mich einfach zu glauben, dass es bei mir zuhause fast anfängt zu schneien und hier dreißig Grad sind. Wir sind auf demselben Kontinent!«, jammerte Cassy, als sie zurück auf dem Landstück der Vihres angekommen waren. Haruki lief stets neben ihr, immer an der Stelle, aus deren Richtung gerade die Sonne kam, um sie mit seinem massigen Körper abzublocken und seiner Partnerin Schatten zu spenden, während Eli sich hinter ihr versteckte und ihren Hut aufgesetzt hatte, der so groß war, dass er praktisch sein ganzes Gesicht verschwinden ließ. »Das ist das Wunder dieses Planeten«, murmelte Haru mit leicht erhobener Stimme, er wusste wieder einmal nicht, was er sagen sollte und anstatt zu schweigen, kamen Dinge aus seinem Mund, die die Situation fast nur noch schlimmer machten. »Ich hasse Texas! Ich will nachhause und frieren und eine Erkältung haben und durch den Kanal schwimmen …«, stöhnte die Kanadierin mit weinerlicher Stimme, musste bei dem letzten Satzteil aber selbst lachen, woraufhin Haruki nur lächelnd den Kopf schüttelte. Auf dem staubigen Parkplatz vor dem Gutshaus standen nur wenige Autos, scheinbar war auch hier gerade keine große Feriensaison. Eli reckte den Hals, als sie die Tür ansteuerten, um dem Maisfeld um die Ecke einen sehnsüchtigen Blick zuzuwerfen, als er einen bekannten Umriss in der Nähe der Scheune erkannte, der dort gerade sein Fahrrad abstellte. »Hey, ich glaube, ich habe Hasret gefunden«, teilte er stolz seinen Teamkameraden mit und Cassy verzog nervös das Gesicht. »Verdammt, ich hatte gehofft, wir könnten wenigstens noch darüber nachdenken, was wir ihr sagen sollen …« »Das müssen wir wohl spontan entscheiden«, seufzte Haru und straffte die Schultern, als würde er gleich zu einem wichtigen Vorstellungsgespräch aufbrechen. »Bevor wir sie nicht wiederfinden, über den Weg laufen müssen wir uns so oder so. Da ihr sie schon kennt, wie wäre es, wenn ihr mich einfach mal vorstellt?« »Das wird bestimmt nicht peinlich«, knirschte Cassy zerknittert und wischte sich mit dem Armrücken den Schweiß von der Stirn, schnappte sich ihren Hut von Elis Kopf und machte sich dann missmutig auf den Weg. Nun war sie es wieder, die schlecht drauf war, die Hitze hatte ihr die ganze Freude verdorben, doch je näher sie Hasret kamen, desto mehr hellte sich ihr Gesicht wieder auf. Dieses Mädchen strahlte einfach eine solche Herzenswärme aus, dass man unmöglich traurig in ihrer Umgebung bleiben konnte, und sie hatten sich bisher noch nicht einmal wirklich unterhalten! »Hey!«, zog Eli gutgelaunt winkend die Aufmerksamkeit auf sich, als er durch das hohe, braune Gras auf das Mädchen zustapfte, das ihr Fahrrad gerade hinter der Scheunentür verstaut hatte. Ein paar Sekunden lang sah sie verwundert aus und rührte sich nicht, dann jedoch schien sie ihn wiederzuerkennen und winkte lächelnd zurück. »So seht ihr also bei Tageslicht aus!«, scherzte sie und stemmte die Hände in die Hüften, als ihr Blick auf Haru fiel. Sie musste fast den Kopf in den Nacken legen um sich sein Gesicht genauer ansehen zu können. »Hattet ihr eine erholsame Nacht hier?« »Die hatten wir wirklich, vielen Dank.« Cassys Gesicht wirkte ein bisschen steinern von der Nervosität, die angesichts der mühsamen Geschichte, die sie Hasret gleich erzählen mussten, durch ihr Gehirn flatterte wie ein Papierband. Oder als hätte ihr jemand auf den Fuß getreten. »Das ist übrigens Haruki, unser Freund, mit dem wir hier sind, ich bin Cassy, und das ist Eli.« »Schön euch kennenzulernen, ich heiße Hasret!« Begeistert von den neuen Bekanntschaften schüttelte die Texanerin jedem Final die Hand, sie war rau und staubig, aber genauso warm und kräftig, eine Hand, die einen mit Sicherheit festhalten würde, wenn man über einem Abgrund hing. Eli warf Haru indessen einen bewundernden und genauso hektischen Blick zu, als Cassy diesen als ›Freund‹ bezeichnet hatte, als wäre es ein hochgestecktes Ziel, das er auch noch erreichen wollte. »Gibt es irgendetwas besonderes?«, fraget Hasret schließlich, als sie sich schon fast wieder auf den Weg zurück in die Scheune machte, um dort irgendwelche Arbeiten zu verrichten. »Ansonsten muss ich nämlich rein, ein bisschen was erledigen.« »Also, eigentlich …«, begann Haruki und hob wie zu einer ausführlichen Erklärung den Finger, senkte ihn dann aber wieder und sah sich hilflos nach Cassandra um. Sie schien schon einen ganz guten Draht zu Hasret zu haben, deshalb hielt er es für klug, wenn sie diesmal das Schlimmste übernahm. Er wollte die Verantwortung nur ungern auf sie abwälzen, aber … er hatte eigentlich keine Entschuldigung. Er hatte einfach nur keine Lust auf den Stress, der mit Jackbells blöder Geschichte verbunden war. Ein wenig leiser, aber eindeutig verzweifelter und mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck, fügte er dann an seine Partnerin gerichtet hinzu: »Cassy … übernimm … bitte … du als … Frau.« Als Hasret noch immer geduldig, aber mittlerweile verwirrt auf eine Antwort wartete, resignierte Cassandra schließlich, jedoch nicht ohne vorher einen zutiefst enttäuschen und verratenen Blick zurückzugeben. Sie ›als Frau‹, was sollte das bedeuten?! Nicht mehr, als dass sie es auch nicht besser erklären konnte als er. »Also, eigentlich«, übernahm sie schließlich Harus Satzanfang. »Würden wir gerne mit dir reden, wenn dir das nichts ausmacht. Es ist etwas kompliziert und könnte auch länger dauern …« Hasrets Gesicht wurde schlagartig grauer und sie wirkte unwohl. »Ich … bin eigentlich sehr beschäftigt. Worum geht es denn genau? Ist etwas passiert?« Sie schluckte kurz. »Ist jemand gestorben …?« Hastig schüttelte Cassy den Kopf. Sie schwitzte noch immer wie ein Stück Butter in der Sonne, und das lag nicht mehr nur an der Temperatur. Immerhin erkannte man so nicht mehr, wie rot ihre Wangen mit jedem weiteren Wort wurden. »Nein, nein, keine Angst! Es geht um … also, ganz ehrlich … das lässt sich schwer zusammenfassen.« Sie verzerrte das Gesicht, während Haruki und Eli hinter ihr nur stocksteif dastanden und hofften, dass sie bei der Sache nicht zu Wort kommen mussten. Die Spannung, die in der Luft lag, war beinahe greifbar. »Wir können wirklich nicht mehr tun, als dich um deine Aufmerksamkeit zu bitten. Ich weiß, wie seltsam sich das gerade anhören muss … ich war in derselben Situation wie du jetzt. Aber es ist wirklich wichtig!« Hasret hielt eine ganze Weile inne. Sie blickte von Gesicht zu Gesicht, aus denen sie absolut keine Informationen herauslesen konnte, auf das Haus hinter ihnen, und auf das Gras vor sich. In ihrem Kopf spielten sich alle möglichen und unmöglichen Szenen ab, zu denen ihr Einverständnis führen könnte, sie vermischten sich und wurden zu einem Brei aus Worten und Gesten, dann jedoch schluckte sie letztendlich und nickte. »Also gut«, bestätigte sie schließlich und erlöste so ein Seufzten aus den drei Finals, denen ein Stein vom Herzen fiel, die erste Hürde überstanden zu haben. Das Schlimmste kam allerdings erst noch. »Setzen wir uns rein.« Gerade wollten Haruki und Eli den Mädchen in die Scheune folgen, da hielt Cassy ihnen die flache Hand entgegen. »Lasst mich das machen. Wenn ihr mir schon nicht helfen wollt, dann lasst es mich auch alleine zu Ende bringen.« Sie klang wie eine bittere, alte Frau. »Wartet im Zimmer.« Was für eine blöde Idee das wahrscheinlich war. Wenn sie auch nur ein falsches Wort sagte, konnte sie sich so nicht mehr darauf verlassen, dass Haru sie aus der Sache herausboxte, aber der sollte seine Lektion lernen, ihr einfach alles zuzuschieben. Vielleicht hatte sie das aber auch verdient, immerhin war sie sonst diejenige, die ihn mit allen reden ließ. Auf alle Fälle zuckten die Jungs nur mit den Schultern und machten ein paar langsame Schritte in Richtung Hotel, nachdem Cassy ihnen den Zimmerschlüssel in die Hand gedrückt hatte. »Wenn sie das alleine machen will, dann soll sie es alleine machen«, murmelte der Japaner zerknirscht, als er außer Hörweite war. »Ich hoffe, es geht alles gut.« »Wenn Hasret wegrennt, ist es wohl deine Schuld.« Eli zuckte mit den Schultern und lief mit schnelleren Schritten an Haruki vorbei, falls dieser auf die Idee kam, ihm für diesen Kommentar etwas anzutun. »Bete du für Cassys Wortwahl, ich hol mir was zu Trinken …!« In der Scheune deutete Hasret auf einen sandigen Schemel, der unter dem Fenster stand. Staub tanzte in dem Sonnenstrahl, der über ihre Köpfte hinweg schien. »Setz dich doch«, bot sie zaghaft an und nahm gegenüber von Cassy auf einem umgedrehten Eimer Platz, die Oberschenkel aneinandergedrückt, die Schultern hochgezogen und beide Hände gefaltet in ihren Schoß gelegt. Die ganze Situation machte sie nervös und ließ Stress in ihr aufsteigen, ein Brodeln in ihrem Magen stellte sie darauf ein, dass irgendetwas nicht stimmte. Ihr sonst so fröhliches Gesicht war angespannt und das hatte auch Auswirkungen auf Cassy, sie steckten also beiden in einem Kreislauf aus Einander-ein-unangenehmes-Gefühl-geben fest und es dauerte eine ganze Weile, bis wieder eine von ihnen den Mund öffnete. »Was ist denn nun das Problem?«, fragte Hasret schließlich zögerlich und legte den Blick aufmerksam auf Cassy ab. Diese räusperte sich zunächst ein paar mal um Zeit zu schinden, dann schloss sie die Augen und sprang ins kalte Wasser. »Wir sind gekommen, um dich zu holen.« Kaum war die Stille unterbrochen worden, kehrte sie auch schon wieder zurück, tödlicher und kälter als je zuvor. Cassy wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Genau das war der Grund, warum Haruki normalerweise das Reden übernahm, wieso um alles in der Welt hatte sie gedacht, sie könnte das alleine durchstehen?! Zu ihrer Überraschung kehrte Hasrets Lächeln jedoch wieder auf deren Gesicht zurück, wenn auch nur zögerlich. »Wie bitte …? Was soll das denn heißen?« Sie setzte zwar zu einem Lachen an, traute sich aber nicht, es zu beenden. Sie bemerkte sehr wohl, dass Cassandra sich mindestens so unbehaglich fühlte wie sie selbst, und wollte ihr natürlicherweise helfen, es für sie leichter zu machen, aber die ganze Situation war ziemlich schwierig einzuschätzen. »So meinte ich das nicht«, verbesserte sich Cassy hastig und verschluckte sich an der Antwort, rieb sich mit einer Hand die Schläfe und versuchte Hasret in die Augen zu sehen. Darin war nichts als heillose Verwirrung zu erkennen. »Na ja, eigentlich schon … ich weiß echt nicht, ob ich das hinkriege. Also, ich habe hier …« Sie hielt kurz inne und überlegte, ob es eine kluge Idee sein würde, zu tun, was sie gerade zu tun überlegt hatte. Es hatte bei Eli funktioniert, aber was würde Hasret dazu sagen? Sie war ein vollkommen anderer Mensch und Zeit für großartige Psychoanalysen hatte sie nicht. Letztendlich griff Cassy in ihre Tasche und zog das Notizbuch heraus, schlug es auf Hasrets Seite auf und reichte es zögerlich dem Mädchen ihr gegenüber. Mit verwundertem Blick griff dieses danach, ganz langsam, wie in Zeitlupe, nachdem sie sich selbst auf dem Bild erkannt hatte, dann nahm sie die Seite unter die Lupe. Mit jeder Minute, die sie die Akte über sich selbst ein weiteres Mal und immer genauer durchlas, wurden ihre Pupillen kleiner und ihr Gesicht grauer. Zuletzt lag nur noch völlige Bestürzung und Angst darin. »Was … was ist das? Wieso hast du das? Wer hat das gemacht?!« Es zerquetschte Cassys Innereien, auf diese Weise von Hasret angesehen zu werden, als wäre sie eine hochgefährliche Verbrecherin, die ihr eine Waffe an den Kopf hielt. Es war die falsche Entscheidung gewesen, ihr stiegen Tränen in die Augen, doch sie versuchte den Kloß in ihrem Hals ungekaut herunterzuschlucken. »Es ist … wir haben das bekommen, um dich zu finden! Wir müssen … wir haben damit nichts zu tun.« Sie stockte kurz und schluckte ein zweites Mal. »Es gibt jemanden, der uns sucht. Haru, Eli, mich, dich und noch andere. Wir sollen … es ist für die Wissenschaft.« Jetzt war alles völlig dahin. »Wir werden gut bezahlt … er ist reich. Der Typ, der uns kontaktiert hat. Wir wollten es selbst nicht glauben … und es ist immer noch schwer, um ehrlich zu sein.« Eine einzelne Träne lief ihre Wange herunter, doch sie redete weiter. »Es gibt Geheimnisse, alles ist verrückt … irgendein Typ mit einer Superwaffe rennt herum und man weiß nicht, was er vorhat, was passieren wird. Ich weiß auch nicht, was wir damit zu tun haben, aber es ist wohl einfach so und wir können daran nichts mehr ändern, wir haben alle schon zugestimmt … wir saßen alle schon da, wo du jetzt sitzt, wir haben alle so reagiert … wir sind doch nur …« Cassy brach zusammen. Das war zu viel für sie. Sie redete sich um Kopf und Kragen, machte Hasret mit jedem Satz nur noch mehr Angst und verstörte sie zusätzlich, jetzt war sowieso egal was sie sagte, es konnte nicht mehr besser werden, sie hatte es vermasselt. Sie konnte kaum atmen, ihr Herz raste wie ein Rennmotor und die Welt um sie herum verschwamm – dann fühlte sie zwei warme, raue Hände auf ihren Oberarmen und wurde in eine Umarmung geschlossen.
