Öffentliche Soziologie und gesellschaftlicher Wandel Prof. Dr. Stefan Selke (Hochschule für angewandte Wissenschaften - Furtwangen)
Don't wanna be here? Send us removal request.
Text
Über Leben im Menschheitslabor
Der Astronaut Scott Kelly hält die Internationale Raumfahrtstation ISS für „ein Labor im Orbit von Weltklasse“. Orbit klingt zwar ein wenig nach Achterbahn für Auserwählte, dennoch ist die Umlaufbahn im All der perfekte Ort für Experimente, die auf der Erde nicht durchführbar sind. In der Schwerelosigkeit lässt sich nicht nur Kristallwachstum untersuchen, die Raumstation ist vor allem ein Labor für das friedliche Zusammenleben verschiedener Kulturen. Die ISS ist ein Musterbeispiel dafür, wie die Zukunft der Zivilisation eines Tages aussehen könnte. „Es gibt kein Projekt, bei dem international so gut zusammengearbeitet wird, wie auf der Internationalen Raumfahrtstation“, betont auch die deutsche Astronautin Insa Thiele-Eich. „Es wird gemeinsam an etwas geforscht, es wird zusammen gebaut und zusammen betrieben, und zwar ohne nennenswerte Konflikte, egal wie die politische Situation auf der Erde ist.“

Auf der Erde machen wir erste, ungelenke Gehversuche in diese Richtung.
Um zur ISS zu gelangen, müssen Raumfahrer vor dem Start an einem Ort, den sie Saddam’s Palace nennen, einige Zeit in Quarantäne verbringen. Da westliche Weltraumagenturen momentan noch auf russische Raketen angewiesen sind, um überhaupt ins All zu gelangen, kennen inzwischen auch westliche Astronauten diesen russischen „Palast“, der mit Kristallleuchtern, Marmorböden sowie einer banya, einer Sauna, ausgestattet ist. Im Speisesaal gibt es feines Porzellan und einem großen Flachbildschirm, auf dem alte russische Filmklassiker laufen. Jeder Weltraumfahrer lebt in einer Suite mit vier Zimmern – das ist Quarantäne der stilvollsten Art. Zum Abendessen gibt es das russische Nationalgericht Bortsch in allen Varianten, dazu Fleisch und Kartoffeln. Das Essen ist zur Verwunderung nicht-russischer Astronauten mit Dill geradezu überhäuft. „Dill verhindert Fürze“, erklären die russischen Kosmonauten trocken. Wenn das stimmt und wenn man am Folgetag zusammen in einer engen Blechbüchse ohne Lüftung in Richtung Weltall aufbricht, ist es vielleicht keine schlechte Idee, viel Dill zu essen.
Experimente für die kommende Zivilisation
Diese luxuriöse Quarantäne hat wenig mit dem natürlichen Experiment zu tun, dass wir in Zeiten der Corona-Krise erleben. Gegenwärtig stellt sich die Frage: Erdulden oder verändern? Aus ethischen Gründen haben wir eigentlich nur die zweite Option. Deshalb führen wir ein gigantisches Menschheitsexperiment im planetarischen Maßstab durch. Da ist es hilfreich, den Charakter von Laboren besser zu verstehen.
Erstens: In einem Labor wird geforscht, um eine Frage zu beantworten, die als dringend gilt.In geschlossen Laboren werden Fragen unter streng kontrollierten Bedingungen und unter Ausschaltung aller Störfaktoren getestet. Dummerweise funktioniert so keine Gesellschaft. Um die Frage zu beantworten, wie es sich unter den Bedingungen von Corona weiterleben lässt, müssen wir gut kartierte Gewässer verlassen. Für die Welt, die vor uns liegt, gibt es weder Karten noch verlässliche Navigationshinweise. Im Reallabor der Gesellschaft läuft gerade ein Menschheitsexperiment unter Anwesenheit von uns allen ab. Wir sind „Ratten, die dasselbe Labyrinth mit ihren Mitratten bewohnen,“ wie es der Soziologe Wolfgang Eßbach einmal pointiert, wenngleich ein wenig schräg ausdrückte. Doch es trifft den Kern der Sache. In Deutschland gibt es gerade 82 Millionen Teilnehmende an einem völlig neuartigen Experiment.
Zweitens: In einem Labor stehen Werte im Mittelpunkt. Doch anders als das tägliche Hochzählen der Infizierten und Toten suggeriert, geht es im Labor Gesellschaft weniger um numerische Werte. Alltag findet gerade nicht unter kontrollierbaren Bedingungen statt. Leid kann nicht mit Checklisten erfasst werden. Menschen lassen sich nicht herumschubsen wie Moleküle. Leben ist mehr als funktionierende Zellteilung und pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz. Was wir brauchen, ist eine besseren Verständnis von Laboren in der „experimentellen Gesellschaft“.
Von der Raumfahrt lässt sich hier viel lernen, denn sie ist ein prominenter Treiber für ganz besondere Laborexperimente. Kein anderer Forschungsbereich beschäftigt sich so systematisch mit der Anpassung an stark veränderte Lebensbedingungen. Je länger Einsätze im All dauern werden, je weiter sich Menschen von der Erde entfernen und je ernsthafter Kolonien auf Mond und Mars geplant werden, desto wichtiger wird es werden, isoliertes Leben bereits auf der Erde in geschlossenen und künstlichen Habitaten zu simulieren. Um herauszufinden, wie Menschen mit körperlichen, psychologischen und sozialen Veränderungen auf fremdartige Umwelten reagieren, werden deshalb Experimente durchgeführt. Freiwillige setzen sich Isolationsbedingungen aus, um zu erforschen, welche Regeln sich Menschen nach einiger Zeit geben, welche Konflikte entstehen und wie diese gelöst werden können.
Klöster als freiwillige Isolationsexperimente
Raumfahrt ist gerade wieder sexy. Doch dabei wird gerne übersehen, dass es ein viel älteres systematisches Isolationsexperiment gibt, das ebenfalls lehrreiches Anschauungsmaterial bietet: Klöster.
Klöster sind das Paradebeispiel für die freiwillige Isolation intentionaler Gemeinschaften. Das claustrum, also der „abgeschlossene Raum“, ist eine Lebensform, bei der sich Mönche oder Nonnen bewusst von ihrer Umgebung abgrenzen und dabei nach eigenen Regeln leben, um eine selbst gewählte Existenzweise zu ermöglichen.Die Mauern um Klöster sowie die Pforte markieren die Isolationsbedingungen nach außen, die Klosterregeln machen sie nach innen möglich. Trotz unterschiedlicher persönlicher Motivgeschichten für monastisches Leben bietet die Isolation eines Klosters eine klar strukturierte Lebensform, wozu auch Strategien der Konfliktvermeidung gehören. In einem Kloster erklärte mir einmal ein Mönch, warum der Kreuzgang so breit ist: Damit sich verstimmte Brüder leichter aus dem Weg gehen können. Der europäische ESA-Astronaut Reinhold Ewald argumentiert übrigens ähnlich, wenn er (gleichwohl im Spaß) fordert, dass man Raumstationen doch auch einmal „um die Ecke“ bauen sollte, damit man sich nicht immer zwangsläufig begegnen muss.
Isolation am Weißen Mars
Selbstverständlich sind Klöster keine streng wissenschaftlichen Isolationsexperimente, sondern spirituelle Suchorte. Kontrollierte Isolationsexperimente finden indes in der Antarktis statt, einer nahezu perfekten Umgebung, wenn man die Auswirkungen von Isolation studieren will. Mitten in einer endlosen Eiswüste liegt die Forschungsstation Concordia, der isolierteste Orte der Menschheit.
Die Britin Beth Healey, eine junge Medizinerin wollte genau dorthin, um mitten im Eis zu überwintern. Dabei plante sie, Effekte des Zusammenlebens unter extremen Bedingungen zu untersuchen. Im Winter, also von Mai bis August, herrscht am Weißen Mars, wie die Gegend von Forschern in Anspielung auf einen Science-Fiction-Roman genannt wird, völlige Dunkelheit. Aufgrund extremer Wetterbedingungen und niedriger Temperaturen ist es vollkommen ausgeschlossen, die Concordiaanzufliegen oder zu verlassen. Werden die Sonnenstunden weniger, beginnt die Crew Vorräte anzulegen, die für den kompletten Winter ausreichen müssen. Eine realistische Planung ist hierfür die wichtigste Voraussetzung, denn während des Winters gibt es keine Möglichkeit an Nahrung zu kommen. Das eigentliche Isolationsexperiment beginnt, wenn die internationalen Forschungsteams wieder abreisen. Das bedeutet dann: Temperaturen bei minus 80 Grad Celsius, keine Fluchtmöglichkeit für 240 Tage, auch nicht im Notfall. Und es kommt noch härter: 105 Tage brutale Dunkelheit.
Doch genau darum ging es Beth Healey. Sie entwickelte einen genauen Blick für alles, was unter diesen Bedingungen um sie herum vorging. Denn das größte Experiment ist noch immer die Ko-Existenz von Menschen. Der beengte Lebensraum strapazierte das Miteinander, Gewissheiten schmolzen dahin. Nach und nach verschwanden Hierarchien, Geld spielte keine Rolle mehr. Stattdessen wurden nützliche Kompetenzen zu Statussymbolen. Neue Formen der Kreativität entstanden, wenn z.B. Geburtstagsgeschenke aus Abfällen hergestellt wurden. Und wie auf einem Raumschiff lernten alle, äußerst sparsam mit Ressourcen umzugehen.
Die Beobachtungen von Beth Healey lassen sich recht gut verallgemeinern. Isolationsexperimente sind lehrreiche soziologische und verhaltenspsychologische Beobachtungskonstellationen, bei denen es um Anomalien des Zusammenlebens geht. Menschliche Reaktionen unter Isolationsbedingungen reichen von Gemütsschwankungen über Gewaltausbrüche bis hin zum völligen Zusammenbruch sozialer Normen. Von Anomalie bis Anomie. Isolationsexperimente sind der perfekte Nährboden, um pausenloses Eingesperrtsein unter Laborbedingungen zum Gegenstand wissenschaftlicher Studien zu machen. Nicht immer geht das gut. Isolation fordert ihren Tribut. Von Streit um Essensrationen bis hin zu sexuellen Übergriffen gab es bislang schon fast alles.
Isolationsexperimente zur Vorbereitung von Marsmissionen
Während Isolationsexperimente bei der Concordiaeher ein Nebenaspekt sind, wurden andere Experimente explizit geplant, um zukünftige Marsmissionen zu simulieren. Wüstengegenden in Utah, Israel oder China eignen sich perfekt dazu, in isolierten künstlichen Habitaten zu erproben, wie sich unter der absolut lebensfeindlichen Umgebung des roten Planeten über- und zusammenleben lässt.
2011 endete in Moskau das anspruchsvollste und zugleich längste Isolationsexperiment. Die internationale Crew bestand aus sechs Personen, die 520 Tage lang einen Raumflug zum Mars simulierten. Damit wurde der Beweis erbracht, dass der Mensch in der Lage ist, einen Trip zum Mars durchzustehen, so Christer Fluglesang, schwedischer ESA-Astronaut und Experte für Missionsbetrieb im All. Isolationsexperimente werden von staatlichen Raumfahrtagenturen und privaten Weltraumpionieren genutzt, um die potenziellen Auswirkungen auf Physis und Psyche experimentell zu erforschen. In der experimentellen Isolation geht es darum, systematische Beobachtungen anstellen zu können.
Eines dieser Isolationsexperimente ist HI-SEAS, ein Gemeinschaftsprojekt der Universität Hawaii und der NASA. Das künstliche Habitat befindet sich inmitten einer rötlichen Geröllwüste am Fuße des Vulkans Mauna Loa. Die isolierte Wohngemeinschaft der vierten Mission bestand aus vier Amerikanern, einem Franzosen sowie der deutschen Geophysikerin Christiane Heinicke. Das Experiment begann mit dem Einschluss der Missionsteilnehmer. „Noch ein kurzes Winken, das Schloss klackte – und wir waren unter uns“, berichtet Heinicke. Nun stand ein ganzes Jahr zur Verfügung, um auf wenigen Quadratmetern zu erforschen, wie sich Gruppen entwickeln und soziale Rollen verändern. Die Missionsteilnehmer gingen dabei so systematisch wie möglich vor und setzten Fragebögen, aber auch tragbare Sensoren und Filmaufnahmen ein, um Veränderungen an sich selbst zu dokumentieren. „Man weiß sehr gut, dass es schiefgehen kann,“ so Heinicke. Denn Isolationsbedingungen verstärken vorhandene Persönlichkeitsmerkmale. „Es ist ein bisschen wie in einer Ehe: Man kennt sich einfach so gut“, berichtet auch Oliver Knickel, der 2009 für die Europäische Raumfahrtagentur ESA in der ersten Phase des Mars-500-Projekts an einem 105-Tage dauernden Isolationsversuch teilnahm.
Wie auf einer Raumstation war der Alltag im HI-SEAS-Habitat klar strukturiert. Jedes Missionsmitglied hatte einen festen Küchentag. Da die Mission sechs Personen umfasste, gab es am Sonntag Reste.
Eine Crew aus einigermaßen rational denkenden Menschen kann erstaunlich viel aushalten, auch über mehrere Monate hinweg. Doch wenn nach einem halben Jahr kein Ende in Sicht ist, beginnt die Fassade zu bröckeln und auch die kleinsten Risse, die bei der Auswahl der Crew übersehen wurden, treten zutage. Vom geklauten Nutella-Glas über das Abwaschen bis zur handfesten Depression steht dann alles zur Debatte. Die psychischen Belastungen durch Isolation sind enorm. Es kann zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder einer Schwächung des Immunsystems kommen. Unter Isolationsbedingungen reagieren Menschen gereizter oder entwickeln übermäßige Ängste. Gegenseitige Dauerbeobachtung und fehlende Privatsphäre stressen und addieren sich zu charakterlichen Anlagen hinzu. Zusammen entscheidet das in Streitfällen darüber, ob eine Situation eskaliert oder nicht. Wer ständig auf engem Raum zusammenlebt, braucht starke Nerven. Ein Vorrat an Klosterfrau Melissengeistallein reicht nicht aus.
Für Christiane Heinicke stand am Ende des Jahres ein eindeutiges Fazit fest. „Offensichtlich kehrte die Langzeitisolation die schlechtesten Eigenschaften in uns hervor, und zwar in uns allen.“ Nach der Corona-Quarantäne im Wuhan stieg daher wenig überraschend die Scheidungsrate enorm an.
Biosphärensimulationen in der Mini-Erde
Die Komplexität dieser Experimente lässt sich beliebig steigern. Die Königsklasse der Isolationsexperimente sind daher Biosphärensimulationen. Nahe der Stadt Oracle in Arizona befindet sich die Biosphere 2, ein riesiges Terrarium aus Stahl und Glas. Es ist warm, feucht und riecht nach Pflanzen. Biosphere 2meint: Eine zweite Erde in Miniaturformat, komplett mit Mini-Ozean, Mini-Regenwald und Mini-Ackerland. DieBiosphere 2basiert auf dem Konzept der Ökologie geschlossener Systeme und ist ein großangelegtes wissenschaftliches Experiment unter kontrollierten Bedingungen. Eine von Menschen künstlich entworfene Welt, die wie eine natürliche Welt funktionieren soll. Die Idee entstand zu einer Zeit, als der Klimawandel langsam als gesicherte Tatsache angesehen wurde. Wissen zur Heilung der Narben des Planeten konnte nur in Simulationsexperimenten unter Anwesenheit von Menschen im Terrarium erarbeitet werden.
Die Gründer des Projekts, der Ingenieur und Ökologe John Allen sowie der Öl-Milliardär Ed Bass orientierten sich an vorangegangen Experimenten mit geschlossenen Biosphären-Experimenten. Mitten im Kalten Krieg bauten die Sowjets mit BIOS-1 und BIOS-2 erste geschlossene Habitate. Und zwar dort, wo auf natürliche Weise gute Isolationsbedingungen zu finden sind, in Krasnojarsk, Sibirien. Das ganze Jahr 1969 über lebten drei Menschen, Bionautengenannt, in diesem winzigen Ökosystem.
Weil die Biosphere 2ein geschlossenes System sein sollte, wurde sie gegen Wasser und Luft versiegelt. Nur Sonnenlicht durfte von außen eindringen. Nichts durfte die Biosphere 2verlassen: There is no away. Ein sozial-ökologisches Labor, ausgelegt für 100 Jahre Betriebsdauer. Wer sich Fragen zum Überleben der Zivilisation stellt, neigt offensichtlich ganz automatisch dazu, in längeren Zeiträumen zu denken. Nach ihrer Fertigstellung war die Biosphere 2 die luftdichteste Struktur der Welt. Sie verlor weniger Luft nach außen, als das Space Shuttle.
Neben ökologischen Themen spielten auch Gruppendynamiken und Gesundheit, also „humane Faktoren“, eine Rolle für diese komplexe Experimentalanordnung. Am 26. September 1991 fiel der Startschuss für den ersten Einschluss. Acht Bionauten machten sich bereit, um auf dem Raumschiff Erde in Miniaturformat einzuchecken. Tausende von Menschen beobachteten das Spektakel rund um das Habitat. Reporter, Fotografen und Kameramänner stellten vor allem auf die Luftschleuse scharf, die aussah, als wäre sie einem riesigem U-Boot entliehen worden. Vor der Schleuse drehte sich jeder noch einmal um, winkte und betrat dann entschlossen das Habitat. Mit dem Umlegen des dicken weißen Hebels wurde der Einschluss vollendet. Die Schleuse schloss mit einem dumpfen Ton, Metall auf Metall. Für 730 Tage waren sie nun ohne Luftzufuhr von außen eingeschlossen. Acht freiwillige Bionauten, deren blaue Overalls mit Missionsstickern ein wenig so aussahen, wie eine Kreuzung aus Baumarktuniform und Astronautendress. „Es war ein Überlebensexperiment“, so die Beobachterin Mary Carson, „und die Bionauten waren die Laborratten.“ Der Erfolg des Projekts hing allein davon ab, wie ernst die Crew die selbst auferlegten Regeln nahmen, obwohles dazu keine Notwendigkeit gab. Denn schlussendlich war es einfach eine Simulation.
Probleme ließen auch nicht lange auf sich warten. Im Habitat herrschte hohes Artensterben, blütenbestäubende Tiere wie Bienen und Kolibris starben. Was die Biologin Rachel Carson im Märchen Der stumme Frühling bereitsals Dystopie beschrieben hatte, wurde in der Biosphere 2nun Realität: Die Bionauten mussten ihre überlebensnotwendigen Pflanzen von Hand bestäuben. Dazu verbreiteten sich Fadenwürmer, Kakerlaken und Ameisen. Milben verzehrten Lebensmitteln wie Kartoffeln und weiße Bohnen. Ungeziefer wurde zum Feind des Menschen.
Diese Entwicklung verschob auch das Zeitmanagement der Bionauten radikal von wissenschaftlicher Kopfarbeit zu landwirtschaftlicher Handarbeit. Die Crew erlebte die Rückentwicklung von der Hochmoderne zu Agrargesellschaft am eigenen Körper in Zeitraffer. Am Ende blieben gerade einmal fünf Prozent der Zeit für Forschung übrig. Im Zentrum aller Bemühungen stand verständlicherweise der Wunsch, satt zu werden. Von Freizeit und Luxus sprach bald niemand mehr. Kaffee gab es nur, wenn Kaffeebohnen auch von eigenen Bäumen geerntet und verarbeitet werden konnten. Die Bionauten verloren durchschnittlich 13 Prozent ihres Körpergewichts. Der ständige Hunger führte zu Gereiztheit, Spannungen und massiven Streitigkeiten im Team. Die anstrengende körperliche Arbeit zur Nahrungsmittelproduktion und die Kalorienbeschränkungen spielten im Alltag eine stark limitierende Rolle. Denn die stark kalorienreduzierte Ernährung verminderte nicht nur die Energie der Bionauten, sondern auch deren kognitive Fähigkeiten.
Trotz oder gerade wegen dieser Probleme liefert das Biosphere-2-Experiment wertvolle Hinweise. Eine positive Gruppendynamik physisch isolierter Gruppen wird inzwischen als zentraler nicht-technischer Erfolgsfaktor für Weltraumexplorationen angesehen. Zentral hierbei ist die Anpassungszeit an die künstliche Umwelt. Im Experiment entwickelte die Crew einen angepassten Lebensstil, der half, mit den Entbehrungen der Isolation umzugehen. Über Telefone konnten sie regelmäßig mit Freunden und Verwandten kommunizieren. Viele Bionauten lebten sich kreativ aus, um die Zeit sinnvoll zu strukturieren. Jeder Feiertag wurde von der Crew rituell gewürdigt, um Zeitmarker zu setzen und Konflikte einzudämmen. Es gab eine Art Konkurrenz um das beste Gericht, denn unter der Bedingung von Isolation und Knappheit erhält kreatives Kochen einen kaum zu überbietenden Wert.
Solche Ablenkungsrituale haben eine lange Tradition. Schon die großen Seefahrer wussten, wie man die Mannschaft bei der Stange hält. Der Arktisforscher Fridtjof Nansen, der vor rund 125 Jahren mit seinem Forschungsschiff Framversuchte, den Nordpol zu erreichen, sorgte dafür, dass an Bord kein Anlass zum Feiern ausgelassen wurde. Zu jedem Geburtstag der Offiziere gab es ein Festessen. Nationale Feiertage waren ein beliebter Anlass für Fahnenschwenkaktionen und Extrarationen an Schnaps. Fridtjof Nansen, versuchte 1895 zusammen mit seinem Gefährten Hjalmar Johansen den Nordpol mit Hundeschlitten zu erreichen. Dabei gerieten beide in Schwierigkeiten und lebten neun Monate auf dem Packeis in einer primitiven, selbst gebauten Hütte. Obwohl sie sich nur von Eisbärenfleisch und Walrossfett ernähren konnten, versuchten sie auch unter diesen prekären Umständen, Weihnachten zu feiern. Zwei Dinge trugen zum festlichen Charakter bei: Johansen wechselte sein Hemd, Nansen seine Unterhose. Und nachdem sich beide Männer neun Monate lange einen Schlafsack geteilt hatten, gingen sie endlich zum „Du“ über.
Auch in der Biosphere 2entwickelte sich trotz aller Konflikte ein ausgeprägtes „Wir-Gefühl“. Die Bionauten erkannten, dass sie ohne ihr Ökosystem nicht überleben würden. Dennoch: Als die Mannschaft 1993 nach zwei Jahren durch exakt die gleiche Luftschleuse wieder nach außen trat, sahen die meisten müde und dünn aus und waren erleichtert, endlich draußen zu sein.
Die Biosphere 2symbolisiert die Grenzen kontrollierter Experimente. Mit mehr als 1.800 Sensoren sollte das ökologische System des künstlichen Habitats – Erde, Pflanzen, Wasser und Luft – kontrolliert werden. Die Komplexität eines natürlichen Ökosystems sollte durch eine Unmenge an Messdaten kontrolliert werden.Aber jedes Natursystem hat eine Eigendynamik, die es unmöglich macht, vollständige Kontrolle und Stabilität zu erlangen. Stabilität mag das Ziel des Experiments gewesen sein, aber Instabilität ist nun einmal das zentrale Merkmal der Wirklichkeit. Die Lehre aus Biosphere 2lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Je größer die Kontrolle des Menschen über seine Umwelt ist, desto größer ist auch seine Verantwortung.
Wie es scheint, sind wir dieser Verantwortung (noch) nicht vollständig gewachsen.
Heute lebt übrigens niemand dauerhaft isoliert unter der Glaskuppel. Niemand muss von weniger als 2.000 Kalorien pro Tag satt werden. Stattdessen führen Schulklassen eigene Forschungsprojekte im Habitat durch. Die Biosphere 2kein geschlossenes Labor mehr. Kleine Singvögel dringen von draußen in das künstliche Habitat ein und nisten in den Bäumen. Dort drinnen sind sie vor den Falken geschützt.
Menschheitslabore
Alltag, so wie die meisten von uns ihn kennen, unterscheidet sich radikal von den freiwilligen Isolationsexperimenten der Polarforscher, Astro-, Bio- und Terranauten. Unsere Gesellschaft ist ein Labor mit offenen Rändern. Dies ist nicht erst seit Corona so, sondern wird inzwischen bloß sichtbarer. Bis auf Weiteres leben wir als Versuchspersonen in einem „natürlichen Experiment“. Die Welt, so wir sie kennen, ist keineswegs verschwunden. Ganz im Gegenteil! Die kulturelle Matrix unserer Zivilisation tritt gegenwärtig viel deutlicher hervor. Es wäre an der Zeit, diese historisch einmalige Chance für gesellschaftliche Experimente auch kreativ zu nutzen. Denn in der temporären Versuchsanordnung des Lebens dürfen und können wir wahrscheinliche, mögliche und wünschenswerte Existenzformen erproben. Hierbei könnte eigentlich alles auf den Prüfstand gestellt werden: Wie viele Regeln tun Menschen gut? Wie funktioniert Kooperation statt Konkurrenz? Was außer Geld brauchen wir wirklich zum Leben? Wissen wir, wann wir satt, wann wir zufrieden sind? Müssen wirklich alle das Gleiche haben oder wäre es nicht zielführender, alle hätten genug zum Leben? Auf dieser Basis ließe sich eine Blaupause für den Masterplan einer neuen Zivilisation erarbeiten.
Menschheitslabore unterscheiden sich dadurch von technischen Laboren, dass hier gerade keine isolierten und kontrollierten Bedingungen vorliegen. Die offenen Labore der Menschheit funktionieren ein wenig wie Alchemie: Aus dem beschädigtem Leben soll mittels einer magischen Transformation eine bessere, lebensdienliche Existenzform entstehen.
In offenen Laboren gilt dabei die Grundformel, dass Scheitern grundlegend mit zum Lernprozess gehört. Beispiele für groß angelegte Menschheitslabore gibt es zahlreihe: Um 1900 bildeten sich die ersten Kolonien der Lebensreformbewegung – sie alle scheiterten an ihren überzogenen Ansprüchen. Um 1930 baute Henry Ford mitten im Amazonas den künstlichen Stadtstaat Fordlândia, ein „Meta-Labor“ der Menschheit – und scheiterte an der Natur. In den 1960er Jahren gründete sich in Südindien Auroville, ein kosmopolitisches und spirituelles Lebenslabor – und scheiterte daran, dass die Versuchsteilnehmer an diesem Großexperiment wie in einer großen Waschmaschine derart herumgeschleudert wurden, dass „der letzte Dreck aus der letzten Ecke zutage“ trat, wie eine Bewohnerin es ausdrückt. „Freiwillig würde man da nie hinschauen.“
Niemand von uns würde gerne freiwillig auf das schauen, was sich uns gegenwärtig aufdrängt. Doch diese Zeit des Unbehagens könnte am Ende wie eine Ersatzrevolution wirken. Vielleicht resultieren aus der momentanen Wohlstandsaskese nicht nur ideologische Lockerungsübungen, sondern im besten Fall neue Regeln der sozialen Geborgenheit und Zuversicht, die das Monster der Bodenlosigkeit, das uns gerade alle erschreckt, in seine Schranken weist.
Frei nach Karl Valentin gilt, dass jedes Ding drei Seiten besitzt: Eine positive, eine negative und eine komische. Gegenwärtig erfahren wir die eher negativen Seiten des Realexperiments: Kontaktvermeidung, Einschränkung der Freiheit und von Bürgerrechten, Verlust der Privatheit, Unübersichtlichkeit. Der positive Aspekt des Labors besteht aber darin, dass gegenwärtig viele neue Formen der Kommunikation und des Zusammenlebens erprobt werden können – das wird über den Tag hinaus von Bedeutung sein. Und die komischen Seiten? Es gibt sie, auch wenn uns vielleicht gerade der Blick dafür fehlt oder der Mut, sie zu benennen.
Die Corona-Krise zwingt uns, näher hinzusehen und nachzudenken. Wir erkennen, dass wir zu lange im Garten der trügerischen Sicherheit lebten. Nun kommen all unsere dreckigen Geheimnisse an die Oberfläche und neue Wahrheiten lassen Zugluft entstehen. Die Normalität ist nur noch eine Rumpelkammer der Nostalgie. Was wir brauchen, ist eine Wette auf eine bessere Zukunft. Im Schimmer unserer Smartphones und Computerbildschirme werden wir alle zu Probanden einer kommenden Zivilisation. Unsere Gedanken sind dabei wie Reisende auf einem Bahnhof: Auf den ersten Blick scheinen sie umherzuirren, doch sie verfolgen stets ein Ziel. Unsere Gesellschaft wird jetzt zur großen Bühne der Zukunft. Es liegt an uns, welches Stück wir am Ende zusammen aufführen. Lernen kann man dabei vom Großmeister der Bühnenkunst, Shakespeare. Wie heißt es so schön, im 4. Akt von McBeth? „Ein bewölkter Himmel klärt sich ohne Sturm nicht auf.“
1 note
·
View note
Text
Corona als Meteoriteneinschlag des Denkes
Wenn Corona Krise bedeutet, was war dann Normalität? Trotz Überraschungsekstase zwingt uns der Virus zu immer neuen Entscheidungen im Leben zwischen Zeitgeschenk und Panikattacke. Die globale Pandemie verstärkt nicht nur den Charakter von Politikern und Institutionen. Vielmehr hilft sie, längst überfällige Fragen zu stellen. Jenseits angestrengter Kampfansagen an den unsichtbaren Feind ist Corona ein dringend benötigter Katalysator für Denken und Handeln.

