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Smileyy's Storyfactory
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Between Despair And Help
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smileyysstoryfactory-bdah · 8 years ago
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Prolog
Knarzend drehte ich den warmen Knauf der Toilettentür und öffnete diese anschließend. Meinem Spiegelbild wich ich ge­schickt aus, während ich mir die Hände wusch. Ich wollte mich selbst nicht sehen. Die krausen, ungewaschenen Haare, das blasse, beschmutzte Gesicht, die zerlumpte, dreckige Kleidung, nichts von alldem wollte ich sehen. Nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte, spritzte ich mir auch etwas Wasser ins Ge­sicht. Dabei begegnete ich flüchtig meinen glanzlosen Augen im Spiegelbild. Ich senkte den Blick sofort wieder auf das Wasch­becken. Sobald ich mir Hände und Gesicht abgetrocknet hatte, verließ ich die Tankstelle wieder. Der südländische Mann am Tresen rief mir mit Akzent hinterher, ich solle doch nächstes Mal gefälligst etwas kaufen, wenn ich mich hier blicken ließe. Ich achtete nicht darauf. Der große Temperaturunterschied bereitete mir sofort eine Gänsehaut. Ich vergrub die Hände tief in den Taschen des Parkas aus dem Secondhandshop und trat den Nachhause­weg an. Zuhause. Was für eine Fehlbezeichnung für den Ort, an dem ich lebte. Der kalte Nachtwind, der mir ins Gesicht blies, löste ein Bren­nen in meinen Augen und eine unangenehme Gänsehaut in meinem Nacken aus. Meine Hände bohrten sich noch tiefer in meine Jackentaschen. Ich konnte meine Atemluft beim Ausatmen sehen. Obwohl ich wusste, dass es an meinem Zielort nicht wär­mer war als hier, machte ich noch größere Schritte und ging schneller. Eine Weile lang konnte ich nichts bis auf meine eigenen Schritte hören. Dann kamen noch ein paar weitere hinzu, die auf die Pflastersteine trommelten.  „Hey, du, bleib doch mal stehen!“ Die Stimme ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich bemühte mich, noch schneller zu gehen, aber das trieb mein Schwindelgefühl nur noch mehr in die Höhe. Zu wenig hatte ich heute gegessen.  Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie die Straße überquerten. Drei waren es. Ich richtete den Kopf wieder nach vorn. Ich wollte rennen, konnte aber nicht. Zu schwach, zu müde waren meine Bei­ne. Ich fühlte mich wie eine alte Schildkröte, die vor einem Ru­del Hunde weglaufen wollte.  Eine Hand umfasste grob meinen Arm. Jetzt war es zu spät, die letzten Energiereserven zusammen zu kratzen und zu versuchen zu entkommen. 
„Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Du sollst stehen bleiben.“  Ich zog an meinem Arm; ein lächerlicher Versuch, mich von ihm loszureißen.  Loslassen! So laut ich es im Kopf schrie, als meine Lippen das Wort formten, ist es nur eine klägliche Bitte, kein Befehl. Ganz leise, er hörte es gar nicht. Er stieß mich hart gegen die nächstgelegene Backsteinwand. In meinem Hinterkopf breitete sich ein entsetzlicher Schmerz aus. Ich verzog das Gesicht, traute mich kaum, die Augen zu öffnen. Sein Gesicht war fahl be­leuchtet von dem Licht, das eine Straßenlaterne auf uns herab­ warf. Fette Backen hatte er, und schmale Lippen. Sie waren zu ei­nem widerlichen Grinsen geformt. Er umfasste meinen Unterk­iefer mit der Hand und drehte mein Gesicht dem Lichtschein zu.  „Seht sie euch an“, sagte er voller Begierde. Seine Stimme war tief und brummig. Sie erinnerte mich an die eines Bären.  Meinem Mund entfloh ein von Angst erfülltes Wimmern.  „So jung.“ Er öffnete den Reißverschluss meines Parka und schob seine Hand an meine Brust. „Und so unberührt.“  Einer der beiden Männer, die ihn flankierten, lachte auf, leerte eine Flasche aus dunklem Glas und warf sie achtlos gegen die Mauer direkt neben mir. Sie zersprang mit einem schrillen Klirren in zahllose Scherben. Ich zuckte zusammen.  Ein Schnauben entkam der Kehle des Mannes, der vor mir stand, seine Lippen zierte ein schmieriges Lächeln. Er öffnete den Reißverschluss und schob die Jackenhälften immer weiter auseinander. Ich schloss die Hände um sie und hielt meine Ja­cke zu.  „Na, na, du wirst dich doch wohl nicht wehren.“ Einhändig umfasste er meine Handgelenke und hielt sie mir über den Kopf. Sein Griff ist fest, er tat mir weh.  Ich wandte das Gesicht ab, während er meine Jacke ganz öffnete und an meiner Kleidung zog, bis die Nähte rissen.  Als wir plötzlich nicht mehr die Einzigen in dieser leblosen Straße waren, schubste er mich in die Gasse an der Häuserecke, an der ich lehnte. Ich stieß mir hart den Kopf an der gegenüberlie­genden Fassade und war kurz bewusstlos. Nicht lange genug. Als ich wieder zu mir kam, den Kopf eingetaucht in Schmerz, war ich nackt. Ich öffnete nicht die Augen. Was um mich herum geschah, wollte ich nicht sehen. Was ich spürte, war genug. Erst als ich die sich entfernenden Schritte auf dem Kies hörte, blinzelte ich zaghaft. Es war dunkel. Ich konnte kaum etwas erkennen. Ich zog die Beine an und weinte leise vor mich hin. Ich hätte rennen sollen. Bis ich zusammen gebrochen wäre. Ich hasste mich selbst dafür, dass ich es nicht getan hatte.  Mein nackter Körper schauderte unter dem nächsten Luftzug, der die Gasse durchzog. Ich wünschte mir, er würde mich ein­fach mit sich tragen.  In der Dunkelheit kroch ich umher, tastete mich mit den Hän­den voran, suchend nach meiner Jacke. Oder meinen Schuhen. Oder irgendein anderes meiner Kleider. Irgendetwas, das mich vor der Kälte bewahrte. Nach Minuten der erfolglosen Suche ließ ich mich kraftlos auf den Boden sinken. Wartend auf den Erfrierungstod. Etwas Anderes hatte ich nicht verdient. Etwas Anderes wollte ich auch gar nicht. Was sollte ich mit so einem Leben noch anfangen? Kein Dach über dem Kopf, kein Essen, eine verlorene Vergangenheit und eine grausame Gegenwart. Ein qualvoller Kältetod war alles, was das Ende dieses Lebens lückenlos vervollständigen konnte.
Ich bekam es schon gar nicht mehr bewusst mit. Zu tief hatte mich die Kälte schon in ihren Kokon gesponnen. Lange schon hatte ich aufgehört zu zittern und mich vor dem kalten Nichts zu fürchten.
Da war jemand. Und da war etwas Warmes, das sich zwischen mich und den Kältekokon drängte. Ich spürte, wie ich bewegt wurde. Nein. Ich konnte mich nicht wehren, konnte nichts sagen, mich nicht bewegen. Soweit es mir gelang, öffnete ich die Augen, konnte aber nichts erkennen. „Hey, kannst du mich hören?“, fragte eine männliche Stimme. Ich spaltete meine trockenen, kalten Lippen. Ja. Ich konnte es nicht aussprechen. „Was hast du dir dabei gedacht, so allein nachts herum zu lau­fen?“ Was hatte er sich dabei gedacht, meinen Tod zu unterbrechen? „Ich bringe dich ins Krankenhaus.“ Nein, lass mich liegen, lass mich sterben.