#ovf#original vs final#kapitel#hier ist schon wieder nichts drin man wirds vielleicht auch endlich mal wieder spannend und offensive ....
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Unnötige Meta-Facts: Kapitel 4
Falsch ausgesprochene Namen sind einer meiner Lieblings-Running-Gags in Ovf, obwohl ich gerade merke, dass jetzt gar keine mehr kommen, glaube ich ... jedenfalls fällt mir spontan keiner mehr ein. Ich muss das dringend umschreiben! :'D
Wenn ihr wüsstet, wo die im Original die Waffen gefunden haben .... (wieso klinge ich immer so herausfordernd). Auf einem Altar. Mitten in der Gegend. Einfach so. Ich meine, Jackbell IST ziemlich extra, aber doch nicht SO extra. :'DDD Der ganze Plot dieses Kapitels ist also eigentlich komplett neu, Misses Sparks kam im Original nicht vor, genauso wenig wie ihr Haus. Stattdessen gab es da ... eine Nutte. NEIN GAB ES NICHT das war ein dummer Insider ... eines Tages lad ich ein paar Originalschnipsel hoch, versprochen! :'DDDDD
Es sind nicht viele neue Namen auf der Liste der Schande, aber immerhin:
Dieses Mal sind es wirklich kaum echte 'Charaktere', bis auf Misses Sparks. Man kann sie schon nicht mal mehr Randfiguren nennen. Verachtung! 8D
Tatsächlich habe ich mir für Cassys blaue Haare eine eigene Geschichte ausgedacht, weil das im Original irgendwie nie erklärt wurde ... ich war einfach ein weeb und dachte mir so "Hey in Animes haben die auch immer blaue Haare, das macht Sinn!" und dann hab ich sie gemalt und ..... hmmmm. Ich habe nicht bedacht, dass OvF in der realen Welt spielt und nicht in einem Anime. 8D Apropos gemalt. Sobald alle Finals vorgekommen sind, kann ich ja mal das erste Ref von ihnen von 2010 aus dem Äther kramen. Es war ..... wunderschön. 8D *tease*
Die ganze Schussszene ist eigentlich meine Lieblingsszene in diesem Kapitel. Erstens, weil sie Harus und Cassys Beziehung so angenehm vertieft und zweitens, weil ich sie eigentlich seit dem Originalskript schon mal malen wollte .... :'D Es ist irgendwie so?? Intim und warm?? Ich liebe Haru. Im Original ist so etwas ähnliches bereits im Motel passiert, bzw. dahinter. Ohh, und außerdem ist das eine gute Szene, an der man ihre Moral Alignments sehen kann! :'D Haru ist Neutral Good und Cassy ist Lawful Good (Eli ist zu dieser Zeit noch Neutral Good, driftet später aber ins Chaotische, hihi). Die drei sind auch irgendwie die Einzigen, bei denen die Alignments relativ konsistent sind, bei den anderen kann ich mich nie entscheiden .....
Spoiler: Es wird nie erklärt warum Haru weiß wie man schießt. Es ist einfach ein Fakt. 8D Der aus dem Original übriggegeblieben ist (ich glaube, ich hatte das in UMF 2 schon mal erwähnt ...) Lebt damit.
Das Haus von Bernadette Sparks, besonders der Flur und das Bad, basiert auf dem Haus meiner einen (quadratischen) Oma. Vor allem der Flur mit den 918347 Post-Its.
Eli hat offensichtlich ein Penaten-Creme-Trauma. Aber die wahre Frage ist, wer hat das nicht?
Die Stelle mit dem "Haltet nach allem Ausschau was irgendwie verdächtig aussieht" kommt aus dem Original und es war mir ein großes Anliegen, sie noch einmal zu verwenden! Wir haben es so oft zitiert ... Eli hatte früher die geheimnisvolle Gabe, wichtige, plotrelevante Dinge zu finden, indem er dagegengerannt ist oder sie anderweitig zufällig entdeckt hat und das war das erste Mal, dass so etwas passiert ist. Dasselbe mit dem Satz mit "Furz" und "Atombombe". Das waren so herrliche Formulierungen. Majo sei dank. 8DD
"Nichts für ungut, Kleiner" sollte eigentlich auch ein wiederkehrender Haru-Eli-Satz werden, aber ich glaube, ich hab ihn schon viel zu selten benutzt. Ganz am Ende, wenn es dramatisch wird, sollte er definitv nochmal vorkommen, spätestens da. :'D
Dass Haru gerne Sushi isst war auch ein Kernpunkt seines Charakters im alten Skript, bzw. dass er sich dabei immer sehr niedlich freut und gar nicht mehr bedrohlich und cool, sondern süß wirkt. :///D Zum Teil war es sicherlich ein Stereotyp, aber es gibt dann doch echt wenig Dinge an Haru, die irgendwie special sind (er ist so ein avarage Hauptcharakter, hat man immer das Gefühl?) Ich hab so ewig gegoogled, ob die Popularität von Sushi 2001 schon so stark war, dass ein random Gammelimbiss am Strand das anbietet, und hab mich letztendlich einfach mit den 'Asiatischen Wochen' gerettet. 8DDDD Und es hat ja auch niemand gesagt, dass es gut schmecken und authentisch sein muss. :B
"Aus der Tasche fischen" und "Angelköder" ... zwei Fisch-Wortspiele in einem Satz ... ich bin ein Künstler, ein Literat und ein Lyriker unvergleichlicher Art.
Es ist ungefähr 100 Jahre her seit ich zuletzt mit dem Flugzeug geflogen bin, darum habe ich bei dieser Szene etwas geschwitzt. 8D Wie funktioniert ein Flughafen.
Funfact: Eli hat ein fotografisches Gedächtnis. Das ist cool und hilfreich. Wenn er es ab und zu mal schafft sich auf Dinge zu konzentrieren. Gerade dieses Kapitel gibt ein paar Hinweise darauf, im Vergleich zu den nächsten, sagen wir, fünf. Ich sollte dieses Format umbenennen in 'Etschuh nimmt alles vorweg was sich der Leser auch selber denken kann, weil er kein Vollidiot ist und sich auch mal Gedanken macht' ... ABER ICH HABE DOCH SO VIEL ZU SAGEN! ;_;
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4. Kapitel: EINBRUCH
Hey … voll on time dieses Mal … :’D Ausnahmsweise hab ich mal wieder etwas vorgearbeitet. Das hier ist … ein bisschen interessant? Glaube ich? Keine Ahnung? Es gibt Charakterdevelopment? Hier kommt voll die Gewalt vor. Waffelgewalt. Ich … weiß auch nicht. Ich hab vergessen, was hier passiert. 8D Word count: 10k Warnings: Nichts so wirklich schlimmes? Ich wüsste nicht was ich hier taggen sollte tbh.