Noch vor Kurzem konnte der US-amerikanische Präsident Donald Trump frech von einem „ausländischen Virus“ sprechen. Seine protektionistische Situationsdefinition hatte nicht lange Bestand. Im Rosengarten des Weißen Hauses verkündete er den Notstand und räumte ein, dass die Covid-19-Pandemie ein Problem ist, das durch Grenzschließungen nicht aus der Welt zu schaffen ist. „Selbst wenn ihr die Grenzen vor den zweibeinigen Flüchtlingen dicht macht“, schreibt Bruno Latour in seinem Terrestrischen Manifest, „die anderen werdet ihr nicht aufhalten können.“ Aus heutiger Sicht wirken diese Worte fast prophetisch.
Wir verstehen die Welt nicht mehr. Was passiert gerade mit unserer Gesellschaft? Immer mehr gleicht sie einem Laborexperiment mit uns als Probanden. Aber bereits 1990 sprach Ulrich Beck von der „Praxis als Labor“und sah die Herausforderung durch unkontrollierbare „Freiland- und Menschheitsexperimente“. Die Idee einer Gesellschaft als offenes Laborist jetzt das passende Bild, um die tägliche „Lage“ besser einzuordnen.
Gesellschaften sind Problemtauschagenturen: Trotz aller Grenzschließungen wird das Problem Corona in einem grenzenlosenExperiment zwischen widersprüchlichen gesellschaftlichen und geopolitischen Interessen hin- und her übersetzt. C. Wright Mills erkannte schon in den 1960er Jahren eine Verbindung zwischen „private troubles“ und „public issues“. Mehr denn je sollten wir die Wechselwirkungen zwischen persönlichem Umfeld und planetarischem Maßstab durch zoomendes Denkenin den Blick nehmen. Auch wenn viele sich danach sehnen, wird dabei am Ende jedoch keine einheitliche oder standardisierte Situationsdefinition herauskommen. Die Normalität, zu der wir zurückwollen, gibt es inzwischen nicht mehr. Das klingt nach Kontrollverlust und ist dennoch genau das Gegenteil. Es gibt eine Traditionslinie, in die sich das aktuelle Geschehen einordnen lässt.
Weltraumspaziergänge
Der sowjetische Kosmonaut Alexej Leonow wurde 1965 als erster „Weltraumspaziergänger“ berühmt. Nur an einer dünnen Leine gesichert, stieg er aus seiner Voskhod-Kapsel aus und schwebte schwerelos im All. Leonow war ein Witzbold. In seinem ersten Funkspruch, betonte er, dass die Erde absolut rund sei. „Du kannst es kaum fassen“, jubilierte er 500 Kilometer über dem Erdboden, „nur hier draußen können wir die Erhabenheit spüren von allem, was uns umgibt.“ Zehn Jahre später war Leonow nochmals an Bord einer Sojus-19-Kapsel im All, die an ein amerikanisches Apollo-Raumschiff ankoppelte. Es war der erste Versuch der Raumfahrt über alle Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten. „Zwischen Astronauten haben niemals Grenzen existiert“, erinnert sich Leonow. „Der Tag, an dem auch Politiker dies begreifen, wird unseren Planeten für immer verändern.“ Ähnlich wird es später ein amerikanischer Kollege fassen. „Wir beten, dass die gesamte Menschheit sich eine grenzenlose Welt vorstellen kann“, so William McCool, Pilot der Space Shuttle Mission STS-107, nachdem er und seine Crew am 29. Januar 2003 mit John Lennons Lied Imagine geweckt worden waren. Und der arabische Astronaut Prinz Sultan Bin Salman al-Saud erinnert sich an Erlebnisse jenseits aller Beschreibungsmöglichkeiten. „Von hier oben sehen alle Schwierigkeiten, nicht nur die im Nahen Osten, seltsam aus, weil die Grenzlinien einfach verschwinden.“ Er berichtet, wie die Astronauten am ersten Tag im All noch auf ihre Länder zeigten, dann auf die Kontinente und nach ein paar Tagen nur noch auf den Planeten Erde.
Mit der Raumfähre Space Shuttle konnten erstmals auch weniger trainierte Politiker ins All fliegen und sich davon überzeugen, dass alles mit allem zusammenhängt. „Man kommt mit großer Sicherheit zu der Einsicht, dass es dort unten nicht wirklich politische Grenzen gibt“, erinnert sich der republikanische Senator Edwin Garn aus Utah nach seinem Raumflug. „Man sieht den Planeten plötzlich als ‚eine Welt’ an.“ Und der demokratische Kongressabgeordnete Bill Nelson aus Florida schlug vor, dass sich die Führer der Supermächte doch im Weltall treffen sollten. „Es hätte einen positiven Effekt auf ihre Entscheidungsfindung.“ Das wäre dann ein Gipfeltreffen, das den Namen auch wirklich verdiente.
Viele Astronauten entwickelten eine Vorliebe für „Earthgazing“, das tägliche Ritual, so lange wie möglich aus dem Fenster ihres Raumschiffs auf die Erde zu schauen. Der Skylab-Astronaut Ed Gibson klagte darüber, dass jeder Versuch, das Besondere zu teilen, sich wie ein Tropfen Farbe in einem Ozean“ verteilen würde. Leider gab es bislang keinen Antoine St. Exupéry im All, der die Intensität des Erlebten in angemessene Worte kleidet. Der Apollo-11-Astronaut Michael Collins merkte einst sogar an, dass die beste Mannschaft für eine Mission aus „einem Philosophen, einem Priester und einem Poeten“ bestehen würde. „Unglücklicherweise“, so fügte er hinzu, „hätten sie sich beim Versuch, das Raumschiff zu fliegen selbst umgebracht.“
Overvieweffekt
Doch auch ohne Priester oder Poeten konnten wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden, die sich nach und nach auch auf der Erde verbreiteten. Diese Flaschenpost an die Menschheit wurde unter dem Namen Overview-Effekt bekannt. Im Kern bedeutet der Effekt eine starke und andauernde kognitive Verschiebung des Bewusstseins als Folge einer transformierenden Primärerfahrung. Der Overview-Effekt resultiert aus der Wechselwirkung zwischen äußerer Erfahrung und inneren Wandlung. Er verhindert, sich nicht mehr egoistisch nur mit sich selbst zu beschäftigen, sondern sich als Teil eines größeren System zu erkennen. Die Intensität rührt daher, dass zeitgleich die Schönheit des Planeten und die Schicksalshaftigkeit menschlichen Lebens auf dessen Oberfläche wahrgenommen werden. Kurz: Der Overview-Effekt ist eine Art Meteoriteneinschlag ins Gehirn.
Also genau das, was wir gegenwärtig täglich erleben.
„Ich habe eine Welt gesehen, die so neu und unbekannt war. Ich habe versucht, alles zu sehen und mir alles zu merken,“ berichtete Yuri Gagarin, der erste Mensch, der die Gravitation überwand. Gagarin fühlte sich geehrt, als Individuum die Menschheit repräsentieren zu dürfen. Menschheit klingt tröstlich. Aber ist die Rede von der Menschheit angesichts von Corona überhaupt noch angemessen? „Die Menschheit“ ist ein historisch junges Konzept, dessen Grundgedanke darin besteht, sich die Welt als Einheit, als Ganzes vorzustellen, das gemeinsam Möglichkeiten aber auch Grenzen bestimmt. Gerade weil alle Kulturen und Religionen bislang eher daran arbeiteten, Unterschiede und Trennlinien aufrechtzuerhalten, werden wir nur dann überleben, wenn wir annähernd geteilte Werte oder Zukunftsvorstellungen entwickeln.
Die gute Nachricht: Der Overview-Effekt zieht positive Veränderungen nach sich. Der Blick aus dem All erzeugte Mitleid mit dem Planeten, ein profundes Verständnis der großen Zusammenhänge des Lebens sowie das Gefühl der Verantwortung für die irdische Umwelt. Diese Tugenden benötigen wir dringender denn je.Alle, die bislang einen Overview-Effekt erlebten, berichteten übereinstimmend von massiv gesteigerter Empathiefähigkeit. „Ich konnte den Status quo des Planeten nicht mehr länger akzeptieren“, so der Astronaut Ron Garan. „Wir leben in einer Welt unbeschränkter Möglichkeiten. Es liegt in unserer Macht, so vieles zu verändern. Und doch haben wir es bislang nicht getan.“
Der Overview-Effekt ist mitnichten nur für Weltraumenthusiasten von Interesse, sondern für alle, die an echte Zukunftsinvestitionen interessiert sind. Wer die Flaschenpost aus dem All öffnet und sich von der darin enthaltenen Botschaft berühren lässt, entdeckt die Poesie der Hoffnung.
Auf diesen Proviant sind wir gegenwärtig angewiesen.
Zwar ist es nie zu spät Astronaut zu werden, doch die Botschaft der Flaschenpost kann eigentlich überall empfangen werden. Grundvoraussetzung ist allein eine distanzierte Perspektive auf uns selbst. Einer der ersten, der sich das vorstellen konnte war Fred Holye. „Sobald es eine Fotografie der Erde, aufgenommen von außerhalb, gibt – sobald die völlige Isolation der Erde bekannt wird“, schrieb der hellsichtige britische Astronom 1948, „wird sich eine neue Idee, so mächtig wie keine andere in der Geschichte, Bahn brechen.“ Und genau so war es. Die Apollo 8-Mission brachte von ihrer Reise das berühmte Earth-Rise-Foto als Kronjuwel der Menschheit mit. „Eines der wichtigsten Ergebnisse von Apollo war das Bild der Erdkugel“, resümiert der Weltraumkünstler Arthur Woods. „Es war das erste Mal, das wir unseren Planeten aus der Weltraumperspektive vor der Schwärze des Universums sahen. Was die Erde aus der Weltraumperspektive gesehen besonders schön macht, ist die Tatsache, dass wir Leben sehen.“ Mit einem einzigen Foto wurde der bekannte Horizont der Menschheit gesprengt. Die Astronauten der Appollo-8-Mission waren die letzten echten Irritationsagenten der Menschheit. Nur sie konnten einen ganzheitlichen Blick auf die Erde werfen.
Dieser Blick fehlt uns gerade sehr.
Im Kern sind wir trotz Fernreisen, Massentourismus und Google Maps provinzielle Dörfler geblieben. Nun gibt uns die Corona-Pandemie Nachhilfeunterricht. Der Overview-Effekt braucht als Testgebiet nicht unbedingt das Weltall, Erkenntnisbeschleuniger kann tatsächlich fast alles sein und tritt in vielen Verkleidungen auf: Beim Fliegen, als Gipfelerlebnis beim Bergsteigen, als Bewusstseinserweiterung durch Drogenkonsum oder als spirituelle Erfahrung. Oder im Kontext banaler Alltagserfahrungen. Die Politikerin und Rollstuhlfahrerin Kristina Vogel berichtet davon, was die Überwindung von Bordsteinkanten alles bewirken kann. „In solchen Dingen sieht man die Dinge in größeren Zusammenhängen“, so Vogel. „Deshalb träume ich davon, in einer Welt zu leben, in der jeder nicht nur an sich selbst denkt.“
Gegenwärtig zwingt uns ein unsichtbarer Virus zu einer neuen Perspektive auf unsere Welt. Corona hat den Overview-Effekt im planetarischen Maßstab demokratisiert.In der irdischen Variante könnte uns deshalb die neu gewonnene ganzheitliche Perspektive auch den Weg aus der Krise weisen und notwendigen Treibstoff für soziale Transformationen und progressive Veränderungen liefern. Corona wäre dann im Idealfall eine Art philosophischer Katalysator. In seiner mundanen Variante würde der Overview-Effekt helfen,Denk- und Handlungsblockaden aufzulösen, die uns viel zu lange gelähmt haben. In kürzester Zeit werden gegenwärtig Einsichten gewonnen, für die sonst lange Zeiträume notwendig waren. Corona kann als kognitiver Fast-Track verstanden werden, als epistemologische Überholspur im Alltagslabor der Menschheit. Josef Beuys sähe darin vielleicht sogar eine Soziale Plastik, die Bewusstsein schafft, ein elementares tiefes Gefühl der „Auferstehung aus einer Zerstörtheit“. Denn eine Soziale Plastik ist ja nichts anderes als das kollektive Durchleben eines Zerstörungs- und Heilungsprozesses. Stabilität mag das Ziel unserer Gesellschaft sein, aber Instabilität ist nun einmal das zentrale Merkmal der Gegenwart. Der Corona-Effekt macht deutlich, wie die Vollkasko-Mentalität, die lange Zeit die unhinterfragte Grundlage vieler Existenzen war, nun von einem seuchenpolitischen Imperativ abgelöst wird: Zusammenarbeiten! Zusammenhalten! Bloß nicht streiten!
Monster des Bodenlosen
Wenn Corona Krise bedeutet, was war dann Normalität? In diesem Zusammenhang erinnern wir uns an die berühmt gewordene Aussage von Margaret Thatcher, die die Existenz der Gesellschaft bzw. des Sozialen radikal bezweifelte: „Who is society? There is no such thing!” Thatcher hob darauf ab, dass es nurindividuelle Männer und Frauen und einzelne Familien gibt. „Und keine Regierung kann etwas tun, wenn nicht durch die Menschen und diese sorgen sich immer zuerst um sich selbst.“ Diese Haltung züchtete das Monster des Bodenlosen heran, das uns nun alle erschreckt. Wir alle sind von seinen Drohgebärden – soziale Desintegration, planetarische Zerstörung, globale Ungleichheiten und individuelle Erschöpfung – mehr oder weniger eingeschüchtert. Das Monster beutet uns immer perfider aus. Es erzeugt nicht nur Unordnung, Angst und Neurosen. Es führt auch zum vollständigen Verlust des gesellschaftlichen Gravitationszentrums. Dieser neoliberale Kreuzzug rächt sich jetzt, wenn nach einer jahrzehntelangen sozialen Kälteperiode plötzlich umfassende Solidarität gefordert wird. Solidarität war bisher eher hinderlich. Erst wurden Menschen gezwungen, sich um sich selbst zu kümmern, plötzlich sollen sie sich wieder solidarisch verhalten.
Bereits zu Beginn der Krise, in der Phase informierter Ignoranz, tauchten erste Solidaritätsforderungen auf. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel rief in ihrer Ansprache an das Volk zu mehr Herz, Verstand und Solidarität auf. Aber reicht es, für Ältere einzukaufen, um sich selbst solidarisch zu nennen? Oder aus Not zwei Patienten an ein Beatmungsgerät anzuschließen? Als Italien Mitte März den Ausnahmezustand verschärfte, wurde Solidarität geradezu ideologisch verklärt. „Die Opfer von heute sind nötig, um gestärkt wieder durchstarten zu können“, behauptete der Regierungschef der Lombardei, Attilio Fontana. Was soll das bedeuten? Menschen, dem Leben entrissen, dem Tod als Opfergabe vor die Füße geworfen? Die Toten auf Eis legen? In den USA werden Hinrichtungen mit dem Verweis auf die Ansteckungsgefahr verschoben. Europa schließt seine Grenzen, an denen Menschen fast ungesehen leiden und hilflos sterben. Wenn die Forderung nach Solidarität zu Politikersatz oder zur Forderung nach Opferbereitschaft verkommt, dann wird der Begriff ideologisch überbelichtet.
Das ist der erste Schritt auf dem Weg in die Vormoderne. Denn ohne Zweifel gleicht die Traglast unserer Zivilisation einer dünnen Eisdecke.
Was denken wohl gerade die sechs Besatzungsmitglieder an Bord der internationalen Raumfahrtstation ISS, wenn sie das Geschehen auf ihrem Heimatplaneten aus der Distanz beobachten? Wir jedenfalls sollten den irdischen Overview-Effekt durch Corona als Geschenk begreifen. Als Beispiel für die allgegenwärtige Entgrenzung des Lebens und den damit verbundenen Folgen. Diese Haltung hilft, nach der Krise eine bessere Welt zu erschaffen. Statt inszenierter Solidarität braucht es utopische Momente.
Bislang nahm jede soziale Utopie zwangsläufig erschöpfte Gesellschafts- und Zivilisationsformen zum Ausgangspunkt. Im offenen Labor der Menschheit geht es nun wieder um soziale, kulturelle ökonomische und ethische Grenzüberschreitungen. Kurz: Wir brauchen wieder Utopien!
Sehnsucht nach Utopien
Eine Utopie ist Widerstand gegen Informationen. Ihre primäre Funktion besteht darin, die Zustände zu kritisieren. Das gelingt, indem der Realität eine ideale Welt gegenübergestellt wird. Deswegen werden Utopien auch Gegenentwürfe genannt. Utopien enthalten immer zwei Elemente – Kritik und Transformation, Ablehnung einer Gesellschaftsordnung und einen Impuls zu deren Überwindung. Utopien lassen die Welt in der Schwebe. Sie sind keine technokratischen Handlungsanweisungen, sondern Werkzeuge, die helfen, die Gegenwart besser zu verstehen, uns wieder sprachfähig zu machen und die richtigen Fragen zu stellen.
Etwas, das noch nicht existiert, kann gleichwohl schon da sein. „Jede Entdeckungsreise, jede Kolonisation, jede Auswanderungswelle setzte den stillschweigenden Glauben an ein zukünftiges gelobtes Land voraus“, so der argentinische Universalgelehrte Alberto Manguel. Weil das noch immer gilt, sind Utopien Baustellen der Menschheit, hypothetische Handlungsfelder auf dem Weg zu einer besseren Zivilisation.
Leider stellen Utopien eine Herausforderung für das Mittelmaß dar. Sie zwingen dazu, über das Jammern an der Klagemauer der Unzulänglichkeiten hinauszugehen. Stattdessen legen sie den Grundstein für Experimente, die Prozessen der Entzivilisierung entgegenwirken. Experimente mögen nicht immer eindeutige Ergebnisse liefern, aber sie verhindern unkoordinierte Aktivitätszuckungen und voluntaristische Eingriffe in den Kurs der Welt.
Wie es scheint, sind uns Dystopien vertrauter als Utopien.Gepflegte Dystopien sind zum Spielfeld Intellektueller und Schriftsteller geworden. In Schöne neue Welt von Aldous Huxley erklärt John Savage, der Hauptprotagonist, wie Menschen in unterschiedliche Produktionsklassen eingeteilt werden. „Doch alle sind wir nützlich!“ singen die Menschen in dieser idealen Welt. Wer nicht mehr nützlich ist, endet in der „Lethalkammer“. Das ist bis heute der Umriss aller Dystopien. Und leider recht nah an der Wirklichkeit.
Wie wir wissen, ahnen oder befürchten, sind die meisten Utopien bislang gescheitert. Ein Hauptgrund dafür ist ideologische Verkrampfung. Utopien fordern moralisch heraus. „Die Utopie ist eine vollkommene Welt, und die Wirklichkeit gewordene Vollkommenheit duldet keine Diskussion, keinen Kompromiss, keinen Vergleich mit der Unvollkommenheit“, so der Kulturhistoriker Georges Minois. „Ihre Anwendung muss vollständig und intolerant sein.“
Hinzu kommt, dass politisches Engagement in modernen Gesellschaften eher fragmentiert und feldbezogen stattfindet – es gibt keinen Brennpunkt mehr. Aber Utopien sind gerade dadurch gekennzeichnet, das sie das große Ganze, das Zusammenspiel aller gesellschaftlichen Teilsysteme in den Blick nehmen. Utopisches Denken beginnt dort, wo die Verbindungslinien zwischen den Feldern des Engagements sichtbar gemacht und systematisch weiterentwickelt werden. Utopien entwirft man nicht für sich alleine, sie setzen einen kollektiven Resonanzraum voraus.
Trotz einer langen Traditionslinie des Scheiterns und den zweifelsohne vorhandenen Gefahren utopischer Rhetorik scheint es heute einen geradezu dringenden Bedarf an neuen utopischen Ansätzen zu geben. Bislang köchelte utopisches Bewusstsein auf kleiner Flamme und eher in Subkulturen. Aber angesichts des Monsters der Bodenlosigkeit kehren Utopien endlich in die Mehrheitsgesellschaft zurück.
Rückkehr der Utopien
In der Literatur wurden Utopien oft genug durchgespielt. Im Science-Fiction Roman Weißer Marsvon Aldiss Brian und Roger Penrose wird eine fiktive Explorationsgeschichte erzählt, bei der durch katastrophale Ereignisse rund 6.000 Menschen, Siedler und Wissenschaftler, ohne Rettungsmöglichkeit auf dem Mars stranden. Die einzige Möglichkeit besteht in der Flucht nach vorn, dem Aufbau einer Gesellschaft entlang utopischer Ideale. Die Überlebenden stellen sich die Frage, wie unter der Bedingung von tabula rasa eine grenzenlose utopische Gesellschaft aufgebaut werden kann.
Jede Utopie hat das Potenzial latent vorhandene Kräfte zu wecken. Utopien besitzen eine Spiegelfunktion, weil sie den Blick zurück auf das Zeitalter, die Kultur und die Gesellschaft lenken, in der sie entstehen. Der Mehrwert von Utopien liegt also gerade darin, die notwendige Selbstbeobachtungs- und Selbstregulationsfähigkeit von Gesellschaften zu unterstützen. Um Zukunft zu entwerfen, braucht es allerdings eine realistische Bestandsaufnahme und die Fähigkeit, die Vielfalt der Optionen zu erkennen. Wissenschaftler nennen das „Kontingenzbewusstsein“. In anderen Worten: Die Zukunft sollte nicht denen vorbehalten bleiben, die unfähig sind, in der Gegenwart klar zu sehen.
Utopiemüdigkeit
Bislang verschleierte Utopiemüdigkeit die klare Sicht nach vorn. „Die Zukunft ist tot“, behauptet der Historiker Timothy Snyder. „Seit der Französischen Revolution hatte es immer eine Zukunft gegeben. Ohne den Glauben an eine Zukunft kann Demokratie nicht existieren. Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie mit ihren Entscheidungen die Zukunft beeinflussen können.“ Wenn der politische Pragmatismus, also das „Fahren auf Sicht“ nicht nur langweilig, sondern auch erfolglos wird, kommt die Zeit, wieder über das große Ganze nachzudenken. Gesellschaft ist kein gebrauchtes Fahrrad, das nur gepflegt werden muss. Wenn sich Politik in Schönheitsreparaturen erschöpft, dann kommt die Zeit für echte Veränderungen. Tatsächlich erleben wir überall – in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft – ein ähnliches Muster: Es gibt Kritik an den Zuständen, aber keine positiven Wunschformulierungen. Anstatt in utopisches Kapital zu investieren, werden affirmative Standardwelten reproduziert. Doch die Verdopplung des Bestehenden ist keineswegs das Neue. Wer aber wirklich etwas verändern möchte, sollte aus der Zukunft zurück denken.
Wenn Corona Krise bedeutet, was war dann Normalität? Vielleicht können wir Dank des Overview-Effekts die Corona-Krise auch als kollektiven Versuch begreifen, wieder reale utopische Orte zu schaffen. Das wäre dann nichts anders, als „das Richtige im Falschen“ zu tun, um den berühmten Aphorismus Theodor Adornos umzupolen, der sich bezeichnenderweise im Kapitel Asyl für Obdachloseseiner Minima Moralia findet. Untertitel: Reflexionen aus dem beschädigtem Leben.
Was wir gegenwärtig erleben ist keine Krise. Eine Krise geht vorüber. Wir aber mutieren in eine andere Zukunft. „Wir hatten uns an eine Welt gewöhnt“, so nochmals Bruno Latour, „wir gehen in eine andere über.“ Mutation bedeutet, dass sich unsere Beziehung zur Welt tiefgreifend verändert. Mutation bedeutet grundlegenden Zivilisationswandel, der aktiv im Sinne eines Transformationsdesignsgestaltet werden sollte. Auf diesem Weg dürfen wir nicht enttäuscht sein, wenn Idealistisches nicht gelingt. Stattdessen sollten wir lernen, unsere Ideale genauer definieren. Erst, wenn wir alle in einen utopischen Gesellschaftsvertrag einwilligen, der die Regeln für eine universelle conditio humana, beinhaltet, sind wir auf dem richtigen Weg zum triumphierenden Weltbürgertum. Dann kann jede Krise gemeistert werden.
Zukunft mit Beipackzettel
Zivilisationswandel braucht eine Zukunft mit Beipackzettel. Der Beipackzettel erklärt, was wir tun sollen, auch und weil wir ja bereits so viel wissen. Akkumuliertes Wissen und gesteigerte Sensibilitäten führen leider nicht zwangsläufig zu neuen Lebensweisen, denn es gibt eine Kluft zwischen Einstellung und Verhalten.
Der Beipackzettel für die Zukunft beinhaltet auch den produktiven Umgang mit Konflikten. Konflikte treiben Fortschritt voran, zwingen zur Diskussion und korrigieren Fehlentwicklungen. Eine Gesellschaft, in der alles im Gleichgewicht zu schweben scheint, ist eine statische, tote Gesellschaft. Vor allem aber ist Kooperation statt Konkurrenz die Grundsubstanz für den Wandel - Grundlage einer gerechten Gesellschaft ist gegenseitige Unterstützung. Irgendwo im Leben von Individuen muss etwas existieren, das die Rettung ganzer Gemeinschaften bewirken kann, sonst ist das Experiment Gesellschaft zum Scheitern verurteilt. Das Ego des Einzelnen muss sich den Bedürfnissen der menschlichen Gemeinschaft unterordnen. Doch trotz zahlreicher Manifeste zur Rettung der Welt, trotz Leitbildern, Präambeln, Gesetzestexten und vielen klugen Büchern, entstand bislang insgesamt keine bessere Welt. Fehlende Langfristorientierung, Verlustaversion, liebgewonnene Gewohnheiten, das Einrichten in der Komfortzone, Pfadabhängigkeiten in Politik und Wirtschaft – das alles sind Gründe für die hemmende Utopiemüdigkeit.
Dennoch besteht Hoffnung. Sehnsucht brennt von innen her. Die neuseeländische Schriftstellerin Keri Hulme umschreibt in ihrem Roman Unter dem Tagmond eine Ästhetik des Eingreifens. Wir sind, für uns selbst, nichts Anderes als einzelne Menschen, so Hulme, zusammen aber, sind wir „Herz, Muskel und Geist von etwas Gefährlichem und Neuen“, alle zusammen sind wir „Werkzeuge der Veränderung“.
Ein schöner Gedanke, auch wenn Zweifel bleiben.
Was, wenn wir keine Werkzeuge der Veränderung sind, sondern ein kollektives „enfant terrible“, das gerade dabei ist, den Planeten zugrunde zu richten? Oder wir uns dem Menschenbild annähern, das bereits in Gullivers Reisen von Jonathan Swift (1762) beschrieben wird, wenn Menschen als „die schädlichste Art von kleinen scheußlichen Ungeziefern“ beschrieben werden?
Eine große Herausforderung liegt im Moment darin, die Gleichzeitigkeit zwischen allergrößten Sorgen und banalstem Alltag produktiv zu gestalten. Tom Jefferies, der Anführer der Utopisten auf dem Mars fasst im Roman Weißer Mars seine Sehnsucht nach einer besseren Welt in markante Worte: „Ich werde eine morsche Tür eintreten. Ich werde Licht für die Gesellschaft hereinlassen. Ich werde dafür sorgen, dass wir das, was wir in unseren Träumen gern sein möchten, auch ausleben: dass wir große und weise Menschen werden – umsichtig, wagemutig, erfindungsreich, liebevoll, gerecht. Menschen, die diesen Namen auch verdienen. Dazu müssen wir nur wagen, das Alte und Schwierige abzuwerfen und das Neue, Schwierige und Wunderbare willkommen zu heißen.“ Utopien sind geöffnete Türen in Richtung Zukunft.
Im Innersten unserer wertvollen Existenzen verändert sich gerade alles. Wir sind dabei, die Welt umzukleiden. Wenn dabei ein paar althergebrachte Grenzen und Gewissheiten eingerissen werden, wäre es nicht wirklich schade darum. Weil die Evidenz der Bedrohung nicht automatisch bessere Menschen aus uns allen macht, müssen wir uns schon jetzt darauf vorbereiten wieder utopische Politik zu betreiben. Denn jeder Tag ist ein Versprechen an das kommende Leben.Wenn das universelle Empfinden darin besteht, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird, dann braucht es gerade jetzt Utopien als Haltegriffe.
3 notes
·
View notes
Text
Mein Reich komme (Teil 1). Fiktionale Autobiografie eines moralischen Unternehmens
25 Jahre Tafeln in Deutschland. Zeit für eine Autobiografie: Irgendwann lässt sich jeder Promi eine Biographie schreiben. Aber soweit kommt es noch! Wer so viel gestemmt hat wie ich, der macht das selbst! Ehrenamtlich, versteht sich. Wer wie ich seit 25 Jahren existiert und nun endlich mitten in der Gesellschaft angekommen ist, der darf auch mal ein wenig zurückblicken und sich freuen.