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smileyysstoryfactory-bdah · 8 years ago
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Kapitel 1
Es war spät, die Sekretärin der Notaufnahme ging gerade ein paar Akten durch, die sie bis zum Schichtwechsel noch abarbeiten musste, als die Schiebetüren auseinander fuhren und freie Sicht auf ein selten gesehenes Bild gaben. Ein junger Mann mit vom Regen durchsichtig gewordenem Hemd und nassen Haaren, die ihm im Gesicht klebten, in den Armen hielt er eine bleiche, bewusstlose Frau, bestimmt nicht älter als er selbst. Sie war mit einer Decke umwickelt, ihre Lippen waren blau, ihr Haar zerzaust. Über die Gegensprechanlage bestellte die sie eine Trage in die Aufnahme. Nur Augenblicke später kam diese mit einem lauten Rumpeln durch die Flügeltüren neben der Aufnahme geschossen. Der junge Mann wäre vor Erleichterung fast in sich zusammen gebrochen, hievte mit den letzten Kraftreserven das Mädchen auf die Trage. Die Schwester versuchte sie anzusprechen, doch sie reagierte nicht. Auf die Frage des glatzköpfigen Mannes im Arztkittel, ob sie noch atmete, antwortete sie: „Nur schwach … und kaum ein Puls tastbar.“ „Wie lange schon?“, bellte der Arzt in die Richtung des Mannes. „Keine Ahnung, eine Stunde … zwei … keine Ahnung. Nicht länger als drei.“ Seine Stimme klang hysterisch. Sie schoben die Trage fort. Er setzte sich. Die Sektretärin bat ihn zu sich an den Tresen. „Ich weiß nichts über die Frau. Fragen Sie sie selbst, wenn sie wieder in der Verfassung dazu ist.“ „Nichts?“ „Nein. Ich habe sie nur gefunden.“ Er setzte sich wieder. „Warum gehen Sie nicht?“, fragte die Frau hinter dem Tresen. „Ich will mich nur versichern, dass es ihr gut geht. Dann gehe ich.“
Die Zeiger schritten fort; gegen sechs weckte ihn der Arzt. Das letzte mal kam er, um zu sagen, sie habe wieder annähernd Normaltemperatur, sei aber auf der Intensivstation und könne keinen Besuch von ihm empfangen. Die Sekretärin hatte ihm gesagt, er solle doch heim gehen, doch er wollte sich selbst davon überzeugen, dass sie okay war. „Zimmer 319, sie schläft. Kommen Sie doch später wieder.“ Der Mann schaute grimmig drein. „Bei allem Respekt, Mister …“ „Goldman.“ „Mister Goldman, eigentlich dürfte ich Sie ohne ihr Einverständnis nicht einmal über ihren Zustand aufklären. Seien Sie nicht so aufdringlich. Die Frau ist traumatisiert und nicht in der Verfassung für Besuch.“ Er stand auf, ging an ihm vorbei zum Aufzug. Kommen Sie doch später wieder. Pah. Er wusste doch, dass sie mit ihm sprechen wollte. Und er mit ihr.
Keine Reaktion auf sein Klopfen. Er trat dennoch ein. Sie schlief tatsächlich, das Bett neben ihr schien nicht belegt. Goldman ging durch den Raum, überlegte zuerst sich auf einen Stuhl zu setzen, nahm dann jedoch das freie Bett und schlief noch bis die Sonne sich zeigte. Sie schlief noch immer. Er schlug die Decke zurück, holte sich einen Kaffee und während er ihn trank, sah er aus dem Fenster auf den Parkplatz herab, beobachtete die Autos wie sie kamen und wieder fortfuhren. Er fragte sich, wie teuer die Parkgebühren wohl werden würden. Obwohl es ihm eigentlich egal sein konnte. Der Kaffee war ungenießbar. Er fragte sich, ob der in der Cafeteria wohl besser sein würde. Er war so in seinen Gedanken versunken, dass er nicht bemerkte, dass die junge Frau zu sich kam.
Das erste, was sie erblickte, war Weiß, strahlend helles Weiß. Bin ich tot?, fragte sie sich. Leute mit Nahtoderfahrungen berichteten oft von einem hellen Licht, das sie umfing. Es war zu hell. Sie kniff die Augen wieder zusammen. Nein. Sie fühlte mich nicht tot, das war anders. Schmerzhaft. Sie lag in einem Bett und es roch steril. Krankenhaus. Es roch nach Krankenhaus. Ich bringe dich ins Krankenhaus, hatte der Fremde gesagt. Sie öffnete die Augen einen Spalt breit. Ihr Körper lag verborgen unter einer weiß-gelb gestreiften Decke, die Wand war ebenfalls in einem blassen Gelbton gestrichen, schräg unter dem Fernseher, der mittig oben an der Wand verankert war, hing ein abstraktes Gemälde, darunter ein Tisch mit zwei Stühlen. Zu ihrer Rechten ein Fenster und eine Gestalt, die davor stand und nach draußen blickte. War er auch Patient? Das Bett links von ihrem war leer, sah aber benutzt aus. Sie sah ihn sich genauer an. Hemd, Krawatte, Baumwollhose – nein, er konnte unmöglich Patient sein. Im Gegensatz zu ihm trug sie eine dieser Krankenhausroben, die man noch aus alten Filmen kannte. Aber wahrscheinlich nur, weil sie bei ihrer Ankunft nichts mehr bei sich gehabt hatte.