Neun Uhr morgens, milder Sonnenschein, nur ein paar einzelne Wolken. Eine trockene Briese zog geschäftig durch die Vorstadt. Eli starrte seelenlos auf die Straße, den hellbraunen Koffer mit seinem Namensschild in der Hand, er hatte den ganzen Morgen kaum ein Wort gesprochen. Die blauen Schwellungen um sein linkes Auge waren über Nacht violett geworden, seine Wangen brannten und seine Kehle war trocken und wund, als hätte er Sandpapier geschluckt. Sein Vater wäre heute Morgen beinahe aufgewacht, als Haruki und Cassy durch sein Haus gestampft waren um ihm beim Umpacken zu helfen. Bernhards Koffer hatte eigentlich alles was er brauchte, aber es gab ein, zwei Dinge, die Eli unbedingt noch hatte mitnehmen wollen und die hatten erst einmal da hineinpassen müssen. Wahrscheinlich war er wach gewesen, kam es ihm immer wieder in den Sinn, aber er hatte nichts gesagt. Er konnte nicht wissen, was genau mit seinem Sohn passierte, aber er war sich vermutlich darüber im Klaren gewesen, dass es einen Grund gab, aus dem er am Morgen lieber hatte allein sein wollen. Sein Vater war nicht blöd. Er respektierte ihn und vertraute ihm, die beiden standen praktisch fast schon auf derselben Stufe, wie Brüder. Das hatte Eli nicht verdient. Die beiden anderen Finals waren um sieben Uhr von einem Anruf Jackbells aus dem Bett geworfen und gleich dazu gedrängt worden, so schnell wie möglich zu frühstücken – was bei dem kulinarischen Angebot wirklich ein Verbrechen gewesen war – und anschließend sofort das Zimmer zu räumen. Aus diesem Grund standen auch sie nun mit Koffern an der Bushaltestelle, ähnlich trübselige Gesichter aufgesetzt, aber eher aufgrund der Müdigkeit. Ohne große Reden zu schwingen hatte Bernhard ihnen nach dem Essen drei Flugtickets überreicht, so wie ein knittriges Papier, auf das ein paar Anweisungen und Adressen gekritzelt worden waren. Die Handschrift unterschied sich ganz deutlich von der im Notizbuch und Cassy nahm deshalb an, dass sie Bernhard gehörte und Jackbell einen feineren Sinn für Buchstaben hatte. Der Flug heute Abend würde nach Texas gehen. Keiner der Finals freute sich wirklich auf die Reise, da sie alle den Südstaat größtenteils mit Kuhmist und übergewichtigen Rassisten verbanden, aber Harukis Aufmerksamkeit hatte in diesem Moment einer ganz anderen Problematik gegolten. »Moment mal, Texas lag doch auf unserem Weg hierher, wieso haben wir da nicht vorher einen Zwischenstopp gemacht?« Bernhards dahergeredete Antwort hatte irgendetwas von wegen psychologischen Profilen und Gruppendynamik beinhaltet und dass er selbst nicht ganz verstand, warum sie zuerst in Florida gewesen waren, aber offenbar hatte er Vertrauen in Jackbells Entscheidungen. Ganz im Gegensatz zu den drei Jugendlichen, die bisher noch nichts weiter getan hatten, als blind Anweisungen zu befolgen, ohne überhaupt zu wissen, was sie da taten. Zum Schluss hatte der grimmige alte Mann sie wieder allein gelassen und ihnen versprochen, sie in ein paar Tagen wiederzusehen. In Texas mussten sie sich aber vorerst allein zurechtfinden. Zuvor jedoch gab es noch etwas anderes zu tun; und zwar mussten sie Elis Waffe abholen. Bernhard hatte zuvor erwähnt, irgendeine Person aus der Stadt hätte sie in ihrer Obhut und sie müssten nur vorbeischauen, sich identifizieren können, und würden dann eine Überraschung in die Hände gedrückt bekommen. Das klang in der Tat so unnötig kompliziert und bescheuert, dass es nur von Jackbell kommen konnte. »Und was jetzt?«, traute sich Cassy irgendwann zu fragen, als sie alle lang genug geschwiegen hatten. Eli schien die Frage nicht mitbekommen zu haben und starrte weiter auf den blanken Bürgersteig vor sich, Haruki hingegen wurde regelrecht aufgescheucht und entfaltete schnurstracks Bernhards Zettel, den er zerknittert aus seiner Hosentasche gezogen hatte. Es lag ihm viel daran, Cassys Frage zu beantworten, doch die Handschrift ihres Mentors erschwerte es ihm zunehmend, diesem Wunsch nachzukommen. Mit zusammengekniffenen Augen und dem Zettel direkt vor der Nase versuchte er, die Buchstaben zu entziffern. »Barbara Spades oder Stark?«, las Haru langsam vor, dabei die Möglichkeit offen lassend, ob er richtig lag und als er dabei einen schrägen Seitenblick zu seinen Partnern warf, runzelte auch Cassy die Stirn und beugte sich vor, um sich ebenfalls den Namen anzusehen. »Es könnte auch eine Colette sein … oder eine Mandarine. Oh mein Gott, wo ist der alte Mann, wenn man ihn mal braucht …« Sie imitierte Harukis Dechiffrierungstechnik mit den zusammengekniffenen Augen und studierte die Zeilen noch eine Weile lang, während der Japaner sich vorsichtig an Eli wandte. »Ist bei dir alles in Ordnung? Du scheinst die ganze Geschichte nicht mehr so leicht zu nehmen wie gestern.« Ihm fiel es nun leichter Mitleid für den Rotschopf zu empfinden, nachdem Cassy am Abend zuvor die Möglichkeit gehabt hatte für Gerechtigkeit zu sorgen. Dieser hatte zwar schon gestern ziemlich demoliert ausgesehen, aber erst jetzt, wo er dabei auch noch so bekümmert wirkte, konnte man ihm tatsächlich ansehen, wie zerbrechlich er sein musste. Mit seinem stetigen Lächeln und seinen frechen Sprüchen hatte er einen vollkommen von seinen blauen Flecken abgelenkt. Ein paar Sekunden lang schien es so, als sei Eli noch immer in seiner düsteren Gedankenwelt versunken und hätte Haruki nicht gehört, dann jedoch regten sich seine Lippen wieder, er schloss die Augen kurz, brachte ein beruhigendes Lächeln zustande und sah ihn an. »Ja … ich glaube, ich hab die Entscheidung wohl ein bisschen zu schnell getroffen.« Plötzlich gewann sein Gesicht wieder an Farbe, er streckte die Arme nach oben und drückte seine Wirbelsäule durch, die blauen Augen hatten wieder Leben in sich. »Aber daran kann ich jetzt auch nichts mehr ändern. Ich werd das schon durchstehen. Also, wie war das mit Barbarette Speck?« Cassy gab eine Mischung aus Husten und Lachen von sich, gab damit ihren Entzifferungsversuch auf und reichte Eli das Papier. Dieser ließ seine Blicke ein paar Mal leichtfertig darüber schweifen und hob dann plötzlich voller Erkenntnis die Augenbrauen. »Bernadette Sparks!«, bestätigte er schließlich zur Verblüffung der beiden anderen und auch mit Überraschung in der eigenen Stimme. »Das ist meine alte Grundschullehrerin! Wieso sollte die denn bei sich zuhause außerirdische Geheimwaffen verstecken?! Ich wusste doch immer, dass mit der was nicht stimmt …« »Daran ist nichts außerirdisches«, berichtigte Haruki ihn tadelnd, obwohl er das Bild einer friedlich strickenden, alten Frau mit überdimensionierten Laserpistolen über dem Kaminsims jetzt nicht mehr aus dem Kopf bekam. »Aber wird die um diese Zeit nicht bei der Arbeit sein? Da können wir ja lange warten und Zeit verschwenden.« Eli schüttelte den Kopf. »Misses Sparks ist schon länger im Ruhestand. Ich glaube, seit meinem Abschlussjahr an der Grundschule. Sie müsste also eigentlich zuhause sein.« »Und wenn sie bescheid weiß, dass wir vorbeikommen, wird sie wohl auch keine großen Pläne für heute haben«, fügte Cassandra hinzu. »Vorausgesetzt, es handelt sich um die richtige Person.« Sie runzelte die Stirn über den Fakt, dass dieser Sechzehnjährige es offenbar fertigbrachte, Bernhards überaus kriminelle Handschrift zu lesen, aber immerhin hatten sie jetzt stets einen Übersetzer dafür parat. »Die Adresse stimmt auch, so weit ich mich erinnern kann.« Eli überflog auch noch den Rest des Papiers, vergas den Inhalt aber gleich wieder. Haruki stutzte zwar, warum sich der junge Final noch an die Adresse seiner Grundschullehrerin erinnern konnte – er selbst wusste nicht einmal, ob er diese je erfahren hatte –, beschloss aber, nicht nachzufragen und sich einfach auf den Weg zu machen. Sie würden ja sehen, ob sie die Richtige besucht hatten, frühestens am Klingelschild und spätestens an der Person, die ihnen die Tür öffnete. »Zur Sicherheit rufen wir lieber noch mal Jackbell an. Und wenn du schon dabei bist, kannst du auch gleich ein Taxi bestellen, Haru.« Bevor der Älteste widersprechen oder fragen konnte, warum sie es nicht selbst tat, wurde ihm von Cassy auch schon das Handy in die Hand gedrückt und ein unmissverständliches Lächeln hinterhergeschickt. »Bin ich euch etwa nicht glaubwürdig genug?«, empörte sich Eli offenbar gespielt verletzt über die weitere Nachfrage, wurde aber nicht weiter beachtet, was daran liegen konnte, dass er mit Absicht sehr leise gesprochen hatte. Der Auftraggeber bestätigte während des Anrufs sowohl Namen, als auch Adresse der Zielperson. Was ihnen allerdings Probleme bereitete war, dass sie die Nummern der lokalen Taxiunternehmen nicht hatten. Es blieb ihnen wohl nichts weiter übrig, als auf den nächsten Bus zu warten und dann in der Stadt die passende Linie zu ihrem Ziel herauszukramen. Da es erst Morgen war, stellte sich die Hitze im Wagen heute als nicht ganz so grausam heraus, allerdings war es auch voller als am Mittag. Die drei Jugendlichen ergatterten dennoch Sitzplätze, bevor an den kommenden Haltestellen noch mehr Leute einsteigen würden. Haruki stand noch einmal auf und studierte den Fahrplan, der innen aushing, um vielleicht schon jetzt ihre weitere Route zu planen. »Cassy, kann ich dich was fragen?«, meldete sich Eli irgendwann zu Wort, als sie die kaputte Ampel und den Friseursalon hinter sich gelassen hatten. Er klang fast schon eingeschüchtert, so als ginge es um etwas Anzügliches und obwohl Cassandra etwas ähnliches befürchtete, lächelte sie nur milde. »Na klar, schieß los.« »Wieso hast du blaue Haare?« Cassys Gesichtsmuskeln zerknitterten. Natürlich, sie hätte sich stattdessen auch diese Frage denken können. Irgendwie peinlich berührt kratzte sie sich am Hinterkopf, so als hätte ihre Frisur bemerkt, dass gerade über sie gesprochen wurde. »Na ja, das ist eigentlich keine besonders spannende Geschichte …« Eli schien das nicht zu interessieren, er blickte sie begeistert an und wartete auf alle Ausführlichkeiten. »Das war ursprünglich ein Wetteinsatz, als ich betrunken war. Aber denk jetzt nicht, ich würde so was oft machen, also mich betrinken oder blöde Wetten annehmen! So was mache ich nie wieder, das war einmal zu viel. Na ja, auf jeden Fall haben das ein paar Mädchen aus meiner Klasse gemacht, das war vor ungefähr einem halben Jahr … meine Eltern sind ausgeflippt, als sie mich zum ersten Mal so gesehen haben, ich hab einen ganzen Monat lang Hausarrest bekommen … aber, wie soll ich sagen, sie haben sich nach einer Zeit daran gewöhnt … und ich auch. Meine Mama ist nicht gerade eine Expertin in Sachen Haarfärbemittel, also hat sie nichts gemerkt, als ich sie immer wieder nachgefärbt habe. Hat wahrscheinlich gedacht, das wäre sowieso permanent, darum war sie wohl auch so sauer … der blaue Mopp ist mir mit der Zeit einfach ans Herz gewachsen, ich weiß nicht wieso, es passt überhaupt nicht zu mir und sieht auf den ersten Blick bestimmt auch schrecklich aus, aber es ist irgendwie zu einem Teil von mir geworden.