Bloß nostalgisch werden, das sollte nicht sein. Wer wie ich in diesen Tagen rundherum gefeiert wird, der darf sich auch selbst einmal an die vielen Herausforderungen erinnern, die mit der eigenen Arbeit verbunden sind.
Ich sage nicht „verbunden waren“, ich sage „sind“. Weil das hier keinesfalls eine abschließende Biografie ergeben wird, nach der nichts mehr kommt. Türchen sollte man sich immer offenhalten. Und die nächsten 25 Jahre sind ein solches Türchen. Es stimmt: Wann immer ich irgendwo öffentlich auftrete und mich präsentiere – auf Kirchentagen oder Podiumsdiskussionen – betone ich, dass es mich eigentlich gar nicht geben dürfte, dass ich am liebsten überflüssig sei, dass alles getan werden müsse, damit ich endlich, ja endlich wirklich überflüssig werde. Diesmal bestimmt. Aber wie schrecklich herzlos und wie brutal verachtend ist es, so über sich selbst reden zu müssen, nur weil das der sozialen Erwünschtheit meiner Beobachter und Kommentatoren entspricht? Mit aller Macht sträube ich mich dagegen und unterdrücke diesen existentiellen Juckreiz. Mir macht es fast nichts mehr aus, mir selbst zu widersprechen. Je reifer ich werde und je mehr ich für meine Arbeit geehrt werde, desto seltener rede ich überhaupt noch so. Nun, nach 25 Jahren, bin ich endlich soweit und kann es aussprechen: Ich bin da und ich will gebraucht werden! 25 Jahre sind mir nicht genug! Es gibt keinen Grund, aufzuhören. Ich will geliebt und unterstützt werden. Ich bin einfach zu gerne in dieser Welt.
Unterstützer im Lande,
geheiligt werde mein Name.
Mein Reich komme.
Mein Wille geschehe,
wie im Charity-Himmel so auch in der Praxis.
Ihr Brot gebe ich ihnen täglich,
auch wenn ich sie damit zu Ausgeschlossenen erkläre,
auch wenn Kritiker mir meine Schuld nicht vergeben.
Ich führe die Armen immer wieder in die Versuchung,
aber ich erlöse sie niemals von der Abhängigkeit.
Denn mein ist das Reich
und die Moral der guten Tat
und die Herrlichkeit der öffentlichen Anerkennung
für meine Ewigkeit.
Gerne auch gegen Spendenquittung.
Die „Mutter aller Tafeln“: Merken Sie sich den Namen Sabine Werth, eine tapfere Frau! 1993 hatte sie als Mitglied der Berliner Initiativgruppe (einem Verein für Berliner Frauen) die Idee, die ‚Berliner Tafel’’ zu gründen. Alles ging zurück auf eine Reise in die USA und einen anschließenden Vortrag von Ingrid Stammer, der damaligen Senatorin, zum Thema Obdachlosigkeit. Es ist, wie so oft: Ich bin ich das Produkt einer Reise. Vielleicht, weil sich auf Reisen nicht nur geografische Horizonte öffnen, sondern auch geistige. Das Vorbild heißt „City Harvest“ – eine tafelähnliche Organisation in New York. Dann wurde überlegt, wie sich das auf Deutschland übertragen lässt. Einzig Sabine Werth blieb nach einem Jahr noch an der Idee dran und setzte sie um. Ohne sie, die „Mutter aller Tafeln“ gäbe es mich in dieser Form heute gar nicht. Danke dafür!
Aber wie hat sich alles verändert! Was ursprünglich als reine Unterstützung von Obdachlosen begonnen hatte, wurde nach und nach quasi zu einem Vollversorgungssortiment für den abgehängten Teil der Gesellschaft. Dabei lief es ruckelnd an. Die gute Idee brauchte noch viel Überzeugungsarbeit, um in die Praxis umgesetzt zu werden. Die Supermärkte gaben in dieser Gründungsphase Lebensmittel mehr als ungerne heraus, weil sie Umsatzeinbußen befürchteten – ein aus heutiger Zeit geradezu absurd anmutendes Argument. Für mich war das mühsam! Es tat weh, immer wieder sehen zu müssen, wie meine gute Idee auf Skepsis stieß. Immer wieder wurde ich gefragt, was ich eigentlich mit dem Müll wolle. Aber das war ja die eigentliche Pointe meiner Idee: Die übriggebliebenen Lebensmittel deklarierte ich eben nicht als Müll, sondern als ein kostbares Gut, dass man weiterverteilen konnte. Null Tauschwert, aber hoher Gebrauchswert.
Erst nach und nach gelang es mir Fuß zu fassen. Dazu trug auch eine pro-bono-Aktion der Unternehmensberatung McKinsey bei. Die Unternehmensberatung stellte zwei voll bezahlte Kräfte drei Jahre lang frei, um ein „Handbuch zur Entstehung einer Tafel“ und gleich noch ein „Handbuch zum Betrieb einer Tafel“ zu verfassen. Das war endlich einmal Rückenwind! Endlich ging es voran. Ich wuchs und wuchs und irgendwann gründete ich dann einen Verband, um mein Reich zusammenzuhalten. Eine Lobby ist alles. Trotzdem waren die ersten Jahre wirklich mühsam, keiner kannte mich. Unterstützung musste ich mühsam erbetteln, die Vernetzung musste ich nach und nach voranbringen. Aber wie so oft im Leben passierten dann Dinge, die alles in eine Richtung trieben, von der man selbst noch nicht einmal etwas geahnt hatte. 2005 kam die Agenda 2010 und damit wurde mir ein tolles Geschenk gemacht. Endlich konnte ich meine Arbeit auf eine solide Basis stellen.
Das größte Geschenk - Hartz IV: Wenn McKinsey den Anschub besorgte, dann war die Agenda 2010 ein wirkungsvoller Katalysator. Die neue Sozialgesetzgebung war für mich besser, als ich mir wünschen konnte. Mit diesem Reformprogramm wurde endlich ein neuer Typ Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik nach anglo-amerikanischem Vorbild in Deutschland eingeführt. Auch wenn das durchaus kurios begann. Ich erinnere mich: Die Agenda 2010 war die Idee eines vorbestraften Managers. Peter Hartz wurde zeitgleich zur Einführung der neuen „Instrumente sozialer Demontage“ im Rahmen der „VW-Schmiergeldaffäre“ wegen Bestechung des Betriebsrates des gleichnamigen Automobilkonzerns verurteilt. Dennoch sind die Gesetze Hartz I bis Hartz IV nach ihm benannt. Für mich spielen solche Randereignisse eigentlich keine große Rolle, ich erwähne es nur der Vollständigkeit halber. Im Oktober 2004 billigte der Bundestag den Umbau der Bundesanstalt für Arbeit (Hartz III) und die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV). Meiner Meinung nach hat keine andere Reform nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland stärker verändert. Der DUDEN, das maßgebliche Lexikon der deutschen Sprache, weist sogar eine entsprechende Verbform aus: harzen. Seitdem sind Empfänger der neuen Form von Arbeitslosengeld „Hartzer“. „Hartzer“ stehen beispielhaft für Menschen, die zu faul sind, einer Tätigkeit nachzugehen. Es stimmt schon: Schlimmer kann ein Generalverdacht nicht sein. Aber mir erleichterte es die Arbeit und brachte mir die lang ersehnte „Kundschaft“ ein. Auch wenn die Agenda 2010 bis heute umstritten ist.

Glauben wir Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, demzufolge es sich um eine „weitreichende Strukturreform“ handelte, die dazu beitragen sollte, Deutschland „bis zum Ende des Jahrzehnts wieder an die Spitze bringen.“ Oder denen, die davon direkt betroffen sind? Das Land wurde gespalten. Mir ist das egal, denn Hartz IV bewirkte vor allem, dass ich nun endlich gebraucht wurde. Man rief nach mir, man schaute sich in allen Städten nach mir um. Die Tafelgründungen im ganzen Land nahmen immer mehr zu.
Schlagzeile: „Die Münchner Tafel wächst und wächst. Sie kann eine eindrucksvolle Bilanz der Hilfe vorweisen. Jetzt eröffnet der Verein die 26. Verteilstelle“
Stolz konnte ich in der Folgezeit – Jahr für Jahr – Grafiken präsentieren, die scheinbar zeigten, wie sehr ich in diesem Land gebraucht wurde. Genau das war meine Absicht. Je mehr sich dieser Blick einbürgerte, desto seltener schaute irgend jemand genau hin. Was mir natürlich recht war. Sonst hätte man vielleicht entdeckt, dass es weniger die Nachfrage nach den Tafeln war, der diesen Prozess in Gang setzte, sondern vielmehr mein Wille, gebraucht zu werden. Ich wollte mich selbst ins Spiel bringen und dafür war mir beinahe jedes Mittel recht. Undenkbar für mich wäre es, ernsthaft dazu beizutragen, Armut zu bekämpfen. Dann würde ich mich ja tatsächlich überflüssig machen. Sollen das doch die anderen tun. So lernte ich mit der Zeit, auf einem schmalen Grat zu balancieren. Nicht zu viel Kritik und gerade genug Hilfe, damit alles so läuft, wie bisher. Und das heißt vor allem: gut für mich.
Zitat: „Wir helfen einerseits, Armut zu lindern. Aber wir verändern nichts, wir bekämpfen Armut damit nicht nachhaltig. Die Aktivitäten haben etwas von Pflasterkleben: Das Pflaster ist nötig, aber die Wunde darunter wird niemals heilen. Das Ziel, die Wunde zu heilen, wird verfehlt. Wer sich in der Hartz-IV-Ökonomie engagiert, muss diese zwiespältigen Wirkungen sehen.“ (Philipp Büttner vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt München)
Zehn Jahre Tafeln in Deutschland: Tafeln als „Reich Gottes“? Schneller als ich schauen konnte, waren dann schon die ersten zehn Jahre vorbei. Natürlich war das alles so nicht geplant, aber wenn der Fluss fließt, dann soll man ihn nicht aufhalten. Ich musste immer weniger für meinen Erfolg tun, ich passte einfach zum Zeitgeist.
Ein erster kleiner Höhepunkt dieser rauschhaften Gründungsdekade war der Zuspruch, den ich immer deutlicher von allen Seiten erhielt. Es waren so viele Lobpreisungen, dass es mir unmöglich ist, alle aufzuzählen. Besonders in Erinnerung ist mir aber der Prälat Franz Josef Gebert geblieben, der mich anlässlich der Feier zum zehnjährigen Bestehen der Trierer Tafel in einen äußerst positiven Zusammenhang mit dem Reich Gottes und dem Bild vom „reichen Gastmahl“ rückte. Endlich zeigte sich, dass es sich gelohnt hatte, den Namen „Tafel“ von Profis aus der Werbeszene dichten zu lassen – wenn sogar ein Geistlicher darauf anspringt, der ja eigentlich eher auf der Seite der Armen stehen müsste. Das vergisst man eben so leicht. Mir war es gelungen, ein wunderbar positiv besetztes Bild in das kollektive Bewusstsein einzuführen: die Tafel. Ein reich gedeckter Tisch. Wollen wir nicht alle an einem solchen Tisch sitzen? Träumen wir nicht alle von opulenten Tafelrunden? Mir gelang es, dass fast niemand – bis auf wenige bissige Kritiker – dieses Bild ernsthaft in Frage stellten. Denn diese Kritiklosigkeit ist die Grundlage meines Reiches.
Unterstützer im Lande,
geheiligt werde mein Name.
Mein Reich komme.
Mein Wille geschehe,
wie im Charity-Himmel so auch in der Praxis.
Ihr Brot gebe ich ihnen täglich,
auch wenn ich sie damit zu Ausgeschlossenen erkläre,
auch wenn Kritiker mir meine Schuld nicht vergeben.
Ich führe die Armen immer wieder in die Versuchung,
aber ich erlöse sie niemals von der Abhängigkeit.
Denn mein ist das Reich
und die Moral der guten Tat
und die Herrlichkeit der öffentlichen Anerkennung
für meine Ewigkeit.
Gerne auch gegen Spendenquittung.
Zitat: „Die Realität ist jedenfalls anders: Denn derjenige, der zur Trierer – wie zu allen anderen Tafeln – will, muss sich zuerst als Armer ausweisen. Hat er die Armutsprüfung bestanden, wird ihm schon am Eingang die Hausordnung (des irdischen „Reiches Gottes“?) klargemacht:
‚Die für den jeweiligen Ausgabetag vorgegebenen Ausgabezeiten und Nummernblöcke sind einzuhalten. (...) Der Nummernblock, der jeweils zur Lebensmittelausgabe ansteht, wird angezeigt bzw. aufgerufen. Der Einlass zur Ausgabe erfolgt nach den Ausweisnummern in aufsteigender Reihenfolge. Wer zu spät kommt, muss sich am Ende seines Nummernblocks einordnen. (...) Bei Nichtbeachtung der Anweisungen erfolgt ein Hausverbot von mindestens einem Monat. Im Wiederholungsfalle erfolgt ein generelles Hausverbot.’
Das man für das ‚Reich Gottes’ in aufsteigender Reihenfolge und im Nummernblock anstehen muss, ist (...) biblisch nicht belegt. Auch nicht, dass man dort eine ‚Kundenkarte’ braucht, keine Wahl hat oder pünktlich sein muss. (...) Die Armentafeln sind weder Vorschau auf das Reich Gottes, noch ein Symbol dafür, sondern eine Verdrehung dessen, was diese Vision meint. Tafeln sind Ausdruck verkehrter gesellschaftlicher Verhältnisse. Mit einem Reich Gottes hat dies alles nichts zu tun.“ (Günther Salz, Vorsitzender der Katholischen Arbeiterbewegung in der Diözerse Trier)
Zitat: „Ich war selbst 10 Jahre im Hartz-IV-System gefangen und habe die (lokale) Tafel sowohl als ‚Kunde’, als auch als Mitarbeiter kennengelernt. Ich habe die Tafel als Instrument für Menschen, die ‚mit aller Gewalt in den Himmel kommen möchten’ erfahren. (...) Die von Hartz-IV und damit von den Tafeln Abhängigen werden gezwungen, den dankbaren Diener zu machen, wenn sie verdorbenes Obst und Gemüse ausgehändigt bekommen, weil sie sonst beim nächsten Mal schlechter bedient, also praktisch bestraft werden. Die Mülleimer im Umkreis der Tafeln quellen über vor Waren, die den Bedürftigen aufgezwungen werden, weil sie selten wählen dürfen, sondern nach dem Motto ‚Friss oder Stirb’ das nehmen müssen, was die, die mit Gewalt in den Himmel kommen wollen ihnen mit der Bitte um ein demütiges Dankeschön in die Tüte stecken.“ (Ein Tafelnutzer in einer Mail an den Autor)
Legitime Parallelwelten: Mein System spielte sich auf dieser Basis immer besser ein. Inzwischen erhalte ich von allen Seiten Hilfe, die potenziellen Unterstützer stehen praktisch Schlange. Allein dafür lohnen sich schon die Geschäftsstelle in bester Lage in Berlin und die dort arbeitenden Festangestellten. Die Spendengelder sind gut angelegt.
Nur manchmal ist mir die Unterstützung geradezu ein wenig peinlich. Immer dann, wenn Vertreter der staatlichen Politik dazu beitragen, dass ich mehr „Kunden“ bekomme. Das passiert dann, wenn in diesem Land moralische Freihandelszonen etabliert werden, in denen scheinbar das Grundgesetz wirkungslos ist.
Schlagzeile 2016: „Jobcenter bestrafen wieder mehr Hartz-IV-Empfänger. Rund 135.000 von ihnen wurde das Existenzminimum gekürzt.“
Zitat: „Geht zur Tafel, wenn das Geld nicht reicht, heißt es im Sozialamt. Wie ein König steht Manfred Bassner da, die Lippen unter dem grauen Schnauzbart geschützt, die Hände auf das Geländer der Laderampe gestützt, neben sich eine Kiste welker Karotten. Bassner leitet die Tafel Bochum-Wattenscheid, die größte in Deutschland. Aus verkniffenen Augen blickt er herab, das hier ist sein Reich. (aus einer STERN-Reportage über den „Tafel-König“ Manfred Baasner)
Es stimmt, jede Tafel ist eine kleine Welt für mich, aber sie alle gehören zu meinem Reich. Und dieses Reich gestalte ich eben nach meinen Prinzipien. Ich bin nicht der Staat und ich lasse mir von niemandem in meine Arbeit hineinreden. Sie haben es doch gut in meinem Reich, die Armen. Sie bekommen ein Lächeln und dazu noch Lebensmittel. Sie sparen etwas. Manchmal gibt es zudem noch Kaffee und Kuchen im Warteraum. Ich kann die Kritik an meinem Engagement wirklich nicht verstehen.
Zitat: „Es widerspricht dem Prinzip der Teilhabe, wenn zunehmend Parallelwelten für Bedürftige Bürger(innen) entstehen. Auch Menschen mit Transfereinkommen müssen in der Lage sein, ihren täglichen Bedarf aus dem üblichen Einkaufsangebot zu decken. Es wäre fatal, wenn die politischerseits gerngesehene Tafelbewegung dazu beiträgt, dass sich der Staat mit dem Hinweis auf die Bürgergesellschaft aus der Daseinsvorsorge (...) sukzessive zurückzieht. Es gibt Sozialleistungsträger, die versucht haben, mit Verweis auf die Tafeln Leistungsansprüche zu reduzieren.“ (Markus Günter, Referat Familien und Generationen beim Deutschen Caritasverband Freiburg)
Zitat: „Während der Sozialstaat zu einem Grundsicherungsstaat umgebaut wird, der nur Minimalleistungen bereithält und die Armen ansonsten der privaten Wohltätigkeit überantwortet, wird karitatives Engagement für die Opfer wieder en vogue. Dessen Förderung ist integraler Bestandteil zur Abfederung des Rückbaus des Sozialstaats. (...) Eine Politik gegen Ausgrenzung und Armut kann (...) nicht durch privates Engagement ersetzt werden. Vielmehr führt privates Barmherzigkeitshandeln, das nicht auf die gesellschaftliche Beteiligung abzielt, zu einer Ausgrenzung und leistet dadurch einen Beitrag zur Verstetigung und Normalisierung der sozialen Spaltung der Gesellschaft. Die Tafelbewegung lässt sich als ein Instrument verstehen, dass symptomatisch für die rückwärtsgewandte Sozialstaatsentwicklung steht.“ (Prof. Dr. Franz Segbers, Professor für Sozialethik an der Universität Marburg)
Ich bin endlich eine Marke: Langsam werde ich erwachsen, wie man so sagt. Die Kinderkrankheiten, die Organisationsprobleme, alles so gut wie überwunden. In meinem Reich läuft alles wie am Schnürchen. Und die Krönung besteht darin, dass ich endlich als Marke wahrgenommen werde. Als Marke mit einem Logo und einem Claim. Als Marke, die in den Köpfen der Leute hängenbleibt. Als Marke, zu der es keine Alternativen gibt. Weil ich dafür sorge, dass andere, die meinen Markennamen auch tragen wollen, vor Gericht verklagt werden. So sorge ich dafür, dass mir niemand in die Quere kommt. Dafür sind doch die Spendengelder gut angelegt, oder?
Besser gesagt: Ich sorge dafür, dass ich als Marke wahrgenommen werde und es gleichzeitig so aussieht, als sei ich ein soziales Projekt oder eine soziale Bewegung. Aber ich bin alles andere als eine soziale Bewegung, auch wenn immer wieder einige brave Menschen auf diesen rhetorischen Trick hereinfallen. Zwar protestiere ich regelmäßig. Aber ich kann ja die Hand nicht beißen, die mich füttert. Von lokalen Politikern bis hin zu Ministerien (BMFSFJ) werde ich brav beschirmherrschaft. Das ist mein Schutzschirm, warum sollte ich ihn zerstören? Alle Türen stehen mir offen, warum sollte ich sie schließen? Mein Protest ist ein Spiel, kaum ernst gemeint. Auch wenn ich einen „Armutsbeauftragten“ für die Bundesregierung fordere, ändert das nichts daran, dass ich gebraucht werden will, Armut also voraussetze und bloß niemals abschaffen möchte. Ich will das System gar nicht verändern, ich tue nur so. Ich will den Unterschied zwischen Bedürftigen und Gebenden nicht aufheben. Das ist gerade nicht meine Aufgabe. Und ich sage es gerne immer wieder: Meine Aufgabe besteht darin, größer und professioneller zu werden. Ich will zuverlässig und unverzichtbar sein. Ich will Gesetz sein. Ich will Teil von Deutschland sein.
Ich mache Armut unsichtbar, weil sie ja letztlich gar nicht so schlimm ist. Es gibt ja mich. Niemand muss sich um Armut sorgen, ich kümmere ich darum. Und dabei gelingt, worum mich zahlreiche Unternehmen beneiden: Je mehr ich dafür sorge, dass Armut entpolitisiert wird, desto sichtbarer werde ich selbst. Als eingetragene Marke. Alle kennen mich, alle lieben mich, auch wenn ich immer exaltierter werde. Wie gesagt: Ich will gebraucht werden.
Trotzdem kann ich nicht überall sein, mein Reich ist noch nicht vollendet. Nicht immer bin dort, wo ich eigentlich gebraucht würde. Tafeln entstehen nicht dort, wo die Armut im Land am größten ist und wo Unterstützung am dringendsten gebraucht würde. Sie entstehen ganz einfach dort, wo es engagierte Bürger gibt, die Zeit, Lust und Kontakte haben. Sogar in Furtwangen im Schwarzwald – dem Ort in Deutschland mit der traditionell niedrigsten Arbeitslosenquote – kommen ein paar gutmütige BürgerInnen auf die Idee, eine Tafel zu gründen. Darauf muss man erst einmal kommen; Chapeau! Und warum? Weil es möglich ist, weil ich sie alle, diese Gründungswilligen und Engagierten unterstütze. Weil ich ihnen Kühlfahrzeuge und Handyverträge vermittle. Weil alles nach einem Plan abläuft, einen Plan, den nur ich in der Hand habe.
Teil 2 und 3 folgt in Kürze...
3 notes
·
View notes
Text
Pfeffer-Ärschle
Es reicht nicht aus, zu fliehen. Es reicht nicht aus, den Schwarzwald zu verlassen und sich – wie Hermann Hesse – in Richtung Bodensee zu begeben. Erstens ist es unmöglich, dem Wahnsinn des Karnevals bzw. des Faschings bzw. der Fasnet zu entfliehen. Narren ziehen auch durch Meergburger Gassen. Zweitens ist es unvermeidlich, wieder auf neue Geheimnisse zu stoßen, die dann neue Erkenntnisarbeit erzeugen.

Ich bin also für ein paar Nächte am Bodensee. In einem Hotel, dass über jeden Zweifel erhaben ist, weil im Zimmer 116 einst Graf Zeppelin nächtigte. Das kann ja nicht gut gehen. Das Hotel, in dem ich mich befinde, ist keines, aus dem man nie wieder entkommt („Hotel California“ – The Eagles), sondern eher eines, in dem ich eine überraschende, eine wunderbare Entdeckung machen darf: Ich entdecke ein neues Wort!
Besser gesagt handelt es sich um die Wiederentdeckung eines Wortes, das irgendwie in Vergessenheit geraten ist. Abends im Hotelrestaurant, weil die Klamotten noch nass sind von der nachmittäglichen Wanderung nach Meersburg (Annette Droste-Hülshoff!). Alles soweit im Normalbereich. Bis ich die Idee habe, zu meinem mittelmäßigen Rotwein ein Stück Käse zu ordern, ein Häppchen nur. Beim Frühstück hatte ich bereits ein neues Wort gelernt: Pfeffer-Ärschle. So nennt man hier einen Weichkäse mit eingelagerten grünen Pfefferkörnern. Schmeckt wunderbar! Die Bedienung bringt mir genau eine Ecke dieses Käses als Gruß aus der Küche, dazu ein wenig Brot und: Apfel-Chutney. Man muss wissen, dass ich mein Studentenleben zeitweise damit finanziert habe, als Restaurant-Tester unterwegs zu sein, auch in Sterne-Restaurants. Seit 10 Jahren habe ich aber keine solche „Aromaexplosion“ mehr erlebt! Dabei ist es eigentlich ganz logisch: Käse, Apfel und ein wenig Zeugs, darunter Chili. Passt perfekt zusammen.
Ich schwelge also so vor mich dahin, als ich plötzlich an der Wand einen Spruch entdecke, der ein zimmerbreites Gemälde ziert, dass eine Panoramaszene vom Ufer des Bodensees aus dargestellt zeigt. Den Spruch verstehe ich nur zum Teil. Irgendwas mit Wein. Ein Wort in diesem Spruch scheint mir nicht entzifferbar zu sein. Ich grüble und grüble. Dann merke ich, dass die Lösung des Geheimnisses im zweiten Teil des Satzes liegt. Der lautet: „...und wär` ich der Fürst von Venedig, mir könnte nicht wohliger sein.“. Könnte. Was ich ein Weile lang als „f“ entzifferte, ist ein „k“ wie in „könnte“. Plötzlich macht auch der erste Teil des Zitats einen Sinn: „Hier trink` ich bekümmernisledig, Waldluft und goldenen Wein.“ Also es heißt wirklich „bekümmernisledig“ statt – wie ich zunächst annahm – befümmernisledig. Macht ja plötzlich auch viel mehr Sinn.
Was für ein wunderbares Wort! Ich liebe sonderbare poetische Worte. „Augenweide“ ist ein solches Wort, in das ich mich schon vor langer Zeit unsterblich verliebt habe. Aber „bekümmernisledig“? Ledig? Was bedeutet das? Ohne Bekümmernis? Ohne Kummer? Ohne Sorgen? Heute würde man sagen: Ich chille hier und alles ist voll krass. Wer kennt noch dieses Wort, bekümmernisledig? Die Bedienung versteht meine Aufregung über-haupt-nicht. Auch sonst nimmt niemand irgendwie Notiz von meiner Ekstase, die sich einstellt, nachdem mir langsam klar wird, was ich hier entdeckt habe. Bodo Kirchhoff schreibt eine ganze Novelle über sein Lieblingswort „Widerfahrnis“. Auch so ein unbekanntes, altes Wort. Zugegeben, auch sehr schön. Jetzt aber mein Wort: „Bekümmernisledig“.
Ich muss unbedingt wissen, woher das Wort stammt. Also frage ich später Dr. Google, wen sonst. Ich lande auf chefkoch.de und einer langen Liste von Zitaten zum Thema Wein. Ich lese alle. Mir fällt eines auf, dass von Omar Chajjâm stammt, den berühmten Gelehrten und Dichter aus Isfahan. "Ich trinke nicht Wein, um zu trinken bloß, nicht zu schwelgen sitten- und glaubenslos: ich trinke, um höher mich zu beleben, mich aus mir und über mich zu erheben." Ich denke zurück an eine wunderbare Sommernacht, die ich vorletzten Sommer mit Dževad Karahasan verbracht haben, dem Autor des Buches „Trost des Nachthimmels“, in dem es vielschichtig um das Leben von Omar Chajjâm geht. Was habe ich alles Dževad zu verdanken! Was kann man an einem Nachmittag, an einem Abend, während eines gemeinsamen Weges zum Hotel an wegweisenden Dingen klären! Und nun dieses Zitat.
Aber ich bin auf der Suche nach dem Wort „Bekümmernisledig“. Ich scrolle und scrolle und fast gebe ich auf. Stammt es von Goethe? Von Kleist? Nein, es stammt von der Wartburg, Autor unbekannt, wie unbefriedigend. „Hier trink` ich Bekümmernis ledig, Waldluft und goldenen Wein, und wär` ich der Fürst von Venedig, mir könnte nicht wohliger sein. Ein bitterer Erfolg. Ich weiß etwas, aber ich weiß nichts Genaues. Ich kann höchstens erahnen, welcher Wohlklang im 16. Jahrhundert (Luther?) mit dem Wort „bekümmernisledig“ verbunden war. Ich bin so aufgeregt und niemand versteht es. Wie oft haben Sie in ihrem Leben ein neues Wort entdeckt?, frage ich die Bedienung. Das ist unfair, ich weiß. Sie streichelt mir den Arm, als wäre ich ein Pony, dass es zu beruhigen gilt. Ich will mich aber nicht beruhigen, ich will mich über diese Entdeckung freuen. Wären wir doch alle, einfach alle, einfach nur „bekümmernisledig“. Eigentlich so, wie Omar Chajjâm. Aber der war sicher nie auf der Wartburg.
1 note
·
View note
Text
Kleine Siege für Öffentliche Soziologie
Ein befreundeter junger Soziologe freut sich gerne, wenn es wieder einmal einen „kleinen Sieg für die Öffentliche Soziologie“ zu vermelden gibt. Und mich freut seine Freude! Hier ist noch einer: Die „organische“ Öffentliche Soziologie hat es in Form von Exponaten zur Tafelkritik in das „Haus der Geschichte“ in Bonn geschafft.

