suecobjoern
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Björn in Schweden
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suecobjoern · 4 years ago
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Vier Wochen Schweden: Erste Eindrücke vom echten Norden
Modern. Frei. Selbstbestimmt. Das sind die ersten Adjektive, die mir nach vier Wochen Schweden in den Sinn kommen. 
Warum modern?
Ohne es mit Zahlen belegen zu können, glaube ich schon, dass die Skepsis vor dem Digitalen, wie sie in Deutschland noch immer vorherrschend ist, in Schweden fast gar nicht im Bewusstsein der Menschen ist. Vielmehr, so hat es ein schwedischer Mitbewohner eines Freundes ausgedrückt, seien die Schweden, er musste schmunzeln, ein “bequemes Volk”, das versucht sich das Leben so einfach wie möglich zu machen. Und ich meine: “Why not?”. Von der Zimtschnecke bis zum Toilettengang lässt sich hier alles kontaktlos per Kreditkarte bezahlen, vielerorts ist Bargeld entweder unnötig oder bereits ganz abgeschafft. Modern ist hier auch, dass in jedem Laden und jedem Imbiss eine Nummer gezogen bzw. zugeteilt wird, mit der man sich das Essen dann auf Aufruf abholen kann. Auch das super smart, zeitsparend und effizient. Manchmal glaube ich es selbst noch gar nicht, aber ich bin die letzten 4 Wochen nur in Ausnahmefällen mit Geldbeutel aus dem Haus gegangen. Allermeistens reicht das Handy, auf dem die Kreditkarte per NFC abgespeichert ist.
Warum frei?
Die Schweden sind ein linksliberales Land. Das lässt sich im Großen und Ganzen auf jeden Fall unterstreichen. Ich habe wirklich das Gefühl, dass Aussehen, Herkunft oder Lifestyle hier in weiten Teilen keine Rolle spielen, sondern man als dass behandelt wird, was alle verbindet: Als Mensch! Und das ist ein sehr angenehmes Gefühl, weil ich, obwohl mein Name schwedisch klingt, durchaus auf Englisch angesprochen werde, weil auch das natürlich keine Rolle spielt. Es gibt keine besonderen kulturellen Zwänge oder Normen, sondern jede und jeder scheint hier willkommen. Offenheit über Tradition, sehr sympathisch wie ich finde. Noch etwas, das mir wichtig erscheint: Die Gemeinschaft und Übereinkunft (kritisch gesagt: mangelnde Kritikfähigkeit) der Schweden. Das tatsächlich schon alte Konzept der Konsenskultur besagt, dass es einen gesellschaftlichen Korridor gibt, in dem Meinungen existieren und von diesem Mainstream aus, man schwer abweichen kann, ohne dass dies Aufsehen erregen würde. Finde ich in Maßen sinnvoll, denn: Eine Gesellschaft braucht mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, um funktionieren zu können. Aber natürlich kann zu viel Konsens auch demokratiegefährdend sein. (siehe)
Warum selbstbestimmt?
Auf der Straße wird man hier meist nicht angeschaut oder angesprochen, zumindest nicht, wenn man einander nicht schon gut kennt. Das führt dazu, dass der Individualismus schon sehr hoch gehalten wird, aber auch dazu, dass die Schweden sehr respektvoll und wertschätzend miteinander umgehen und tolerant gegenüber der Selbstbestimmung des jeweils anderen sind. Auch das ein relativ schönes Konzept, weil es zeigt, dass niemand ausgegrenzt ist, der sich nicht selbst aktiv ausgrenzt oder den Meinungskorridor verlässt.
Modern, frei, selbstbestimmt. Auch wenn viele Ideen der Schweden idealistisch sein mögen, die Offenheit für Neues wird hier großgeschrieben. Sehr begrüßenswert!
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suecobjoern · 4 years ago
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Bandenkriminalität vor der Haustüre
Seit Anfang des Monats wohne ich in Linköping, einer Universitäts- und Industriestadt südöstlich von Stockholm. Und obwohl mir die Thematik der Bandenkriminalität in Schweden, die in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewann, durchaus Sorgen machte, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass das Thema mir so schnell so nah ist.
Gestern Abend um 19 Uhr fielen Schüsse, in einem Gebäude in unmittelbarer Nachbarschaft zu meinem, in einem bei Studis beliebten Bezirk am Rande der Stadt. Ein, zwei Warnschüsse, nach unbestätigten Informationen im Zusammenhang mit einem Drogendeal, und eine Festnahme waren die Bilanz des Abends. Zunächst: Ich bin sicher, auch wenn der Schock nach gestern Abend Freund*innen und Mitbewohnenden, eigentlich uns allen, anzusehen ist.
Wie konnte es soweit kommen? 
Zunächst einmal die Facts: Nach Stern-Informationen wurden dieses Jahr in Schweden (und das heißt vor allem in den Bezirken am Rand der großen Städte) bisher 25 Menschen getötet und 53 Personen verletzt. Bemerkenswert ist auf Täter*innenseite der hohe Anteil an Minderjährigen, die immer öfter als Täter*innen agieren und - so der Verdacht - von Erwachsenen geschickt werden, um einer Strafe nach dem Erwachsenenstrafrecht zu entgehen.
Soziale Präventionsarbeit zu lange vernachlässigt
Wie ein Beitrag des Deutschlandfunks aus dem vergangenen Jahr nahelegt, liegt das Problem in der milden Bestrafung der Täter*innen einerseits. Andererseits liegt die Problematik tiefer: Gerade die Perspektivlosigkeit und zunehmende Jugendarbeitslosigkeit in den Randbezirken verführe zu Racheakten, Drohungen und Drogenkriminalität. Auch in Schweden scheint der Mangel an Social Work Strukturen zu begünstigen, die die Perspektivlosigkeit der von Armut stärker betroffenen Jugendlichen in den Randbezirken zu verschärfen.
Waffenbesitz auch hier ein Problem
Eine weitere Wurzel des Problems ist sicher der illegale Waffenbesitz. Leider habe ich dazu keine aktuellen Daten (freue mich über Ergänzungen). Stand 2007 war in Schweden laut Statista jede*r Einwohner*in durchschnittlich im Besitz von 0,4 Waffen. Damit liegt Schweden im oberen Mittelfeld der Statistik.
Ressentiments helfen nur den rechtsextremen Schwedendemokraten
Am Ende möchte ich noch mal betonen, wie wichtig es für uns alle, für den Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt ist, dass wir uns gegen Instrumentalisierungen dieser kriminellen Vorfälle wehren. Die Schwedendemokraten konnten bei der Parlamentswahl vor drei Jahren 17,6% der Stimmen holen, für die nächste Wahl 2022 drohen weitere Zugewinne. 
Kein einziges Problem wird gelöst, wenn wir jetzt auf Ressentiments hineinfallen, für die den Rechtsextremen jedes Ereignis zur Instrumentalisierung recht ist.
Bleibt safe, bis dahin! 
Björn
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