Tumgik
#Abstinenzkampf
agatha-abstinent · 8 years
Text
Tag 717 / “Empörung ist mein Lieblingsgefühl“
sage ich leicht ironisch in der DBT-Gruppe, denn Empörung kommt eigentlich in jedem meiner Anspannungsprotokolle vor.
Ob es mir hilft, empört zu sein, werde ich gefragt. Ja, ich glaube schon. Ich finde Empörung gut. Toll sogar.
Wut und Ärger haben ja etwas Körperverkrampfendes. Traurigkeit, Enttäuschung, Scham, Hilflosigkeit haben etwas Körperkrümmendes. Aber die Empörung, die richtet mich auf.
Ich gebe zu, dass Empörung bisweilen bei mir anspannungssteigernd wirken kann. Doch lieber bin ich aufgerichtet angespannt, als krumm-kauernd traurig.
Seit ich abstinent bin, empfinde ich sehr häufig Empörung. Viel, viel, viel häufiger als in der Zeit zuvor. Und sehr häufig bezieht sich die Empörung auf mein Suchtmittel oder den Umgang mit Sucht und Süchtigen.
Und so wie ich an Tag 334 festgestellt habe, dass meine Angst mich schützt auf dem Trockenheitsweg, so wird mir heute, an Tag 717, bewusst, dass meine Empörung ebenso eng "mit meiner Selbstwirksamkeitserwartung, mit meiner Selbstfürsorge, meiner Selbstwahrnehmung, meiner Entscheidung für den neuen Weg, meiner Konsequenz und Abstinenz" zusammenarbeitet.
Ich, Agatha, kann diesem omnipräsenten Alkohol ohne Warnhinweise, kann der Alkoholstrom-Konsumgesellschaft, kann den abhängigkeitsfördernden TV-Beiträgen, Büchern, Werbemaßnahmen, kann den versoffenen Fußballstadien (...) nicht mit Gleichmut begegnen. Gelassenheit, Akzeptanz, Toleranz, wenn da ein ganzes Weinregal im Nicht-Getränkemarkt-Supermarkt bei Rewe steht und keine einzige 0,75 l Flasche Wasser, wenn in jeder Arztserienfolge Alkohol getrunken wird, wenn zu bestimmten Uhrzeiten in bestimmten Bahnen mehr Menschen Bierpullen als Handys festhalten, wenn Selbsthilfegruppenmitglieder vom passiven Beiwohnen familiärer, freundschaftlicher oder kollegialer Trinksituationen berichten, (...) Gelassenheit, Akzeptanz, Toleranz, Gleichmut, Gleichgültigkeit würde mir, Agatha, da schaden. Zu einer Anti-Alkohol-Aktivistin gehört Empörung. Das ist mein Antrieb. Aber eben auch mein Überlebenstrieb. Empört greife ich nicht aus Versehen zu, stoße ich nicht im Affekt mit an. Empört wende ich mich ab. Und richte mich auf.
0 notes
agatha-abstinent · 8 years
Text
Tag 500 /  "Sie hat so gekämpft."
“Sie war so stark.” “Sie machte anderen Mut.” “Sie ging so offen mit ihrer Krankheit um.” “Wir sind fassungslos.”
Ich will nicht, dass andere das bald über mich sagen. Ich will nicht "plötzlich und unerwartet". Ich will nicht, "obwohl wir dachten, sie habe die Krankheit überwunden". "Obwohl sie so viele Pläne hatte, voller Zuversicht war."
Es gibt keine Garantie. Keine endgültige Genesung. Keine Gewissheit. Keine endlose Gesundheit.
Vor fünf Tagen habe ich so viel geheult. Wegen der Mutter, der Schwester, wegen mir und meiner Krankheit und wegen einer prominenten Frau, die am Tag zuvor an ihrer Krankheit gestorben ist. Ich habe schluchzen und weinen müssen, weil es mich sehr berührt, dass diese Frau, die vor 18, 17 und 16 Jahren regelmäßig über das Radio in meiner Wohnung war, die mit mir sprach, die Lieder anmoderierte, zu denen ich mitsang oder mitschwang, ihrer Krankheit erlegen ist. Auch dass sie ein Kleinkind hinterlässt, dass dies nun ohne Mutter weiter aufwachsen wird, berührt mich.
Doch was da auch noch massiv mitschwang, war mal wieder, dass alle, die Welt, die Medien, ich ja auch, so sehr mitfühlen, mittrauern, mitleiden, wenn es Krebs ist, dass diese Frau mit ihrer Krankheit in die Öffentlichkeit ging, ihre Prominenz nutze, um anderen zu helfen, Mut zu machen, die Entstigmatisierung voranzutreiben und dass mir keine einzige prominente, berühmte, bekannte Frau einfällt, die an ihrem Kampf gegen Sucht, gegen Alkoholismus oder meinetwegen auch gegen Kokainabhängigkeit die Öffentlichkeit hat so teilhaben lassen, dass Mut, Entschlossenheit, Hoffnung und Ehrlichkeit vermittelt wurden.
Eins der schmerzhaften, ergreifenden Tabuthemen bei Krebs ist, soweit ich weiß, dass Frauen sich nach Brustamputationen nicht mehr als Frau fühlen, nicht mehr begehrenswert, nicht mehr weiblich, dass dieser chirurgische Eingriff tiefgreifende Folgen für Sexualität, Selbstwert, Selbstbewusstsein haben kann. Ähnlich vermute ich, erleben Männer das nach einer OP in Folge von Hodenkrebs.