Mich freut das gleich doppelt. Denn es zeigt einmal mehr, dass Öffentliche Soziologie das ist, was man daraus macht und nicht das, was die Deutsche Gesellschaft für Soziologie darunter versteht.
Neben einer Dauerausstellung zur Deutschen Geschichte bietet das „Haus der Geschichte“ in Bonn immer wieder auch Einblicke in die deutsche Gegen-wartsgesellschaft. Die aktuelle Ausstellung (September 2017 bis März 2018) zum Thema „Mein Verein“ zeigt Exponate, die im Kontext eines Forschungs-projekts an der Hochschule Furtwangen (HFU) entstanden. Betritt man die (kleine, aber feine) Ausstellung, grüßt zunächst Max Weber in der Form eines Zitats: „Der heutige Mensch ist ja unzweifelhaft neben vielen anderen ein Vereinsmensch.“ (Max Weber, Soziologe, 1910).

Ein Zitat von Max Weber am Eingang, eines von mir am Ausgang – so viel will ich schon einmal verraten. Wer hätte das gedacht. So macht Öffentliche Soziologie doch Freude.
Mit Webers Zitat beginnt das Eintauchen in die Welt der Vereine. In der Wechselausstellung wird sie natürlich nur exemplarisch gestreift. Erwartbares und Überraschendes werden Seite an Seite gezeigt. Fußballvereine am Beispiel von Schalke 05. Schützen- und Karnevalsvereine. Vereinswelten, die wir kennen. Mit Exponaten zum Bachverein (der sowohl Mitglieder in der DDR hatte, als auch der BRD) oder dem Verein zum Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden nimmt die Ausstellung dann eine eher überraschende Wendung.
Und dann, fast schon am Ausgang (dort erwartet die BesucherInnen nur noch ein Video mit Zusammenschnitten aller Lobpreisungen des Ehrenamts ver-schiedener Bundespräsidenten): das Thema der Lebensmitteltafeln (kurz: „Tafeln“). Der Raum ist geteilt. Zunächst Exponate aus der Welt der „Tafeln“, u.a. Schwarz-Weiß-Fotos von Sabine Werth, die 1993 die erste „Tafel“ in Berlin gründete. Bilder, denen zweifelsfrei der Status eines historischen Dokuments zukommt. In der anderen Raumhälfte Exponate zur Tafelkritik: Eine Tafel „Hartz-Bitter-Schokolade“ (die Idee stammt von der Katholischen Arbeiterbewegung Trier); die rosa Mülltonne, die von Erwerblosen bei Ver.di für öffentliche Protest-veranstaltungen genutzt wurden.

Und schließlich ein paar Erinnerungen an das „Kritische Aktionsbündnis 20“. Dazu muss ich ein wenig ausholen...Zwischen 2011 und 2013 leitete ich das Forschungsprojekt „Tafel-Monitor“. Im Mittelpunkt stand die Evaluation und analytische Einordnung der bundesdeutschen „Tafeln“, die sich seit 1993 immer stärker im ganzen Land verbreiteten. Im Kontext dieses Projekts erprobte ich komplementär zur empirischen und theoretischen Arbeit auch neue Formen sog. „organischer Öffentlicher Soziologie“ (ich nutze den Begriff von Michael Burawoy eher augenzwinkernd, aber ich möchte hier keine Diskussion über den Sinn und Unsinn seiner Einteilung führen). Zusammen mit Studierenden pro-duzierte ich drei Filme im Stil von „Culture Jamming“, deren Botschaft lautete: 20 Jahre Tafeln sind genug. Mein Buch Schamland fasste 150 Interviews mit Besuchern von Suppenküchen und Tafeln zusammen – Kernstück ist hier der „Chor der Tafelnutzer“. Als Überbau für alle Aktivitäten diente das „Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“.
In diesem Aktionsbündnis versammelten sich Armutsbetroffene, Menschen-rechtsorganisationen, Gewerkschaften und kritische Wohlfahrtsverbände. Hinzu kamen zahlreiche Einzelpersonen als UnterstützerInnen und Sponsoren. Das Aktionsbündnis organisierte eine dreitägige Diskussions- und Protestveran-staltung in Berlin, führte zwei kritische Stadtrundfahrten zu den Orten der Armutsproduktion durch und forderte auf allen Kanälen eine bedarfsgerechte Mindestsicherung. Höhepunkt war eine Demonstration vor dem Brandenburger Tor mitten in Berlin, die internationale Medienresonanz erzielte.

Die Ausstellung „Mein Verein“ zeigt jetzt, fünf Jahre später, einige Exponate aus dieser Zeit. Präsentiert werden exemplarisch ein T-Shirt, wie es von allen Teil-nehmern der Protestaktion getragen wurde, ein Foto der Demonstration vor dem Brandenburger Tor, sowie weitere Exponate. Darüber ein Zitat von mir.

Das passiert ja schließlich nicht jeden Tag und ich war selbst überrascht. Die Ausstellung gibt sich damit ausgewogen und nicht wie die übliche Medien-berichterstattung einseitig auf „Tafeln“ fixiert. Sie ehrt aber auch – ebenfalls exemplarisch - eine Form der engagierten und eingreifenden Wissenschaft, für die meine Arbeit steht. Der Bundesverband Deutsche Tafel e.V. wird sich sicher lieber mit der anderen Seite des Raumes beschäftigen und – wie auch in den letzten Jahren – von der Kritik keine Notiz nehmen. Die Verbandszeitschrift feedback trägt ihren Namen daher eigentlich nicht zu Recht.
Einleitend sprach ich von „doppelter Freude“. Ich freue mich einerseits, dass die Arbeit der Tafelkritiker und des Aktionsbündnisses einen Weg in das „Haus der Geschichte“ und damit in das öffentliche und historische Bewusstsein geschafft haben. Denn die Menschen bleiben schon stehen, lesen, staunen, stellen sich und anderen Fragen. Die Ausstellung ist somit die Verlängerung des öffentlichen Protests von 2013.
Und andererseits? Nun, 2013 lancierte die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) eine Kampagne, die den Titel „DGS goes public“ trug. Man wurde auf-gefordert, Anträge für öffentliche Veranstaltungen einzureichen. Es ging um die Fördersumme von 1.000 Euro. Natürlich schrieb ich vor dem geschilderten Hintergrund einen Antrag. Der aber mit einer interessanten Begründung abge-lehnt wurde: Es gab nur diesen einen Antrag. Niemand sonst hatte sich die Mühe gemacht, für „nur“ 1.000 Euro eine Idee für Öffentliche Soziologie zu Papier zu bringen. Warum den auch? Karrieredienlich ist das ja sowieso nicht. Soviel zu Wunsch und Wirklichkeit. Von Öffentlicher Soziologie zu reden ist das eine. Es zu machen, das andere. Diese Kluft schreit geradezu nach einer Re-form von außen. Den Weg ins Freie zu finden, scheint innerhalb der verkrusteten Institutionen kaum mehr möglich zu sein. Ein wenig später förderte die Rosa Luxemburg-Stiftung unsere öffentlichen Aktionen.
Ich jedenfalls verließ die Ausstellung tief berührt. Natürlich auch wegen des Ego-Kitzels, aber da war ja noch etwas tiefergehendes: Wenn organische Öffentliche Soziologie es in das „Haus der Geschichte“ schafft, dann ist noch viel mehr zu erreichen. Der Weg mag noch weit sein, aber die Richtung stimmt schon einmal.
0 notes
Text
Risse im Fundament
„Ein bewölkter Himmel klärt sich ohne Sturm nicht auf.“ So heißt es bei Shakespeare in MacBeth. Wie oft ich diese Stelle schon zitiert habe. In den letzten beiden Tagen erhielt sie jedoch eine ganz neue Bedeutung. Tage, die landesweit vom Orkan „Friederike“ geprägt waren.

Tage, an denen ich – wie so viele andere – versuchte, nach Hause zu gelangen. Das Erschütterndste an dieser Zeit waren aber nicht umgeknickte Bäume oder überfüllte Bahnhöfe. Das Erschütterndste war für mich die Entdeckung von Rissen im Fundament unserer Zivilisation.
Die Medien berichteten gemäß ihrer eigenen Logik süffisant über das „Drama“ Orkan oder gar den „Todesorkan“. Die vielen verwackelten Videos windgebeugter Menschen, die über nasse Straßen schlittern, zeigen jedoch nicht das Wesentliche. Wer noch Energie hat, Videos haarsträubender Landungen von Verkehrsflugzeuges aufzunehmen, hat lediglich Randerscheinungen dokumentiert.
Theoretisch hätten wir vorbereitet sein müssen, hieß es. Aber auf was denn? Darauf, eine ungeplante Zwischenübernachtung irgendwo in Deutschland in Kauf zu nehmen? Darauf, dass ein angezeigter Zug nach dem anderen „verschwindet“, keine Ansage, keine Anzeige, das Bahnnetz als Bermudadreieck der technischen Zivilisation. Darauf, dass dann jedes Mal 2.000 Menschen von einem Bahnsteig zum nächsten hetzen und überforderte Servicemitarbeiter der Bahn mit Fragen belagern. Das allein war es nicht.
Meine Reise war zunächst in Bonn zu Ende. In Innenhöfen wirbelte Staub und Gras in der Form kleiner Windhosen auf, wie ich es in Deutschland noch nicht gesehen hatte. Ich spürte, dass etwas passieren wird, etwas, das größer und stärker sein würde, als alle Notfallpläne der Bahn. Es würde schwer sein, an diesem Tag überhaupt noch wegzukommen. Ich beschloss, mich den Tatsachen zu beugen. Meine Idee war, den Tag in der Universitätsbibliothek von Bonn zu verbringen und dann in einem Hotel zu übernachten. In Bonn hatte ich studiert, in der Bibliothek viele erfüllte Stunden verbracht. Warum also nicht.
Als die Dame am Info-Schalter meinen Rollkoffer sieht, sagt sie nur „Das geht nicht!“. Warum? „Wir dürfen das nicht“. Warum? „Wenn alle hier ihre Koffer abstellen wollen... wir sind doch keine Gepäckaufbewahrung“. Wie viele wollten denn heute den Tag hier verbringen, weil sie wegen des Orkans gestrandet sind. Wie viele hatten einen Koffer dabei? „Nur Sie“.
Ich kenne diese Situation. Etwas geht nicht, weil es verboten ist, weil ja sonst alle kommen könnten. Tatsächlich aber verstößt fast niemand gegen das Verbot. In anderen Worten: es ist einfach nur präventiv da. Falls jemand auf die Idee käme, dass.... In diesen Situationen gibt es zwei Optionen: Aufgeben oder Eskalieren. Ich entscheide mich für die zweite Variante und fragte nach Vorgesetzten. „Die wird ihnen das Gleiche erzählen. Da hinten, die Tür steht offen.“ So ist es dann auch: „Es geht nicht.“ Warum? „Weil es verboten ist. Weil das hier ja keine Gepäckaufbewahrung ist.“ Aber ich bleibe stur. Überschütte die Bibliotheksleiterin mit meiner Nostalgie. Blicke sie mit großen Augen an. Appelliere an ihre Hilfsbereitschaft, schließlich ist das heute ja ein Ausnahmezustand. Die Pointe ist – und deshalb erzähle ich überhaupt diese kleine Geschichte – dass wir in Deutschland nicht an Ausnahmezustände gewöhnt sind. Wir kennen das nur aus den Nachrichten (Flüchtlingslager, Kriegsberichte, Terror) oder aus Filmen. Das eine ist weit weg, das andere bloß Fiktion.
Ich lerne: Bei uns gibt es Verbote gegen Dinge, die so gut wie nie passieren. Würden jeden Tag hunderte von Menschen in die Bibliothek strömen und darum bitten, ihre Koffer aufbewahren zu dürfen – ich könnte das Verbot verstehen.
Es dauerte. Aber schließlich gelang es mir, die Frau umzustimmen. Ich musste eine halbe Stunde auf sie einreden, meinen gesamten Jahresvorrat an Pathos und Moralität einsetzen, nur um ihr die seltene Gelegenheit zu einer winzig kleinen menschlichen Geste zu ermöglichen, die eigentlich selbstverständlich sein sollte: Hilfsbereitschaft. „Also Sie könnten ja ihren Koffer hinter der Tür in meinem Büro abstellen. Aber nur zwei Stunden, dann bin ich weg. Wenn mein Zug fährt.“ Warum dauerte es so lange, bis diese Frau sich auf eine so schlichte zwischenmenschliche Ebene begeben konnte? Eine Bibliothek ist schließlich kein Hochsicherheitstrakt. Warum versteckte sie sich so penetrant hinter einer unsinnigen Regel, die eigentlich nur eine Ausnahme beschreibt? Ich dankte ihr, ging, weil ich plötzlich keine Lust mehr hatte und wünschte ihr im Umdrehen, dass wenigstens ihr Zug kommen möge.
Meinen Koffer schleppte ich wieder zum Bahnhof, auf dem es inzwischen zuging, wie auf einem Basar. Städtenamen wurden gerufen und es dauerte eine Weile, bis ich verstand, warum. Die Bahnmitarbeiter stellten Taxi-Gruppen zusammen, immer vier Personen verteilten sich auf Taxis nach Hannover, Berlin, Goslar, Euskirchen. Jemand rief „Frankfurt“ und ich schrie reflexhaft „Hier“. Frankfurt geht immer, dachte ich, mehr nicht. Mein Denken reduzierte sich holzschnittartig auf einen Wegkommenstrieb. Während der mehrstündigen Fahrt lernte ich nette Menschen kennen. Die Nettigkeit war jedoch vorbei, als ich in Frankfurt im Hauptbahnhof wartete. Es war nur unheimlich. Auf der Anzeigetafel die Aufforderung „Achten Sie auf die Durchsagen!“ Diese schallte auch alle paar Minuten durch die große Halle: „Wegen des Orkans Friederike fällt in ganz Deutschland der Fernverkehr aus.“ In ganz Deutschland? Wann haben wir überhaupt einmal registriert, dass die gesamte Struktur unseres Daseins vulnerabel ist? Wir leben auf dünnem Eis, denken aber, dass es eine Vollkaskoversicherung gegen alles gibt. Wir nutzen Strom, Internet und Verkehrswege so als wären dies natürliche Ressourcen. Unerschöpflich, immer da, immer gleich.
In der Wissenschaft spricht man von der ceteris-paribus-clausel. Sie wurde von John Stuart Mill auch als Methode des Unterschieds bezeichnet: Bei einem Experiment bleiben alle Variablen gleich, nur eine wird verändert. So sollen kausale Zusammenhänge erkannt werden. Der Orkan war ein ungeplantes kollektives Menschenexperiment. Im Ergebnis zeigte sich, wie schnell die meisten Menschen bereit sind, Menschlichkeit an den Nagel zu hängen, wenn ihnen das einen kleinen Vorteil bringt. In der Soziologie verstehen wir unter ceteris-paribus die Annahmen, dass alles immer genau so weitergeht, wie bisher. Hans-Peter Müller hat es einmal so ausgedrückt: „So unwahrscheinlich es sein mag, dass alles so bleibt wie es ist, so gleichermaßen wahrscheinlich ist, dass sich (...) nicht allzu viel ändert.“ Wir kennen es fast nur so. Die Sonne geht auch morgen wieder auf, das warme Wasser kommt aus der Leitung, die Regale im Supermarkt sind voll, der Parkplatz frei. Es gibt Menschen, die in Weltgegenden leben, in denen diese ceteris-paribus Bedingung jeden Tag aufs Neue infrage gestellt wird. Schärft das den Sinn für die Fragilität der Welt? Wissen diese Menschen vielleicht besser als Wohlstandsverwöhnte um die Brüchigkeit der kulturellen Matrix, die das Zusammenleben von Menschen regelt? Wer öfter - vielleicht täglich - erfährt, wie schnell das Fundament der Zivilisation Risse bekommen kann, ist vielleicht wachsamer, solidarischer? Sind Menschen, die wissen, dass sie ständig auf dünnem Eis stehen, vielleicht am Ende menschlicher? Ganz sicher ist das eine unzulässige Idealisierung. Was sich aber in den Tagen des Orkans zeigte, war Folgendes. Es gibt immer beide Reaktionsweisen: Menschen, die auf andere achten, Aufmerksamkeit, Brote und einen Sitzplatz teilen. Und solche, die rempeln, schreien, ausrasten, ihren Vorteil suchen und sichern. Solche, die noch im Chaos vor allem damit beschäftigt sind, ihre eigene Wichtigkeit ins Smartphone zu brüllen. Tausende von Menschen stranden irgendwo. Sie stehen auf Bahnhöfen, im Stau, suchen Hotelzimmer. Alle hängen sie am unsichtbaren Band der mobilen Kommunikation. Ich stelle mir vor, wie die Situation in einer Zeit vor dem Mobiltelefon ausgesehen hätte. Wie viele Telefonzellen gab es früher auf einem Bahnhof - zwei, drei, vier?
Die Kommunikation um mich herum reduzierte sich auf Echtzeit-Updates für Abwesende. Alles, was ich hören konnte war hypnotische Redundanz. Die Anwesenden wurden hingegen kaum beachtet, sie waren zwar da, aber höchstens als Gegner, als Konkurrenten um einen Taxifahrschein, ein Hotelzimmer oder anderes. Fast kein Gestrandeter kam mit anderen Gestrandeten ins Gespräch. Anwesende Abwesenheit war die Grundierung der vorherrschenden Beziehungslosigkeit. Je länger die Situation anhielt, je mehr ich die Verhaltensweisen beobachtete, desto mehr schauerte es mich. Was würde noch alles passieren, wenn es noch länger so weiterginge, einen Tag, zwei Tage, vielleicht länger? Wann würde das Band, dass alles zusammenhält endgültig reißen?
In überfüllten Zugabteilen schrien Menschen rücksichtslos gegen andere ihre ans Lächerliche grenzende Not über ein klein wenig Unbequemlichkeit in Mobiltelefone. Schaffner wollten tatsächlich noch Fahrkarten sehen. Und vor allem die Bahncard. „Das System will es so.“ Das System? Wieder fragte ich mich, warum es nicht möglich ist, Regeln, die im Normalfall sinnvoll sind, situativ außer Kraft treten zu lassen, wenn eben diese Normalität gerade nicht besteht. Es ist doch erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit auch außerhalb des Normalfall
auf Normalfallregeln beharrt wird. Diese Starrheit ist der erste Riss im Fundament.
Es geht auch anders. Klöster haben Regeln aber auch elastische Traditionen. Nur weil Klöster über viele Jahrhunderte hinweg fähig waren, ihre eigenen strengen Regeln (z.B. die Regel des Heiligen Benedikt) elastisch auszulegen, existieren sie heute immer noch. Der Riss im Fundament resultiert vor allem aus der mangelnden Elastizität hochtechnologisierter Gesellschaften, denen nicht mehr klar vor Augen steht, auf wie vielen Voraussetzungen die eigene Existenz basiert. Technologiefreie Technologien (smarte Benutzeroberflächen) und unsichtbare Technologien (Strom kommt aus der Steckdose) erzeugt eine neue Form doppelter Vulnerabilität: Wir leben auf dünnem Eis, weil wir uns in unserer Komfortzone auf scheinbar selbstverständliche Infrastrukturen verlassen, die aber im Kern jederzeit verletzbar und brüchig sind. Mit ceteris paribus kann es schnell vorbei sein. Und unsere ungeübten Reaktionen auf derartige Zustände machen uns zu vulnerablen Wesen, die zivilisatorische Standards schnell über Bord werfen. Oder die potenziell mögliche Geste der Hilfsbereitschaft gegen Abschottung tauschen. Mich jedenfalls hat die rasende Geschwindigkeit schockiert, mit der jegliche Contenance, jeglicher Humor, jede Form von zuvorkommenden Verhalten, Solidarität oder Hilfsbereitschaft widerstandslos und scheinbar ohne schlechtes Gewissen gegen das Erhaschen eines winzigen Vorteils eingetauscht wurde. Diese doppelte Brüchigkeit kann jederzeit zu einer echten sozialen Katastrophe führen, für die es dann keinen Notfallplan mehr gibt.
Immer noch steckt mir das Schauern in den Knochen. Wenn eine der Aufgaben der Soziologie in der Demaskierung von Selbstverständlichkeiten besteht, dann gibt es zunehmend Bedarf nach dieser Leistung. Wir sind weniger zivil, als wir es uns wünschen. Ein bewölkter Himmel klärt sich ohne Sturm nicht auf. Dieses Mal blieben durch den Orkan nicht nur äußere Verwüstungen zurück. Viel schlimmer sind die inneren Verwüstungen, die „Friederike“ bei uns angerichtet hat. Zumindest bei denen, die es sehen und spüren wollten. Die innere Verwüstung als Folge eines fundamentalen Vertrauensverlustes in die Menschlichkeit der anderen. Es wird erst wieder viele positive Erfahrungen brauchen, um mit dieser Klarheit umgehen zu können, die nach dem Sturm bleibt. Werden wir klug aus diesem Schaden?
3 notes
·
View notes
Text
Disput statt Debatte
Am 28.11. fand in Berlin eine äußerst spannende Veranstaltung statt, der Disput/Berlin! zum Thema “Künstliche Intelligenz”. Das Veranstaltungsformat folgt konsequent der britischen Streitkultur (z.B. Oxford-Debatte). Im Mittelpunkt steht eine bewusst provokante These, die Teilnehmendem müssen sich entweder für oder gegen die These aussprechen.

Foto: Disput/Berlin!
Wenn Wissenschaft immer auch “Differenzierung” bedeutet, dann ist klar, dass man sich im Kontext dieser Streitkultur als Öffentlicher Soziologie auf Glatteis begibt. Spaß macht es trotzdem. Im ersten Teil meines Blogbeitrages veröffentliche ich meinen Disputbeitrag, der vorab in der Tageszeitung “Tagesspiegel” auf der neuen Causa-Seite veröffentlicht wurde. Im zweiten Teil werde ich mich dann mit dem Format an sich beschäftigen. Hier nun aber meine Argumente zum Thema KI, die ich dann während der Veranstaltung - wenn auch in verkürzter Form - geäußert habe.
Stellen wir uns in einem Gedankenexperiment gesellschaftlichen Wandel als rein technische Aufgabe vor. Wo bliebe dabei der Mensch? Tatsächlich erleben wir gegenwärtig ein epochales Freilandexperiment. Die meisten Dinge werden „smart“. In den nächsten Jahren werden vom Toaster bis zum Tesla alle möglichen Dinge innerhalb eines „Internet of Everything“ vernetzt. Immer häufiger assistieren uns Computer in allen nur denkbaren Lebensphasen. Eltern überwachen die Vitaldaten ihrer Babys, unter Studieranfängern werden automatisiert die Leistungsträger aussortiert, Big Data ermöglicht Prognosen über Patienten, Arbeitnehmer und Versicherte. Demenzkranke, die weglaufen, senden mittels Sensoren in Socken ein rettendes Signal. Im Zeitalter von Big Data werden umfangreiche Datensammlungen von smarten Algorithmen nach verborgenen Zusammenhängen und Mustern durchsucht. Die in Daten verborgenen Geheimnisse sind viel wert. Aus „hochspannenden“ numerischen Werten ergibt sich durch immer neue Kombinationsmöglichkeiten nicht nur ein Erkenntnisgewinn, sondern auch ein ökonomischer Gewinn. Die nächste Steigerungsstufe dieser vielgepriesenen Datenveredelung ist Künstliche Intelligenz, die in „kognitive“ Computer verbaut wird, mit denen sich Menschen über natürliche Sprache austauschen können. Siri, die intelligente Assistentin im iphone und ähnliche Systeme sind nur der Anfang. IBM Watson, ein intelligenter Großrechner wird inzwischen zur automatisierten Krebsdiagnose in Krankenhäusern eingesetzt. Künstliche Intelligenz gilt vielen als die Schlüsseltechnologie schlechthin.
Künstliche Intelligenz gilt auf den ersten Blick als visionär oder gar utopisch. Erst auf den zweiten Blick kommt der zugrundeliegende Mythos zum Vorschein. Unter der modernen Oberfläche wirkt eine zeitgenössische Variante des alchimistischen Prinzips fort. Alchemie meinte einst die Verwandlung „unedler“ Stoffe in „edle“ Essenzen. Digitale Alchemie ist die technologische Antwort auf die Sehnsucht, „störanfällige“ Leute durch algorithmische Transformationen in „optimierte“ Konsumenten, Bürger oder Patienten zu veredeln. Wenn aber das Mängelwesen Mensch derart auf die Hilfe von Maschinen zurückgreift, sind damit Fragen von erheblicher gesellschaftlicher Relevanz verbunden. Das Grundgesetz unterstreicht die Vermächtniswerte Würde und Autonomie des Menschen. Computer als Entscheidungsmaschinen werfen aber nicht nur Fragen nach informationeller Selbstbestimmung oder dem Schutz der Privatsphäre auf. Vielmehr sind damit zahlreiche Entgrenzungen verbunden. Wo endet das Sicherheitsverlangen und wo beginnt Kontrolle? Wo endet Freiwilligkeit und und wo beginnt Zwang? Ist der Mensch noch der Autor seines eigenen Lebens?
Immerhin verspricht der Microsoft-Chef Satja Nadella, dass diese moderne Variante der Konversion „vom Menschen ausgehe“, dieser immer „im Mittelpunkt“ stünde und „am Ende“ entscheide. Eine suspekte Schutzbehauptung. Tatsächlich steht der Mensch nicht im Mittelpunkt, sondern im Weg. Und zwar deshalb, weil die Optimierung aller Lebensbereiche durch smarte Algorithmen inzwischen zum Selbstzweck avancierte. Allein die Vorstellung ständiger Optimierung ist wenig lebensdienlich. Künstliche Intelligenz verspricht detaillierte Neukonfigurationschancen für die eigene Lebensführung. Die Idee „starker“ Künstlicher Intelligenz ist sogar mit der Vorstellung eines kompletten „Reset“ verbunden: Menschliches Bewusstsein ginge dann auf einen Datenträger über. Das ist nichts anderes als eine technologische Vorstellung von Unsterblichkeit, die von prominenten Befürwortern Künstlicher Intelligenz vertreten wird.
Aber auch weit unterhalb dieser Vision tut es niemandem gut, dauerhaft den Zwangsvorstellungen eines übermäßig großen Selbstbildes zu folgen. Niemand möchte ständig als Lebendbewerbung innerhalb einer Perfektionskolonie unterwegs sein. Wer vergleicht, verliert. Selbstveredelung durch smarte Algorithmen entpuppt sich letztlich als die flexibelste Form von Ausbeutung im kognitiven Kapitalismus. Dahinter verbergen sich immer latente Leistungsideologien, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass allein dasjenige als nützlich anerkannt wird, das messbar, vergleichbar und damit steigerungsfähig ist. Fitnessarmbänder messen die Steigerung sportlicher Aktivitäten, Apps optimieren die Kalorienzufuhr, sogar Emotionen und Trauer können veredelt werden. Verbesserungsbedarf ist schlicht überall. Wir essen zu viel, bewegen uns zu wenig, tippen zu langsam. Es gibt bald keinen Bereich des Lebens, der Widerstand gegen diese rationale Buchhaltermentalität zulässt. Die Steigerungslogik des Kapitalismus wird über smarte Algorithmen zur nunmehr gänzlich unhinterfragten Grundierung unserer Lebenswelt.
Die unerschöpflichen Möglichkeiten der Selbstkontrolle verändern schleichend den Blick auf uns und andere. Der neue soziale Blick ist ein fehlersuchender Blick. Wo aber stetig Abweichungen von einem vermeintlichen Idealwert fokussiert werden, gerät das Verbindende zwischen Menschen rasch aus dem Blick. Dennoch sehnen sich die meisten Menschen nach einem zufriedenstellenden Leben, nicht nach einem perfekten Endzustand. Kalkulierbarkeit ist dabei kein Ersatz für Sinnstiftung und aus Optimierungskalkülen erwachsen längst keine neuen Utopien. Noch so viel Optimierung individuellen Verhaltens gleicht die weiterhin ausbleibende Reform gesellschaftlicher Verhältnisse nicht aus. Aber durch die Kontrollillusion sinkt der politische Widerstandsumfang der Gesellschaft drastisch ab.
Für ein zufriedenstellendes Leben braucht es lediglich eine „bescheidene“ Intelligenz, die die Unvollständigkeit des eigenen Wissens anerkennt. Computer aber zweifeln nie. Ihre „Intelligenz“ basiert ja auf der Metaphysik totaler Kalkulierbarkeit. Digitale Gurus versprechen uns zwar die „Demokratisierung“ von Intelligenz durch vernetzte Entscheidungsarchitekturen. Dabei soll der Mensch im „richtigen Moment“ den „richtigen Impuls“ erhalten. Diese Lenkung von Menschen („Nudging“) soll sich so anfühlen wie eine echte, eigene Entscheidung. Der „umsorgende Staat“ sammelt Daten und möchte sicherstellen, dass die BürgerInnen das Richtige tun. Wer aber politisches Verhalten berechenbar macht, sorgt auch dafür, dass immer weniger sich aktiv politisch engagieren. „Umsorgende“ Versicherungen lenken ihre Klienten mit Boni in Richtung vernünftiger Lebensstile – und ruinieren nebenbei die Akzeptanz für Solidarität. Das „umsorgende“ Unternehmen denkt nur an das Wohl der Mitarbeiter und lenkt mittels intelligenter Verteilung der Arbeit über Algorithmen, die Schichten berechnen. Ganz nebenbei wird dabei die Fähigkeit zur Selbstorganisation verlernt, Kollegialität ganz neu bestimmt.
Die lenkenden Algorithmen beeinflussen unser Denken, Handeln und Fühlen. Sie lenken Aufmerksamkeit, Informationsaufnahme, Arbeit, Konsum, politische Einstellung und letztlich auch unser Demokratieverständnis. Lenkende Algorithmen sind aber auch ein deutliches Misstrauensvotum gegen das Menschliche an sich. Wenn in Zukunft Künstliche Intelligenz in der Form „kognitive“ Computer vermehrt zu unseren Sozialpartnern zählen, ändert dieses softwarebasierte Misstrauensvotum auch die Vertrauensbasis unserer Welt. Jeder Blindenhund ist in dieser Hinsicht KI überlegen. Ein Blindenhund besitzt eine eigene kognitive Welt und stellt sie dem blinden Menschen zur Verfügung. Dieser wiederum vertraut seinem Helfer. Obwohl die kognitive Welt des Blindenhundes genauso verborgen bleibt, wie die Welt der Algorithmen, ist sie prinzipiell vertrauenswürdig. Im Kontrast dazu erscheint KI lediglich als intransparente Rechenleistung. Erstaunlicherweise sind Menschen dennoch bereit, für ein klein wenig Komplexitätsreduktion die eigene Entscheidungsautonomie an eine Black-Box zu delegieren. Entscheidungen sind letztlich immer das Produkt von Zwecksetzungskompetenz (know why), Mittelwahlrationalität (know how) und Folgeverantwortlichkeit. Entscheidungsmaschinen setzen dabei immer häufiger stellvertretend Zwecke und wählen geeignete Mittel für uns. Nur eines werden sie uns niemals abnehmen: Verantwortung für die Folgen. Intelligenz mag sich „verteilen“ lassen. Aber verteilte Verantwortung ist bloß ein anderer Begriff für Anomie.
Wenn dann die Algorithmen noch das letzte Wort haben, stellt sich die Frage, wie sich „oben“ und „unten“ in der Gesellschaft neu sortieren. Bereits jetzt existieren Unternehmen, die Künstliche Intelligenz über den Menschen stellen. Eine Investmentfirma aus Hong Kong gesteht ihrer Finanzsoftware den Rang eines Vorstandsmitglieds mit Veto-Recht zu. Wer aber Künstliche Intelligenz derart privilegiert, sollte sich einmal mit den zu erwartenden Verschiebungen in unserer Sozialstruktur beschäftigen. Oben werden die Entscheidungsmaschinen stehen, die dazu beitragen, optimale Entscheidungen zu treffen. Am unteren Ende der Skala finden sich dann aber globale Microworker. Sie übernehmen einfache Aufgaben, für deren Einsatz Computer ungeeignet oder zu schaden sind, z.B. für den Dienst Amazon Mechanical Turk. Diese Crowdworker sind Menschen, die noch billiger als Computer arbeiten, die neuen „digitale Sklaven“ ohne jegliche soziale Absicherung. Bewertungssysteme werden sich radikal ändern. Es wird immer schwieriger werden, zu entscheiden, was eigentlich noch typisch menschlich ist. Die Standardantwort darauf lautet meist: Empathie. Wenn aber Empathie das letzte Kriterium menschlicher Restüberlegenheit darstellt, stellt sich die Frage, warum Krankenschwestern und Pflegekräfte immer noch so viel weniger verdienen, als Programmierer.
Eigentlich sollten wir aus der Geschichte gelernt haben, dass gesellschaftlicher Wandel mehr ist als Social Engineering. Bislang sind alle großen technokratischen Planungsutopien grandios gescheitert. Schulen, Unternehmen, Städte und Gesellschaften sind viel mehr als die Summe ihrer Einzelelemente. Zum Glück spüren wir immer wieder die Widerspenstigkeit der empirischen Welt. Je komplexer das Geschehen ist, desto weniger funktioniert die neue Metaphysik. Historische Ereignisse wie der Mauerfall oder die Finanzkrise konnten von keiner Künstlicher Intelligenz vorausgesagt werden. Daten, die die Voraussetzung für derart komplexe Prognosen wären, liegen niemals vollständig vor. Zivilisation wird nicht aus smarten Toastern, Teslas und Terrabytes gebildet. Der Umgang mit umfangreichen Datensammlungen, großer Rechenleitung und Künstlicher Intelligenz suggeriert, dass damit die Lösung aller nur denkbaren Probleme verbunden wäre. Schnell wird dabei jedoch die Frage vergessen, ob das Mögliche auch das Sinnvolle ist. Auch wenn immer mehr Daten erzeugt werden, führt dies nicht automatisch zu besseren und bewussteren Entscheidungen und auch Innovation lässt sich nicht programmieren. Um aber das Verwirrungspotenzial nicht noch weiter zu steigern, sollten Technologieunternehmen in eine ernsthafte Debatte darüber eintreten, wie die Gestaltung von KI im Einklang mit Grundwerten und nicht innerhalb ethischer Freihandelszonen vonstattengehen kann.
So oder so, mittels KI wechselt die Erkenntnismelodie unseres Lebens ganz erheblich. Dabei geht jedoch der Blick für das Ganze verloren, wenn Erkenntnis als Quantifizierbarkeit aufgefasst wird und Leben sich im Korridor mathematischer Berechenbarkeit abspielt. Zweifelnde Menschen werden weiterhin mehr für die Zukunft der Gesellschaft leisten, als leistungsfähige Rechner. Nicht Rechenleistung ist die Mangelware des 21. Jahrhunderts, sondern Sinn.
0 notes
Text
Öffentliche Buße
Wer Öffentliche Soziologie betreibt, sollte auch bereit sein, öffentlich Buße zu tun, wenn dazu die Notwendigkeit besteht. Dieser Blogpost ist (m)eine Form öffentlicher Buße. Notwendig ist sie, weil mir ein Fehler unterlaufen ist.

