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#sprachpsychologie
inkognito-philosophin · 4 months
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Über Depressionen sprechen – Sprache und Wahrnehmung
Die Art und Weise, wie wir über Depressionen und andere psychische Phänomene sprechen, spiegelt nicht nur unser Verständnis davon wider, sondern formt auch unsere Einstellungen und Reaktionen gegenüber Menschen, die von solchen Zuständen betroffen sind. Sprache beeinflusst, ob und wie Empathie, Verständnis und Unterstützung in der Gesellschaft entstehen. Müssen wir also alle unsere Sprache über Depressionen ändern?
Die Macht der Worte
Interdisziplinäre Studien zeigen, dass unser Sprachgebrauch nicht zu unterschätzen ist. Bereits ein einziges Wort kann den Unterschied machen, welche Alternative wir wählen oder welche Entscheidungen wir treffen.
"Man kann nicht nicht kommunizieren."  -- Paul Watzlawick (1)
Sprache trägt und schafft Bedeutung. Dabei kommt es nicht nur auf die Wortwahl an, sondern auch auf die Satzstellung (Syntax), die Entscheidung für eine Formulierung und gegen eine andere, die Intonation (Betonung) und vieles mehr.
Selbst Schweigen sendet Zeichen aus.
Sozialkonstruktivismus
Über Sprache und Wirklichkeit
Die sozialkonstruktivistische Theorie geht davon aus, dass unsere Erfahrungen und unser Handeln im Grunde durch die Sprache geformt werden. So stehen Sprache und Realität, Kultur und Psyche, Individuum und Gesellschaft in einer Wechselbeziehung. Es ist die Sprache, die uns in die Lage versetzt, unser Verhalten zu beschreiben.
Ohne diesen sprachlichen Rahmen wären wir gar nicht fähig, zu handeln. Wir sind nicht nur passive Empfänger der kulturellen Konzepte und Theorien; vielmehr gestalten wir uns selbst durch sie und verändern uns ständig im Zuge dieser Interaktion (Loopingeffekt).
Dieser Ansatz greift auch bei Depression: Die Art und Weise, wie Depressionen wahrgenommen und behandelt werden, ist tief in der jeweiligen kulturellen Auffassung verwurzelt. So beeinflusst die gesellschaftliche Interpretation von Depression, wie Betroffene sich selbst wahrnehmen und wie sie mit ihrem Zustand umgehen (können). Die Gesellschaft und ihre Sprache sind also nicht nur Spiegelbild, sondern auch Mitgestalter von Lebensrealitäten.
Beispiel – „Bestie“ vs. „Virus“
Ein Journalist sollte eine Metapher für die steigende Kriminalitätsrate in einer Stadt nutzen (7): entweder das Wort „Bestie“ oder „Virus“. Tatsächlich beeinflusste die Wahl des Begriffes, wie die Test-Leser:innen mögliche Lösungsansätze bewerteten.
Stand im Artikel das Wort „Bestie“, führte dies dazu, dass mehr Menschen für entschlossene polizeiliche Maßnahmen plädierten.
Wurde das Wort „Virus“ verwendet, befürworteten die Probanden Ursachenforschung und soziale Reformen.
Emotionen und Sprache
Auf neurologischer Ebene zeigt sich, dass jede emotionale Erfahrung auch Aktivitäten in Gehirnregionen umfasst, in denen sprachliche Bedeutungen verarbeitet werden (2). Auch belegt ist, wenn wir Worte finden, um unsere negativen Emotionen auszudrücken, regulieren wir offenbar unsere Gefühle und stabilisieren uns dadurch (3). Warum das so ist, weiß niemand genau. Jedenfalls wird vermutet, dass der verbale Ausdruck von Gefühlen Unsicherheiten reduziert (4).
Die andere Seite der Medaille: Wenn wir Emotionen mit Worten ausdrücken, setzen wir einen subjektiven Anker im Hinblick auf die Semantik (5). Deswegen werden Menschen in Psychotherapien angehalten, mithilfe einer neuen sprachlichen Rahmung ganz neue Sichtweisen zu verankern.
Als wäre das nicht alles schon tricky genug, hat auch noch die Art und Weise, wie wir Sätze bauen (Syntax = Satzkonstruktion), Einfluss auf unsere situative Wahrnehmung. Einfaches Beispiel:
»Maria schenkte ihrem Bruder zum Geburtstag ein Fahrrad.«
»Ein Fahrrad schenkte Maria ihrem Bruder zum Geburtstag.«
Beide Sätze schildern das gleiche Ereignis, aber die Satzanfänge lenken die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Aspekte der Aussage. Im ersten Satz steht Maria im Mittelpunkt, während im zweiten Satz das Fahrrad hervorgehoben wird.