« Sie schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück, Eli immer noch hoch fasziniert. »Wer weiß, vielleicht bin ich auch einfach nur ein rebellischer Teenager, der zu viel Angst vor den richtigen Punks hat. Das war auf jeden Fall die Geschichte von meinen blauen Haaren.« Es war beinahe ein bisschen gruselig, wie enthusiastisch Eli im Augenblick aussah. Er schien so unendlich gefesselt von der Erzählung zu sein, dass Cassy Angst bekam, er würde jeden Moment anfangen ein Buch darüber zu verfassen. »Wow, das ist … so cool! Ich meine, deine Haare sind cool, ehrlich! Und du bist cool!« Nun hatte er es tatsächlich geschafft, dass sie rot wurde. Cassys Lippen kräuselten sich bei dem Versuch, ein Lächeln zu unterdrücken und sie blickte sich scheu im Bus um, als ob sie sichergehen wollte, dass Eli nicht eine andere Cassy meinte. »Danke, aber ich muss dich wahrscheinlich enttäuschen … ich bin der uncoolste Mensch, dem du je begegnen wirst.« Der Jüngere schüttelte beharrlich den Kopf. »Ganz bestimmt nicht! Du bist mit großem Abstand die Allercoolste, Cassy.« Jetzt konnte sie das Lachen tatsächlich nicht mehr zurückhalten, auch wenn sie es im letzten Moment mit der Faust auffing. Ihre Wangen glühten vor Röte und in ihrem Bauch entstand ein Kribbeln. »Na gut, wenn du drauf bestehst … dann will ich mal nicht so sein.« »Wir müssen aussteigen«, unterbrach Haruki seine kichernden Teammitglieder in diesem Moment und machte eine Kopfbewegung in Richtung der Tür. Tatsächlich waren sie schon in der Innenstadt angekommen und der Busbahnhof war bereits in Sicht. Der Japaner hatte die nächste Haltestelle in der Umgebung von Bernadette Sparks’ Wohnung ausfindig gemacht und scheuchte seine Partner nach draußen, wo er sofort mit ausgestrecktem Hals nach dem nächsten Bus Ausschau hielt. Cassy und Eli folgten ihm brav und vertrauensvoll auf Schritt und Tritt, sodass die drei wenige Minuten später auch schon im nächsten Wagen saßen, nachdem Haru sich beim Fahrer vergewissert hatte, dass sie auch in die richtige Richtung fuhren. Die Finals stiegen in einer düsteren, weniger leuchtenden Gegend aus, als sie erwartet hatten. Hier strahlte das Meer ihnen nicht mehr in die Augen und die Palmenblätter hingen schlaff über den Stämmen, die Straße lachte nicht so wie der Rest von West Palm Beach, den sie in den vergangenen Stunden kennengelernt hatten. Instinktiv legte Cassy die Hand auf ihre Umhängetasche und schloss die Finger fester um den Griff ihres Koffers. »Das müsste die Richtung sein«, mutmaßte Eli und wies vage mit dem Finger einen Weg hinunter. Auch seine zuvor blendende Begeisterung hatte mit der Ankunft hier wieder drastisch abgenommen. Ihre Schritte wurden von Sekunde zu Sekunde schneller, als sie der Straße folgten, und entgegen ihrer Erwartung tauchten auch keine weiteren Menschen mehr auf. Das Viertel schien wie ausgestorben. Und selbst als sie vor dem Haus standen, dessen Adresse mehr oder weniger klar und deutlich auf ihrem Zettel stand, kam keine Erleichterung auf. »Irgendwie kann ich nicht so recht glauben, dass hier eine nette, alte Dame wohnt …«, argwöhnte Haruki und reckte den Hals, um über den blickdichten, morschen Holzzaun zu schielen. »Vielleicht vor zehn Jahren mal, aber jetzt … irgendetwas ist hier nicht richtig.« Die drei tauschten ein paar zögerliche Blicke aus und ließen die Augen über das heruntergekommene Gebäude schweifen. Schmutzige Fenster, die keinen Durchblick erlaubten, wild hochgewachsener Rasen im Vorgarten, eine rissige, trockene Fassade. War die alte Dame vielleicht dement oder einfach körperlich nicht in der Lage, ihr Haus auf Vordermann zu bringen? Aber wieso sollte Jackbell ihr dann eine geheime Superwaffe anvertrauen? Das alles machte keinen Sinn. Eli nahm seinen Mut zusammen, stellte den Koffer ab und wuselte einmal um den Zaun herum, um vielleicht einen Eingang zu finden. Cassy starrte misstrauisch auf das verwitterte Holz vor ihrer Nase und wandte den Blick dann hilfesuchend an Haruki. »Ich versteh das nicht … das ist genau die Adresse, die Jackbell uns genannt hat, oder? Er kann doch keinen Fehler gemacht haben. Hier soll sein Prototyp sein?« Haru hätte liebend gern eine realistische Antwort geliefert oder etwas anderweitig Beruhigendes gesagt, aber leider fiel nicht einmal ihm in diesem Augenblick etwas ein. Diese ganze Mission kam ihm plötzlich so unlogisch vor und sie alle mussten geisteskrank sein, um bei so etwas freiwillig mitzumachen. Darauf würde sich doch keine normal denkende Person einlassen! Gerade versuchte er, doch noch ein paar Worte in seinem Kopf zusammenzuklauben, da öffnete sich mit einem Quietschen das Gartentor vor ihnen und Eli stand mit triumphierendem Grinsen dort. »Wie hast du …«, begann Haru mit erhobener Stimme, beendete den Satz dann aber nur mit einem resignierenden Ausatmen. Vielleicht wollte er das gar nicht wissen. »Im Zaun war ein Loch und ich bin glücklicherweise geformt wie ein Grashalm«, erklärte der Rotschopf trotz des vorzeitigen Abbruchs der Frage und mit in die Hüften gestemmten Händen, als hätte er soeben einen Preis gewonnen. »Ist das nicht Hausfriedensbruch?«, zischte Cassy leise und voller Bedenken und sah sich argwöhnisch in der Umgebung der Straße um, ob auch niemand sie beobachtete. »Was, wenn die alte Frau doch da wohnt und wir einfach ihr Haus überfallen?!« Zu seiner eigenen Überraschung folgte Haruki Eli jedoch widerstandslos in den Vorgarten, um sich dort zumindest umzusehen, jedenfalls bildete er sich das ein. Vielleicht konnte man ja aus kürzerer Entfernung etwas durch die Fenster erkennen. Cassandra zögerte noch eine ganze Weile – sie bekam langsam wieder Kopfweh – und konnte nicht recht glauben was gerade passierte, jetzt sollten sie auf einmal einbrechen? Konnte das tatsächlich in Jackbells Interesse liegen? Letztendlich folgte sie ihren männlichen Kollegen aber doch, wenn auch nur widerwillig, und mit einem brummenden Stöhnen. Während Haruki die Eingangstür begutachtete, strich Eli wenige Meter daneben mit den Händen über den rissigen Putz, als suche er nach vergessenen Hieroglyphen, die eine Geheimtür öffnen würden. Cassy stellte sich zu dem Älteren, welcher mit vielsagendem Blick auf das Klingelschild zeigte. Tatsächlich, Bernadette Sparks. Der Briefkasten war voll, wenn man dem hochgestellten Fähnchen Glauben schenkte. Die Frage war nur, wie lange schon. Haru begann vorsichtig am Türknauf zu rütteln und selbstverständlich war sie verschlossen. Was hatte er auch anderes erwartet? Auch fünf Minuten lang auf eine Antwort nach mehreren Klingelversuchen zu warten, stellte sich als wirkungslos heraus. »Ich glaube nicht, dass jemand zuhause ist«, revidierte Eli nun seine Aussage von vorhin, nachdem er damit fertig war, die Wand nach verborgenen Geheimschaltern abzusuchen. Die beiden anderen sahen ihn nur flüchtig an, mussten ihm aber zustimmen, auch wenn sie sich das schon selbst zusammengereimt hatten. »Und wie sollen wir dann reinkommen?«, stellte Cassy die Frage in den Raum, noch bevor ihr einfiel, dass sie eigentlich gar keine Antwort darauf wollte. Am liebsten wollte sie weg von hier, die Straße war ihr unheimlich und das vermeintlich verlassene Haus erst recht. Hier könnte jederzeit ein ungebetener Gast um die Ecke kommen, oder zumindest jemand, der sie beim Einbrechen erwischte. Doch es war wieder einmal Haruki, der den kreativsten Geistesblitz des Tages hatte. »Du könntest versuchen, das Schloss aufzuschießen?« Der Satz klang eher nach einer Frage als nach einem Vorschlag und Cassy starrte ihren Teamkameraden nur mit entsetztem Gesicht an, vollkommen verwirrt davon, was er überhaupt meinte und woher er diese hirnverbrannte Idee hatte, als ihr wieder einfiel, dass sie eine geladene Waffe in ihrem Gepäck hatte. Das machte die Idee ihrer Meinung nach aber auch nicht besser. »Bist du bescheuert?! Was, wenn uns jemand hört? Oder wenn ich nicht treffe? Wir können hier nicht einfach einen Riesenradau machen! Ich kann mit dem Ding doch überhaupt nicht umgehen!« Ohne es zu bemerken war Cassy wieder rot im Gesicht geworden, so zu reagieren war normalerweise nicht ihre Art, aber die letzten Tage waren auch keine gewöhnlichen für sie gewesen, sie hatte einiges mitmachen müssen und mittlerweile sollte Haru sich auch daran gewöhnt haben, dass sie sich ihm gegenüber unangemessen benahm. »Dann wird es Zeit, dass du es lernst«, erwiderte der Japaner zu ihrer Überraschung ganz sachlich, sodass sie nach Luft schnappen musste. »Früher oder später wirst du damit sowieso schießen müssen, und da wäre es doch praktisch, zumindest zu wissen wie es sich anfühlt.« Cassandra hob beide Hände neben ihren Kopf und wollte große, vielsagende Gesten damit machen, schüttelte sie aber stattdessen nur aufgebracht. »Ich möchte das überhaupt nicht! Warum schießt du nicht einfach, wenn du unbedingt die ganze Nachbarschaft aufscheuchen willst, oder besser noch, warte bis Jackbell dir auch ein Spielzeug gibt! Können wir nicht einfach ein Fenster einschlagen oder so?« »Das wäre mindestens genauso laut und um einiges auffälliger, wenn hier jemand vorbeikommt.« Das stimmte zwar so nicht ganz, aber dennoch bestand Haruki auf seine Idee. Er wusste selbst nicht woher sie kam, vielleicht war er einfach nur neugierig darauf, wie Cassy sich machte, aber andererseits konnten sie nie wissen, wann der wahre Ernst ihrer Situation anfangen und sie bedrohen würde. »Ich würde das auch gerne sehen, wenn wir schon dabei sind«, meldete sich auch Eli mit einem unschuldigen Lächeln zu Wort, doch das war im Moment auch nicht sonderlich hilfreich. Cassy ließ den Blick bestürzt zwischen den beiden hin und her springen, die sie weiterhin erwartungsvoll anstarrten. »Ihr seid doch verrückt! Wie kommst du überhaupt auf diese Idee?! Es wäre wirklich, wirklich einfacher ein Fenster zu benutzen, Haru! Ich werde hier ganz sicher nicht um mich schießen.« »Du sollst auch nicht um dich schießen, sondern nur auf das Scharnier«, antwortete Haruki mild und ließ es mit seiner tiefen, ruhigen Stimme wie selbstverständlich klingen. »Ich helfe dir auch, wenn du willst. Ich kann dir zeigen, wie man eine Pistole hält, richtig zielt und den Rückstoß auffängt.« »Schaden wird das sicherlich nicht!