„Hallo.“ Der Mann im Anzug drehte sich so schnell, dass er dabei beinahe seinen Kaffee verschüttete. „Hallo.“ Er lächelte so sanft, dass es ihr egal wurde, in was für einer schrecklichen Verfassung er sie sah. „Du hast mich her gebracht, oder?“ Er nickte und nahm einen Schluck Kaffee. Sein Gesicht verzog sich zu einer angeekelten Grimasse, woraufhin er den Becher auf dem Tisch abstellte. „Du hättest das nicht tun müssen.“ „Doch, du wärst erfroren, wenn nicht.“ „Deshalb ja.“ Er schwieg eine Weile, bevor er das Wort ergriff. „Du erinnerst dich, was passiert ist?“ Sie nickte. „Du weißt es?“ Nun nickte er. Einen Moment lang war es still. Sie versuchte, in seinem Gesicht irgendeine Ähnlichkeit mit einem der drei Männern der letzten Nacht zu erkennen, doch da war keine. Es war wohl einfach nur offensichtlich, was passiert war, wenn man eine nackte Frau am Straßenrand auflas. „Was war danach?“ „Woran erinnerst du dich zuletzt?“ „Du sagtest, du würdest mich ins Krankenhaus bringen. Danach – nichts.“ „Danach habe ich dich in mein Auto gesetzt und hierher gefahren. Und dann haben sich die Ärzte um dich gekümmert, ich war im Wartezimmer. Sie haben dich in das Zimmer gebracht, ich hab hier ein bisschen geschlafen und du auch. Ich hab mir einen Kaffee geholt, das war’s.“ „Warum bist du nicht gegangen?“ „Ich wollte nicht. Ich hab mich verantwortlich gefühlt. Niemand sonst war hier, um sich um dich zu sorgen.“ „Ich komme zurecht.“ „Es ist immer noch niemand hier.“ „Ich habe es niemandem gesagt. Deshalb ist niemand gekommen.“ „Warum nicht?“ „Ich brauche niemanden, der mich bemuttert.“ Er schwieg. „Weißt du, was ich denke?“ „Ich kann nicht hellsehen.“ „Ich denke, das sagst du nur so. Und ich denke, dass hier niemand ist, weil du niemanden hast.“ Er zog einen Stuhl an das Bett heran und setzte sich darauf. „Du lebst auf der Straße, richtig?“ Sie sah weg. „Du tust nur so tough, aber bloß, weil du das Gefühl hast, du müsstest das.“ „Selbst wenn es so wäre, könntest du daran nichts ändern.“ „Doch, ich kann hier bleiben.“ „Ich wäre lieber allein.“ „Bist du dir sicher?“ „Ja.“ „Dann komme ich heute Abend wieder.“ Sie fasste sich an die Schläfen. „Du brauchst überhaupt nicht wieder zu kommen.“ Sie betonte jedes Wort einzeln. „Wie auch immer.“ Er nahm den Kaffeebecher vom Tisch und ging zur Tür. „Ich heiße übrigens Liam.“
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smileyysstoryfactory-bdah · 8 years ago
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Kapitel 2
„Was ist das?“, fragte sie die Pflegerin, die Kleidung in den Schrank neben der Tür stapelte. „Kommt noch jemand in das Zimmer?“ „Das ist Ihre Kleidung. Ein junger Mann hat sie eben vorbei gebracht.“ „Das ist nicht meine“, sagte sie, dann wurde ihr aber klar, dass es sich bei dem jungen Mann nur um Liam handeln konnte. „Wie hat er ausgesehen?“ „Sehr attraktiv.“ Sie warf einen verwegenen Blick über ihre Schulter. „Gütige, braune Augen und dunkle Haare. Und ein nettes Lächeln hat er. Sie können sich glücklich schätzen.“ „Ich kenne ihn nicht.“ Sie setzte sich auf, so gut es ging. „Ist er noch da?“ „Er wäre wohl hier, wenn dem so wäre.“ „Ja, vermutlich.“ Obwohl es ihr eigentlich egal sein sollte, hatte sie den ganzen Tag nicht aufhören können, über ihn nachzudenken. Es kam ihr so vor, als wäre noch nicht alles gesagt, und das machte ihr zu schaffen. „Bestimmt kommt er später noch vorbei.“ Sie lächelte. Aus einem der Kleiderstapel fiel ein kleiner Zettel heraus. Die Pflegerin hob ihn auf und gab ihn der Patientin.