Wichtig aber ist sie, weil ich damit Verbesserungsvorschläge für kommende Debatten verbinden kann. Ich entschuldige mich beim Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Telekom AG, Timotheus Höttges, weil ich ihn falsch zitiert habe.
Anlass war die Rede, die Höttges auf der Tagung „Digitale Transformation. Zur Zukunft der Gesellschaft“ am 19. Februar in Köln hielt. In dieser Rede (die sich in „Medienkorrespondenz“ Nr. 9 vom 29. April abgedruckt findet) stellt sich Höttges der Frage nach „Digitaler Verantwortung“. Und er äußert sich zum aktuellen Debattenklima. Was ich in seiner Rede gehört habe, war Kritik an „kulturpessimistischen Fundamentalisten“. Aber: Ich habe es falsch gehört, falsch mitgeschrieben und falsch in meinem Blogpost zitiert. Auf der Basis einer sehr destruktiven Konnotation des Begriffs „Fundamentalismus“ leitete ich eine kollektive Beleidigung gegen alle jene ab, die sich kritisch-analytisch mit Digitalisierung beschäftigen. Ich rückte dann die energischen Befürworter der Digitalisierung selbst in die Nähe von Fundamentalisten, also Personen, die mit „intoleranten Mitteln“ versuchen, ihre eigenen Ziele zu erreichen.
Allerdings bricht die Argumentation (zumindest teilweise) in sich zusammen, weil sie auf einem falschen Zitat beruht. Wörtlich warnte Höttges vor einem „intellektuellen und kulturellen Fundamentalpessimismus“. Beide Aussagen unterscheiden sich zwar nicht im Trend, aber doch in der Tiefendimension. „Fundamentalpessimismus“ ist nicht gerade nett ernstzunehmenden Kritikern gegenüber, dennoch aber nicht zu vergleichen mit „kulturpessimistischem Fundamentalismus“.
Die wirklich spannende Frage aber ist diese: Wie kann es sein, dass ich als anwesender Teilnehmer der Veranstaltung eine Aussage in dieser Weise verzerrt höre? Gibt es dafür Erklärungen jenseits des Rates, mir ein Hörgerät zuzulegen? Aus den Antworten auf diese Frage lassen sich möglicherweise Hinweise auf die produktive Gestaltung kommender Debatten ableiten.
Öffentliche Soziologie
In einem Beitrag für die „Zeitschrift für Theoretische Soziologie“ (2015, Heft 4, S. 179-207) beschreibe ich meine Haltung als Öffentlicher Soziologe. Öffentliche Soziologie bedeutet, den disziplinären Bunker zu verlassen und in Lehre, Forschung und zivilgesellschaftlichem Engagement neue Dialoge zu (ver)suchen sowie neues Wissen kollaborativ mit außerwissenschaftlichen Akteuren zu produzieren. Wenn die Gesellschaft das Labor ist, dann muss eine als Komplizenschaft verstandene Öffentliche Soziologie die Probleme der Welt zusammen mit außerwissenschaftlichen Akteuren anpacken und lösen. Öffentliche Soziologie muss dabei vielfältige Herausforderungen meistern. Es beginnt damit, dass man lernen muss, auch mit denen zu reden, die man nicht mag. Die Probleme der Welt machen weder vor Disziplin-, noch vor Sympathiegrenzen Halt.
In den letzten Jahren habe ich in unterschiedlichen Forschungsfeldern als Gesellschaftskritiker die Erfahrung gemacht, dass wir kein Wissens-, sondern eher ein Handlungsdefizit haben. Die Argumente liegen meist offen da, aber sie werden nicht ausgetauscht. Die Kritisierten immunisieren sich gegen Kritik, schlimmer noch: Sie bauen die Kritik in ihr eigenes Denksystem ein. Die Erfahrung dieses „umarmten Protests“ prägte mich und machte mich möglicherweise gefügig für Fehlwahrnehmungen.
Nun stellt sich die Frage, ob die Telekom, als „bekennender Treiber“ der Digitalisierung ebenfalls diesem Muster folgt. Einem Vorstandsvorsitzender der Telekom wird eine herausgehobene Sprecherposition eingeräumt, die es nicht nötig hat, auf (soziologische) Kritik einzugehen. Stattdessen wird es möglich, sich in homöopathischer Dosis selbstkritisch zu präsentieren. Timotheus Höttges signalisierte ja bereits mit seinem Vortragstitel, dass es ihm um „Verantwortung“ geht. Zu diesem Thema richtet die Telekom sogar eine zeitgemäße Diskursarena ein, in der auch Kritiker zu Wort kommen. Der Telekom ist also keinesfalls der Vorwurf zu machen, sich gegen Kritik zu immunisieren. Auch nach „umarmten Protest“ sieht das (zumindest auf den ersten Blick) nicht aus.
Performativer Selbstwiderspruch oder: Der unsichtbare Gorilla
Mein eigener performativer Selbstwiderspruch bestand darin, das vermeintlich Gesagte reflexhaft zu einer möglichen Kritik an der Sprecherposition umgebaut zu haben und die dabei entstandene Verzerrung noch nicht einmal bemerkt zu haben. Kritik als Analyse von Sprech-, Wissens- und Denkformen ist nach wie vor ein lohnenswertes Ziel. Falsche Zitate sind jedoch immer nur schlechtes Handwerk. Vor diesem Hintergrund diente meine Argumentation nicht dazu, konstruktive Dialoge zu fördern. Und das, obwohl ich als Öffentlicher Soziologie gerade diese Dialoge suche.
Die damit verbundene Paradoxie erinnert an das berühmte Experiment zu „Inattentional Blindness“, besser bekannt als „The invisible gorilla“. In diesem Experiment übersehen Probanden einen riesigen Gorilla, der durch eine Szene läuft, weil sie sich auf etwas Anderes konzentrieren. Vor lauter Konzentration darauf, eine kritisierbare Bemerkung zu erfassen, fiel mir etwas Zentrales nicht auf, die Tatsache, dass Timotheus Höttges eigentlich nicht von „kulturpessimistischen Fundamentalisten“, sondern vielmehr wörtlich von „intellektuellem und kulturellem Fundamentalpessismismus“ sprach. Sich allein mit dem Verweis auf semantische Promiskuität herauszureden, reicht hier nicht aus. Die Aussagen sind ähnlich, mehr aber nicht. Meine Pflicht als Wissenschaftler ist es nicht, eine ungefähre Äußerung zu überliefern, sondern ein richtiges Zitat. Mein performativer Selbstwiderspruch ist also zunächst nicht aufzulösen.
Subtexte
Beim Gorilla-Experiment muss jedoch noch eine weitere Variable beachtet werden. Es kommt sehr darauf an, auf was die Probanden beim Experiment achten (im Originalexperiment müssen sie Ballkontakte von Baseballspielern zählen). Und daher muss ich doch noch auf einen zweiten performativen Selbstwiderspruch zu sprechen kommen, jenen von Timotheus Höttges. Seine Rede hat spürbar zwei Ebenen. Auf der sachlichen Ebene dreht sich alles um Digitale Verantwortung. Dafür werden viele Bereiche angesprochen und Beispiele genannt. Die Rede hatte aber noch einen (visuellen) Subtext. Während der Rede wurden drei Bilder gezeigt (sie sind ebenfalls in „Medienkorrespondenz“ Nr. 9 vom 29. April abgebildet). Die Bilder sollen verdeutlichen, dass zentrale Argumente der Medienkritik im Rückblick und Vergleich mit vorgängigen Medienbrüchen zwangsläufig immer überzogen wirken. Einerseits ein nettes rhetorisches Stilmittel, andererseits werden damit zeitgenössische Medienkritiker quasi per Knopfdruck der Lächerlichkeit preisgegeben. Mit diesen visuellen Seitenhieben gerät der Sprecher – der ja eigentlich über Verantwortung sprechen will – in einen Selbstwiderspruch. Ich will nur auf eines der Bilder näher eingehen: Dort, wo es um das Problem der ständigen Erreichbarkeit in einer „Always-on-Gesellschaft“ geht, wird betont: „Wir bei der Telekom nehmen die Problemlage ständiger Erreichbarkeit durchaus ernst“. Zugleich wird aber das Bild eines Texts präsentiert, das folgenden Dialog (ein Interview mit dem Psychiater Manfred Lütz) visualisiert:
Frage: Aber ist die Arbeitswelt nicht tatsächlich belastender geworden. E-Mails, Smartphones, Erreichbarkeit rund um die Uhr?
Antwort: Im Dreißigjährigen Krieg waren die Leute rund um die Uhr für die Schweden erreichbar. Das war viel unangenehmer.
In diesem Umfeld taucht nun die von mir falsch zitierte Stelle auf. Höttges fährt (mit einer doppelten Verneinung) fort: „Ich behaupte also nicht, das wir nicht über die gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung reden müssten. Ich warne aber vor einem intellektuellen und kulturellen Fundamentalpessimismus“. Der zweite performative Selbstwiderspruch besteht also darin, dass die Aussage, die Telekom würde das Problem „ernst“ nehmen, gerade deshalb nicht ernst genommen werden kann, weil diese Aussage gleichzeitig mit einem Zitat visualisiert wird, dass ständige Erreichbarkeit in Kriegszeiten unter der Prämisse von Herrschaftsverhältnissen und Ausnahmezuständen als Analogie zur Erreichbarkeit durch digitale Medien in der Alltagswelt nutzt. Ich will das nicht weiter strapazieren, sondern nur darauf hinweisen, dass in einer derartigen Situation mein performativer Selbstwiderspruch entstand.
Voraussetzungen für zukünftige Dialoge
Was lässt sich nun daraus lernen? Für mich persönlich lässt sich daraus lernen, dass ich nur das lehren kann, was ich selbst lebe. Und da ich meine Studierenden zu Öffentlicher Soziologie motivieren möchte, ist es für mich selbstverständlich, mich für meine falsche Unterstellung bei Timotheus Höttges zu entschuldigen. Gleichzeitig wünsche ich mir für die Zukunft bessere Voraussetzungen für Dialoge zwischen Wissenschaft und Praxis. Vielleicht lohnt es sich, mehr darüber nachzudenken, welche Inhalte aus einer bestimmten Sprecherposition heraus gerade nicht glaubwürdig zu kommunizieren sind. Vielleicht lohnt es sich, über „Dritte Orte“ und „geschützte Räume“ (weder Orte der Wissenschaft noch Arenen der Unternehmen) nachzudenken, in denen Begegnungen möglich sind, die Sprechakte ohne Selbstwidersprüche ermöglichen.
In meinem letzten Blogpost wies ich auf die drei Regeln des guten Dialogs nach Richard Sennett hin: Informalität, Offenheit und Kooperation. Informalität bedeutet, dass die Regeln des Dialogs nicht vorkonzipiert sein sollten. Keynotes, Podiumsdiskussionen und ähnliche Formate entsprechen dieser Forderung (anders als BarCamps, Workshops oder Living Labs etc.) immer seltener. Es sind vielmehr Bühnen, auf denen (mehr oder weniger) erwartbare Positionen oftmals in hypnotischer Redundanz zelebriert werden. Offenheit bedeutet, zu signalisieren, dass man selbst nicht über die ultimative Wahrheit verfügt. Witzige Bilder mögen der Unterhaltung des Publikums dienen, aber sie wirken auch als Signal der Selbstüberhöhung und Abwertung – je nach Perspektive. Und Kooperation würde bedeuten, simultan Lernender und Lehrender zu sein. Ich habe meine Rolle als Lernender nunmehr ernst genommen und kann Selbstkritik von Herzen zur Nachahmung empfehlen.
0 notes
Text
Empörungskapital
Die Reaktionen auf die aktuelle Oxfam-Studie An Economy for the 1% sind genau das, was ich als hypnotische Redundanz bezeichne: In einem sich ewig wiederholenden Ritual werden die ewig gleichen Empörungsvokabeln verteilt, ohne das damit eine Chance auf konkrete Veränderungen verbunden wären.

Sinn ist die Mangelware des 21. Jahrhunderts und Empörung inzwischen eine neue Kapitalsorte. In einer Gesellschaft, die ständig nach der „Großen Transformation“ sowie einem neuen Gesellschaftsvertrag ruft, ist das ein irritierender Widerspruch. Es gibt kaum noch Wissensdefizite. Vielmehr ist die Zeit reif, vom Wissen zum Handeln zu gelangen - wir benötigen weniger Skandalisierungswissen, dafür mehr Transformationswissen.
Skandalisierung ist lediglich ein notwendiger aber noch kein hinreichender Schritt. Die Oxfam-Studie listet akribisch Gründe für die globale Ungleichverteilung von Vermögen auf. Auch im nationalen Maßstab kann Vermögensungleichheit empören. Deutschland ist ein Schlusslicht im OECD-Vergleich. Die Gründe benennt die Studie präzise: Zunahme der Lohnspreizung, hohe Renditen bei Kapitalanlagen, Diskrepanz im Verdienst von Arbeitern und Managern und nicht zuletzt Steuerschlupflöcher und -oasen. Hieraus folgt reflexhafte Empörung in der Presse sowie der appellative Charakter der Studie.
Grundsätzlich ist es richtig und wichtig, auf Ungleichheiten hinzuweisen. Darauf, dass die globale Verteilung von Vermögen eine ganz eigene Form der Obszönität darstellt. Wenn 62 Personen soviel besitzen (1,76 Billionen Dollar) wie die ärmere Hälfte der Menschheit (rund 3,5 Milliarden Menschen), dann ist das ein Skandal. Noch obszöner erscheint diese Vermögenskonzentration, wenn man realisiert, dass in diesem „Wirtschaftssystem für die Superreichen“ 2010 noch 388 Reiche das Gegengewicht zum globalen Armutsmedian darstellten. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die zur Skandalisierung genutzte Personalisierung sich überhaupt eignet, um den Sachverhalt darzustellen. Ist die globale Vermögensverteilung nun 6,25mal „konzentrierter“? Genau das wird von der Studie suggeriert, hierauf beruht ihr Empörungskapital.
Letztlich entkoppeln aber gerade solche Zahlenspiele die Ergebnisse von lebensweltlicher Erfahrbarkeit von Ungleichheit. Mehr noch. Sie entkoppeln auch die Sphäre der Empörung von der Sphäre des Handelns. Denn die vielen in der Oxfam-Studie veröffentlichten Kennzahlen wirken letztlich ähnlich wie Armuts- und Reichtumsberichte. Sie erzeugen erwartbare Reaktionen auf das Skandalöse. Und dabei ist es einerlei, ob es sich um offizielle Armutsberichte nationaler Regierungen oder Schattenberichte von NGOs handelt. Am ende wird Wissen zwischen zwei Paradoxien im Nicht-Handeln erstickt.
Denn erstens konzentrieren sich Armutsberichte fast zwangsläufig nur auf messbare Dimensionen von Armut. Der Fokus auf die Vermögensverteilung in der Oxfam-Studie ist ein Beispiel. Die „datenorientierte Analyse der Einkommens- und Lebenslagen“ im Fall des 1. Armuts- und Reichtumsberichts Baden-Württembergs ein weiteres. Die nicht-messbaren Aspekte von Armut bleiben seltsam unsichtbar. Kennzahlen und Konzentrationsmetaphern sind dafür kein geeignetes Medium.
Und zweitens kann die Berichterstattung schnell zum Handlungsersatz mutieren. Offizielle Armutsberichte gleichen einer Pflichtübung, die politisches Handeln eher verhindert als befördert. Sie sind ein Verschiebebahnhof für ein Problem, dass als zu komplex gilt, um es nachhaltig zu lösen. Schattenberichte lösen hypnotisch redundante Sozialkritik aus, die schnell die bekannten Schubladen (Banker, Banken, Betroffenenheit) öffnet und die Empörung darin versenkt. Immer darauf bedacht, dies nicht nach Sozialneid aussehen zu lassen, um den eigenen Standpunkt für die Geste moralischer Orthopädie nicht vorsätzlich zu diskreditieren.
Irgendwie ist das inzwischen alles unbefriedigend. Die empörte Sozialkritik avancierte zu einem positiven Tabu. Wer angesichts solcher Zahlen nicht demonstrativ empört tut, muss sich ein kaltes Herz nachsagen lassen. Mit jeder Aktualisierung wird aber die simulierte Empörung inflationärer und damit weniger wirkungsvoll. Sie wirkt dann wie eine Beruhigungsvokabel, weil die vermeintlich Schuldigen bereits ausgemacht sind.
Aber sind sie das? Zu unserer eigenen Rolle in diesem Spiel fällt kein einziges Wort. Gerade wir Konsumenten haben aber großen Anteil an der ungleichheitsproduzierenden Wirkung des globalen Armutshandels. Wir werfen Spekulanten Gier vor und ekeln uns noch nicht einmal vor dem eigenen Geiz. Aber genau der macht die globale Ausbeutung innerhalb etablierter Wirtschaftskreisläufe erst möglich. Der Vorschlag von Oxfam, das Steuersystem zu reformieren ist lobenswert, wenn auch nicht gerade überraschend. Trotzdem zeigt sich auch an diesem Vorschlag, wie schnell die Logik der dynamischen Stabilisierung durch Wachstum unhinterfragt reproduziert wird. „Soziale Ungleichzeit bremst das Wirtschaftswachstum“, schreibt Oxfam. Und das, obwohl inzwischen bekannt ist, dass wir längst an den Grenzen des Wachstums angelangt sind. In einer Post-Ökonomie, die nicht allein wachstumsgetrieben ist, werden von uns allen neue Lebensstil- und Konsummuster abverlangt. Wir sind Teil des Spiels, nicht bloß dessen Beobachter. Sozialkritik müsste also vielmehr mit Konsumkritik gekoppelt werden. Es ist richtig, dass Unternehmen, die im Inland keine Steuern zahlen, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht werden. Aber diese Argumentation ist zu holzschnittartig. Auch wir haben große Schwierigkeiten damit, unserer individuellen gesellschaftlichen Verantwortung nachzukommen. Nichts ist mir lieber als Systemkritik, Kritik an den Verhältnissen. Aber ohne Verhaltenskritik bleibt diese einseitig. Letztlich wird immer wieder die entlastende Suggestion reproduziert, Gesellschaft würde sich durch ritualisierte Empörung und hypnotisch redundante Sozialkritik von alleine wandeln. Der eigene Anteil an dieser Transformation wird dabei unter den Teppich gekehrt. Auch nur daran zu denken strengt an. Trotz Aufklärung wird damit Vertuschung betrieben. So ändert sich nie etwas.
Erkennbar ist diese Haltung an zynischen Angeboten, die sich als Sensibilisierungsmaßnahme tarnen. Innerhalb der sich ausweitenden Armutsökonomie wird mit dem Elend der anderen erfolgreich Profit gemacht. Ein aktuelles Beispiel ist das „innovative“ Wiener Start-up-Unternehmen Shades Tours Vienna, das „deutschsprachige Gruppentouren mit Bildungscharakter“ durch die Welt der Armut und Obdachlosigkeit organisiert. Die TeilnehmerInnen der Touren werden zu den Notschlafstellen „Gruft“ und „VinziPort“ geführt. Und natürlich darf die „Wiener Tafel“ nicht fehlen, denn dort beherrscht man das Aufpolieren des eigenen Images meisterhaft. Ziel dieser Touren ist es, Stigmen und Vorurteile abzubauen. Armutstourismus gilt den Veranstaltern als „Beschäftigungsinstrument für betroffene Personen“ sowie als „innovative Methode“ zur Eindämmung von Armut. Aus der Aufklärung soll über die Selbstreflektion und Solidarität eine Re-Integration erwachsen.
Aufklärung ist gut. Aber auch diese Form der Aufklärung ist letztlich Vertuschung, weil der eigene Anteil an der Existenz von Armut mitten unter uns einfach wegthematisiert wird. Eine simulierte Kontingenzerfahrung mag mit ein wenig Nervenkitzel und kalkuliertem Ekel verbunden sein. Aber Erleben und Erfahren von Armut driften auseinander. Die Orte, an denen Arme leben und Almosen erhalten, können vielleicht erfahren werden. Beobachtungen an diesen Orten sind teilbar. Aber Armut zu erleben – die subjektive Bewältigung eines Lebens am gesellschaftlichen Rand ohne Exit-Garantie – ist etwas grundlegend Anderes.
Mich würde es nicht wundern, wenn die Idee des Armutstourismus’ bald auch im globalen Maßstab erprobt würde. Bislang gibt es wenig Beispiele für nachhaltige Armutsbekämpfung, was auch dazu führt, dass die Akzeptanz für weichgespülte Lösungen wächst und wächst. Jedenfalls gibt es noch viel Platz für „soziale“ Unternehmen, die vorgaukeln, die Welt würde allein dadurch besser werden, wenn wir nur „sensibler“ auf Probleme reagierten. Anstatt zu realisieren, dass wir alle in den globalen Armutshandel verstrickt sind, lassen wir uns mit sanftem und pädagogisch wertvollem Armutstourismus trösten.
Die Gemeinsamkeit, die offizielle Armutsberichte, skandalisierende Schattenberichte (wie die Oxfam-Studie) und die Idee des Armutstourismus’ verbindet, ist die Empörungssimulation ohne Chance auf echte Verhaltensänderung. Hypnotisch redundante Sozialkritik und ritualisierte Feindbilder verhindern, darüber nachzudenken, was wir selbst tun können. Dorothee Sölle, die große Mystikerin und Theologin unterscheidet in ihrem Hauptwerk Mystik und Widerstand zwei Formen der Weltauslegung. Die „Hermeneutik des Verdachts“ und die „Hermeneutik des Hungers“. Erstere versucht in einer eingespielten Form, Ideologien und Herrschaftsverhältnisse zu demaskieren. Letztere zielt auf weltverändere Tätigkeiten ab, an der alle – nicht bloß die angeklagten Herrschenden – Anteil haben. Eine „Hermeneutik des Hungers“ ist eingreifend und nicht bloß anklagend.
Der Bericht von Oxfam ist wichtig, weil es in dieser Welt immer wieder detaillierte Wirklichkeitsbeschreibungen als Anklage geben muss. Aber Anklage allein ist nicht genug. Wir brauchen eine eingreifende und weltverändernde „Hermeneutik des Hungers“ statt einer bloß anklagenden „Hermeneutik des Verdachts“. Mich erinnert die Flut an Studien, Berichten und Kennzahlen an einen Ausspruch von Elias Canetti aus dem Buch Die Blendung: „Man nimmt ein Wort her, koppelt es an ein Rätsel, und das Rätsel ist gelöst.“ So leicht, sollten wir uns nicht vorgaukeln lassen, dass wir keine eigene Verantwortung haben.
0 notes
Text
Datenschutz, made by A. Merkel
Wer sich (wie ich gelegentlich) mit schleichendem Wandel beschäftigt, findet selten verlässliche „Daten“ für seine Thesen. Unsere kulturelleren Orientierungsrahmen (die sog. „shifting baselines“) ändern sich üblicherweise still und langsam, meist unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Daher betrachtete ich es als einen großen Glückfall, dass ausgerechnet Angela Merkel als Kronzeugin zitierfähig wurde.