«, fügte Eli hinzu und hatte eigentlich keine Ahnung was er da sagte, aber er wollte unbedingt, dass Haru die Diskussion gewann und es Action gab. Cassy wurde von Wort zu Wort hilfloser und kurz sah es so aus, als wäre sie den Tränen nahe, dann jedoch machte sie nur ein tiefes, kehliges Geräusch, verzerrte die Lippen und krümmte die Finger in ihrem wahnwitzigen Handgemenge. »Na gut! Aber wenn es irgendwelche Probleme gibt – und das kann ich euch versprechen –, dann werde ich ganz weit wegrennen und ihr könnt euch selbst damit rumschlagen! Und ich werde dich diese Scheißidee bestimmt nie vergessen lassen, mein Freund!« Während Haruki nur ein zufriedenes Lächeln aufsetzte, stellte Cassy ihren Koffer ab, öffnete ihn und kramte Venus heraus. »Bitteschön. Du kannst das ganz allein in die Hand nehmen.« Tatsächlich nahm der Ältere den Revolver an sich und wog ihn vorsichtig in beiden Händen, sah sie daraufhin aber wieder mit erwartungsvollen Augen an, fast wie ein bettelnder Hund. »Es ist deine Waffe, Cassy. Sie gehört ganz allein dir, du bist die Besitzerin. Jackbell hat sie dir anvertraut und nicht mir.« »Ja, und er hat ganz offensichtlich auch einer verwirrten Oma in einem Spukhaus eine anvertraut, also würde ich mich auf sein Urteilsvermögen nicht unbedingt verlassen!« Die Kanadierin hatte überhaupt keine Lust darauf sich aufzuregen, überhaupt vermied sie es meist aus purer Faulheit, aber es widerstrebte ihr wirklich zutiefst, Venus zu benutzen. Sie war ein friedliebender Mensch, oder zumindest einer, der ungern in Gewaltsituationen hineingezogen wurde. Andererseits musste sie widerwillig zugeben, dass Haru zumindest in dem Punkt recht hatte, dass sie es nicht ewig vor sich herschieben konnte. Irgendwann würde sie nicht nur schießen, sondern kämpfen müssen. Und das bereitete ihr Kopf- und Bauchweh. Ohne noch einmal nachzufragen gab Haruki ihr den Revolver zurück, stellte sich hinter sie und umfasste vorsichtig ihre Hände mit seinen, hob sie auf Höhe des Schlosses. Cassy musste schlucken, und das ziemlich laut. »Wenn dir das unangenehm ist, kann ich es auch selbst machen«, bot er höflich und erstaunlich nah an ihrem Ohr an und jagte ihr so einen Schauer über den Rücken, was aber nur daran lag, dass sein Atem so warm war. Unter seinen riesigen Armen fühlte sie sich wie unter einem Stahlgerüst, als hätte sie einen gewaltigen Schild auf dem Rücken und könnte absolut unverletzt aus jeder Schlacht hinaustreten. Doch jetzt war ihr Kampfgeist geweckt. Haru wollte unbedingt, dass sie ein Loch in die morsche Tür schoss, also würde er das beste Loch bekommen, das jemals in eine morsche Tür geschossen worden war. Sie wollte dann doch nicht diejenige sein, die den lieben, langen Tag lang nur nörgelte und allen auf die Nerven ging. »Jetzt sag schon, was ich tun muss«, brummte Cassandra deutlich besiegt, aber auch mit einer Spur Ungeduld und Bitterkeit in der Stimme. Ohne dass sie es sah, musste Haruki lächeln, und auch Eli beobachtete die Szene mit riesigen Augen und gespannter Miene. Wenn der Rotschopf so einen starren Blick hatte, wirkte er beinahe wie ein Geist, so hell und kühl waren seine Augen. »Alles klar. Zuerst hältst du den Griff mit beiden Händen fest und legst einen Finger auf den Abzug, genau so.« Haruki platzierte ihre Hände wie die einer Gliederpuppe. »Vergiss nicht, vor jedem Schuss zu entsichern.« Auch ihren Daumen führte er sorgfältig, bis ein leises Klicken ertönte. Cassy ließ ihre Hände brav von ihm bewegen und versuchte sich jeden Schritt zu merken, es fühlte sich beinahe an, als würde sie selbst es tun. Dann drückte er ihren Zeigefinger herunter und der weiß dampfende Schuss löste sich, ihre Arme wurden leicht, aber ruckartig, zurückgestoßen und prallten gegen Harus Brust, sie kniff reflexartig die Augen zusammen und spannte den Kiefer an, doch es war bei weitem nicht so laut gewesen wie sie erwartet hatte. Ein eigenartiges Kitzeln ging durch Cassys Arme, als würden Ameisen darauf herumkrabbeln, und in ihrem Unterleib klumpte sich eine Wolke zusammen. Es war ein beklemmendes Gefühl eine Waffe abzufeuern, selbst wenn das Ziel nur eine Tür war. Allein der Gedanke daran, dass sie damit in der Lage war, jemanden zu töten, bereitete ihr Unbehagen. »Hey, das war echt gut«, lobte der Japaner und befreite seine Hände vorsichtig aus ihren, um sich die Einschussstelle genauer anzusehen. »Perfekter Treffer.« Er gab der Tür einen kleinen Schubs und siehe da, sie ließ sich ohne großen Kraftaufwand öffnen. Cassy wurde es ohne ihren neuen Haruki-Rucksack plötzlich kälter und sie hatte das Gefühl, ohne seine Stütze einfach umzukippen. Hastig nahm sie die Waffe wieder herunter und schüttelte sich einmal, um das seltsame Gefühl loszuwerden. »Ich dachte, so was wäre lauter«, murmelte sie und wickelte Venus wieder in ein paar Kleidungsstücke ein, um sie sicher im Koffer zu transportieren. »Ich ehrlich gesagt auch«, gab Haru zu. »Da muss irgendeine Schalldämpfung eingebaut sein, keine schlechte Idee.« Er zog die schwarzen Brauen zusammen und betrachtete das Loch noch ein zweites Mal, diesmal prüfender, irgendetwas stimmte damit nicht. Die kleine, silberne Kugel war aufgeplatzt, schien aus sehr instabilem Material zu sein, und das rostige Scharnier sowie das alte Holz waren nicht einfach nur vom Schuss zersplittert – sie waren mit einer Frostschicht bedeckt. Mitten in Florida, bei dreiundzwanzig Grad. Haruki runzelte die Stirn. »Woher kannst du schießen?«, fragte Cassy neugierig, nachdem sie ihre Waffe wieder verstaut hatte und sich neben ihm herunterbeugte um zu sehen, was ihn dort so fesselte. »Lange Geschichte …«, murmelte Haru geistesabwesend und wies dann mit einem Kopfnicken auf das Einschussloch. Auch Eli, der das Spektakel begeistert studiert hatte, schloss sich ihren Forschungen an. »So was sollte normalerweise nicht passieren, oder?« Der Amerikaner verzog ebenfalls das Gesicht. »Das ist ja krass …« Er streckte die Finger nach dem Loch aus, doch Haruki packte geistesgegenwärtig seinen Unterarm. »Fass das besser nicht an, das könnten irgendwelche giftigen Chemikalien sein. Oder was auch immer. Auf jeden Fall sollten wir vielleicht warten, bis wir Bernhard das nächste Mal sehen, bevor wir das noch mal machen …« »Wir?!« Cassy stellte sich plötzlich wieder gerade hin und stemmte empört die Hände in die Hüften, ihre Haare flogen dabei annähernd dramatisch durch ihr Gesicht. »Das war doch deine Idee! Ich wusste, dass dabei nichts Gutes rauskommen würde! Aber ihr Männer wollt ja immer gleich mit dem Kopf durch die Wand!« »Wir haben doch was wir wollten.« Noch immer blieb Haruki völlig gelassen und zuckte nur milde mit den Schultern, seine Fähigkeit in so gut wie jeder Situation vollkommen ruhig zu bleiben machte sie langsam verrückt. War sie etwa nicht ernstzunehmend genug oder fand er das einfach nur lustig?! »Jetzt sollten wir erstmal reingehen und das tun, wofür wir hier sind. Merken wir uns die Frage, was mit diesem Revolver los ist, für später.« Mit beiden Händen in den Hosentaschen, nur um seiner Lässigkeit noch mehr Ausdruck zu verleihen, schlenderte er durch die mehr oder weniger gewaltvoll geöffnete Tür und betrat das Haus. Für ihn fühlte es sich an, als hätte ein wunderbarer Plan so funktioniert wie er es wollte. Irgendwie war es ja schon praktisch, dass sie immerhin schon eine der sieben Waffen hatten. Cassandra war noch immer leicht angesäuert und warf Unterstützung suchend einen Blick zu Eli, doch dieser zuckte ebenfalls nur hilflos mit den Schultern. »Unrecht hat er ja nicht«, flüsterte er mit einem versöhnlichen Lächeln auf den Lippen und folgte dann dem Ältesten, dicht gefolgt von einer grummelnden Cassy, die sich langsam aber sicher mehr und mehr hintergangen fühlte. Das Innere des Hauses war nicht ganz so verrottet wie das Äußere und der kleine Flur sah sogar tatsächlich irgendwie danach aus, als würde hier jemand leben. Eine enge Treppe führte ins zweite Stockwerk, bedeckt mit einem altbackenen Teppich mit dunklem Muster und eingetrockneten Schmutzflecken, ein Beistelltisch stand daneben, der überquoll vor neonfarbenen Zetteln, auf denen Termine, Erinnerungen und vermutlich Namen gekritzelt standen. Direkt neben der Tür stand ein Kleiderständer aus dunklem Holz, der mehrere Mäntel, Hüte und Schals festhielt, sowie ein Schirmständer und ein kleiner Haufen sorgfältig aufgereihter Schuhe darunter. All das deutete auf die Lebensumstände einer alleinwohnenden, älteren Dame hin. Ohne sich abzusprechen teilten die Finals sich auf und schlichen neugierig herumschauend durch das Untergeschoss. Es war dunkel und unheimlich leise, nur die Dielenbretter knarrten unter ihren Füßen, was einem tatsächlich einen Schauer über den Rücken jagen konnte und dem Ganzen den Charakter eines Spukhauses verlieh. Wohl fühlte man sich hier jedenfalls nicht. Eli hatte das Badezimmer gefunden. Es roch nach der dicken Creme, die einem die Mutter als Kind immer überall hingeschmiert hatte und die eine Woche brauchte um einzuziehen, nach alten Menschen und abgestandenem Wasser. Ein Klumpen bildete sich in seinem Hals. Zahnbürste, Cremedöschen, Medikamentflaschen und andere Pflegeprodukte standen im Überfluss auf dem Waschbeckenrand und klirrten bei jedem Schritt, die Dusche war auf ebenem Boden in der hintersten Ecke des Bades eingebaut und mit einem geblümten Vorhang verschleiert – Eli hatte keine große Lust dahinter nachzusehen, ob er vielleicht seine Waffe oder eine Leiche fand – und auf dem Spülkasten der Toilette standen mehrere Rollen Klopapier, eingebettet in ein putziges Strickmützchen wie ein Babykopf. Warum war eigentlich alles, was alte Frauen in ihren Häusern hatten, gestrickt? Cassy hatte die Küche erwischt. Hier war es zumindest ein wenig heller, da es große Fenster gab, die jedoch mit einer leichten, weißen Häkelgardine verdeckt waren. Schmutziggrüne Fliesen verunstalteten die Küchenzeile, einige davon bemalt, ein voller Obstkorb war da, ein alter Herd, und es stand noch schmutziges Geschirr neben dem Spülbecken. Auf dem Tisch mit der rot-weiß-karierten Decke stand eine Tasse mit einer dunklen, kalten Flüssigkeit, bei der es sich um Tee handeln könnte. Cassy runzelte die Stirn und musste schlucken. Übriggelassene Nahrungsreste waren doch ein Zeichen für überstürzten Aufbruch, oder? Das Ganze kam ihr immer unheimlicher vor. Gerade wollte sie die Tasse genauer untersuchen, da ertönte Harukis Ruf aus dem Zimmer nebenan und sie zuckte so heftig zusammen, dass sie den kalten Tee vor Schreck beinahe vom Tisch schmetterte. Sie und Eli stürmten alarmiert in die Richtung, aus der das Geräusch kam und fanden sich schließlich zusammen mit ihrem Partner im Wohnzimmer wieder, wo sie auch den Grund für seine Reaktion vorfanden. Cassy presste betroffen die Hand auf den Mund. Das Wohnzimmer war vollkommen verwüstet. Der gemusterte Teppich, dessen Verwandtschaft sich durch das ganze Haus ziehen musste, war schlampig aufgerollt, eher umgeschlagen, Sessel und Kaffeetisch waren umgestürzt, die Vorhänge teilweise von ihren Stangen gezerrt, der Geschirrschrank aufgerissen und der Großteil des Inhalts in winzigen Scherben davor verteilt. Sämtliche Schubladen, die in diesem kleinen Zimmer zu finden waren, waren herausgerissen, völlig entleert und zwischen das zerbrochene Glas und Porzellan gemengt. Es war ein Fleck Chaos in der Wüste. »Scheiße«, hauchte Eli tonlos und suchte den Boden nach Blutflecken ab, oder irgendetwas anderem, was ihn auf den Status seiner ehemaligen Lehrerin schließen lassen konnte. Haruki trat wie aus dem Nichts gegen eine der auf dem Boden liegenden Schubladen und scheuchte damit die beiden anderen auf, die sich erschrocken zu ihm umdrehten. Sein Gesicht war verzerrt und seine Zähne knirschten aufeinander, von der Gelassenheit von vor ein paar Minuten war nichts mehr zu sehen. »So eine gottverdammte Scheiße! Das kann doch kein Zufall sein, dass ausgerechnet hier jemand eingebrochen ist!