Falls du ein paar Tage länger bleiben musst. - L
Da sie nun wusste, dass sie zwar nur eine leichte Gehirnerschütterung hatte, aber ihr Arzt noch einen Gynäkologen und einen Psychiater hinzuziehen wollte und sie daher noch ein bis zwei weitere Tage bleiben musste, war sie dankbar etwas anderes als diese Krankenhausrobe zu haben. Trotzdem – war es eine nette Geste oder schon aufdringlich, was er da tat? „Willst du dir gleich was davon anziehen?“ „Vorher eine Badewanne.“ „Das wäre heute schon die Dritte. Ich habe auch noch andere Patienten.“ „Ich schaffe das auch allein.“ Sie zog sich an dem Dreiecksgriff in eine aufrechte Position und schob die Beine über die Bettkante. „Du musst mich nur bis zum Bad bringen, den Rest kann ich ohne dich.“ Seufzend umrundete sie das zweite Bett erneut und half ihr auf die Beine. Sie hängte den Infusionsbeutel auf den Ständer mit den Rollen und stützte sie auf dem Weg ins Badezimmer. Es war nur ein kleiner Raum mit einer Badewanne, einer Toilette und einem Waschbecken. Die Pflegerin drehte das Wasser auf und kam dann noch einmal mit einer kleinen Tasche. „Die hat er auch gebracht.“ Es war Shampoo, Duschgel, eine Zahnbürste sowie Zahnpasta darin. Die Zahnbürste war noch eingepackt und die Flaschen fühlten sich voll an. Er steckte viel zu viel Zeit, Geld und Aufwand in ein Mädchen, das er nicht kannte. Die Pflegerin half ihr, sich auszuziehen und in die Wanne zu steigen, dann ging sie wieder. In einer Stunde würde es Abendessen geben, kündigte sie vorher noch an. Langsam aber sicher tauchte ihr abgemagerter Körper unter dem heißen Wasser unter. Er war von blauen Flecken übersät, die bald grün und dann gelb werden würden, bevor sie schließlich ganz verschwanden. Anders als die Erinnerungen. Föhn in der Badewanne, dachte sie sich kurz, doch der Föhn neben dem Waschbecken war an einem gekringelten Kabel angebracht, ähnlich dem eines alten Telefons, zu kurz, um bis zur Badewanne zu reichen. Wahrscheinlich ganz bewusst aus diesem Grund. Von der Badewanne selbst war nur der Rufknopf zu erreichen. Vorsichtig lehnte sie den Kopf hinten an. Es tat etwas weh, die Schmerzmittel halfen nur bedingt. Sie verlor sich in ihren Gedanken. Vor einen Zug springen – das involvierte zu viele Außenstehende, die sich dann auch noch die Schuld daran gaben. Sie musste nicht das Leben zahlreicher anderer auch noch ruinieren. Mit einer Klinge die Pulsadern aufschneiden, am besten in der verlassenen Gasse, wo sie sich vor Monaten wiedergefunden hatte. Bis jetzt hatte sie sich nie die ganze Geschichte erklären können. Sie wusste noch, sie war aufgewacht durch ein lautes Rumpeln. Es war dunkel, aber als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, erkannte sie, dass sie in einer Seitengasse der Innenstadt an einer Hauswand lehnte. Neben ihr stand eine Reihe Müllcontainer, aus dem laute Geräusche drangen. Dann eine Stimme, die irgendetwas murmelte, das so klang wie: „Absolut unversehrt … so etwas weg schmeißen...“ Der Rest war so genuschelt, dass sie es nicht verstanden hatte. Ihr Kopf tat weh; sie fasste sich hin. Ihre Haare waren verklebt über einer nicht allzu tiefen Platzwunde, wie sie später in der Wohlfahrtsstation des Krankenhauses erfuhr. So sehr sie auch versucht hatte, sich daran zu erinnern, da war nichts. Gar nichts. So als wäre sie vom Himmel gefallen. Die Ärztin wies sie später jedoch auf die schmutzigen Schleifspuren auf der Rückseite ihrer Jeans und die abgeriebene Sohle an den Fersen ihrer Schuhe. Die sinnvollste Erklärung, die ihr dazu einfiel, war, dass sie auf der Straße, von der die Seitengasse wegführte, angefahren worden war, der Fahrer sie für tot gehalten haben musste und sie aus Panik in die Gasse gezogen hatte, bevor er