Tumgik
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Ratschläge
Vor einiger Zeit saß ich mit einer Frau in ihrer Küche. Es war der erste Tag, an dem es geschneit hat in diesem Winter und von dem Fenster aus konnten wir den Schneeflocken zusehen, wie sie in der Luft tanzten und sich ganz leise, fast vorsichtig auf die Oberflächen legten. Ihr Mann war vor ein paar Jahren gestorben, hatte sich zu Tode gesoffen, wie man auf dem Land sagt. Hier wird kein Blatt vor den Mund genommen, erklären sie nicht ohne Stolz, hier sind die Dinge, wie sie sind. Es war ein langer, schmerzhafter Prozess, von dem sie sich noch nicht erholt hat und von dem sie sich wahrscheinlich nie erholen wird. 
“Ich habe wirklich jahrelang gedacht, dass mir das nicht passiert,” sagte sie. “Die Leute haben mir ja schon lange gesagt, dass ich ihm nicht helfen kann, dass er sich nur selbst helfen kann und ich habe unzählige Bücher dazu gelesen, wie das mit Alkoholikern ist, für sie und für die Angehörigen, aber ich dachte trotzdem, dass das bei uns anders sein wird, dass ich stark genug sein würde, ihn da rauszuholen. Ich war wirklich davon überzeugt und dachte: Ja, bei euch vielleicht, bei mir nicht. Das habe ich lange geglaubt und bis zuletzt auf ihn eingeredet und ihn erpresst, ihm gesagt:Wenn du mich liebst, machst du noch einen Entzug, sonst bin ich weg und da war es schon viel zu spät. Da war er schon kaum noch da.”
Wir schauen wieder in den Schnee hinaus und nippen am Kaffee. Ich habe mir vorgenommen, vor allem zuzuhören. 
“Früher habe ich anderen Ratschläge gegeben. Frauen von Säufern. Ich habe sie verachtet für ihre Schwäche, dafür, dass sie das Trinkren noch unterstützen. Aber am Ende habe ich selbst gemacht und ich könnte mich heute noch ohrfeigen dafür, was ich diesen Frauen gesagt habe. Ich habe ihm seinen Alkohol gekauft, als er kaum noch Herr seiner Sinne war und schon mehrfach schwer gestürzt war auf seinem Weg zum Laden. Und sonst hätte er vielleicht noch das Auto genommen und jemanden totgefahren. Denn mit jedem seiner Wege durchs Dorf, wo ihm alle kennen, hat er sich ja lächerlich gemacht und seine Würde verloren. Das wollte ich nicht. Da bin ich lieber selbst hin und hab die mitleidigen oder strafenden Blicke über mich ergehen lassen. Aber das gute am Alter ist, dass einem die Meinungen der anderen immer egaler werden, bis du schließlich vollkommen darauf pfeifst.”
Jeder glaubt von sich, etwas Besonderes zu sein, dass ihm selbst der Blödsinn der anderen nicht passiert. Krankheiten, Schicksalsschläge, Schwächen, Dummheiten. Fast jedes Kind träumt von einer Verwechslung im Krankenhaus, von reichen und berühmten Eltern, von Zauberkräften, tief verborgenen Fähigkeiten, die eines Tages hervorspringen. Bis dann nach und nach der Glaube von der eigenen Besonderheit abfällt und man sich einreiht, in die Statistik. Durch Krankheiten, Schicksalsschläge, Trivialitäten. Mit jeden Schmerz und Rückschlag werden die Träume und Sehnsüchte abgehauen. Und am Ende steht man befreit da, muss niemandem mehr etwas beweisen und ist versöhnt mit all den anderen, denen es genauso geht wie einem selbst. 