Grammatikalisches Geschlecht
Selbst die Artikel / Begleiter von Nomen wirken sich darauf aus, wie wir ein Objekt oder ein Geschehen einordnen. So stellte man in einer Studie fest, dass deutschsprachige Personen eine Brücke als „elegant“, „zerbrechlich“ und „hübsch“ beschrieben, wohingegen spanischsprachige Personen sie als „groß“, „stark“ und „robust“ wahrnahmen. Interessanterweise wurde die Studie in englischer Sprache durchgeführt, in der das Wort „Bridge“ kein grammatisches Geschlecht besitzt.
Dies verdeutlicht, dass sogar kleine Grammatikunterschiede in der Muttersprache wesentlichen Einfluss darauf haben können, wie wir über Dinge denken.
Längst wissen wir auch, dass „der Sprachgebrauch von Lehrkräften, Eltern oder den Medien“ die „geschlechtsspezifischen Stereotypen von Kindern über Berufe“ (6) ebenfalls prägt.
Wie sehr beeinflusst Sprache das Denken und Verhalten?
Die linguistische Relativitätstheorie, wonach Sprache das Denken formt, sowie der Sozialkonstruktivismus sind ziemlich umstritten. Klar, es gibt Studien, die zeigen, dass Sprache unser Denken beeinflusst – aber ob und inwieweit Worte bzw. grammatikalische Kniffe unser ganzes Weltbild widerspiegeln oder determinieren, bleibt fraglich. Dass Sprache unser Denken komplett bestimmt, halten heute zumindest die wenigsten Wissenschaftler:innen für realistisch.
Trotzdem hat Sprache Einfluss. Und das nicht gerade wenig.
Kein Wunder, dass sie daher zum politischen Werkzeug wird – Stichwort Framing. Das ist so eine Art Denkrahmen, der unsere Interpretationen lenkt. Frames, die wir durch Worte setzen, skizzieren nicht nur eine Lage oder eine Herausforderung, sie flüstern uns auch eine Antwort / Reaktion darauf ein.
Über Menschen mit Depressionen sprechen
In der Regel stoßen Betroffene auf Unverständnis, Abweisung und Schuldzuweisungen, wenn sie ihren Familien, Freunden oder Kollegen von ihrer psychischen Erkrankung erzählen. Angesichts einer wachsenden Zahl an Diagnosen ist die Frage, wie man Stigmata erfolgreich begegnen kann, dringlicher denn je. Vgl. Stigmatisierung psychisch kranker Menschen
Glücklicherweise haben das auch die Fachwissenschaften eingesehen. Sie betonen, dass die Art und Weise, wie wir über psychische Gesundheit sprechen, einen wichtigen Ansatz für die Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten darstellt.
Judith Butler vermutet beispielsweise, je inklusiver eine Gesellschaft spricht, umso gerechter ist auch ihre Kultur. (Vgl. Das Unbehagen der Geschlechter)
Beispiel: Gehirn vs. Geist
In der medizinischen und psychologischen Fachwelt wird häufig der Begriff ‚Gehirn‘ im Zusammenhang mit Psyche und psychischen Krankheiten genutzt. Die Implikation ist, dass die Ursachen von Depressionen oder anderen psychischen Krankheiten hauptsächlich biologischer Natur sind.
Dieses biologische Modell, obwohl wissenschaftlich umstritten, hat weitverbreitete Akzeptanz in der Öffentlichkeit gefunden. Das Problem ist, dass es die Vielzahl an sozialen, psychologischen und ökologischen Faktoren vernachlässigt, die zur Entstehung von Depressionen beitragen.
Hinzukommt: In einer Forschungsarbeit von Kvaale et al. (10) wurde zum Beispiel nachgewiesen, dass eine biologische Erklärung für psychische Krankheiten die Stigmatisierung nicht zwingend verringert, sondern dass die Betroffenen ihre Erkrankung stattdessen als wenig veränderbar wahrnehmen.