Fahrerflucht begangen hatte. Wenn sie darüber nachdachte, dann wäre es ihr doch lieber gewesen, die Ärztin hätte sie in dem Glauben gelassen, sie wäre vom Himmel gefallen. Die Amnesie war nie vergangen, nichts. Kein Name, kein Zuhause, niemand, der sie zu vermissen schien und nach ihr suchte. Manche würden sich darum freuen, bei Null anzufangen, für sie jedoch war es nichts, worüber sie sich hätte freuen können. Sie war mit nichts als der Kleidung an ihrem Leib aufgewacht, während ihrer Bewusstlosigkeit musste sie also auch noch bestohlen worden sein – oder sie hatte schlicht nichts als das bei sich gehabt. So war es auch jetzt noch: sie hatte nichts und war ein Nichts. Sie fühlte sich ausgeschlossen von der Welt, arm und – bis auf den Mann aus dem Müllcontainer, der nun ihr Freund war – allein. Es machte alles keinen Sinn mehr. Jeden Tag irrte sie durch die Stadt, bettelte um etwas Essen, wenn ihr die Beine schwer wurden, setzte sie sich in den Park. Meistens schlief sie unter der großen Eiche neben Matthew, dem Mann aus dem Müllkontainer. Er war Mitte vierzig, sah so verwahrlost aus, als lebe er schon seit Jahren auf der Straße. Die Spielsucht hatte ihn in den Ruin getrieben, seine Frau hatte ihn rausgeworfen, er hatte seine Arbeit verloren und dadurch auch seine Freunde. Er hatte niemanden, bei dem er sein konnte, so hatte er es einmal formuliert. Allerdings gehörte wahrscheinlich noch mehr dazu, in so einem Leben zu landen. Über seine Familie sprach er nie. Wahrscheinlich hatte er keine. Wie deprimierend. Womöglich hatte sie selbst das gleiche Schicksal. Warum sonst sollte niemand nach ihr suchen? Es klopfte an der Tür, als sie gerade an der Shampooflasche schnupperte. „Komm rein“, sagte sie, denn sie vermutete das Abendessen. Es war Liam. „Ich bin’s“, kündigte er sich an. „Bist du im Bad?“ „Offensichtlich.“ Sie seifte sich die Haare ein, die wegen der Platzwunde noch nicht rasiert worden waren. „Soll ich später wieder kommen?“ Sie seufzte. „Ist es dringend?“ „Nein. Ich wollte nur nach dir sehen.“ „Warum warst du dann vorhin nicht schon da.“ „Ich dachte, du wärst vielleicht verärgert. Wegen mir. Wegen den Sachen. Ich wollte dir etwas Zeit lassen, dich zu beruhigen.“ Sie wusch den Seifenschaum aus den Haaren und vom Körper. „Ich habe dir doch gesagt, ich komme allein zurecht.“ „Neulich habe ich gelernt, dass Frauen die meisten Dinge, die sie sagen, gar nicht so meinen.“ „Aber ich meine es eben genau so, wie ich es sage.“ „Und ich glaube dir nicht.“ Dieses Gespräch wurde immer sinnloser. Sie fragte sich, weshalb sie zuvor gewollt hatte, dass er noch einmal kam. Sie ließ das Wasser ab und stieg aus der Wanne. Auf dem geschlossenen Klodeckel lag ein Handtuch. Sie angelte es sich einhändig, schüttelte es aus und trocknete sich ab, so gut es ging. „Bist du böse?“ „Nein.“ Sie wrang die nassen Haare aus und versuchte, das Handtuch, um sich zu wickeln. Als ihr dabei schwindelig wurde, hielt sie sich am Waschbecken fest. Ihr wurde kurz schwarz vor Augen, aber sie konnte sich auf den Beinen halten. Das Handtuch war herunter gefallen. Sie hob es auf und versuchte noch einmal, es um den Oberkörper zu schlingen. Sie klemmte es unter den Arm mit der Infusionsnadel, wickelte es vorn herum und hielt es mit der anderen Hand vor der Brust fest. Mit der einen zog sie den Ständer mit der Infusion hinter sich her. Sie ließ ihn kurz los, um die Tür zu öffnen. „Soll ich dir helfen?“ Er wartete keine Antwort ab. Sie verkniff es sich, noch einmal etwas zu sagen. Liam stützte sie bis zum Bett. Sie setzte sich, dann sahen sie einander ein paar Sekunden an, als wüssten sie nicht, wie es weiter gehen sollte. „Auf was wartest du?“ „Weiß ich auch nicht.