« Er versuchte, sich genauer umzusehen, um vielleicht irgendwelche Hinweise zu entdecken, wer das getan haben könnte oder warum. »Und Jackbell soll hiervon nichts gewusst haben?! Hier war eine Geheimwaffe versteckt und irgendwer hat alles auf den Kopf gestellt, keiner kann mir erzählen, dass der nichts gesucht hat!« »Wir wissen doch nicht, ob der Einbrecher etwas gefunden hat«, versuchte Cassy ihn zu beruhigen und legte zögerlich eine Hand auf seinen Oberarm, als ob sie ihn so festhalten könnte. »Alle Fenster sind bisher noch intakt, wir waren diejenigen, die das Türschloss aufschießen mussten … es muss also jemand gewesen sein, der einen Schlüssel hatte. Was natürlich die Frage aufwirft, wieso sich jemand die Mühe gemacht hat, daran zu kommen, nur um dann alles hier zu demolieren … in der Küche steht ein kalter Tee, Haru. Ich mache mir viel eher Sorgen darüber, was mit Misses Sparks passiert ist …« Eli war indessen wieder im Flur verschwunden und kam nun mit einem der leuchtenden Notizzettel in der Hand zurück ins Wohnzimmer, immer noch die Lippen nervös aufeinandergepresst, aber nicht mehr ganz so besorgt. »Möglicherweise nichts schlimmes«, entschärfte er die Situation und zeigte seinen Teamkollegen stolz seinen Fund. Die Notiz erwähnte etwas von einem Notfall in Miami am Montag, Taschen packen und Robert anrufen, und der Name Deborah fiel. »Es ist zwar nur Spekulation, aber wenn wir Glück haben, ist Misses Sparks gerade in Miami in Sicherheit. Der Zettel lag ganz oben auf dem Stapel, er kann also nicht alt sein.« Cassy zog die Augenbrauen nach oben. »Vor Gericht würdest du mit so etwas als Beweis zwar garantiert nicht durchkommen, aber egal was ist, wir können im Moment sowieso nichts dagegen tun.« Das war ein kleines, möglicherweise unwichtiges Detail, aber Eli hatte es dennoch gefunden, ohne dass sie überhaupt daran gedacht hatten. »Ich geh nach oben. Vielleicht finden wir da noch irgendwelche Hinweise«, verkündete Haruki mit noch immer trockener Stimme und kalter Miene, drehte sich auf dem Absatz um und steuerte auf die Treppe zu. Cassy und Eli blieben noch eine Weile unten zurück. Vorerst war es ihnen lieber, nicht mit einem aufgebrachten Haru in einem engen Raum zu sein, so lange sie es vermeiden konnten. Die Kanadierin seufzte mit zitternder Kehle. »Wir können nur hoffen, dass der Einbrecher deine Waffe nicht gefunden hat … das muss dieser Original gewesen sein, der hinter Jackbell und seinem Lebenswerk her ist, anders kann ich mir das nicht erklären.« Sie wandte den Blick wieder von der Zerstörung im Wohnzimmer ab, es bereitete ihr mehr und mehr Magenschmerzen. »Aber zu wissen, dass er weiß, wo wir als nächstes hingeschickt wurden … wo wir gerade sind … oh mein Gott.« Sie schlang die Arme um den Körper, als wäre sie schlagartig wieder zurück im frostigen Kanal, nass, müde und verängstigt, doch Eli holte sie rasch zurück in die Realität, indem er entschieden ihre Hand nahm und sie anblickte. »Mach dir keine Gedanken. Wenn wir tatsächlich nichts finden, rufen wir den Alten einfach an und sagen bescheid, der wird schon wissen was zu tun ist, oder uns zumindest von hier wegbringen können. Atme tief durch und versuch dich zu beruhigen, es wird alles funktionieren.« Er lächelte zuversichtlich und Cassy erinnerte sich an die exakten Worte, die Haruki Samstagnacht zu ihr gesagt hatte, als sie die erste Panikattacke bekommen hatte. Sie waren beide so nett zu ihr, sorgten sich stets um sie … und dabei kannten sie sich erst seit ein paar Tagen. Sie schluckte die Angst herunter und nickte. »Du hast recht, Kleiner. Danke.« Elis Lippen kräuselten sich und seine sonst so runden Augen formten sich zu Schlitzen. »Nenn mich bitte nie wieder ›Kleiner‹.« Cassandra musste kichern und hielt sich die Hand vor den Mund. »Hey, was glaubst du wirst du für eine Waffe bekommen? Ob es alles Revolver sind, so wie Venus?« »Vielleicht ja einen Panzer«, scherzte der Rotschopf mit viel zu ernsthaftem Gesicht und ging langsam ebenfalls in Richtung Treppe, die Arme lässig hinter dem Kopf verschränkt wie bei einem Strandspaziergang. »Oder ein Maschinengewehr.« »Wohl eher ein Schraubenschlüssel, bei deiner Größe.« »Also bitte! Auf die Größe kommt es im Leben nicht an, das sagt mein Dad immer!« Wieder musste Cassy losprusten, und Eli hatte im Moment zwar nicht die leiseste Ahnung was so witzig war, wurde aber von ihr angesteckt. Letztendlich schafften beide es in den ersten Stock und sahen sich dort flüchtig um. Ähnlich eingerichtet wie unten, alles stand an seinem Platz, zumindest sah es so aus. Harukis breiter Rücken schaute aus dem Schlafzimmer heraus, wo er mit starrer Miene in einer Kommode herumwühlte. »Was soll das denn werden? Reicht es nicht, dass ein Einbrecher hier alles durcheinander gebracht hat …?«, begann Cassy eine entrüstete Standpauke, doch Haru würgte sie mit einem mürrischen Stöhnen ab. »Das ist doch jetzt egal, oder?! Hier steht so oder so alles Kopf, das wird niemandem auffallen, falls es überhaupt noch jemand mitbekommt. Ihr solltet euch lieber selbst nützlich machen, anstatt hier nur rumzustehen. Haltet nach allem Ausschau, was irgendwie …« »… verdächtig aussieht«, beendete Eli den Satz und steuerte plötzlich zielgerichtet auf das Bett zu, als hätte es ihn mit geisterhafter Stimme zu sich gerufen. »… genau«, murmelte Haru in die Nachthemden hinein, die er aus den Schubladen zerrte und um sich schmiss. Wirklich wohl war ihm auch nicht dabei, die Wäsche einer alten Dame derartig zu durchforsten, aber eine andere Wahl hatten sie wohl nicht und es gab im Moment wichtigeres. Dass er zuvor so forsch zu den beiden gewesen war, tat ihm schon längst wieder leid, aber er brauchte noch eine Weile um sich wieder beruhigen zu können. Eli hingegen hatte tatsächlich etwas gefunden. Schwungvoll schlug er die Bettdecke zurück und seine Vermutung bewahrheitete sich; die Matratze war nach oben hin ausgebeult und bildete einen kleinen Hügel in der Mitte. Etwas musste sich darunter befinden, es stach ihm ins Auge wie der Prinzessin die Erbse in den Rücken. Als er mit Mühe versuchte, die Matratze vom Bettgestell zu heben, kam Cassy ihm zur Hilfe, die seine Geheimniskrämerei zuvor beobachtet hatte. Und tatsächlich, Elis Annahme hatte ins Schwarze getroffen. Auch Haru löste sich nun aus dem Haufen beigeweißer Baumwollwäsche, kam wieder an die Oberfläche und ging vorsichtig auf den Fundort zu. Ein schwarzer Aktenkoffer lag auf dem Lattenrost, glänzend und unberührt. »Genau in so einem Ding hab ich meine Waffe gefunden«, flüsterte Cassy ehrfürchtig, fast als befürchtete sie, jemand Fremdes könnte sie hören. Der Einbrecher hatte die gesuchte Beute wohl nicht gefunden … wenn die Nullpunkt-Prototypen überhaupt sein Ziel gewesen waren. Und was sollte es sonst gewesen sein? Vorsichtig kniete Eli sich neben das Bett, hob den Koffer an und drückte die beiden goldenen Schnallen an den Seiten ein um ihn zu öffnen. Wie Haruki und Cassy erwartet hatten, war er leer, doch bevor Eli den Mut verlieren konnte, beugte der Japaner sich über ihn, streckte die Arme an seinem Kopf vorbei aus und löste vorsichtig den zweiten Boden. Darunter befanden sich zwei Messer mit unterarmlangen, schmalen und gezackten Klingen mit gekurvter Spitze und einem goldenen Glänzen. Die Griffe waren schwarz und aus einem weicheren Material, sogar mit glänzenden Lederkissen gepolstert, für optimalen Komfort. Zwischen Griff und Klinge befand sich eine ovale Kammer, die mit einer Abdeckung verkleidet war, kleine Rillen, Klappen und etwas, das aussah wie Stromanschlüsse waren überall an den Griffen verteilt, so als wären sie zu einem Teil Computerzubehör. Und auf beiden Klingen stand filigran der Name eingraviert – Mercury. »Ach du Scheiße!« Eli nahm die Messer mit zittrigen Händen aus dem Koffer und drehte sie vorsichtig im Licht, um sie sich genauer anzusehen, sie dabei so weit wie möglich auseinanderhaltend, aus Angst, sich aus Versehen selbst damit aufzuschneiden. Seine Stimme war stockend und hoch wie die eines Grundschulmädchens bei ihrem ersten Referat. »Ach … du Scheiße …« Seine Augen strahlten mindestens so wie die neuen Waffen und er wollte sie kaum aus der Hand legen. Wenn er sich damit nicht aufspießen könnte, würde er sie ab heute mit ins Bett nehmen und unter sein Kissen legen. »Was ist das?«, stammelte Cassy benommen und rutschte mit ihrem Blick immer wieder an den Klingen rauf und runter, als würde sie sie damit polieren wollen. »Ich dachte, meine Waffe wäre unverantwortlich … aber was ist das?!« Sie warf Haruki einen raschen, vielsagenden Blick zu. »Mit diesen Mörderteilen soll ein Sechzehnjähriger gegen einen Terroristen kämpfen? In welchem Film sind wir hier noch mal?!