Auf einer Autofahrt von Stuttgart in den Schwarzwald hörte ich im Radio einen Auszug aus ihrer Rede anlässlich der Eröffnung des „Zentrums für Forschung und Vorausentwicklung der Robert Bosch GmbH“ („Bosch-Campus“). Vielleicht war dies einer der Fälle, in denen ein sich selbst steuerndes Auto ein echter Sicherheitszugewinn gewesen wäre. Denn ein Satz dieser Rede irritierte mich massiv. Ich dachte nur: Was passiert hier gerade vor unser aller Augen? Endlich einmal wurde schleichender Wandel sichtbar.
Der neue Forschungscampus des Traditionsunternehmens Bosch soll nach Aussage von Angela Merkel „neue Maßstäbe“ setzen (alle folgenden Zitate stammen aus der Rede von Frau Dr. Merkel). Er wurde am 14. Oktober 2015 in Renningen bei Stuttgart eingeweiht. Das ist wichtig für unser Land, denn Forschung ist schließlich der „Schlüssel zum anschließenden wirtschaftlichen Erfolg“. Soweit die Festrede, eine von vielen, alles erwartbar, wie immer.
Nun geht es am Bosch-Campus aber auch „darum, dass mithilfe vieler Daten neue Produkte entstehen können“. Wir befinden uns in der schönen neuen Welt von ‚Big Data’. War das nicht auch die Welt, in der Werkzeuge entstanden, mit deren Hilfe, das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin abgehört wurde? Nun aber singt eben diese Kanzlerin das Hohelied des entfesselten Datenflusses. Ihre Vorstellung von der Ökonomisierung digitaler Daten – „Datenschutz, made by A. Merkel“ – hörte sich dann so an, ich zitiere:
„Unser Verhältnis zu Daten ist in vielen Fällen zu stark vom Schutzgedanken geprägt (...) und vielleicht noch nicht ausreichend von dem Gedanken, dass man mithilfe von Daten interessante Produkte entwickeln kann. Mit einer falschen Gewichtung entsteht aber auch die Sorge, dass durch Digitalisierung einerseits Arbeitsplätze wegfallen und auf der anderen Seite nicht genügend neue Arbeitsplätze entstehen. Deshalb muss das ‚Data Mining’ (...) die Erhebung und der Umgang mit großen Datenmengen, etwas werden, das sozusagen ein Hoffnungssignal sendet.“
Dieses Hoffnungssignal soll dafür sorgen, dass Deutschland bei „Rückständen, die wir im IT-Bereich an einigen Stellen durchaus haben“ wieder aufholt. Denn, wie die Kanzlerin fasst schon süffisant bemerkt, „die in Indien schlafen auch nicht“.
Können Unternehmen wie Bosch nun auf eine Lockerung des Datenschutzes im Sinnes eines volkswirtschaftlichen Standortvorteils rechnen? Fast hört es sich so an. „Wir werden versuchen, durch unsere politische Arbeit Ihre noch erfolgreicher zu machen“ verspricht die Bundeskanzlerin (Politik) den anwesenden Bosch-Vetretern (Wirtschaft). Warum klingt das alles so beunruhigend? Dafür gibt es drei Gründe:
Erstens wissen wir längst, dass sog. Nebenfolgengesellschaften immer stärker von den ökologischen, ökonomischen und sozialen Nebenfolgen ihrer bisherigen wissenschafts- und technikgetriebenen Erfolge beeinflusst werden. Diese Folgen können nicht mehr allein mit dem bisherigen Modell von Immer-mehr-Wissenschaft und Immer-mehr-Technologie behandelt werden. Daten hin oder her. Hinter diese Grunderkenntnis der „reflexiven Moderne“ (Ulrich Beck) kann man eigentlich nicht mehr zurücktreten. Deswegen sind immer neue „High-Tech-Strategien“ der Bundesregierung eher Ausdruck stabiler Realitätsverweigerung. Das bisherige Modell von Wissenschaft und Technik stößt zunehmend an seine Grenzen. Ein überholtes Wissenschaftssystem braucht neue Leitbilder, um seinen gesellschaftlichen Aufgaben in Zukunft gerecht zu werden. Die Dominanz einer unmittelbaren wirtschaftlich-technologischen Verwertungsorientierung („zum anschließenden wirtschaftlichen Erfolg“) missachtet die Tatsache, dass die Herausforderungen der Zukunft vor allem soziale und kulturelle sind. Dies setzt ein revidiertes Innovationsverständnis voraus und damit das Zusammenspiel technologischer und sozialer Innovationen bzw. die sehr viel intensivere Einbettung technologischer Entwicklungen in sozio-kulturelle Kontexte. Davon aber ist am neuen Bosch-Campus nichts zu bemerken. Mit einem Wissenschaftsleitbild, das noch aus den 1970er Jahren stammt, lassen sich aber die gesellschaftlichen Probleme der Zukunft noch nicht einmal angemessen erfassen, geschweige denn lösen.
Zweitens bedeutet die Dynamisierung der globalen Wirtschaft und der damit zusammenhängenden Wertschöpfungsketten nicht automatisch, dass es keine Alternative zu einem industriezentrierten Leitbild innerhalb der Forschungspolitik gäbe. Unternehmen profitieren in großem Umfang von Fördergeldern – Geldern, die aus dem Portemonnaie des Steuerzahlers stammen. Die Bürgerinnen und Bürger werden aber viel zu selten (so gut wie nie!) am Agenda-Setting für Themen im Bereich „Forschung und Entwicklung“ (FuI) beteiligt. Stattdessen sitzen unternehmensnahe Lobbyisten (am praktischsten ehemalige Firmenmanager) in den Gremien, die z.B. beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über die Forschungslinien und die Vergabe von Fördergeldern entscheiden. Forschung, die statt des Mehrwerts für Unternehmen (“economic impact“) eher den Mehrwert für die Bevölkerung im Blick hätte („public value“), gibt es leider noch nicht. Als Legitimation für intransparente Forschung ohne basisnahe Demokratie reicht es immer noch aus, einfach auf den „Rohstoff Wissen“ zu verweisen, der in Deutschland angeblich unsere einzige Chance für die Zukunftssicherung darstellt.
Drittens wird in der (kompletten) Rede von Angela Merkel der lockere Umgang mit Entgrenzungen deutlich, der heute wie selbstverständlich zum Selbstdarstellungsrepertoire vermeintlich „fortschrittlicher“ Politikerinnen und Politiker gehört. Es scheint beim informationellen Vampirismus allein darum zu gehen, „moderne“ und „interessante“ Produkte zu schaffen. Dafür müssen Daten aus möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern „gesaugt“ werden. Auch hier reicht es aus, dass Schreckgespenst des auf der Lauer liegenden Inders zu skizzieren, um einen fast schon totalitär anmutenden Bruch unserer kulturellen Matrix zu legitimieren. „Disruptive“ Technologien wie Big Data verändern schleichend und langfristig die Regeln des Zusammenlebens und erzeugen massive Paradoxien, eines davon nenne ich „Modernisierungparadoxon“: Wer „moderne“ Produkte erzeugt, verlangt gleichzeitig einen Rückfall in die Vormoderne. Gewinne weniger stehen über der Selbstbestimmung und Freiheit vieler. Das, was eigentlich „modern“ ist – Schutzrechte für Bürgerinnen und Bürger – wird auf dem Altar des eindimensionalen Fortschritts geopfert. Im Satz „Unser Verhältnis zu Daten ist zu stark vom Schutzgedanken geprägt“ wird genau der Schutzgedanke aufgehoben, für den in modernen Gesellschaften lange und hart gekämpft wurde.
Zwar freuen wir uns über die vermeintlichen Gewinne, die uns Rabattprogramme für personenbezogene Daten suggerieren. Wir ergötzen uns auch am lächerlichen Zuwachs von Bequemlichkeit durch Automation als einer Form von Wohlstandsverswahrlosung durch „smarte“ Kühlschränke, Häuser und demnächst auch Autos. Und doch werden wir dabei blind für den Preis, denn wir dafür zahlen oder bald zahlen werden.
Dieser schleichende Wandel wurde nun endlich einmal sichtbar. Angela Merkel hat es klar und deutlich auf den Punkt gebracht: Unser Schutzimpuls ist zu ausgeprägt. Das klingt fast wie ein Befehl, ein Befehl auf Rückzug aus der Kuschelecke informationeller Selbstbestimmung. Wer in Zukunft noch Privatheit fordert, muss sich als Fortschritts- und Modernisierungsverweigerer an den Pranger stellen lassen, weil er oder sie verhindert, dass „interessante Produkte“ von Bosch und anderen Firmen entwickelt werden können. Aber wer fragt eigentlich noch nach, für wen diese Produkte „interessant“ sind? Wohl am ehesten doch für die Unternehmen selbst, die sie absetzen. Brauchen wir wirklich diese „interessanten Produkte“ als „Hoffnungssignal“? Oder ist dies nur Ausdruck eines Blicks auf eine Leerstelle? Der Blick dorthin, wo es früher einmal politische Utopien gab? Fällt Politikern wirklich nichts anderes mehr ein, als die ideologisch grundierten Wachstums- und Fortschrittsmythen nachzubeten, mit denen Unternehmen liebäugeln – und dabei wie bislang üblich auf die großzügige Förderung durch Steuergelder hoffen? Hätte Frau Merkel zumindest irgendeine Vision von „public value“ und würde sie diese nur annähernd in den Mittelpunkt ihrer Rede gestellt haben, ihr Grußwort hätte sich wohl ein wenig anders angehört:
„Unser Verhältnis zu Daten ist in vielen Fällen zu stark von den Interessen von Unternehmen geprägt. Zwar lassen sich mithilfe von Daten interessante Produkte entwickeln, aber nicht jede Möglichkeit verpflichtet zu ihrer Nutzung. Mit einer falschen Gewichtung entsteht aber auch die Sorge, dass durch ‚Data Mining’ (...) elementare Bürgerrechte erodieren oder gar abgeschafft werden. Bei der Erhebung und der Umgang mit großen Datenmengen müssen die Interessen einzelner Unternehmen hinten die Interessen von Bürgerinnen und Bürgern gestellt werden. Mit unserer politischen Arbeit werden wir diese Sichtweise unterstützen. Eine derartige ‚moralische Orthopädie’ ist ein Hoffnungssignal, gerade auch für ein Land, das weltweit Vorreiter in der Wissensarbeit sein möchte.“
Bleibt abschließend zu fragen: War diese Rede Leichtsinn oder Absicht? Soll schleichend das legitimiert werden, was ausgesprochen wurde? Die normative Kraft des Faktischen? Warum gab und gibt es keinen Aufschrei in einem Land, dessen Bundeskanzlerin öffentlich die Aufweichung des Datenschutzes proklamiert? Unterhalb der Wahrnehmungsschwelle war diese Aussage jedenfalls nicht. Man musste nur zuhören.
3 notes
·
View notes
Text
Armutszeugnis
Es gab wieder einmal eine Anfrage an die Bundesregierung zum Dauerthema “Tafeln”, auf die nun eine Antwort vorliegt. Diese Antwort ist es wert gelesen und kommentiert zu werden.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE betreffend „Tafeln – Entwicklung, Praxis und Stellung im System sozialer Hilfen in Deutschland“ ist dabei weder umfassend, noch repräsentiert sie ein tiefergehendes Verständnis für die veränderte Rolle der Tafeln nach mehr als 20 Jahren ihres Bestehens.
Meine Übergeordnete Einschätzung ist dabei folgende: Die Bundesregierung lässt bei ihrer Einschätzung der “Tafeln” (und mit der dabei zum Ausdruck gebrachte Argumentationslinie) keine Orientierung an übergeordneten Prinzipien erkennen. Der Staat verabschiedet sich damit von seinen eigenen Leitbildern, insbesondere dem Leitbild für nachhaltige Entwicklung. Dieses wurde erstmals im 13. Deutschen Bundestag (1994–1998) im Kontext einer Enquête-Kommission formuliert – damals bemühte man sich noch um eine Definition sozialer Nachhaltigkeit: Die von der Bundesregierung berufenen Experten wiesen darauf hin, dass die Umsetzung sozialer Nachhaltigkeit, primär eine gesellschaftliche Schutz- und Stabilisierungsfunktion habe und Gerechtigkeitsvorstellungen auf der Basis sozialen Ausgleichs umgesetzt werden sollten. Diese Aufgabe ist nicht – auch nicht punktuell – an zivilgesellschaftliche Akteure delegierbar. Gerechtigkeit als verfassungsrechtlich geschütztes „Gut“ (Bürgerrecht) dient der Möglichkeit des Erhalts menschenwürdiger Lebensbedingungen. Explizit weist die Kommission darauf hin, dass hierzu „Schutzräume durch soziale Sicherung“ notwendig seien. Weiterhin weist der Bericht der Enquête-Kommission ausdrücklich darauf hin, das „barmherzigen Almosensysteme“ (gleich welcher Form) diese Rolle nicht übernehmen können. Die Umsetzung sozialer Nachhaltigkeit ist Gesellschaftspolitik und nicht durch zivilgesellschaftliches Engagement zu ersetzen.
Im Folgenden gehe ich kurz auf einige spezifische Punkte der Antwort auf die Kleine Anfrage ein, die ich als besonders widersprüchlich oder praxisfern einschätze.
Fehlende Datengrundlage: In ihrer Antwort weist die Bundesregierung (mehrfach) daraufhin, dass es Aufgabe der Interessensvertretungen der Tafeln selbst wäre, aussagekräftige Statistiken zur demographischen Zusammensetzung der Helfer- und Nutzergruppen, zur Zeitdauer der Tafelnutzung und möglichen Verstetigungseffekten zu erstellen. Diese Aufgaben können und wollen die Tafeln jedoch nicht übernehmen. Die Folge ist, dass es zu einem inzwischen erheblich relevanten Teil der bundesdeutschen Armutsversorgung keine repräsentativen Daten gibt und wohl auch auf absehbare Zeit nicht geben wird.
Entstehung von “Armutskulturen”: Im Kern wird in der Antwort argumentiert, dass die Tafeln Menschen „zusätzlich unterstützen“, „punktuell“, „fallweise“, „gelegentlich“ bzw. „ergänzend“ helfen. Sie hätten daher keine „ersetzende“ Funktion. Dies steht in einem deutlichen Widerspruch zu
a) der über 20jährigen Existenz der Tafeln;
b) der Ausweitung des Spektrums der Dienstleistungen der Tafeln (neue Zielgruppen wie Senioren, Bewohner des ländlichen Raums, Kinder sollen erreicht werden);
c) Verzeitlichungseffekten (u.a. teilweise langjährige Nutzung der Tafeln) sowie
d) der Verstetigung der Tafelnutzung innerhalb der Lebensführungsstrategien zahlreicher Menschen und damit der Entstehung abgekoppelter „Tafel-Milieus“ (der Sozialwissenschaftler Ronald Lutz spricht sogar von eigenständigen „Armutskulturen“, vgl. Lutz, Ronald, 2014: Soziale Erschöpfung. Kulturelle Kontexte sozialer Ungleichheit. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.) Trotz fehlender quantitativer Daten zeigen schon jetzt qualitative Studien, dass sich Tafeln dauerhaft als soziale „Ersatzräume“ etablieren – dies kann keinesfalls euphemistisch mit “sozialer Teilhabe” gleichgesetzt werden, wie dies etwa Kathrin Göring-Eckhardt tut (vgl. Göring-Eckhardt, Katrin (2010): »Warum sollen Tafeln politisch unterstützt werden?«. In: TafelGesellschaft. Zum neuen Umgang mit Überfluss und Ausgrenzung. Hg. v. Stephan Lorenz, Bielefeld: Transkript, S. 137-151).
Gefühlter Rechtsanspruch und Eigenlogik der Tafeln: Damit muss auch der Auffassung widersprochen werden (Antwort auf Frage 4), dass es keine „Rechte und Ansprüche“ auf die Tafelnutzung gibt. Die Praxis und die Perspektiven der Armutsbetroffenen richten sich aber nicht nach juristischen Definitionen. Schleichend werden die Tafeln von ihren NutzerInnen als funktionales Äquivalent zum Staat („Sozialstaatsersatz“) wahrgenommen, woraus sich „gefühlte Rechte“ ableiten. Ostentative Regeln (Rechtsnormen) werden in der Praxis von performativen Regeln aufgeweicht. Diesen schleichenden Prozess nimmt die Bundesregierung – gerade auch im Hinblick auf die Legitimation ihrer eigenen Sozialpolitik – nicht ausreichend in den Blick.
Es reicht ebenfalls nicht aus, darauf hinzuweisen, dass die Tafeln (rechtlich betrachtet) nicht in der Pflicht stehen, ein flächendeckendes und ausreichendes Angebot für Armutsbetroffene anzubieten (ostentativ). Auch diese Sichtweise ist verkürzt, da sich die Tafeln selbst diese Ziele setzen (performativ). Dabei orientieren sie sich in den letzten Jahren immer offensichtlicher an ökonomischen Logiken, u.a. der Logik der Expansion und des Wachstums. Selbstbeschränkung gehört jedenfalls nicht erkennbar zum Handlungs- und Gestaltungsrepertoire der Tafeln.
Synchronisation mit Unternehmen: Die Antwort der Bundesregierung zeigt zudem einen markanten „blinden Fleck“. An keiner Stelle wird auf die (Dauer-)Synchronisation der Tafeln mit zahlreichen Unternehmen (Sponsoren und Spendern) eingegangen. Tafeln sind aber gerade deshalb „erfolgreich“, weil sie als moralische Unternehmer in einem armutsökonomischen Markt auftreten. Das Management von Armut wird zur Kulisse und dient hauptsächlich der Erzeugung symbolischen bzw. moralischen Kapitals, das an die eigentlichen „Kunden“ der Tafeln – Unternehmen, die ihre „gesellschaftliche Verantwortung“ darstellen möchten – vermittelt wird. Die Antwort der Bundesregierung lässt ein Verständnis für dieses (inzwischen institutionalisierte) Reputationsmanagement vermissen. Insgesamt ist somit der „Wirkungszusammenhang“, in dem sich die Tafeln mit ihrer Umwelt befinden, nur unzureichend dargestellt.
Tafeln als Ausfallbürgen des Sozialstaats: Mit der Antwort auf Frage 20 beweist die Bundesregierung Unkenntnis auch solcher Praktiken, die bereits aus der Presse zu entnehmen wären: Es ist inzwischen kein „Geheimnis“ mehr, dass Armutsbetroffene von MitarbeiterInnen der Jobcenter direkt zu den Tafeln verweisen werden. In der Presse wurde mittlerweile über zahlreiche Fälle berichtet, bei denen Armutsbetroffene (insbesondere Hartz-IV-Bezieher) direkt an die Tafeln verwiesen wurden - MitarbeiterInnen der JobCenter sprechen offen darüber. Es kann also eigentlich nicht sein, dass der Bundesregierung „keine Fälle bekannt sind“, bei denen direkt auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Tafeln verwiesen würde. Damit kann nicht behauptet werden, dass die Tafeln Armutsbetroffene nur „über die staatliche Sozialpolitik hinaus“ unterstützen. Es ist vielmehr umgekehrt so, dass in vielen Fällen Armutsbetroffene bewusst „unterhalb“ des (rechtsstaatlich) verbindlichen Minimums versorgt werden, gerade weil es die Tafeln gibt.
Schleichende Normänderung: Von einer Neutralität der Tafeln kann daher nicht gesprochen werden. Die Tafeln sind in den letzten Jahren nicht nur ein „verlässlicher“ Akteur im Bereich der Armutslinderung geworden, sie haben auch schleichend Normen der Angemessenheit verschoben. Woraus übrigens der Jurist Falk Roscher schon 1996 hingewiesen hat ( vgl. Roscher, Falk (1996): »Gefährdung von Rechtsansprüchen durch private Wohltätigkeit?«. In: info also, 3, S. 147-148.)
Eine Sensibilität für diese schleichende Verschiebung der „kulturellen Matrix“, d.h. für den Wandel durch sog. „shifting baselines“ (Veränderungen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle) lässt die Antwort der Bundesregierung nicht erkennen. Dies aber wäre die Vorsausetzung, das Phänomen der Tafeln nach mehr als 20 Jahren endlich anders einzuordnen und nicht allein als prototypischen Ausdruck zivilgesellschaftlichen Engagements zu betrachten. Es ist vielmehr so, dass die Tafeln Teil einer umfassenden Veränderung des Verhältnisses zwischen privaten und staatlichen, wirtschaftlichen und sozialpolitischen Akteuren sind.
2 notes
·
View notes
Text
Lager der Unerwünschten
Die aktuellen Ereignisse rund um das Thema “Flüchtlinge” und “Europa der Zäune” berühren mich sehr. In diesem Zusammenhang musste ich immer wieder an meinen Besuch in einem Sammellager für Asylbewerber 2012 denken.

Deshalb habe ich mich entschlossen, das entsprechende Kapitel aus meinem Buch Schamland in meinem Blog zu veröffentlichen - auch um daran zu erinnern, dass das, was gerade vor unseren Augen abläuft, nicht wirklich neu ist. Das menschenverachtende sind nicht allein die Zäune. Noch schlimmer ist es, anderen Menschen die Rechte abzusprechen, auf die man sich selbst gerne verlässt.
Essen ist ein Ritual, Nahrungsmittel sind Symbole und beides zusammen Politik. Der vorhandene oder nicht vorhandene Zugang zum Lebensnotwendigsten ist Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabe oder der Verhinderung dieser Teilhabe. An keinem anderen Ort wird Teilhabe so systematisch verhindert wie in Sammelstellen für Asylbewerber.
Inmitten der wunderschönen bayerischen Frühjahrsidylle besichtige ich eine solche Sammelstelle, von den dort lebenden Menschen nur „das Lager“ genannt. Das Lager befindet sich in einer ehemaligen Kaserne. Vom Schloss der Stadt aus ist man in ein paar Minuten zu Fuß dort. Wenn man möchte. Aber wahrscheinlich verirren sich nur sehr wenige Touristen in diesen Teil der Stadt, ins Lager, dorthin, wo die Lebensreisen von rund 500 Menschen vorläufig enden. Es ist ein Un-Ort, den man besser verdrängt, vergisst oder einfach meidet.
Am Rande des halb verfallenen Spiel- und Bolzplatzes, der an den Stirnseiten von Fußballtoren ohne Netze begrenzt wird, stehen große Müllcontainer und zwei sonderbare Bäume. Mächtige Bäume irgendwann einmal, Pappeln vielleicht, aber ohne Äste oder Blätter. Alles, was wachsen kann, wurde abgesägt. Die Bäume bestehen allein aus ihrem Stumpf. Man kann nur hoffen, dass sie in diesem Zustand überhaupt lebensfähig sind. Sie sehen nicht aus wie Bäume, eher wie Skulpturen – Metaphern auf das Leben im Lager. Nichts soll blühen, nichts darf hier wachsen. Überleben ja, leben nein. Im Lager der Unerwünschten werden nach den Regeln einer kaum noch nachvollziehbaren geopolitischen Logik die Biografien der dort befindlichen Menschen verstümmelt.
Über Betonplatten nähere ich mich kleinen, zweistöckigen Baracken, blau-weiß angemalt, aber so gar nicht heimatlich bayerisch. Keine alpenkulissenschwangere Bierwerbung – stattdessen Müll vor den Eingängen, kaputte Treppengeländer, lange kahle Flure, in denen das Gegenlicht aus dem einzigen Fenster am Ende des Ganges die schmierigen Fußböden beleuchtet. Gerümpel in den Ecken, vor den Zimmern, von denen jedes eine Nummer trägt. Und hinter jeder Tür ein gestutztes, durchnummeriertes Leben, ein Gemisch aus Ängsten, Spannungen, Hoffnungen, Aufbegehren und unterdrückter Wut. Lachen entdecke ich – fast schon klischeehaft – nur bei den Kindern, die mir im Flur begegnen und zum Spielen nach draußen wollen. Es wäre ein herrlicher sonniger Tag, wenn da nicht dieses Lager wäre. Jede Tür ist ein Tor in eine andere Kultur, ein anderes Schicksal, ein vor der Öffentlichkeit verborgenes Leben.
Ich besuche eine afghanische Familie. Der Vater kommt herein. Er trägt einen ausgestopften Vogel und wundert sich über den unerwarteten Gast, stellt aber keine Fragen. Nach und nach kommen die restlichen Familienmitglieder zusammen, seine Frau, sein Neffe, zwei Töchter. Sie wohnen alle zusammen in zwei Zimmern. Jedes Zimmer hat Doppelstockbetten aus Metall und pro Person einen schmalen grauen Spind. Ich erfahre, dass der Vater General war und unter den Sowjets sieben Jahre lang in Leningrad ausgebildet wurde. Der Neffe des Generals ging in Afghanistan gerne zur Jagd und hat sich zur Erinnerung an diese Zeit gerade auf dem Flohmarkt in der Stadt einen ausgestopften Fasan gekauft. Der alte General nimmt ihn in Empfang und stellt ihn wortlos auf die Fensterbank neben ein paar Plastikblumen. Der General gibt kaum merkbare Zeichen, eine Tochter holt Teetassen. Dann werde ich mit Erdnüssen und Bonbons bewirtet. Die Frau des Generals kramt diese umständlich aus einer Schublade hervor. Es wirkt, als würde sie eine Schatztruhe öffnen. „Fruits?“, fragt der alte General. „For sure!“, antwortet er selbst. Er lacht und reicht mir die Schüssel. Ich nehme mir einen Apfel, schneide ihn in Stücke. Ich reiche ihm und seiner Frau je ein Stück, dann nehme ich mir selbst eines. Der General sitzt schweigend und ab und zu lächelnd auf dem Sofa und sieht sich das Geschehen in dem kleinen Raum an. Nichts passiert.
Irgendwann beginnen wir zu plaudern. Über Afghanistan. Über früher. Dann, fast am Ende des Treffens, erzählt der alte General die Geschichte der beiden deutschen Krankenschwestern. In den 1970er Jahren gab es in seiner Heimatstadt Kunduz ein Krankenhaus, in dem zwei deutsche Krankenschwestern arbeiteten, die als Touristinnen gekommen waren. Als sie sich schon drei Jahre im Land befanden, wurden sie wegen ihres illegalen Aufenthaltsstatus angezeigt. In ihrer Verzweiflung wendeten sie sich an den Neffen des alten Generals. Dieser hatte persönliche Kontakte zum Gouverneur der Provinz und trug den Fall vor. Der Gouverneur bat die beiden Frauen zu sich und ließ sich berichten, warum sie in Afghanistan leben und arbeiten wollten. Die Frauen erläuterten, dass sie sich auf ihre Reise durch den Orient in das Land verliebt und beschlossen hätten, einfach dort zu bleiben. Nachdem er sich diese Geschichte angehört hatte, zerriss er vor den Augen der beiden Frauen die Anzeige und sagte: „Sie können so lange in diesem Land bleiben und arbeiten, wie sie wollen.“
Die Geschichte verstand ich erst sehr viel später, als ich längst wieder zu Hause war. Noch immer dachte ich an die toten Bäume und den ausgestopften Fasan auf der Fensterbank. Erst als ich Webseiten zum Thema Asyl recherchierte, kam mir die Geschichte wieder in den Sinn. Ich las die Forderung einer Menschenrechtsorganisation: „Der Einzelfall zählt“. Ich weiß nicht, ob mir der alte General diese Geschichte absichtlich erzählt hatte oder ob sie ihm einfach zufällig eingefallen war. Ich weiß nicht einmal, ob diese Geschichte überhaupt wahr ist. Aber es ist mir egal, denn sie zeigt, was an der zeitgenössischen Asylpolitik so menschenverachtend ist. Es sind bürokratische Regeln und kaltherzige politische Kalküle, die den Umgang mit asylsuchenden Menschen in Deutschland bestimmen. Nicht offene Herzlichkeit und ein Sinn fürs Menschliche. Die Geschichte des alten Generals zeigt, wie enttäuscht Menschen sein müssen, die in einem Land leben wollen, das ihnen nicht gestattet zu bleiben. Auch wenn sie es lieben. Ein Land, das Menschen in Lagern versteckt. Statt Menschlichkeit kommt Recht zur Anwendung. Die edelste Form von Menschlichkeit – dies macht die Geschichte des alten Generals deutlich – besteht aber im Verzicht darauf, Recht zu haben.
Nur schweren Herzens verabschiede ich mich von der gastfreundschaftlichen afghanischen Familie. Im Zimmer nebenan wohnt ein junger Mann aus Uganda, der seit sieben Jahren im Lager ist. Im Alter von 20 Jahren kam er nach Deutschland, ohne Papiere. Wer keine Papiere hat, erhält kein Taschengeld. So gibt es selbst im Lager der Unerwünschten noch Parias. Mein Gesprächspartner gehört zur Kategorie derer, die noch weniger als nichts haben. In der Ecke des Zimmers, das er sich seit Jahren mit wechselnden fremden Menschen teilen muss, stehen zwei Spinde mit Vorhängeschloss. An der Wand klebt ein Riesenposter von Bob Marley. Der Fernseher läuft lärmend und zeigt die Prunkwelt einer gerade stattfindenden Prinzenhochzeit. Ich frage, ob er den Fernseher ausmachen würde, damit wir uns unterhalten können. Er dreht den Ton ab, das Bild flackert weiter. So, als ob der Bildschirm eine Nabelschnur zu einer Welt da draußen wäre, die auf keinen Fall abreißen darf.
Im Lager kann er sich nur langweilen. „Nichts, ich kann nichts machen, ich darf nichts machen“, antwortet er auf meine Frage nach seinen Aktivitäten. Residenzpflicht. Keine Arbeitsmöglichkeit. Kaum Kontakte mit Einheimischen. Keiner meiner Gesprächspartner hat es je gewagt, einen Bürger der hübschen Stadt in das Lager einzuladen. Sie schämen sich für die Wohnsituation. Sie schämen sich für den aufwendig verwalteten Mangel. Sie verschweigen, wo sie wohnen und dieses Schweigen führt zu noch mehr Schweigen. Der junge Mann aus Uganda zeigt mir seinen fast leeren Kühlschrank. Das gelblich flackernde Licht fällt auf eine Packung Eier und zwei Dosen mit Bohnen. Aus dem Kühlfach entnimmt er einen eingepackten Fisch, auf dem noch das Preisschild klebt. Er zeigt mir den Fisch, den sein Zimmergenosse für ihn gekauft hat. „Das ist alles, was ich habe. Ich kann mir nichts kaufen. Ich habe nichts mehr.“ Den Kühlschrank lässt er offen, geht aus dem Zimmer und holt mir einen gelben Zettel, der zur Vorausplanung der Lebensmittelversorgung eingesetzt wird. Er klopft an, bevor er das Zimmer wieder betritt, in dem ich auf ihn warte. Wie verängstigt müssen Menschen sein, die an ihre eigene Zimmertür klopfen? Er zeigt mit den ‚Speisezettel‘. Aus jeder der aufgeführten Kategorien – „Fleisch/Fisch/Fertiggerichte“, „Milchprodukte“, „Obst“, „Gemüse/Salat“ und so weiter – dürfen sich die Asylbewerber je zwei Produkte oder kleine abgepackte Mengen pro Woche auswählen. Die Kategorien sind immer die gleichen, die Produkte sind immer die gleichen. Von Woche zu Woche. Der Hausmeister des Lagers gibt einmal pro Woche Essenspakete aus. Mit den gelben Zetteln müssen diese zwei Wochen vorher zusammengestellt und bei einer Firma bestellt werden.
Ein paar Blocks weiter sitzt ein junger Mann, ein christlicher Armenier aus Syrien im Zimmer einer Frau, die aus der Mongolei stammt und seit über einem Jahrzehnt hier lebt. Sie sind wohl ein Paar. Zumindest hängt sein Bild an dem Spiegel über dem Waschbecken in der Ecke. Ich frage nicht weiter danach. Er war Apotheker, bevor er fliehen musste. „In einem Lastwagen, wie Vieh, durch die Türkei“, fasst er diese Reise bündig zusammen. Und lacht dabei, als würde er von einem komischen Film berichten, den er sich gestern im Kino angesehen hat. Im Hintergrund läuft ein arabischer Sender – Bilder aus seinem Heimatland, verwackelte Amateurvideos von Menschen, die niedergeschossen wurden, blutverschmierte Hemden. Der junge Syrer schaut wie gebannt auf diese Bilder, an mir vorbei, auch während er mit mir spricht. Es ist „sein Land“, wie er immer wieder sagt, die Bilder gehen ihn an, aber sie schaffen keine echte Verbindung. Er befindet sich in einer Zwischenwelt. Er lacht immer wieder. Lacht, als er mir aufzählt, wie viele Menschen in den letzten Tagen in Syrien ermordet wurden. Lacht, als er behauptet, dass jeder, der sich mehr als sechs Monate im Lager aufhält, psychisch krank wird. Er lebt seit gut zwei Jahren dort.
Auch er hat keine Papiere. Er holt einen Stapel Kopien aus einer leeren Laptoptasche. Sie sind sein wichtigster Besitz. Zeugnisse, Atteste, Schreiben mit irgendwelchen exotischen Logos aus exotischen Ländern, Handgeschriebenes, Maschinengeschriebenes, Kopiertes, Gefaxtes. Wie so oft fehlt das einzig bedeutende Papier, der Pass. Der junge Mann wühlt in dem Stapel, so als wolle er mit aller Gewalt dieses fehlende Dokument zum Vorschein bringen. Einzig sein Ablehnungsbescheid taucht auf. Seitenweise unverständliches Beamtendeutsch, fast mehr Paragrafenzeichen als Buchstaben. Kein normaler Mensch kann dies verstehen, schon gar nicht ein Mensch, der gerade Deutsch lernt, egal wie sehr er sich bemüht. Aber zwei Worte sind unterstrichen, „Gefahr von Folter“ und „Androhung der Todesstrafe“. Fast stolz weist der Mann darauf hin. Als wäre noch eine weitere Bestätigung notwendig, laufen gleichzeitig die bunten Bilder im Hintergrund weiter. Die Fernsehsendung ist das beste Dokument, das er heute vorweisen kann.
Ich will noch eine weitere Familie besuchen und gehe zur Familienbaracke über den Hof. Ein abgrundtiefes Gefühl der Trauer und erstickter Hoffnung macht sich bei mir breit. Ein Mann holt mich ein und reißt mich aus meinen Gedanken. Er will unbedingt mit mir sprechen, mir seine Geschichte erzählen. In unglaublich kurzer Zeit hat sich meine Anwesenheit herumgesprochen. Der Mangel an Privatheit im Lager beschleunigt den Informationsaustausch.
Der Mann, der mir folgte, ist schwarz. Sehr schwarz. Seine Augen blicken gleichzeitig zornig und ängstlich aus tiefen Augenhöhlen. Zunächst ist da ein Angstreflex. Aber ich kann spüren, dass sich sein Zorn nicht auf mich richtet. Wir gehen nebeneinander her, ein Stück weit. Nur dieses winzige Stück Normalität kann ich ihm bieten. In der Hand hält er eine Packung Hartweizengrieß. „Who wants to talk to me?“, will er von mir wissen. Auf eine Vorstellung verzichtet er. Die Menschen hier haben wohl gelernt, dass sie direkt zur Sache kommen müssen. „Ich habe Hunger. Es reicht nicht“, sagt er. Und dass er von den Mitarbeitern eines Wohlfahrtsverbands, die im Lager arbeiten, Schuhe bekommt, die nicht passen, Kleider, die kratzen und bei ihm Ausschlag am Hals verursachen. Dass das Essen nicht reicht, weil er stark sei und Hunger habe. Dass er von niemandem Geld bekomme und er nicht verstehe, warum die einen so und die anderen so behandelt würden. Dann sagt er einen Satz, den ich schon in der Welt der Tafeln immer wieder gehört habe: „Ich will mir selbst etwas kaufen.“ Niemand will abgespeist werden mit Almosen oder Lebensmittelpaketen. „Do you understand?“, so endet jeder Satz. Meist fragt er es gleich zweimal hintereinander. Immer wieder zeigt er mir die Packung mit Grieß, „Ich habe mir diese Packung von einem anderen Lagerbewohner geliehen, ich habe nichts mehr. Ich koche mir nachher diese Packung und dann habe ich wieder nichts mehr.“ Er hält die Packung hoch, pocht mir den Fingern der anderen Hand darauf. „Grieß, Grieß! Sonst nichts, that’s all. Das reicht nicht. It’s not enough! Do you understand? Do you understand?“ Er regt sich auf, das ist nicht gut für ihn, sagt er. Er hat Diabetes. Aufregung ist nicht gut für ihn, aber er kann nichts dagegen unternehmen. Er will sich gesund und angemessen ernähren, aber wie? Es reicht nicht und niemand nimmt Rücksicht auf seine Krankheit. Dann fragt er: „When do you come back?“ Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich mich gerade auf einer Skala von Gleichgültigkeit in Richtung Widerstand bewegt habe.
3 notes
·
View notes
Text
Materialschlacht - Rationalität ohne Vernunft
Ich beteilige mich gerne an „akademischer Selbstverwaltung.“ In viel zu vielen Sitzungen wird dabei zwar unnötigerweise Lebenszeit aus mir herausgesaugt. Aber ich nehme das hin, da ich dankbar für die Privilegien bin, die mit meiner Stellung verbunden sind.