“ Er wandte sich ab und nahm ein paar Kleidungsstücke aus dem Schrank. „Wem gehört das alles?“ „Wie kommst du darauf, dass sie jemandem gehören?“ „Weil du wohl kaum deinen Sonntag damit verbracht hast, einer Fremden Klamotten zu kaufen.“ Er schwieg kurz. „Einer Frau, die nie meint, was sie sagt. Und nie sagt, was sie meint.“ Seine Stimme klang belegt. Sie blieb still. „Selbst, dass sie ihre Sachen bald aus meiner Wohnung schafft, hat sie nicht so gemeint. Glück für dich. Du brauchst das sowieso mehr.“ Er kniete sich vor ihre Füße und zog ihr Socken an. „Und wenn sie doch noch kommt und dann alles weg ist?“ „Sie hat es schon vor Wochen gesagt. Sie kommt nicht wieder.“ Sie schlüpfte mit den Füßen in eine Panty, die er ihr hinhielt. Sie zog sie bis zu den Knien hoch. Das Gleiche mit der Jogginghose. „Warum habt ihr euch getrennt?“ Sie stand auf und er auch. Ihre Blicke begegneten sich flüchtig, bevor sie sich bückte und die Hosen über die schmalen Hüften zog. Liam hielt ihr als nächstes einen Pullover hin, aber die Infusion stellte sie dabei vor ein Problem. Sie drückte den Rufknopf. Während sie warteten, setzte sich Liam auf das rechte Bett und spielte mit dem Shirt in den Händen. „Ich denke, die Arbeit war mir manchmal zu wichtig.“ Die Schwester kam herein, drehte die Infusion zu, entfernte den Schlauch, half beim Anziehen des Shirts und verließ das Zimmer, nachdem sie die Infusion wieder angebracht hatte. „Manche Leute können nicht damit umgehen, Nummer zwei zu sein.“ „Stimmt wohl.“ Er deckte sie zu. Sie zog die Beine an, damit er sich setzen konnte. „Schade, wie sehr man sich in manchen Leuten täuschen kann.“ „Ja.“ Sie schwiegen einander an, bis das Essen gebracht wurde.
„Ich hab mich entschieden“, sagte sie und schluckte herunter, „dass ich nicht mehr leben mag.“ „Was?“ Liam lachte zunächst, aber es verging ihm schnell, denn er merkte, sie meinte es ernst. „Weshalb?“ „Sieh mich an. Ich wohne auf der Straße und habe nichts, wofür ich lebe. Ich dachte, ich kriege es auf die Reihe, aber jetzt weiß ich, dass ich damit nur meine Zeit verschwendet habe. Wozu also noch warten?“ „Keine Ahnung.“ Liam sah aus, als kämen ihm gleich die Tränen. „Was ist? Ich sage, ich will mein Leben beenden und du heulst los?“ „Ich hab dein Leben gerettet und du wirfst es einfach weg, als wäre es nichts wert. Du hast zwar gesagt, ich hätte das nicht tun müssen, aber mir war nicht klar, wie ernst du das gemeint hast.“ „Soll ich mich bedanken und weiter leben, nur damit du dich nicht schlecht fühlst? Du hast keine Ahnung, wie es mir geht.“ „Dann lass es mich wissen.“ „Na gut. Seit Monaten irre ich durch die Straßen. Ich weiß nicht, wer ich bin und wo ich hin gehöre. Ich fresse aus Mülltonnen, was andere wegschmeißen, weil die Menschen zu ignorant sind, etwas von sich abzugeben. Sie sind gierig und bösartig. Ich hab von Kleiderspenden geklaut und vom Gemüsemarkt. Der Geiz von anderen Menschen hat mich selbst zu einer Kriminellen werden lassen. Niemand sucht mich, also habe ich entweder niemanden oder niemand, der mich kennt, vermisst mich. Ich weiß nicht, was davon ich schlimmer finde. Ich bin komplett verloren, verstehst du?“ „Wie kam es dazu?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Kann mich nicht erinnern.“ „Ich fände es manchmal schön, mich an gewisse Dinge nicht erinnern zu können.“ Liam sah auf seine Hände. „Ich auch … nur habe ich die falschen Dinge vergessen.“ „Ich denke, dass gewisse Dinge nicht ohne Grund passieren.“ „Dass mir das alles passiert ist, zum Beispiel? Dafür müsste ich ziemlich viel falsch gemacht haben in der Zeit, an die ich mich nicht erinnern kann.“ „Ich meine, dass du vielleicht froh sein kannst, dass du dich nicht erinnerst. Vielleicht war dein letztes Leben echt scheiße.