« Haru hatte einen ähnlichen Gedankengang gehabt. Alles Vertrauen, das er jemals in Eli gehabt hatte, war mit einem Mal verschwunden und sein Gesicht wurde leichenblass. Eine falsche Bewegung und der Junge könnte sie alle drei einen Kopf kürzer machen … immerhin hatten sie die verdammten Teile doch noch gefunden, aber ehrlich gesagt wusste er nicht, ob er sich wirklich darüber freuen sollte. Was hatte Jackbell sich dabei nur gedacht?! Hatte er bei sich zuhause ein Glücksrad stehen, auf dem alle Bewohner dieser Stadt aufgelistet waren und es war zufällig bei diesem schmächtigen Teenager stehengeblieben? Entgeistert fasste er sich an den Kopf. »Also, wenn dieser Furz hier das goldene Messerwerfen veranstaltet, dann hoffe ich doch schwer, dass Jackbell für mich eine Atombombe bereitgestellt hat …«, murmelte er so leise, dass Eli es hoffentlich nicht hören konnte, aber das hatte er sehr wohl. Verletzt drehte er sich um, die Messer in den Händen haltend wie ein hungriges Kind sein Besteck, und sah seine beiden Kollegen entrüstet an, als hätten sie ihn zutiefst enttäuscht. »Ihr tut ja gerade so, als wäre ich ein Kleinkind ohne klaren Menschenverstand! Ich werd schon keine Zirkuseinlagen damit zum Besten geben, ich hab sehr wohl Verantwortungsbewusstsein! Das kriege ich schon hin, mit ein bisschen Übung …« Er schwang den rechten Arm steif zur Seite, als wollte er einen Trick vorführen, warf damit aber nur die Nachttischlampe vom Tisch und zuckte von dem rasselnden Klirren zusammen, während Haruki alarmiert aufsprang. »Schon gut, schon gut, pack die Dinger lieber in den Koffer, bevor du noch jemanden in Scheiben schneidest!«, beruhigte er den Jüngeren mit sanften Handbewegungen und griff vorsichtig nach dessen Unterarmen, damit diese nicht noch einmal ausrutschen konnten. Auch Cassy atmete nun erleichtert aus. »Nichts für ungut, Kleiner«, murmelte er daraufhin mit einem intensiven Blick und Eli musste nach Luft schnappen. »Alles klar. Wir packen alles ein und machen uns so schnell wie möglich auf den Weg zurück in die Stadt. Wir können noch etwas essen gehen, bevor der Flug heute Abend geht und dann rufen wir erstmal Jackbell an. Aber zu allererst, bloß raus hier.« Alle mussten Haruki in diesem Punkt zustimmen, und so spurteten sie wieder die Treppen herunter, wickelten Elis Waffen in ein paar Küchentücher ein und verstauten sie mit ein wenig Mühe in seinem Koffer. Daraufhin verließen sie das Haus so schnell wie möglich und mit klopfendem Herzen, huschten durch den grauen Vorgarten, während die grelle Mittagssonne ihnen in den Nacken starrte, ließen das Gartentor hinter sich und rannten anschließend regelrecht die Straße bis zur Bushaltestelle entlang, so eilig hatten sie es, dieses verfluchte Haus zu verlassen. Kaum standen sie wieder auf dem Bürgersteig, löste sich der Knoten in ihren Bäuchen ein wenig, doch ganz verschwinden würde er erst, wenn sie in den Bus steigen und diese unheimliche Straße verlassen konnten, auf der noch immer niemand außer ihnen zu sehen war. ▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬▬ Gut eine Stunde später saßen die drei Finals unter einem Sonnenschirm vor einem Fischimbiss mit Blick auf den Strand und gönnten sich ein auffüllendes Mittagessen. Es war mittlerweile ein Uhr mittags und Haruki war von dem unverkennbaren Duft geradezu angezogen worden, bis er ihn hierher gebracht hatte. Bei Fisch jeglicher Art wurde er nun einmal schwach. Und als er dann auch noch gesehen hatte, dass auf der Speisekarte das ›Asia-Special der Woche‹ mit ›Sushi nach Amerikanischer Art‹ angeboten wurde, hatte er einfach nicht widerstehen können. Zwar schmeckte die angeblich amerikanische Variante im Gegensatz zu seinem Lieblingssushi zuhause wie frisch gemähter Rasen und Tiefkühlfischstäbchen, zwischen die aus unerklärlichen Gründen ein Spritzer Mayonnaise geraten war, aber es war viel zu lange her gewesen, dass er die kleinen Fischröllchen zu Mittag hatte und irgendwie konnte er es dann doch genießen. Cassy hatte sich mit einem Backfischbrötchen zufrieden gegeben und Eli, der schon das Gesicht verzogen hatte, als er nur in die Nähe des Imbisses gekommen war, hatte bloß eine Portion Pommes frites gekauft. Ihm blieb es ein Rätsel, wie Haru diese kleinen, grünen Autoreifen so genüsslich in sich hinein schaufeln konnte, seiner Meinung nach stank es einfach nur fürchterlich. Besonders bei so einem Wetter. »Lecker …«, hörten sie den Ältesten ab und zu zwischen zwei Bissen murmeln, seine Wangen waren ganz rosig geworden, als er wie ein Weltmeister mit den Plastikstäbchen nach seinen Sushiröllchen schnappte, wie es sonst keiner von ihnen gekonnt hätte. Immerhin schien er jetzt nicht mehr sauer zu sein und das konnte ihnen nur zugute kommen. »Seid ihr bald fertig?«, fragte Eli irgendwann ungeduldig, mit verzerrtem Gesicht und unterdrückter Stimme, die Nase hielt er sich dabei zu und vermied es, einen Blick auf das Mittagessen der anderen zu werfen. Cassy schenkte ihm nur einen enttäuschten Blick und biss demonstrativ in das letzte Stück ihres Brötchens. »Jetzt lass doch dem armen Japaner sein Sushi«, murmelte sie schmunzelnd und mit vollen Wangen, während Haruki seine Worte einfach ignorierte. »Schmeckt dir das wirklich?«, warf der Rotschopf misstrauisch ein und dieses Mal lachte Haru nur trocken auf. »Ganz im Gegenteil, das ist mit das Ekelhafteste, was ich je gegessen habe! Aber es ist Monate her, seit ich zum letzten Mal Sushi gegessen hab und egal wie sehr dieser Fraß meinen Nationalstolz beleidigt, ich kann einfach nicht aufhören zu essen.« Sowohl Eli, als auch Cassy waren schockiert von Harus tragischem Schicksal und beobachteten ihn den Rest der Mahlzeit nur ergriffen und irritiert zugleich, doch nach ein paar Minuten war auch er endlich gesättigt, tupfte sich mit der Papierserviette den Mund ab und setzte wieder seinen kühlen Geschäftsblick auf. »So, jetzt bekommt Jackbell aber was zu hören«, verkündete er entschieden und noch bevor irgendjemand darauf reagieren konnte, hatte Cassy schon das Handy aus ihrer Tasche gefischt und wedelte damit vor seiner Nase herum wie mit einem Angelköder. »Ich bin gespannt«, erwiderte sie daraufhin und konnte sich ein Schmunzeln kaum verkneifen, als Haruki resignierend nach dem Telefon griff und die eingespeicherte Nummer wählte. Diesmal ging ihr Auftraggeber besonders schnell ran. »Mister Okui?«, fragte er höflich, wohl erwartend, dass es der Ältere war, der von den anderen wieder einmal als Medium auserkoren worden war und dieser bestätigte. »Wie schön, von Ihnen zu hören. Geht es den anderen gut?« »Den Umständen entsprechend«, antwortete Haru möglichst trocken und räusperte sich dann, um seiner nachfolgenden Vorwurfsrede mehr Ausdruck zu verleihen. Jackbell hustete indessen. »Wir haben Elis Waffe gefunden«, begann er schließlich und noch bevor sein Gesprächspartner weitere Fragen stellen konnte, startete er mit der Bombardierung. »Aber das war alles andere als einfach. Nicht genug damit, dass Bernadette Sparks’ Haus aussah wie eine Ruine, wir mussten auch noch das Türschloss aufschießen um überhaupt reinzukommen, die gute Dame war nämlich gar nicht da. Und auch das war noch nicht alles, das Wohnzimmer war völlig demoliert, jemand mit einem Schlüssel muss vor kurzem dort eingebrochen sein und wenn Sie mich fragen, dann hat dieser Jemand Ihre Prototypen gesucht. Gefunden hat er sie offenbar nicht, wir haben sie nämlich anschließend unter der Matratze entdeckt, wo der Einbrecher glücklicherweise nicht nachgesehen hatte. Jetzt fragen wir uns natürlich, was aus Misses Sparks geworden ist, wir haben zwar Hinweise darauf gefunden, dass sie kurzfristig nach Miami musste, aber sicher sind wir uns da nicht, vor allem, weil wir angenommen hatten, dass sie wüsste dass wir kommen würden. Ach ja, und was zur Hölle ist mit Cassys Pistole los?! Was ist in der Munition? Hätten wir das nicht vielleicht früher erfahren können?!« Die ganze Zeit über hatte Cassy ihren Partner mit vorsichtigen Gesten mitten im Satz beruhigen müssen, damit er nicht zu laut wurde und womöglich die Aufmerksamkeit anderer Leute auf sich lenkte. Es tat gut, sich all das von der Seele geredet zu haben, aber je länger Jackbells Denkpause nach dieser Standpauke dauerte, desto nervöser wurde er. »Das ist schlecht«, kam es irgendwann aus dem Hörer und Haru hielt aufgebracht die Luft an. »Das ist wirklich … schlecht. Ich werde so schnell wie möglich versuchen herauszufinden, was mit Misses Sparks passiert ist und Sie dann wieder anrufen. Bis dahin, bleiben Sie in Bewegung. Machen Sie sich noch einen schönen Tag, Ihr Flug geht um fünf Uhr. Geben Sie Geld aus, legen Sie sich an den Strand, was immer Sie möchten, machen Sie sich keine Sorgen. Sobald Sie erst einmal von hier weg sind, wird sich das sicherlich aufklären.« Er hustete noch einmal, dieses Mal leiser. »Was Miss Phans Waffe angeht, da müssen Sie wohl noch ein paar Wochen warten. Ich rate Ihnen auch weiterhin, sie besser nicht zu benutzen, wenn es nicht absolut notwendig ist. Zunächst ist es Ihr Ziel, alle Finals und deren Waffen aufzulesen, wie man sie benutzt, ist ein anderes Kapitel. Das wäre es dann. Am besten sorgen Sie dafür, dass Sie schon um drei oder vier am Airport sind, damit alles glatt läuft und Sie sicher sein können, den Flug zu erwischen. Gibt es sonst noch Fragen?« »Nein, das war alles …«, murmelte Haru zerknirscht und hätte gerne noch etwas Bitteres gesagt, ihm fiel aber nichts ein, weshalb er daraufhin wortlos auflegte. Super, selbst Jackbell hatte keine Ahnung, was es mit diesem Einbruch auf sich gehabt hatte und sonderlich gefasst hatte er auch nicht geklungen. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht in allzu großer Gefahr schwebten. Als ihm das Wort ›Texas‹ wieder in den Sinn kam, musste er säuerlich das Gesicht verziehen. Auf ihren Tickets stand etwas von Houston, was seines Wissens nach eine ziemlich große Stadt war – außerdem musste er dabei gleich an einen Astronauten denken, der »Houston, wir haben ein Problem« sagte –, aber wer wusste, wohin sie von dort aus noch kommen würden? Haruki war das Landleben überhaupt nicht gewöhnt und wollte eigentlich so weit wie möglich davon entfernt bleiben. Sein Zuhause waren die Städte, das Gedrängel, die schlechte Luft, die beschäftigten Leute und die Einkaufsstraßen und allein der Staat hinterließ einen unangenehmen Nachgeschmack auf seiner Zunge. »Tja …«, begann der Älteste dann und ließ ratlos den Blick zwischen Cassy und Eli hin und her springen. »Und jetzt?« Sie hatten noch gut zwei, drei Stunden um sich die Zeit zu vertreiben, bevor sie sich auf den Weg zum Flughafen machen mussten. Da hätte man am Morgen ja ruhig noch ein paar Stunden länger schlafen können, aber wer hätte den Ausgang dieser Suchaktion schon ahnen können? Einen Shoppingtrip zu machen kam Haruki nicht wie eine besonders kluge Idee vor, denn obwohl sie genügend Geld zum ausgeben hatten, schien es nicht gerade sinnvoll, sich irgendwelche neue Kleidung oder sonstigen Kram zu kaufen. Immerhin mussten sie all das auch in ihrem Gepäck mitbekommen und die Waffen waren schon kompliziert genug zu verstauen, außerdem würde ihnen das kaum etwas bringen, wenn sie die nächsten paar Monate auf geheimer Mission abstinent von Sozialkontakten verbringen würden. »Wir könnten uns vielleicht doch noch an den Strand legen«, schlug Cassandra mit hoffnungsvoller Miene vor. »Um in Badesachen zu schlüpfen und im Meer zu schwimmen ist vielleicht keine Zeit mehr, aber immerhin könnten wir noch ein kleines Nickerchen machen und uns bräunen, bevor es wieder ernst wird!