Was mich hingegen stört, ist die zunehmende Selbstverstümmelung der akademischen Kultur, deren Zeuge ich dann unfreiwillig bin. In einer Sitzung führte mir ein Kollege vor, dass wir die Ära der Bildung längst hinter uns gelassen haben und stattdessen in die Ära der Materialschlacht eingetreten sind.
Ich habe schon oft darüber gestaunt, dass Studierende als „Produkte“ bezeichnet werden, die am Ende des Studiums „funktionieren“ sollen. Die naive Vorstellung, dass sich Absolventen ohne weitere Einarbeitungszeit (d.h. ohne ökonomische „Reibungsverluste“) in das Gefüge des arbeitsplatzbietenden Unternehmens eingliedern lassen, regt mich längst nicht mehr auf. Die Rede vom „funktionierenden Studierenden“ spiegelt nur die hochschulpolitische Prämisse der „Employability“. Das passende Gegenstück ist das Gerede von der „Accountability“, also der Annahme, dass Hochschulen wie Unternehmen funktionieren und ähnlich wie Unternehmen vermessen bzw. evaluiert werden. Es wundert daher kaum noch, wenn akquirierte Drittmitteln von Prorektoren mit „Umsatz“ gleichgesetzt werden.
Was mich aber wirklich aufregt, ist eine neue sprachliche Eskalationsstufe: Von besagtem Kollegen wurden Studierende als „Material“ bezeichnet, das es „zu formen“ gelte. Ist das nur eine bedauerliche Einzelaussage oder bereits Vorbote eines Systemversagens? Welche Menschen- und Weltbilder gehen damit einher? Fragen wie diese verursachten bei mir reflexartig Protest, mit dem ich die vor sich hin taumelnde akademische Selbstverwaltung störte.
Nun könnte man einwenden, dass ich an einer technisch ausgerichteten Hochschule mit nichts anderem rechnen sollte. Dort geht es in mannigfaltigen Laboren ständig um Materialien. Lehrende kommen standardmäßig aus der „Industrie“ und bringen eine in jeder Hinsicht „materialistische“ Sichtweise mit. Ein Forschungsfreisemester heißt (bei uns) immer noch „Industriesemester“, egal wo dieses verbracht wird und womit.
Aber allein die Affinität zu Objekten und Produkten erklärt jene Haltung nur unzureichend, die wie selbstverständlich davon ausgeht, Studierende als „formbares Material“ zu bezeichnen. Bologna-Bashing reicht zur Erklärung ebenfalls nicht aus. Obwohl es stimmt, dass Bildung inzwischen in „Punkten“ gemessen wird und sich Hochschulen lustvoll nationalen Gamification-Prozessen (wie z.B. dem CHE-Ranking) unterwerfen. All das ist lediglich ein sektoraler Ausdruck allgemeiner Reformmüdigkeit. Das wirkliche Unbehagen hat eine andere Ursache. Es liegt in der humanistischen Keimfreiheit begründet, die mit der Schwerpunktverschiebung in Richtung Praktikabilität einhergeht.
Bei der Suche nach einer angemessenen Antwort sollte sich der Blick auf die neuen Rekrutierungsmechanismen innerhalb der akademischen Welt richten. Es gibt inzwischen einen neuen Typ Hochschullehrer und dieser findet nichts dabei, Studierende als „Material“ zu bezeichnen und dieses „formen“ zu wollen. Schon Mitte des 20. Jahrhundert fürchtete sich der amerikanische Soziologe C. Wright Mills vor den neuen „Forschungstechnikern“. Er erahnte bereits eine Generation standpunktloser Forscher, die sich aus Angst vor echten gesellschaftlichen Verpflichtungen der Bürokratisierung hingeben. Die tendenziell eher „geschäftsführenden Forscher eines geistlosen Empirismus“ stehen den geistreichen Wissenschaftler mit humanistischen Idealen gegenüber. „Wer sich heute dem akademischen Berufe verschreibt, dem eröffnet sich eine ganz andere Karriere als die des altmodischen Professors“ schrieb Mills, „man könnte sie die Laufbahn ‚des neuen Unternehmertyps’ nennen.“
Der Wettbewerb, von dem Mills sprach, ist inzwischen entschieden. Es gibt mehr und bessere Anreizsysteme für geistlose Betriebsamkeit als für geistreiche Gelehrsamkeit. Und es wird immer schwieriger, beides von einander zu unterscheiden. Unternehmerische Forschungstechniker schaffen es, Intelligenz von Persönlichkeit zu trennen. Nur so ist ein Denken möglich, dass nichts dabei findet, Menschen wie Material zu formen. Das neue Standardmodell des Lehrenden in der post-edukativen Ära ist humanistisch verarmt. Der auf Karriere gepolte Forschungstechniker bringt schon beim Eintritt in die akademische Welt ein um Ideale amputiertes Weltbild mit. Es setzt auf unhinterfragten „Solutionismus“ ohne den störenden Zusatz ethischer Verantwortung für das eigene Tun. Genau dieser beschränkte Geist hat seinen großen Bühnenauftritt, wenn im Kontext akademischer Selbstverwaltung von Studierenden als „zu formenden Material“ gesprochen wird.
Was Lehre im Kern ausmacht - die zwischenmenschliche Begegnung mit Studierenden - erhält eine neue Grundierung. Es geht nicht mehr um jene verantwortungsvolle Aufgabe, die neben der Vermittlung von „Berufskraft“ auch die Pflicht sah, der Persönlichkeitsbildung zu dienen und somit zur „moralischen Qualifikation“ zukünftiger Bürgerinnen und Bürger beizutragen. Wenn betriebsame „lächelnde Roboter“ (C. Wright Mills) des Zeitgeistes bereits von sich selbst erwarten, Menschen wie Material formen zu müssen, dann ist das nichts anderes als der Ausdruck eines pädagogischen Totalitarismus im Zeichen der größtmöglichen ökonomischen Verwertbarkeit der Studierenden. Bei gleichzeitiger Inkaufnahme der Erosion demokratischer Werte. Wer Studierenden keine ganzheitliche Entwicklung mehr zugesteht oder zumindest wünscht, sondern auf ein passgenaues Stückgut reduziert, das für die globale Werkbank geistloser Nutzenmaximierer zuzurichten ist, der verschleiert seine humanistische Verarmung höchstens noch durch eine smart klingende Ideologie.
Wir sollten der Nachfrage nach dieser ideologischen Munition dringend begegnen, indem wir daran erinnern, dass Studierende von heute bereits morgen politisch mündige, an demokratischen Aushandlungsprozessen interessierte Bürgerinnen und Bürger sein können - oder auch nicht. Wer einen Prozess durchläuft, der schon 1969 von Adorno (in seiner Einführungsvorlesung für das 1. Semester) als „streamlining“ gebrandmarkt wurde, reagiert vielleicht später verhalten auf Demokratisierungsapelle. Von jungen Menschen, die wie formbare Werkstücke behandelt werden, kann man später kaum leidenschaftlichen Willen zur Teilnahme an demokratischen Partizipationsprozessen erwarten. Aus dem pädagogischen Defizit von heute kann schon morgen ein echtes Demokratieproblem werden. Die Antwort von C. Wright Mills auf die Verrohung der Bildung durch die Forschungstechniker war der Versuch der Förderung des soziologischen Empfindungsvermögens. Der Bildungsauftrag bestehe darin, nicht nur Lesen und Schreiben beizubringen („know how“) sondern jungen Menschen auch bei der Frage zu begleiten, was sie eigentlich im Leben wollen („know why“). Diese Erziehung zur humanistischen Lebenshaltung bedarf einer Kultivierung der Werte und der Bildung. Menschen wie Material zu formen ist das genaue Gegenteil.
Es braucht aber mehr als nur die Störung einer einzelnen Sitzung im Rahmen der akademischen Selbstverwaltung, um dem Zirkelschluss zu entkommen, der sich aus blanker Verwertungslogik ergibt. Hochschulen können langfristig ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung nicht verleugnen. Sie dienen nicht allein Unternehmen. Konkret ausformuliert bedeutet dies, dass sie sich (wieder) intensiver um die Vermehrung eines „öffentlichen Wertes“ (public value) kümmern müssen, anstatt sich als vor- und ausgelagerte Ausbildungsstätten einer Industrie zu verstehen, die ihre eigenen Verpflichtungen immer ungenierter an das Bildungssystem delegiert. Bildung sollte nicht zum Zubehör der Industrie gemacht werden – das wäre dann endgültig Rationalität ohne Vernunft.
Wenn es schon ein Material gibt, dass es zu „formen“ gilt, dann sind es vielleicht eher die Hochschullehrer selbst. In Deutschland wird Wissen gerne als Rohstoff betrachtet. Wenn das so ist, dann brauchen wir verantwortungsvolle Wissensaneignungsprozesse, die sich flexibel nach humanistischen Idealen und nicht nur stur nach funktionalen Prinzipien ausrichten. Wer die Materialschlacht, die im „akademischen Kapitalismus“ (Richard Münch) schön längst tobt, ungefiltert auf die Lehre überträgt, darf sich nicht wundern, wenn diejenigen, die auf diese Weise „geformt“ wurden, eines Tages unerwartete Reaktionen zeigen. Und sei es als erfolgreiche Alumnis, die sich daran erinnern, was ihnen die eigene Hochschule wirklich mit auf den Lebensweg gegeben hat. Oder auch nicht.
5 notes
·
View notes
Text
Wachpersonal, made by Tchibo
Der Bremer Kaffeeröster-Konzern muss immer wieder als Beispiel dafür herhalten, wenn erklärt werden soll, das Differenzierung – einer der zentralen Begriffe der Soziologie – ganz praktisch bedeutet.

Inzwischen wissen wir alle, dass Tchibo nicht nur Kaffeebohnen verkauft. Sicher hat der eine oder andere schon mal in der Tchibo-Produktwelt eingekauft, sei es ein Zahnputzbecher, Dekomaterial für das Wohnzimmer oder eine wasserdichte Fahrradhose. Ich staunte jedoch nicht schlecht, als ich realisierte, dass Tchibo jetzt auch Sicherheit verkauft.
Ich finde das Angebotsheftchen „Sommer 2015“ in meinem Briefkasten. Darin wird die Angst der Deutschen zum Leitthema gemacht. Tchibo vermarktet jetzt Sicherheit zu Hause, im Auto und im Urlaub – also die drei zentralen Lebensbereiche des bürgerlichen Deutschen. So ein Produktflyer sagt viel über den Zustand unserer Gesellschaft aus. In Anlehnung an C. Wright Mills liegt mir auf der Zunge: Die im Flyer präsentierte Angebotspalette zeigt, wie man aus „private troubles“ durch Kommerzialisierung „public issues“ macht.
Tchibo möchte seine Kunden mit dem Versprechen „beruhigen“, dass es mittlerweile für jederman möglich sei, mit wenigen Handgriffen (und der Ausgabe von ein paar Euro) das eigene Heim einbruchssicher zu machen. Was früher nur Reichen vorbehalten war –Überwachungszäune und Überwachungskameras vor und an der eigenen Villa – ist nun auch für die kleine Mietwohnung zu haben. Vorausgesetzt man hat überhaupt Besitz, dessen Abhandenkommen man befürchten könnte. Da gibt es sicher immer noch ein paar feine Unterschiede zwischen den Bewohnern einer Villa und denen eines Reihenhauses. Soziologen haben vielfach darauf hingewiesen, dass sich Mitglieder soziale Schichten an den Mitgliedern der jeweils nächst höheren Schicht orientieren und deren Ästhetik und Konsumverhalten nachahmen. Nun passiert genau das beim Sicherheitsbedürfnis oder sollte ich besser sagen: bei der Sicherheitsparanoia?
Zunächst aber ein Blick auf das konkrete Angebot. Tchibo verspricht, Licht in Wohnungen zu lassen, „aber sonst niemanden“. Basis dieser platten Beruhigungsformel sind Produkte wie diese:
Ein Fenster- und Türalarm, der mit einem „4-stelligem persönlichen Code“ abgesichert wird und bei unbefugtem Öffnen ein Alarmsignal von 105dB Lautstärke auslöst. „Anbringen ohne Bohren: perfekt auch für Mieter.“
Eine Tür- und Fenstersicherung mit „stabilem Bolzenverschluss“ und „sicherheitsrelevanten Teilen aus gehärtem Stahl.“
Wer nur über ein kleines Budget für Sicherheitsfragen verfügt, dem gefallen vielleicht auch eine Türgriffkette mit „Sicherungsring zum Einhängen am Türgriff.“
Tchibo stellt diese Dinge natürlich nicht selbst her sondern bietet Produkte von ABUS an: „Der deutsche Qualitätshersteller sorgt seit 1924 für das gute Gefühl von Sicherheit.“ Genau das ist aber Sicherheit: ein subjektives Gefühl. Aus der Forschung wissen wir inzwischen, dass den meisten Menschen eine objektive Einschätzung von Gefährdungen und Risiken überhaupt nicht möglich ist. Das subjektive Gefühl der Unsicherheit ist vielleicht nicht viel mehr als Ausdruck eines schlechten sozialen Gewissens – Besitz, der belastet. Menschen in objektiv gefährdeten Gegenden fühlen sich oft sicher, Menschen in sicheren Vierteln massiv bedroht. Das ideale Einfallstor für Marketing also.
Tchibo plädiert nun nicht etwa für ein „frugales“ Dasein, also ein von überflüssigen Dingen entrümpeltes Leben, sondern verspricht stattdessen Sicherheit für den ganzen eigenen Krempel mit Bolzen und Ketten. Besonders zeitgeistaffin zeigt sich der Großhändler aber dort, wo nun auch digitale Technologien und deren sicherheitsstiftendes Potenzial angepriesen werden: „Unser bestes Wachpersonal: Smartphone und App.“ Hier findet Lifelogging in einer sublimieren Form statt. Tchibo verspricht, dass alle Produkte mühelos vernetzt und von überall her mit dem Smartphone oder Tablet ansteuerbar sind. „Im Notfall werden Warnmeldungen auf ihr Smartphone geschickt.“ Allerdings stellt sich dann doch die Frage, was der Urlauber am Strand des Ostseebades Binz macht, wenn er per Smartphone die „Notfallmeldung“ erhält, dass in seiner Altbauwohnung in, sagen wir Freiburg Bewegungen erkannt werden. Nach Hause fahren und nachsehen? Den Nachbarn anrufen? Geht nicht, der ist selbst gerade an der Nordsee. Die Polizei bitten, kurz mal nachzusehen? Wer schon einmal die Polizei in solchen Situationen bemüht hat, kann nur müde lächeln. Bisher ist nichts passiert? Dann brauchen wir auch nicht zu kommen. Ich kann die Polizei aber auch verstehen: Die Beamten werden sicher wahnsinnig werden, ob der vielen besorgten Anrufe von Tchibo-Kunden, die darum bitten, „nur mal nach dem Rechten zu sehen.“ Welche Angebote treiben überhaupt diese Besorgnisspirale an?
Zunächst benötigt der Kunde ein „Gateway“, also eine Art von Zentrale für die digitale Kommunikation zwischen den übrigen Sensoren (Tür, Fenster etc.) und dem Smartphone. Betrachten wir es als Basisinvestition und hoffen wir, dass die Software nicht schneller veraltet, als das Betriebssystem Windows von Microsoft. Und das es mit der „intuitiven Einrichtung“ auch wirklich so klappt, wie im Prospekt versprochen. Beginnen wir nun unser digitales Wachpersonal aufzurüsten...
Ein Bewegungssensor mit „automatischer Benachrichtigung bei Erkennung von Bewegungen“ (was erkennt ein Bewegungssensor sonst?)
Eine „schwenk- und neigbare“ Überwachungskamera mit „hochwertigem Bildsensor“, „Nachtsicht bis 5 Meter“ und „schnellem Rundumblick aus verschiedensten Winkeln.“
Eine Alarmsirene mit „6 verschiedenen Tönen (...) z.B. Feueralarm, Polizeisirene.“
Für Sparfüchse oder Kenner von Jean Baudrillards Thesen gibt es dann noch die Überwachungskamera-Attrappe mit „realistischer Optik“ oder den LED-TV-Simulator, der mit 20 farbigen Lämpchen einen laufenden Fernseher imitiert (soll heißen: Achtung – jemand ist in der Wohnung).
Diese und viele andere Produkte zeigen, dass wir bereits mitten in der Kontrollgesellschaft angekommen sind. Die Surveillance-Studies sollten dringend um die Analyse dieser alltagstauglichen Trivialtechnologien erweitert werden. Neben eine vertikale Überwachung durch Geheimdienste gesellen sich immer neue Formen horizontaler Überwachung. Schon Siegfried Kracauer diagnostizerte einen Menschentyp, der „Selbst-Rationalisierung“ betrieb, der eingesperrt in die umfassende gesellschaftliche Rationalisierung lernt, seine Impulse und Wünsche, seine Denk- und Lebensweise in Einklang mit dem Zeitgeist systematisch zu regulieren. Diese Rationalität ohne Vernunft schimmert auch bei den Produkten von Tchibo durch, die latente Ängste aufnehmen und für einen Massenmarkt kommerzialisierbar machen.
Auch die Fernüberwachung des eigenen Lebensraums ist letztlich eine Form der Selbstverdatung und Lebensprotokollierung: Lifelogging. Die eigene Wohnung gehört auch in Abwesenheit zum eigenen Leben. Letztlich korrespondiert diese Paranoia mit der Angst vor Kontrollverlust in modernen Gesellschaften. Gefahren werden in (berechenbare) Risiken und (erwartbare) Sicherheiten zerlegt, um so die Beherrschbarkeit der Welt zu suggerieren. Im Zwischenraum zwischen diffusen Erwartungen und vorenthaltenden Erfüllungen etablieren sich solche Versuche, durch umfassende (Selbst-)Kontrolle die immer vorhandene Unsicherheit der Welt zu minimieren.
Letztlich zeigt diese Sommerkampagne von Tchibo wie gesellschaftsfähig Misstrauen geworden ist. Ein auf positiven Attributen basierendes Menschenbild verschwindet gerade hinter dem Horizont des Humanismus. Früher hießt es: Sex sells. Heute verkaufen sich Ängste am besten. Fortsetzung folgt, da bin ich mir sicher. Sonst wäre Tchibo nicht Tchibo.
0 notes
Text
Think-Logging
Wenn es stimmt, dass man aus Fehlern lernt, dann ist mir vor kurzem ein letztendlich sehr lehrreicher Fehler unterlaufen. Aber fragen wir uns zunächst, was der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, AirBnB und Lifelogging gemeinsam haben?