“ „Falls es so ist, hat alles zu vergessen, nichts daran verbessert.“ „Ich versuche, dich aufzumuntern.“ „Das musst du nicht tun.“ „Ja, das sagst du immer wieder. Aber ich denke, ich muss es doch. Niemand sonst macht es. Und du kannst dein Leben nicht einfach so weg werfen, als wäre es nichts wert.“ „Natürlich kann ich das machen. Offensichtlich werde ich von niemandem gebraucht. Niemand würde mich vermissen. Es würde niemandes Leben überhaupt verändern.“ „Doch, meins. Wie stellst du dir das vor? Dass es mir nichts ausmacht und ich mein Leben einfach so weiter leben kann? Ich käme mir so vor, als ob …“ Er stockte und sah sie an. „Mir wäre es nicht egal, ob du leben würdest oder nicht.“ „Tut mir leid, ich hätte nicht mit dir darüber reden sollen, wenn es so ist.“ „Warum hast du?“ „Weil mich morgen ein Psychiater ansieht und ich Angst davor habe, dass er mich einweisen lässt und ich mich zutiefst verschulde. Ich hab nichts mehr, was ich noch hergeben kann. Nicht mal, was ich anhabe, gehört mir. Was soll ich denn tun?“ „Nimm einfach meine Hilfe an.“ „Hilfst du mir, hier raus zu kommen?“ „Ich dachte eher daran, die Kosten für eine psychiatrische Einrichtung zu übernehmen.“ Sie rollte mit den Augen. „Sieh es mal so: du würdest nicht auf der Straße sitzen und wärst mit allem versorgt, was du brauchst. Du würdest auch Leute kennen lernen und Freunde finden. Und was danach ist –  wir werden sehen. Überleg es dir doch wenigstens.“ „Liam … ich will das alles gar nicht. Du weißt, was ich stattdessen will.“ „Das ist keine Option.“ „Ich werde nicht um mein Leben verhandeln. Ich kann doch wohl selbst entscheiden, was ich damit anstelle.“ „Kann ich dich nicht umstimmen?“ „Ich hab doch schon gesagt, dass ich mich entschieden habe.“ „Nur wegen der letzten Nacht?“ „Nein, das ist nicht der einzige Grund, aber er hat schon dazu beigetragen. Ich habe schon länger mit dem Gedanken gespielt. Aber ich hatte noch ein bisschen Hoffnung, dass alles besser werden kann.“ Sie zog mit der Gabel Bahnen durch den Kartoffelbrei. „Das kann es immer noch. Meiner Meinung nach bist du gerade in einer Situation, in der alles nur noch besser werden kann. Wenn du nur ein bisschen Hilfe annehmen würdest.“ „Warum bist du so versessen darauf, mir zu helfen?“ Ihre Stimme klang sehr gereizt. Liam sah sie verblüfft an. „Ich denke, ich gehe jetzt lieber.“ „Warte doch.“ „Nein. Ich will dir helfen. Aber nicht bei deinem Selbstmord. Also gehe ich. Sollen sie dich doch einweisen.“ Er bereute seine grobe Wortwahl sofort, ging jedoch trotzdem ohne ein weiteres Wort.
Die Nachtschwester kam noch spät in ihr Zimmer, um ihr ein Beruhigungsmittel zu verabreichen. Sie konnte einfach keinen Schlaf finden. Zu viele Gedanken hielten sie wach. Die einen verdrängte sie gekonnt, schloss sie ein, sperrte sie weg, die anderen ließen dies nicht zu. Sollen sie dich doch einweisen. Hatte Liam etwa damit gerechnet, das würde ihr die Augen öffnen? Ihr zeigen, dass sie wirklich Hilfe brauchte? Es machte sie nur noch nachdenklicher. Es gab nur einen, dem ihr Leben nicht egal war und sogar ihn hatte sie nun vergrault. Einen Moment lang hatte sie überlegt, sich direkt vom Balkon zu stürzen. Aber sie lag nur im vierten Stock, am Ende hätte sie das auch noch überlebt, weil direkt jemand Hilfe leistete, sie verendete Querschnittsgelähmt mit Millionen an Operations- und Rehabilitationskosten, die sie niemals abbezahlen konnte, weil sie so verkrüppelt keinen Job fand. Was für ein Horrorszenario. Liam hatte schon recht. Lieber er gab sich nicht mit jemandem ab, der sein Leben beenden wollte und keinen Dank für seine Hilfe übrig hatte. Er meinte es zwar nur gut, aber mit ihr verschwendete er seine Zeit.
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