Viele Neuropsychologen sowie auch Psychotherapeuten und andere Gesundheitsberufe verfallen in einen Reduktionismus. Sie machen den Fehler, das Gehirn und seine Aktivitäten als alleinige Grundlage für menschliches Verhalten, Gedanken, Emotionen und persönliche Erfahrungen anzusehen. In diesem Kontext wird die Psyche – das bewusste subjektive Erleben, Persönlichkeit oder freier Wille – als bloßes Epiphänomen der Gehirnfunktion betrachtet.
Doch was ist mit dem Verhältnis zur Umwelt, der individuellen Lebensgeschichte, soziokulturellen Einflüssen, Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen? All diese Aspekte prägen die menschliche Psyche maßgeblich und können nicht allein auf die funktionale Ebene des Gehirns reduziert werden.
Person-first-language Ansatz
In der wissenschaftlichen Gemeinschaft setzt sich zunehmend die Praxis durch, Formulierungen wie „Menschen mit einer Depression“ zu bevorzugen, anstatt von „Depressiven“ zu sprechen.
Der Gedanke dahinter: Letzteres reduziert Individuen auf ihre Erkrankung. Seit den 1990er-Jahren befürwortet unter anderem die American Psychological Association im englischsprachigen Raum die Anwendung dieser „personenzentrierten Sprache“.
Studie: Worte beeinflussen die Einstellung gegenüber psychisch kranken Menschen
Eine exemplarische Studie pro Person-first-language findet sich bei Granello und Gibbs (8): Mithilfe von 700 Probanden wurde untersucht, wie sich unterschiedliche Sprachformulierungen auf die Einstellungen gegenüber psychisch kranken Personen auswirken. Ein Drittel der Teilnehmer waren Studenten, ein weiteres Drittel zufällig gewählte Erwachsene aus einem Gemeindezentrum und der Rest professionelle Berater.
Das Resultat: Der Begriff „psychisch Kranke“ führte eher zu einer Zustimmung, dass diese kontrolliert oder isoliert werden sollten. Interessanterweise waren Berater besonders anfällig für diese Art der Beeinflussung. Die Forscher plädieren daher dafür, dass Medien und Gesundheitsberufe ihre Sprache ändern, um diesen Stigmatisierungstendenzen entgegenzuwirken.
Die genauen Gründe, warum Bezeichnungen wie „psychisch Kranke“ negative Assoziationen hervorrufen, ist nicht klar. Vermutet wird, dass derartige Begriffe die Vorstellung von gewalttätigen und gefährlichen Personen hervorrufen. Formulierungen wie „Menschen mit psychischen Erkrankungen“ werden vielleicht eher mit dem netten Nachbarn assoziiert, der an Burn-out erkrankt ist.
Stigmafreie Sprache – offizielle Empfehlungen
Kritik am Person-first-language Ansatz
So gut eine „personenzentrierte Sprache“ auch klingt, es gibt berechtigte Kritik.
Unnatürliche Sprache
Kritiker bemängeln, dass dieser Ansatz das Sprechen unnötig verkompliziert und im alltäglichen Gebrauch umständlich und schwerfällig ist. Ist es nicht absurd, wenn wir unsere Alltagssprache in ein Korsett zwängen, das eher einem bürokratischen Akt als lebendiger Kommunikation gleicht? Behindern solche konstruierten Sprachformen nicht die natürliche Gesprächsführung? Lange Phrasen wie „Menschen mit Depressionen“ lenken vom eigentlichen Inhalt der gesamten Äußerung ab.
Ich persönlich fühle mich jedenfalls nicht besser von meinem Gegenüber verstanden, nur weil es Formulierungen wie „Mensch mit psychischer Krankheit“ benutzt. Viel wichtiger sind meiner Meinung nach die weiteren Implikationen, die in der Interaktion und Kommunikation zum Ausdruck kommen.
Widerspricht der Selbstidentifikation
Die Person-first-language diktiert Sprachnormen, die eine merkwürdige Distanzierung schaffen und gerade bei psychischen Krankheiten schwer zu verstehen sind: Sind psychische Krankheiten denn so klar und komplett vom Selbst getrennt?
Einige Menschen mit Behinderungen bevorzugen die identity-first language (z. B. „blinder Mensch“ statt „Mensch mit Blindheit“), da dies ihrer Selbstwahrnehmung mehr entspricht und sie ihre Behinderung als integralen Bestandteil ihrer Identität sehen.
Hervorhebung der Krankheit
Der Sinn der Person-first-language ist, das Individuum vor die Krankheit zu stellen. Doch die kontinuierliche Betonung der Abgrenzung von Person und Erkrankung verstärkt das Stigma, da genau dadurch die Krankheit als eigenständige Entität in den Vordergrund rückt.