Bei meiner Krankheit sind die Heilungschancen auch schlecht. Die Diagnose stellte für mich einen eklatanten Einschnitt dar. Es wurde nicht operiert. Aber es wurde mir radikal ein großes Stück Lebensqualität genommen. Wie dramatisch das ist, realisiere ich je länger ich trocken bin, je bewusster. Ich fühle mich manchmal nicht mal mehr als Mensch. Ich fühle mich nicht als Teil dieser Gesellschaft. Ich fühle mich abgeschnitten, ausgegrenzt, nicht ernst genommen, nicht respektiert. Und trotzdem gehe ich diesen Weg weiter. Doch mir fehlt da manchmal auch eine starke Frau, ein Idol, jemand, der mit Medienpräsenz ein kleines bisschen Menschsein für all die Alkoholikerinnen zurückerobert.
Den Suchtkranken fehlt eine Lobby. Den Suchtkranken fehlen Personen des öffentlichen Lebens, die sich offen zu ihrer Abhängigkeit bekennen und versuchen, dauerhaft abstinent zu leben. Frau Elvers, hätten Sie nicht die Möglichkeiten, die finanziellen Mittel, die Kontakte, eine Stiftung für Alkoholkranke Frauen ins Leben zu rufen? Frau Sass, Frau Baal, warum finde ich kaum aktuelle Artikel über Sie und ihren bisher wohl erfolgreichen Kampf gegen Alkoholismus?
Es kann überhaupt nicht sein, dass es so wenige prominente deutsche Alkoholikerinnen gibt! Wenn überhaupt, ist meist von Männern die Rede. “Ich war Alkoholiker.” heißt es dann oft in Interviews mit deutschen Musikern, Schauspielern, Moderatoren. Was ich zu Beginn meiner Auseinandersetzung mit Alkoholabhängigkeit gelernt habe bei meinen ersten, erfolglosen Versuchen, trocken zu werden, war, dass ich Alkoholiker bleibe. Manche von diesen vermeintlichen Stars sagen in Interviews, dass sie nur noch gemäßigt Alkohol konsumieren, dass sie ab und zu ein Glas trinken, dass sie jetzt den Umgang mit Alkohol gelernt haben. Vielleicht waren die nie Alkoholiker, denn Alkoholiker können nicht irgendwann wieder gemäßigt trinken, das geht nicht lange gut. Das weiß man, das liest man, das hört man. Auch mit mir in der Klinik waren Alkoholiker, die gehofft hatten, nach neun Jahren Abstinenz wieder mal ab und zu einen trinken zu können. Die Folge von dieser auch noch von der Prominenz vorgelebten Idee war der rasche Totalabsturz. “Praxis weg, Auto weg, Frau weg.” Bei dem einen Schauspieler, der in der Münchner Gegend wohnt, sehe ich auch quasi nur die positiven Seiten seiner Abstinenz. Wie schwer der Kampf ist, wie zäh das Trockenbleiben sein kann, wie hart es ist, Versuchungen zu widerstehen, wie unerklärlich Rückschritte, Rückfälle erlebt werden, wie einschneidend diese Abstinenzentscheidung, der Trockenheitsweg, wie Leben umwälzend sich das gestaltet - ich finde darüber so wenig, kaum etwas, fast nichts von öffentlich bekannten weiblichen Persönlichkeiten, die Vorbild sein könnten.
0 notes
agatha-abstinent · 9 years
Text
Tag 381 / Für diesen Tag haben mich die Posts gerettet
Bei facebook die Posts der Gruppe Alcoholics Anonymous durchgesurft. Da schreiben die meisten wie lange sie trocken sind. "Gefällt mir", Herzen, "Wow" gesendet und einem 30 Tage Trockenen auch ein paar Worte als Kommentar geschickt. Da war ich wieder verbunden mit dem, worum es für mich hauptsächlich geht. Mit den Mitstreitern. Mit einer weltweit großen Mannschaft. Sharing is caring. Ich find es super, dass es diese facebook-Gruppe gibt. Aber mit meinen persönlichen Account mit meinen Namen wie er im Pass steht, sodass Freunde und wohlmöglich Freunde von Freunden sehen könnten, dass ich da Mitglied bin, dass die auf diese Weise erfahren "Oh ha, Agatha ist wohl Alkoholikern!" - das kann ich nicht noch nicht, vielleicht nie. Oder ich kann es dann, wenn die alle inhaliert haben, was Friedrich von Bodelschwingh in einem Gedicht irgendwann zwischen den Jahren 1831 und 1910 schrieb:
Wenn du einem geretteten Trinker begegnest, da begegnest du einem Helden.
Es lauert in ihm schlafend der Todfeind, er bleibt behaftet mit seiner Schwäche und setzt seinen Weg fort durch die Welt der Trinkunsitten, in einer Umgebung, die ihn nicht versteht,
in einer Gesellschaft, die sich berechtigt hält, in jämmerlicher Weise auf ihn herabschauen,
als einen Menschen zweiter Klasse, weil er es wagt, gegen den Alkoholstrom zu schwimmen.
Du sollst wissen: Er ist Mensch erster Klasse.
Und weil dieses Zitat mir da in der internationalen AA-Gruppe innerhalb des blauweißen sozialen Netzwerks auf Englisch begegnet war und weil mich die Worte "hero", "disability", "contempt" und auch der Schlusssatz "No better people are made than this." so sehr berührten, poste ich das Gedicht hier als Bild auf Englisch und auch mit der Übertragung auf alle Abhängigen anderer Drogen, nicht nur der Droge Alkohol.
0 notes