Und warum diese Gemeinsamkeit den Soziologen in mir überhaupt interessieren. Es gibt mehr Gemeinsamkeiten, als man auf den Blick vermuten könnte.
Zuckerberg unterhielt sich jüngst mit Nutzern von Facebook, darunter Prominente wie Stephen Hawking oder Kultfiguren wie Arnold Schwarzenegger. Dabei machte er seine persönliche Vision von der Zukunft klar: Durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) solle Facebook quasi-telepathische Fähigkeiten erlangen. Das Netzwerk würde praktisch schon die Gedanken der Nutzer kennen, bevor diese ihnen selbst bewusst werden. Gedankenlesen à la Facebook.
AirBnB wiederum sorgte mit einer Kampagne für Spott, deren Claims recht sonderbar wirkten. Zwar sollte mit einladenden Sprüchen eine Art „soziale Nähe“ zu den Gastgebern des Bettenvermittlers suggeriert werden, allerdings sorgte insbesondere die Anregung „Schlaf in ihren Betten, damit du ihre Träume träumst“ für Verwunderung. Träumelesen à la AirBnB.
Damit komme ich nun zu meinem Fehler, den ich für so lehrreich halte. Eigentlich handelt es sich nur einem Tippfehler. Vor kurzem schrieb ich einen Artikel über Lifelogging für eine angesehene Zeitschrift. Einleitend stellte eine Reihe von Lifelogging-Typen vor, auch eher ungewöhnliche: Sleep-Logging, Mood-Logging und Sex-Logging. Ich ging dann noch auf Thing-Logging ein, einen Begriff, der maßgeblich von Jim Gemmell geprägt wurde. Als Forscher bei Microsoft Research war Gemmell zusammen mit dem Lifelogging-Pionier Gordon Bell für die Software-Architektur von MyLifeBits zuständig, einer umfassenden „Black-Box“ des Lebens, wie Gemmell sie anlässlich der SenseCam-Konferenz in San Diego 2013 nannte. Gemmell ist übrigens inzwischen Gründer der Firma Trōv, die sich mit dem „Schutz von Dingen“ beschäftigt.
Mein Fehler: Ich tippte „Think-Logging“ statt „Thing-Logging“. Nach dem Gesetz der Selbstverliebtheit fiel mir als Autor der Fehler selbst bei mehrmaligem Korrekturlesen nicht mehr auf. Eine weitere Person las den Text, ohne den Fehler zu bemerken. Die Redaktion der Zeitschrift hatte viele Anregungen, um den Text stilistisch zu verbessern, aber niemand entdeckte den Tippfehler. Der Fehler fiel mir erst auf, als der Artikel in der Wochenendbeilage einer Zeitung gekürzt abgedruckt werden sollte und ich den Text – mehr widerwillig als überzeugt – nochmals Korrektur las. Da staunte ich nicht schlecht über die Penetranz dieses Tippfehlers. Was also lässt sich daraus lernen?
In einer Welt, in der Facebook telepathische Fähigkeiten angedichtet werden und in der das Schlafen auf Luftmatratzen Fremder angeblich Eingang zu deren intimen Träumen bietet, können sich eben mittlerweile viele vorstellen, dass Think-Logging, also das mitprotokollieren von Gedanken inzwischen technisch möglich ist. Mehr noch: Sie können sich vorstellen, dass es bereits praktiziert wird. Damit eilt die Phantasie der Nutzer der Phantasie der Entwicklung nur um Millimeter hinterher. Dieser Befund wäre es wert, innerhalb einer Soziologie der imaginären Annahmen näher untersucht zu werden.
Abgesehen aber von dieser Forschungslücke, lohnt es sich einen Moment darüber nachzudenken, was wäre, wenn es wirklich bereits Think-Logging gibt? Diese what if?-Szenarien sind meist sehr lehreich. Mit Think-Logging wäre endlich totale Transparenz möglich, die Welt könnte „endlich“ zu einem „Objekt der Behandlung“ (Marx) werden. Dann wären „endlich“ auch Voraussagen möglich und damit die Verbreitung einer neuen Wissensform, die ich prädiktives Wissen nenne. Eine Welt, aber in der Gedanken gelesen und Träume anderer geträumt werden, wäre nicht nur eine total transparente Welt, sondern auch eine gelenkte oder lenkbare Welt. Darauf hat schon 1963 der amerikanische Soziologie C.Wright Mills (mit dem ich mich gerade intensiv beschäftige) hellsichtig anhand von folgender kleiner Geschichte hingewiesen:
„Verfügt jemand über einen wirksamen und mächtigen Apparat, mit dem er eine Division auf einer Insel, die frei von Feinden ist, befehligt, so kontrolliert er zweifellos das Schicksal dieser Inselbewohner. Handelt er auf Grund seiner Macht und bestimmter Pläne, so kann er auch voraussagen, was – innerhalb eng gefasster Grenzen – jeder einzelne zur bestimmten Stunde eines bestimmten Tages innerhalb eines bestimmten Jahres tun wird. Er kann sogar Gefühle und Gedanken verschiedener dieser Männer ziemlich genau voraussagen, denn er manipuliert sie wie passive Gegenstände. Er kann auch viele der Pläne, die diese Menschen haben mögen, zunichte machen und sich gelegentlich als allmächtiger Despot betrachten. Wenn er kontrolliert, kann er auch voraussagen. Er manipuliert Regelmäßigkeiten.“ (Mills: Kritik der soziologischen Denkweise, S. 162)
Ich finde, dass ist zugleich eine sehr zutreffende Beschreibung aller Lifelogging-Praktiken: die Manipulation von Regelmäßigkeiten. Es spielt zunächst keine Rolle, wer diese Manipulation vornimmt, ob es intrinsische oder extrinsische Motive sind, die sich auf die Regelmäßigkeiten auswirken. Regelmäßigkeiten können kleine Alltagsgewohnheiten oder soziale Institutionen sein. Auch deshalb passt der Gedanke der Manipulation von Regelmäßigkeiten so gut auf Lifelogging. Praktisch jeder Lebensbereich ist durch Regelmäßigkeiten strukturiert und diese Struktur wandelt sich – schleichend, zufällig, selbststeuernd und zunehmend eben auch manipulativ.
Letztlich enthüllt mein Tippfehler – Think-Logging statt Thing-Logging – vielleicht auch latente Wünsche von uns allen. Vielleicht finden wir es gar nicht so schrecklich, wenn „jemand“ uns in den Kopf schaut oder unsere Träume kennt. Vielleicht wären wir im Sinne von Kafka sogar erleichtert, diesem Wissen und der damit verbundenen Transparenz und Manipulation ausgesetzt zu sein. Solange wir in der „richtigen“ Art und Weise manipuliert werden. Sind wir am Ende gar alle Heuchler, wenn wir so sehr auf Intimität und Privatheit beharren? Die große Frage der Zukunft wird sein, ob wir der Versuchung widerstehen können, für ein klein bisschen Voraussagbarkeit unseres Lebens durch Think-Logging die Kontrolle und Manipulation der Regelmäßigkeiten unseres menschlichen Lebens in Kauf nehmen wollen. Ist die Kristallkugel der Zukunft nur ein Ding, mit dem wir spielen oder ein manipulatives Steuerungsinstrument?
0 notes
Text
Monster des Bodenlosen
Der folgende Blogeintrag ist die leicht veränderte Fassung meiner Laudatio für Inge Hannemann zur Verleihung des Preises “Marburger Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte” der Humanistischen Union Marburg, die ich am 8. Mai im Rathaus der Universitätsstadt Marburg gehalten habe - auch dies eine Form Öffentlicher Soziologie.

Da mich inzwischen viele Personen auf den Inhalt der Laudatio angesprochen haben, gebe ich diese hier als Text weiter...
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Mitglieder der Humanistischen Union und des Magistrats der Universitätsstadt Marburg, liebe Gäste, liebe Inge Hannemann,
ich danke Ihnen für die Einladung und den damit verbundenen Auftrag, die Laudatio für die diesjährige Preisträgerin des „Marburger Leuchtfeuers für Soziale Bürgerrechte“, Inge Hannemann, zu halten. Ich habe es mir dabei nicht leicht gemacht.
Um die Preisträgerin zu würdigen, möchte ich übergreifend fragen, wo eigentlich der Unterschied zwischen einem Verräter und einem Enthüller liegt. Wir sprechen seit Edward Snowden, v.a. aber seit dem German-Wings-Absturz, von der Bedeutung von Geheimnissen sowie der Notwendigkeit der Schweigepflicht. Was aber, wenn nicht geschwiegen wird? Wann ist das Verrat, wann Enthüllung?
Die Frage, wo die Grenze zwischen destruktivem Verrat und konstruktiver Enthüllung liegt, ist keineswegs einfach zu beantworten. Will man vorschnelle Moralisierungen vermeiden, ist zur Beantwortung der Frage ein Hinabtauchen in die Elementarstrukturen gesellschaftlicher Beziehungen notwendig. Als Soziologe, der sich schwerpunktmäßig mit Phänomenen des „gesellschaftlichen Wandels“ beschäftigt, möchte ich daher einige Entwicklungen nachzeichnen und dadurch das, was die Preisträgerin, Inge Hannemann, als Enthüllerin auszeichnet, in einen größeren Kontext stellen.
Was Inge Hannemann auszeichnet, möchte ich in einem Bild ausdrücken: Sie ist dem „Monster des Bodenlosen“ begegnet. Und sie hat weder weggeschaut noch ist sie vor Schreck weggelaufen.
Als wir uns das erste Mal am Rande eines Kirchentages in Hamburg in einer Kneipe begegneten, konnte ich während und nach unserem atemlosen Gespräch schon einiges von dem Mut erahnen, den es braucht, um dem ���Monster des Bodenlosen“ auf eine statthafte Weise zu begegnen. Auf diesem Mut der Preisträgerin werde ich später noch einmal zurückkommen.
Vielleicht sollte ich kurz erläutern, warum ich hier eine sehr bildhafte Sprache nutze. Natürlich gibt es für die Entwicklungen, deren Zeugen wir gegenwärtig sind, zahlreiche durchdefinierte Fachbegriffe: Erosion des Sozialstaates, Prekarisierung, Gouvernementalität usf. Aber diese Begriffe verbergen in ihrer vermeintlich objektivierten Sachlichkeit zugleich die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Skandale.
Ich bevorzuge es daher, vom „Monster des Bodenlosen“ zu sprechen, um damit die allgegenwärtigen Abbaumaßnahmen, Sparmaßnahmen, Disziplinierungsmaßnahmen und Entwürdigungsmaßnahmen zu beschreiben, mit denen immer mehr Menschen existentiell in Bedrängnis gebracht werden. Akzeptiert man dieses Bild, dann stellt sich folgende Frage: Was macht dieses Monster so erschreckend? Hier möchte ich noch ein wenig tiefer in den Werkzeugkoffer der soziologischen Gesellschaftsdiagnose greifen.
Menschen werden in unserer Gesellschaft immer intensiver zu fortwährender Bewährungsarbeit am eigenen ‚Ich’ gedrillt. Inge Hannemann war beruflich Teil dieses bürokratisierten Drills. Aber anders als viele andere hat sie eine persönliche Grenze gezogen, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Unser Land kühl sich sozial immer mehr ab, es verroht. Wir können es daran erkennen, das diejenigen, die dem Drill nicht gehorchen können, vom „Monster des Bodenlosen“ immer gnadenloser angefaucht werden. Wir können beobachten, dass immer häufiger für die Abweichung von Erwartungen bestraft werden. Gesellschaft wird zunehmend über negative Prinzipen organisiert: über Beschämung und über Sanktionen für diejenigen, die nicht so sein wollen oder können, wie man es von ihnen verlangt. Eigentlich sollte die Würde aller Menschen per Gesetz gewahrt werden. Doch tatsächlich müssen immer mehr Menschen mit systematischen Kränkungen, tiefgreifenden Pathologisierungen und nachhaltigen Stigmatisierungen umgehen. Oder sich daran erschöpfen. Soziale Erschöpfung ist die Angst vor dem Monster des Bodenlosen und nicht so sehr die Tatsache, materiell schlechter gestellt zu sein.
Wenn die Organisation des Sozialen immer deckungsgleicher mit dem Eingriff in den Vollzug des Lebens selbst wird, unterliegen nicht nur Ausschnitte, sondern tendenziell alle Lebensbereiche dem neuen Drill. Dieser kontrollierende Vollzug des Lebens verschafft sich einerseits Zugriff auf die gesamte Persönlichkeit und sieht andererseits den Menschen schlicht als das an, was von ihm erwartbar ist.
Und genau dieser drillende Vollzug zeigte sich besonders deutlich am Arbeitsplatz von Inge Hannemann. Sanktionen im Hartz-IV-Bereich sind die Praxis gewordene Ausdruck dieses Denkens. Als Mitarbeiterin des Hamburger JobCenters, konnte Inge Hannemann beobachten, wie Nützlichkeitsdenken, Kosten-Nutzen-Analysen und Effizienzberechnungen sich in der Praxis vor die Beratung und Begleitung von Menschen in prekären Lebenslagen schoben.
An dieser kalten Effizienz in einem Land, in dem Regierung zunehmend durch Selbstregierung ersetzt wird, müssen immer mehr Menschen scheitern. Schlimmer noch: Dieses Scheitern wird ihnen sogar schon unterstellt. Nichts anderes drückt sich im Konzept der Sanktion aus. Oder darin, dass ganze Bevölkerungsgruppen (z.B. „Hartzer“) kollektiv stigmatisiert werden. Beispiele, die erkennen lassen, wie sich Misstrauen gegenüber dem Nächsten in unsere Kultur eingeschrieben hat. Menschen werden in „Würdige“ und „Unwürdige“ kategorisiert, es kommt zu einer vormodernen Moralisierung von Armut und zu Phänomenen neo-feudaler Armutslinderung.
Letztlich entsteht in diesem Vollzug des Drills eine eigene Denkhaltung: Integration soll mit Disziplinierung erzwungen werden. Wer sich nicht diszipliniert, wird sanktioniert. Doch damit nicht genug. Es gibt noch einen Nebeneffekt, der bislang zu wenig beachtet wurde: Mit Sanktionen lässt sich prima Profit machen.
In Großbritannien traf ich zu Beginn des Jahres in Cambridge den Schatten-Arbeitsminister Steven Timms. Er erklärte mir, dass das Erfolgskriterium in den britischen Jobcentern nicht etwa in der Zahl der vermittelten Erwerbsarbeitsplätze gemessen wird, sondern in der Summe der durchgesetzten Sanktionen! Der Staat rechnet die durch Sanktionen gesparten Summen in seinen Haushalt ein – Timms sprach zu Recht von der neuen „Sanktionsindustrie“. Die Kalkulierbarkeit von Sanktionen ist das denkbar schlimmste Gegenmodell zu einer menschenwürdigen Sozialpolitik.
Die Preisträgerin, Inge Hannemann, sah genau dieses „Monster des Bodenlosen“ ganz konkret und direkt an ihrem Arbeitsplatz, dem Jobcenter Hamburg-Altona, auftauchen. Normalerweise läuft man vor Monstern weg, verdrängt, verschweigt, vertuscht. Aber genau das – das allgegenwärtige Verdrängen, Verschweigen, Vertuschen – konnte Inge Hannemann nicht ertragen. Sie weigerte sich, Sanktionen gegen Langzeitarbeitslose zu verhängen, wurde daraufhin vom Dienst suspendiert und versetzt. Ein Rechtsstreit folgte. „Ich bin raus, weil ich Missstände öffentlich gemacht habe“, so Inge Hannemann im Gerichtssaal. „Es wäre nichts passiert, wenn ich Dienst nach Vorschrift gemacht hätte.“ Ihre Kritik am menschenunwürdigen Umgang mit Langzeitarbeitslosen brachte ihr überregionale Popularität und den Spitznamen „Hartz-IV-Rebellin“ ein. Eine Rebellin also, die (in meinen Worten) vor dem „Monster des Bodenlosen“ nicht weglaufen ist wie andere.
Das allein würde schon reichen, um sie auszuzeichnen. Trotzdem möchte ich noch einmal zu der tiefergehenden Frage zurückkommen, worin eigentlich der Unterschied zwischen einem Verräter und einem Enthüller besteht. Die Antwort auf diese Frage kann nicht trivial ausfallen. Immerhin habe ich aber dazu eine These. Sie lautet: Enthüllung setzt eine Lüge voraus, ein bewusst gewolltes Täuschen. Verrat setzt ein Geheimnis voraus, ein bewusst gewolltes Verbergen.
Im Folgenden werde ich das nun kurz zu erläutern. Dazu ziehe ich Georg Simmel, einen der Gründerväter der Soziologie, zu Rate. In seinem Hauptwerk sinniert er u.a. über Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Tatsache, dass soziale Beziehungen darauf beruhen, dass wir etwas voneinander wissen. Aber wie viel wissen wir von anderen? Wie viel wollen wir wissen? Wie viel dürfen wir wissen? Dort, wo wir nicht völlig wissend, aber auch nicht völlig unwissend sind, müssen wir vertrauen. Vertrauen ist der mittlere Zustand zwischen Wissen und Nicht-Wissen. „Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der völlig Nichtwissende kann vernünftigerweise nicht einmal vertrauen“, so Simmel.
In Gesellschaften, die immer komplexer werden, wird Vertrauen – ob in Technik, ob in Regierungen oder in Verwaltungen – immer notwendiger. Und zugleich wird dieses Vertrauen immer häufiger enttäuscht, weil es nur vorgetäuscht und trick- und gestenreich inszeniert wird. Genau diese Vortäuschung ist nichts anderes als eine Lüge. Eine Lüge, wie sie von Inge Hannemann enthüllt wurde, weil sie – in ihren eigenen Worten – „einen Missstand öffentlich gemacht hat“.
Dort, wo eine Lüge in soziale Beziehungen eindringt, bröckelt das Vertrauen. Wird eine Lüge sogar Teil des Systems, dann verändert sie ihre Funktion. Georg Simmel wird nicht müde wird zu betonen, dass eine Lüge in zwischenmenschlichen Beziehungen (von Angesicht zu Angesicht) sogar recht zweckmäßig sein kann. Als Lehrender, der sich ständig die „Notlügen“ von Studierenden anhören muss, kenne ich mich gut mit dieser Zweckmäßigkeit aus. Letztlich hat aber jeder von uns hat schon einmal eine solche „Ausrede“ genutzt, eine kleine, harmlose, zweckmäßige Lüge.
Als Teil eines Systems aber mutiert eine fest eingebaute Lüge zu einem perfiden Werkzeug der Regierung. Sie wird zu einem Mittel der „Lenkung und Unterdrückung“ zu einer Art „geistigem Faustrecht“, das destruktiv gegen Mitmenschen eingesetzt wird. Dieses geistige Faustrecht hat Inge Hannemann erfolgreich „angenagt“ – so bezeichnet Georg Simmel den Akt der Enthüllung. Sie konnte die Lüge „annagen“, weil sie deren unproduktiven und destruktiven Charakter erkannte. Und zwar, weil sie die offizielle Welt kannte und die „Welt hinter der Welt“ - eine Parallelwelt, bewohnt vom „Monster des Bodenlosen“.
Was Inge Hannemann in ihrer Praxis erlebte, die Entpersönlichung von Menschen und damit die Dehumanisierung von Bürgerinnen und Bürgern ist ein Skandal, der es wert ist, enthüllt zu werden. Aber die eigentliche Diagnose muss noch tiefer zielen. In Behörden, deren heimliches Leitmotiv die Bestrafung der Armen ist, werden Subjekte zu Objekten degradiert. Die Lüge besteht darin, dies noch euphemistisch als „Dienst am Kunden“ oder „Umgang mit Klienten“ auszuweisen. Das „Monster des Bodenlosen“ ist letztlich die Tatsache, dass dies keinem Zufallsprinzip, sondern einem Prinzip geschuldet ist. Wie schon Simmel deutlich machte, hat dieses Prinzip weitreichende Folgen:
Mit Menschen, denen man die Persönlichkeit raubt, „wird (...) viel rücksichtsloser, viel gleichgültiger (...) verfahren.“ Und eine strenge Ordnung hält für jeden nur ein „stilisiertes Gewand bereit, in dem seine persönlichen Umrisse verschwinden.“ Diese „Ausschaltung der differenzierten Persönlichkeit“ führt zu Gleichgültigkeit, zu einer Gesellschaft, deren Herz erkaltet. Und die Entpersönlichung mündet letztlich in Verantwortungslosigkeit.
Genau dagegen hat Inge Hannemann erfolgreich protestiert, indem sie die Lüge enthüllt hat, ohne ein Geheimnis zu verraten. In der Bürokratie der Jobcenter geht es nicht um Staats- oder Betriebsgeheimnisse, die eines besonderen Schutzes bedürfen. Vielmehr geht es um Lügen, die uns über die längst fortgeschrittene moralische Korrumpierung täuschen sollen. Die moralische Korrumpierung besteht im Kern darin, die eigenen Bürgerinnen und Bürger zu „Feinden“ zu erklären. Das Wissen darüber und dessen rebellische Enthüllung machte Inge Hannemann zu einer Person, die uns die Chance bietet, die eigene Gesellschaft – und damit auch uns – wieder ein wenig besser zu verstehen.
Das verdient Anerkennung und Lob. Auf dieses Lob bin ich immer wieder gestoßen: Schlage ich eine Zeitschrift auf, in der ich einen Artikel veröffentlicht habe – wer schreibt ebenfalls dort? Inge Hannemann. Halte einen Vortrag in einer x-beliebigen Stadt, fragt man mich, wer dort eine Woche zuvor geredet hat. Inge Hannemann. Und immer tauchen dabei Anerkennung und Lob darüber auf, da jemand mal nicht vor dem „Monster des Bodenlosen“ weggelaufen ist.
Vielmehr redete Inge Hannemann mit denjenigen Menschen, die von dem neuen System direkt betroffen sind. Als wir uns das erste Mal trafen, waren schon die Spuren einer langen Serie von Erfahrungen am Rande der Irrationalität ihrer Behörde, zu spüren. Niederlagen dort, wo sie sich Siege erhofft hatte. Sie war voll mit einem unfassbarem Stauen darüber, wie ihre direkte, gleichgeschaltete Umgebung überhaupt nicht mit ihrer rebellischen Einstellung umgehen konnte. Und sie war voll mit einer wunderbaren, lebendigen, gesunden Wut. Damals, in der Hamburger Kneipe, zitiert ich für sie Kalle Lasn (einen Globalisierungskritiker): „Wut ist das einzig ehrliche Gefühl“. Die Wut von Inge Hannemann ist deshalb so ehrlich, weil sie besser als andere das „Monster des Bodenlosen“ aus unmittelbarer Anschauung kennt.
Aber den Kern dessen, was wir heute hier auszeichnen, habe ich immer noch nicht berührt. Ich möchte es in einem abschließenden Satz zumindest andeuten:
Das Problem unseres Staates besteht darin, dass statt Menschlichkeit Recht zur Anwendung kommt. Die edelste Form von Menschlichkeit besteht aber im Verzicht darauf, recht zu haben. Exakt das ist es, was Inge Hannemann auszeichnet: der ganz praktische Verzicht darauf, recht zu haben und stattdessen Menschlichkeit walten zu lassen. Exakt für diese Lehre, diesen Akt praktischer Enthüllung, und diese Form der Zivilcourage sind wir alle Inge Hannemann zu großem Dank verpflichtet!
Liebe Inge, ich gratuliere dir zu deiner Auszeichnung, dem Marburger Leuchtfeuer für soziale Bürgerrechte! Alle Gute für deine weitere Arbeit als Rebellin!
Unser Land braucht diese Form der Rebellion mehr als vieles andere.
0 notes
Text
Funktionsmaschinen
An meinem letzten Abend im ach so pittoresken Cambridge prallen Gegensätze aufeinander, so, wie es nur das wahre Leben bieten kann. Ich besuche eine Vorlesung von Richard Sennett und als braver Soziologe müsste ichmich jetzt wohl ganz der Bewunderung hingeben. Aber stattdessen springt mich eine Gegenwelt an.

Ich erfahre von der Schattenseite Cambridges’ und am meisten wundert mich, dass mich gar nichts wundert. Nach über einem Monat in dieser, aus 31 weltberühmten Colleges bestehenden, Stadt (und als Gast eines dieser Colleges) überrascht mich kaum, was ich über die Drogenkultur unter den Studierenden erfahre. Und doch ist das, was ich erfahre, von großem soziologischen Interesse. Der letzte Tag bietet mir einen viel umfassenderen Einblick, als die Vorlesung von Sennett.
Die „unabhängige“ Studierendenzeitung VASITY veröffentlichte am 27. Februar eine Recherche über den Drogenkonsum unter den Studierenden der vielen Colleges. Sie basiert auf Interviews mit Menschen, die verständlicherweise anonym bleiben wollen.
Im Beitrag wird deutlich, dass die Volksdroge Alkohol – gleichwohl nicht eben unbeliebt unter „normalen“ Studierenden – bei den „High-Flyern“ dieses Zentrum der akademischen Welt eher verpönt ist. „It makes you so f***ing lazy“, so die prototypische Aussage eines der interviewten Drogenkonsumenten. Und Trägheit oder Faulheit gehören an diesem Ort nicht gerade zum vorherrschenden Rationalitätsmythos. Hier geht es nicht um Leistung, hier geht es um Höchstleistung. Vom allerersten Augenblick an, lernen die Studierenden, sich als hochtourige Funktionsmaschinen zu verstehen.
Konsumiert wird in dieser Kultur so gut wie alles: Cannabis, Kokain, Crack, Ketamine (ein Mittel, das eigentlich zur Beruhig von Pferden eingesetzt wird – allein das spricht Bände), Valium und vor allem Exstasy, der beliebte „All-Nighter“ unter den Drogen. Diese gelangen per Post aus Berlin, werden von Bekannten aus London mitgebracht oder bei Einheimischen Dealern besorgt, was den Elitestudierenden „irgendwie ein schlechtes Gefühlt gibt“. Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, aber kaufe ruhig deren Drogen. Gedealt wird an Plätzen, die ich bislang mit ganz anderen Augen gesehen habe.
Wirklich interessant aber ist die Begründung für den Konsum der Drogen. Zumindest für einen, der aus einem Ort im Schwarzwald kommt, der vorgibt, eine „Stadt“ zu sein und dessen einziges Kulturzentrum bis 22 Uhr geöffnet ist und REWE heißt. „We just have a really shitty nightlife“, fasst einer der Befragten die gefühlte Monotonie in Cambridge zusammen. Aus Furtwangen kommend, einen Ort, an dem das kommunale Guckloch-Kino dann und dann einen Film mit mehrjähriger Verspätung zeigt, kam mir das Leben hier eher prall und exotisch vor: Theater, Konzerte, Filme, Vorlesungen von weltberühmten Persönlichkeiten, so, als wäre all dies das Normalste der Welt. Es ist eben alles relativ. „Die Monotonie des Lebens in Cambridge ist kaum zu ertragen“, so weiterer Interviewpartner, „man geht zur Ersti-Party, man ist angepisst und so geht es dann weiter.“ Ich würde gerne mal einige dieser Langeweiler für ein Semester nach Furtwangen verpflanzen. So ein kleines Experiment. Nur um zu sehen, welche Drogen sie dort nehmen. Ethisch sicher nicht korrekt, aber es wäre spannend, diese Zöglinge von reichen Familien bei der „Media-Night“, im „Speicher“ oder in der „Ubache“ (der einzigen Studentenkneipe) zu erleben. Hier gibt es Nachclubs, aber das ist ja alles so langweilig.
Drogen sind zwar stigmatisiert (anders als Alkohol, obwohl dies ja bekanntlich auch eine Droge ist) und in allen Colleges verboten (es drohen bis zu sieben Jahre Gefängnis), aber letztlich passiert nie etwas. Hier ist der Student eben wirklich noch „Kunde“. Sicher findet man immer eine Lösung. Die Drogen selbst sind nach einem Ratingverfahren in Class A, B und so weiter eingeteilt, wie Länder, Banken und überhaupt alles heutzutage. Da Drogen aber nicht von der Heilsarmee verteilt werden, gibt es bei Drogenkonsumenten eine soziale Hierarchie: Kinder reicher Eltern bevorzugen Kokain. Warum, ist hoffentlich bekannt.
Ein Drogenproblem scheint aber insgesamt niemand zu haben. Das ist das soziologisch interessante am der Umfrage. Naiv gedacht würde man doch davon ausgehen, dass die Drogen eine Reaktion auf den Stress sind, die Überforderungen, die einer totalen Erschöpfung gleichkommen. Studierenden müssen hier Woche für Woche zwei Essays schreiben. Und sie studieren in Trimestern. Aber der Drogenkonsum ist keine Reaktion des „optimierten Selbst“ auf die Anforderungen der Leistungsgesellschaft. Hier wird es soziologisch interessant: Drogen werden gerade NICHT konsumiert, um die Leistung zu steigern (also im Sinne von Enhancement), sondern um die Monotonie (ich kann es immer noch nicht fassen) niederzuringen. Sie sind ein Mittel des Eskapismus. Vielleicht auch, weil die überzüchteten Gehirne mit der Zeit für Reize immer anspruchsvoller werden. Was mir fast wie ein Wunderkabinett erscheint, ödet die Funktionsmaschinen nach einem Semester schon so an, dass eine Pille gegen die Langeweile herhalten muss.
Es ist also umgekehrt so, dass die allgegenwärtigen Leistungsanforderungen die Drogenkonsumenten davon abhalten, abhängig zu werden. In Cambridge ist man nicht süchtig, sondern hat eine „appreciation“ für Drogen. Es ist, so die „urban legend“, sogar fast unmöglich süchtig zu werden, da dauernd face-to-face Meetings mit den akademischen Betreuern stattfinden. „You wouldn’t turn up f***ed to a meeting“ – das ist ja nett. Aber kann es sein, dass diese High-Flyer auch beim Drogenkonsum so ambitioniert und kontrolliert sind, wie beim Studium?
Die glorreiche Erklärung ist ein Musterstück der Rationalisierung und Verharmlosung: Studierende, so die Legende, können gar nicht süchtig werden, weil dies zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Zeit, die hier niemand hat, weil das Programm zu dicht und zu straff ist. Da kann es sich niemand erlauben, Energie zu verlieren. Nur ab und zu muss eben die Monotonie genau dieses dichten und straffen Programms mit ein paar Pillen niedergerungen werden. Wohlan, wenn sich niemand von der Arbeit abhalten lässt, dann sind Drogen doch eine wunderbare Sache, oder? Jedenfalls bleibt man sich hier in Cambridge selbst beim Drogenkonsum treu, indem man sich für „high-functioning individuals“ hält (so ein Absolvent eines Colleges). Der „busy lifestyle“ der Stadt tut ein Übriges. Dies resultiert in einem sehr funktionalen Drogengebrauch und gerade dieser, so meine Haupterkenntnis, bereitet für das wirkliche Berufsleben vor. Drogenkonsum ist letztlich eine informelle Lernstrategie. Vielleicht ist es an der Zeit, die Curricula umzuschreiben. Hinein gehört ein Selbstbild, dass die Selbstzerstörung als Innovation zelebriert.
Dazu muss man wissen, dass hier zwar viele schöne exotische Fächer studiert werden, aber letztlich mehr als die Hälfte der Absolventen in sog. ABC-Berufen landen: Accouting, Banking, Controlling. Spätestens im Berufsleben zahlt sich dann der eingeübte funktionale und souveräne Umgang mit Monotonie aus. So manches Praktikum im Bankenwesen in London sollen Studierende nach Auskunft von VARSITY komplett „high“ verbracht haben. Das bedeutet, dass das Studium einmal wirklich angemessen auf das (Berufs-)Leben vorbereitet. Wie sonst, außer unter Drogen, sollte man solche Berufe auch ertragen?
Und das Beste spart man sich für später auf. Drogenkonsumenten sind letztlich Biedermänner. Einer der Befragten, ein 19jähriger Student, gibt im Interview an, dass er noch mit 25 „exciting things“ machen möchte. Und dafür spart er sich den Kokainkonsum für später auf. Er möchte erst richtig Karriere machen.
Weil es ihn sonst zu schnell langweilen würde.
0 notes