« Eli rümpfte missmutig die Nase. »Wir könnten jemandem aus meiner Schule begegnen … im Gegensatz zu meinem Vater wissen die nicht, dass ich zum Austausch in Europa bin.« »Wir könnten dich verstecken«, versuchte die Kanadierin mit einem verzweifelten Lächeln ihren Plan zu retten, sie würde die letzten Stunden in West Palm Beach wirklich gerne am Strand verbringen, doch Eli in Bedrängnis zu bringen lag auch nicht in ihrem Interesse und so musste sie ihren Wunsch wohl dem größeren Wohl opfern. »Lasst uns einfach einen Spaziergang am Strand entlang machen«, kam Haruki die Idee und er stand auf, seinen und Cassys Koffer geschäftig in die Hände nehmend. Seine Arme waren kräftig genug um beide zu tragen und er hatte immer noch etwas gut zu machen. »Auf diese Weise bleiben wir in Bewegung, wie Jackbell gesagt hat, und bekommen wenigstens etwas von der Sonne mit. Und zwischendurch können wir uns ja auch in ein Café setzen oder ein Eis essen. Keine Ahnung, wie die Temperaturen in Texas sind, aber so etwas wie hier können wir da wohl nicht erwarten.« Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden, also folgten sie gemütlich dem Weg, den Haru und Cassy schon am Tag zuvor gegangen waren um Eli zu suchen. Dabei berichteten sie ihm von den Bemühungen, die sie hatten durchwandern müssen um ihn ausfindig zu machen, und auf dem Weg bemerkte Cassandra immer mehr, wie gut das warme Wetter ihrer verstopften Nase tat. Sie war zum Glück relativ immun gegen schwere Erkältungen und hatte damit weniger zu kämpfen als Haruki, dessen Stimme immer noch feucht klang. »Ich mache mir ehrlich gesagt fast schon Sorgen, was der vierte Final für eine Person sein wird«, begann Haruki irgendwann und kniff für ein paar Sekunden die Augen zusammen, um sie von der blendenden Sonne auszuruhen. »Ich meine, wir sind ja jetzt schon nicht mehr als eine willkürlich zusammengewürfelte Runde. Niemand würde von Leuten wie uns erwarten, dass wir auf geheimer Mission sind.« »Wahrscheinlich ist gerade das der Punkt«, entgegnete Eli. »Wir sind viel weniger auffällig als eine Gruppe Anzugträger mit Sonnenbrillen und Headsets. Jackbell wird sich da schon seine Gedanken gemacht haben. Hoffe ich.« »Und ich frage mich, wie lange diese Reise noch gehen soll …«, warf Cassandra daraufhin ein und massierte sich die Schläfen mit den Zeigefingern. »Wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es noch vier Leute nach uns, und der Texaner ist der letzte Amerikaner … woher mögen die anderen kommen?« Das Gespräch wurde immer ausführlicher und es wurden wilde Vermutungen und Thesen aufgestellt, was für Arten von Leuten ihnen noch begegnen würden und woher sie kamen, was für Reaktionen auf sie warten würden, ob es jemanden geben würde, der schwieriger zu überreden oder vielleicht völlig dagegen war und was sie in diesem Fall tun sollten … zwingen konnten sie die Person ja schlecht. Letztendlich ging der Nachmittag vorbei und einige Wolken schoben sich vor die Sonne, sodass man zumindest wieder klar sehen konnte und nicht nur ein grelles, verschwommenes Bild vor sich hatte. Um viertel vor drei rief Haruki von einem Laden aus ein Taxi, das die drei zum Flughafen bringen sollte. Es hatte angefangen leicht zu regnen und Cassys neuer Hut hatte sich, genauso wie auch bei hellem Sonnenschein, als nützlich herausgestellt. Im Auto hingegen war es diesmal noch wärmer als draußen, was im ersten Moment jedoch angenehm war. Kurz befürchtete Haruki, man könnte ihn und Cassy in dieser Konstellation für Elis Eltern halten, so wie sie ihn immer in ihrer Mitte hielten, er verscheuchte den Gedanken jedoch mit einem Kopfschütteln. Selbst wenn, das wäre immer noch besser, als sie nicht ganz fälschlicherweise mit Geheimagenten zu verwechseln. Er und Cassy wussten zwar, dass es von der Innenstadt aus nicht lange bis zum Airport war, aber dennoch konnte er nicht anders, als den Kopf ans Fenster zu lehnen und die Augen für ein paar Momente zu schließen. So einen Stress wie in den letzten paar Tagen hatte er selten gehabt … Am Flughafen angekommen bezahlte Cassy wieder einmal den Fahrer mit großzügigem Trinkgeld, während Haru und Eli ihre Koffer aus dem Auto zerrten und sich so schnell wie möglich in Richtung des Gebäudes bewegten. Noch hatten sie nicht allzu viel Gepäck, aber je voller ihre Gruppe wurde, desto größere Taxis mussten sie bald bestellen und desto mehr würden sie zu tragen haben … Es war schon eine Weile her, seit Cassandra und Eli zuletzt geflogen waren, schon gar nicht so weit, beziehungsweise mit einem Passagierflugzeug, bloß Haruki erinnerte sich noch an seine Reise nach Kanada vor ein paar Monaten und hatte die Routine grob im Kopf. Zunächst gaben sie ihre Koffer ab, damit sie später sicher ins Flugzeug transportiert werden konnten. Die Schlange war mäßig lang, doch irgendwo vorne musste gerade jemand beschlossen haben, einen Streit zu beginnen, weshalb es länger dauerte als erwartet. Als Haruki nach ihren Reisepässen gefragt wurde, musste er unwillkürlich schlucken und seine Innereien krampften sich zusammen, als er sich langsam zu Cassy umdrehte. Diese griff hektisch in ihre Tasche und fummelte drei dünne Büchlein mit Lederumschlägen aus dem Packen, den Bernhard ihnen gegeben hatte, und die jeweils zu Haru, Eli und ihr gehörten. Das hatten sie ja ganz vergessen … jetzt blieb ihnen nur zu hoffen, dass die Pässe auch angenommen wurden und sie sich nicht zu verdächtig benahmen. Cassy biss sich beinahe auf die Zunge, als sie den ersten Schweißtropfen auf Harukis Stirn bemerkte. Die Flughafenmitarbeiterin ging jedoch nur gelangweilt durch die drei Reisepässe und gab sie dem Japaner dann mit einem gezwungenen Lächeln zurück, damit sie die Namensschilder für ihre Koffer anfertigen konnte. Letztendlich waren die Finals um ein paar Gepäckstücke leichter und Cassy plötzlich auch um einiges besorgter ohne ihre vertraute Venus in der unmittelbaren Nähe. Unglaublich, wie schnell einem so ein Ding ans Herz wachsen konnte. Als nächstes ging es durch die Sicherheits-, sowie Gepäckkontrollen, bei denen Haruki energisch versuchte, so amerikanisch und nicht-ausländisch wie möglich auszusehen, doch glücklicherweise gab es keine besonderen Vorkommnisse und sie konnten sich rasch in einen der Warteräume vor den Gates setzen um auf ihren Flug zu warten. Mit einem erleichterten Ausatmen ließ Haru sich auf einen Platz fallen, während Cassy anbot, ihnen allen etwas zu trinken mitzubringen. Es war nur noch eine Stunde, bis sie in die Maschine einsteigen sollten … alles war bis hierher gut gegangen, deutlich langsamer als mit Bernhard und Jackbells Privatjet, den sich die beiden älteren Finals plötzlich sehnsüchtig wieder zurückwünschten, aber immerhin hatten sie den Großteil geschafft. Als die Nummer ihres Fluges schließlich aufgerufen wurden, sprang die gesamte Bande regelrecht auf, Eli war vorher beinahe eingeschlafen, und Cassandra wollte reflexartig nach allem Gepäck greifen, das sie an sich hatte, doch es war tatsächlich nur die graue Umhängetasche, die dazu noch um einiges leichter geworden war, nachdem sie die frisch gekaufte Sonnencreme und das Wasser für die Gepäckkontrolle daraus hatte entfernen müssen. Als sie in der Schlange vor der letzten Reisepasskontrolle standen, musste Eli plötzlich schlucken und begann zu schwitzen. Seine Nervosität ging sofort auf Haruki über, der ihm einen besorgten Blick zuwarf. »Alles okay bei dir?« »Es ist nur … mir ist gerade eingefallen …« Seine Lippen begannen zu zittern und ein kalter Schauer rollte seine Wirbelsäule hinunter. »Ich glaube, ich will gar nicht fliegen …« Haru schnaubte kurz unwillkürlich auf und fuhr dann rasch mit der Hand über seine Nase, um es lässig und cool wirken zu lassen und nicht verzweifelt. »Das fällt dir jetzt ein? Dir ist aber klar, dass wir nicht einfach wieder zurückgehen und noch ein paar Tage warten können, bis du dich besser fühlst, oder?« »Ja schon, aber … was ist wenn wir abstürzen? Oder schlimmer …« Haruki schob die Augenbrauen zusammen und runzelte die Stirn. Er wollte gerade etwas Beruhigendes sagen, als ihm wieder einfiel, warum er Eli diesen Gedanken nicht allzu übel nehmen konnte. Zwar war ihm selbst klar, dass die Chancen, dass ihnen auf diesem Flug etwas zustieß vielleicht so hoch waren wie ein Lotteriegewinn, aber irgendwie musste er ja trotzdem versuchen, dem jüngsten Final ein besseres Gefühl bei der Sache zu geben. Während Haru noch immer überlegte, wie er Eli beruhigen konnte, der offensichtlich mit jeder Sekunde panischer wurde, und das noch bevor sie an der Reihe waren, griff Cassy stattdessen ein, indem sie lächelnd seine Hand nahm und ihn gutmütig anblickte. »Mach dir darüber keine Gedanken. Ich weiß, wir können dir nichts versichern, aber ich werd es trotzdem versuchen; wir werden nicht abstürzen und es wird auch nichts schlimmeres passieren. Wir kommen heil in Houston an und ich wette, da wird es um einiges schlimmer als im Flugzeug, das kannst du mir glauben. Also atme tief durch und versuch dich zu beruhigen. Haru und ich sind für dich da, wenn du dich ablenken willst und jemanden zum reden brauchst. Es gibt bestimmt noch ein paar Geschichten zu erzählen und vielleicht läuft ja auch ein Film oder so …« Elis Augen wurden riesengroß und begannen schon zu schwimmen, seine Wangen bebten, dann jedoch schluckte er seine gesamte Angst herunter wie einen riesigen Bissen von etwas Scharfem, nickte schmerzhaft und fiel Cassy in die Arme. Von der Wucht und Überraschung kippte sie beinahe nach hinten, fing sich aber im letzten Moment und musste leise auflachen. Unbemerkt seufzte auch Haruki flüchtig, erleichtert darüber, dass das Problem so schnell gelöst worden war und er sich selbst nicht um Kopf und Kragen hatte reden müssen. Diese Seite von Cassy war neu, bisher hatte er sich stets um sie gekümmert, wenn sie orientierungslos gewesen war, doch sie gefiel ihm und ließ es ihm warm ums Herz werden. Vielleicht war diese Reise kein so großer Fehler gewesen wie er angenommen hatte. Und vielleicht waren auch diejenigen, die mit ihm in dieser Situation steckten, genau die Richtigen dafür – und füreinander.
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