Latenter Paternalismus
Die Forderung nach Person-first-language ist oftmals ein externes Diktat, aber keine Entwicklung, die von den Betroffenen selbst ausgeht. Es sind noble Experten, die hier vorschreiben, wie wir zu sprechen haben.
Wie eine aktuelle Münchner-Studie zeigte, ist es müßig nach Begrifflichkeiten zu suchen, mit denen sich alle identifizieren können: „Letztendlich ist keiner der Begriffe neutral: Jeder Begriff weckt Assoziationen bzw. trägt Konnotationen, die bei Betroffenen auf Ablehnung stoßen (können).“
Dort wurde zum Beispiel häufig der Begriff „psychische Erkrankung“ kritisiert, da er auf eine Wiederherstellung des vorherigen Zustands abziele und somit das subjektive Erleben in der Krankheit als etwas Abnormes betrachte.
Fazit: Über Depressionen sprechen
Wie wir über Depressionen sprechen oder andere psychische Krankheiten trägt viel zu einem inklusiven, verständnisvollen Umgang in der Gesellschaft bei. Dennoch müssen wir die natürliche Sprache nicht durch idealisierte Sprachkonstrukte ersetzen.
Eine diskriminierungsfreie Idealsprache für eine ganze Gesellschaft zu schaffen, ist utopisch. Trotzdem schadet es nicht, sich immer wieder bewusst zu machen, wie unsere Formulierungen auf andere wirken.
Insbesondere die Medien und Fachwissenschaften sind hier in die Pflicht zu nehmen, nicht die Patienten.
Quellen:
(1) Watzlawick, P., Beavin, J. H., & Jackson, D. D. (2007). Pragmatics of Human Communication. A Study of Interactional Patterns, Pathologies and Paradoxes. (2) SatPute, A. B., & Lindquist, K. A. (2021). At the Neural Intersection Between Language and Emotion. Affective Science, 2(2), 207-220. (3) Lieberman, M. D., Eisenberger, N. I., Crockett, M. J., Tom, S. M., Pfeifer, J. H., & Way, J. H. (2007). Putting feelings into words: affect labeling disrupts amygdala activity in response to affective stimuli. Psychological Science, 18(5), 421-428. (4) Lindquist, K. A., SatPute, A. B., & Gendron, M. (2015). Does language do more than communicate emotion? Current Directions in Psychological Science, 24(2), 99-108. (5) Nook, E. C., Satpute, A. B., & Ochsner, K. N. (2021). Emotion Naming Impedes Both Cognitive Reappraisal and Mindful Acceptance Strategies of Emotion Regulation. Affective Science, 2(2), 187-198. (6) Vervecken, D., Hannover, B., & Wolter, I. (2013). Changing (S)expectations: How gender fair job descriptions impact children's perceptions and interest regarding traditionally male occupations. Journal of Vocational Behavior, 82(3), 208-220. https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0001879113000304 (7) Thibodeau, P. H., & Boroditsky, L. (2011). Metaphors We Think With: The Role of Metaphor in Reasoning. PLoS ONE, 6(2), e16782. (8) D. H. Granello, T. A. Gibbs: The Power of Language and Labels: „The Mentally Ill“ Versus „People With Mental Illnesses“ https://doi.org/10.1002/jcad.12059 (9) stigma-frei.at: Sprache und Formulierung (10) Kvaale et al.: The 'side effects' of medicalization: a meta-analytic review of how biogenetic explanations affect stigma. Clin Psychol Rev. 2013 Aug;33(6):782-94. doi: 10.1016/j.cpr.2013.06.002. Epub 2013 Jun 18. PMID: 23831861.
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sprachwandeln · 13 years
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Dein Name, Deine Vorlieben
"Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem eigenen Namen und wichtigen Entscheidungen im Leben, sagen amerikanische Forscher: Man bevorzugt Dinge und Menschen, deren Namen dem eigenen ähneln. Das gilt für die Partnersuche genauso wie für die Berufwahl und die Vorlieben beim Essen. Hervorgerufen wird diese Neigung durch die Tendenz des Menschen, die eigene Person und alles, was damit zusammenhängt, großartig zu finden – also auch den eigenen Namen. Wer sich mit Dingen ähnlichen Namens umgibt, betont dieses positive Selbstwertgefühl."
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