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Für mich war es immer schwer auszuhalten, dass Menschen ihre eigenen Entscheidungen treffen dürfen, sobald sie 18 Jahre alt sind. Nicht die vernünftigen, die kann ich gut aushalten, sondern die schlechten. Die Entscheidung, zu einem schlagenden Ehemann zurückzugehen. Die Entscheidung, sich mit Alkohol oder anderen Drogen zugrunde zu richten. Die Entscheidung anderen wehzutun, sie zu gefährden, sie mit in den eigenen Abgrund zu reißen. Als ich jünger war, bin ich am Zusehen und Nichts-machen-Können fast kaputt gegangen. Ich wollte den Menschen die Schädeldecke aufklappen und die Vernunft hineinbrüllen, wollte helfen, habe geredet und gedacht, etwas bewirkt zu haben und dann war es doch umsonst. In meiner Familie haben sie immer den Kopf geschüttelt und gesagt: kann man nichts machen. Die Leut müssen selber wollen. Man kann sie nich zwingen. Aber das hat sie nicht davon abgehalten, weiter die Köpfe zu schütteln und zu reden und sich zu sorgen und sich immer wieder neu aufzusagen, dass sie nichts machen können, dass die Leute selber wollen müssen. Und das Knirschen, das beim Aufsagen dieser Beschwichtigungssätze ganz leise zu hören war, war die Ahnung, dass manche Dinge freiwilliger sind als andere, dass manche Menschen nicht gelernt haben oder nicht die Fähigkeit entwickeln konnten, ihren Willen zu bilden. Vielleicht weil sie als Kind nie selbst entscheiden durften, nie ernst genommen wurden oder weil schon immer alles angeblich falsch war, was sie sagten, dachten, taten. Vielleicht gab es nie den Raum für sie, zu erfahren und zu verstehen, was gut für sie ist. Und trotzdem werden sie in die Welt entlassen und wenn man dann ihr Scheitern sieht und ihr Kämpfen, dann schüttelt man die Köpfe und sagt: kann man nichts machen. Aber man kann etwas machen. Immer. Man kann zuhören, versuchen zu verstehen, Hilfe anbieten und man kann gut zu Kindern sein, ihnen Raum lassen, sie ernst nehmen und sie in ihrer Selbstbestimmung bestärken. In diesem Sinne und weil ich es bisher versäumt habe: Frohes neues Jahr! Seid lieb zueinander!
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Konserven
Manchmal bin ich überrascht, wie schön es für mich ist, Mutter zu sein. Es kam ganz langsam und eigentlich erst richtig mit dem zweiten Kind, dass ich mich da hineinfallen lassen und sagen konnte: scheiß auf Effizienz, geht halt alles, was mit Leistung zu tun hat, tausendmal langsamer für ein paar Jahre, dafür schöner, wärmer und intensiver.
Ich genieße diese Liebe der Kinder und wie ihr Verstand mehr und mehr erwacht und die Fragen klüger werden, wie sie mich in Gespräche verwickeln, wenn wir allein sind und wie sie immer auf der Suche nach Freude, Genuss und Verständnis sind, wie ich mich und was mir wichtig ist, in ihnen wiederfinde.
Mir wird jetzt schon ganz schlecht bei der Vorstellung, dass sie irgendwann weg sind, ausziehen, Auslandsjahr, dass sie vielleicht sogar in ein anderes Land ziehen. Wie die Kinder unserer älteren Nachbarn, die in Singapur wohnen. Zu Weihnachten fliegen sie hin. “Wenn man über achtzig ist”, sagen sie an der Tür, “darf man Dinge nicht mehr aufschieben, auch nicht wegen so einer Krankheit. Dann muss man machen, sonst ist es vielleicht zu spät.” 
Wenn ich anfange darüber nachzudenken, irgendwann in eine leere Wohnung zurückzukommen, ohne ihre Geschichten, ihre Wärme, ihre Geräusche, dann wünsche ich mir ein drittes Kind, am besten noch ein viertes in ein paar Jahren, damit es niemals aufhört, dieses Gegacker und das Versorgen und die warmen Hände und dass manchmal alles zu viel ist und man sich fragt, was man sich dabei eigentlich gedacht hat, die Nähe, von der man vorher nicht ahnte, dass es so etwas geben kann, diese unsichtbaren Verwachsungen, die einen unerwartet an Telepathie glauben lassen. Das alles würde ich gern konservieren. 
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Als ich meine Tochter von der Schule abhole und wir die Allee entlanggehen, erzählt sie mir ohne Punkt und Komma von ihrem Tag und was da alles war. Wie schon in der Kita. Damit ich alles weiß, was sie weiß und den Anschluss an ihr Leben nicht verliere, damit wir weiterhin wie aus einem Auge schauen. Aber plötzlich geht neben uns ein Alarm los, so ein Autoalarm, der verhindern soll, dass Autos geklaut werden, indem wachsame Passanten herbeieilen und der Dieb vom Tatort verschwindet. Und natürlich springt auch mein innerer Polizeihund an und steuert auf den geparkten Wagen zu. Meine Tochter hat von ganz alleine aufgehört zu erzählen und folgt der Szene mit dem Blick. Als ich am Auto ankomme, dessen Beifahrertür weit geöffnet ist, finde ich jedoch keine verlotterten Maskierten wie in Entenhausen üblich, sondern zwei Kinder. Eines ist etwa drei Jahre alt, sitzt auf dem Fahrersitz und hat das Lenkrad so fest umklammert, wie es seine Größe zulässt und daneben sitzt sein etwa vierjähriger Bruder und guckt mich erschrocken an. Ich überlege, mit strenger Stimme nach den Fahrzeugpapieren und dem Führerschein zu fragen, aber aufgrund des Alarms wirken sie erschüttert genug und ich frage lieber danach, wo sich ihr Erziehungsberechtigter befindet. Aber sie sitzen und gucken versteinert vor Schreck und bringen kein Wort raus. In diesem Moment kommt jedoch eine Frau im Laufschritt mit Zetteln in der Hand aus der Kita, die ein paar Schritte weiter liegt. „Alles ok, keucht sie, ich habe das Auto abgeschlossen, da kann nichts passieren, ich muss hier nur kurz…“ und sie wedelt mit den Zetteln und rennt wieder in die Kita. „Schöne Fahrt noch,“ sage ich zu den immer noch ängstlich schauenden Jungs und wir gehen schallend lachend weiter, winken der Frau in der Kita noch mal zu, die sich sogar wenig krümmt vor Lachen.
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Wenn nichts hilft
In mir ist es oft so still. Vielleicht weil jetzt überall Lichter brennen. Vor dem Haus hängt schon die begrünte Kette. Vielleicht weil das alles so seltsam absurd geworden ist mit den Zahlen und den tagesaktuellen Entwicklungen und der Tatsache, dass die Leute jetzt wieder öfter mal sterben. Ganz heimlich in der überwiegend weißen, sterilen Umgebung, versorgt von überforderten Menschen. 
Ich kann das alles nicht gut aushalten. Deshalb ist es in mir wieder stiller und immer öfter nehme ich mir die Gitarre und spiele traurige Lieder, denn die mag ich am liebsten. Davon wächst mir Hornhaut an den Fingerkuppen wie früher. Was soll man sonst auch machen? Alles geht weiter. 
Manchmal passieren Dinge, die bleiben im Bauch liegen, als hättest du aus versehen einen Stein verschluckt. Wie der Mann, der Essen in so einer großen orangenen Thermostasche transportiert und eines Tages mit seiner  Riesentasche neben sich in unserem Hausflur sitzt. Ich komme mit dem kleinen Kind an der Hand die Treppen runter und wir sehen ihn da sitzen und schon von oben, wie sich sein Rücken hebt und senkt. In der Hand hat er ein Telefon, der Bildschirm leuchtet noch. Als wir näher kommen, sehen wir, dass er weint, Er weint wie ein verzweifeltes Kind mit vielen Tränen und dem ganzen Körper. Alles an ihm ist erschüttert. Ich berühre mit meiner freien Hand seine Schulter und frage ihn, was los ist und ob ich ihm helfen kann. Er hebt seinen nassen Kopf und sieht mich kurz an, dann sein Telefon und sagt. “Meine Mutter ist gerade gestorben. Gerade eben.”
Eine weitere Welle der Trauer strömt durch seinen Körper. Denn manche Dinge werden realer, wenn man sie ausspricht. Ich lasse seine Schulter nicht los und mein Kind guckt mich hilflos an. 
“Gehen sie nach Hause”, sage ich, als bräuchte er dazu meine Erlaubnis. “Sie sollten jetzt bei ihrer  Familie sein.”
Er winkt etwas mit seiner Hand. 
“Soll ich jemanden für sie anrufen?”, frage ich.
Er winkt wieder ab. Wir bleiben einen Moment nebeneinander sitzen. Vor einer verschlossenen Tür von Nachbarn. Mein Kind sieht aus, als würde es gleich mitweinen, also sage ich: “Ihr Verlust tut mir sehr leid. Ich wünsche ihnen alles Gute.”
Auf dem Weg zum Fußballplatz reden wir darüber, dass manche Dinge so schlimm sind, dass jedes Wort zu viel ist und gar nichts hilft außer vielleicht weinen und auch das nur sehr sehr langsam.
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Wo die Pilze wachsen
Wir sind da, wo Pilze wachsen und Biber an Bäumen nagen, wo einem nur wenige Menschen auf den schmalen Straße begegnen, die man dann wegen ihrer Einzigartigkeit auch grüßen muss. Wir sind da, wo Igel einem vor die Tür kacken und die Menschen wissen, wie all die Pflanzen heißen, wo sie wissen, wie die Nachbarn heißen und die Todes- und Geburtsanzeigen studiert werden, weil man immer jemanden kennt. Meine Tochter sagt, hier wolle sie wohnen, wenn sie groß sei und selbst bestimmt und natürlich schäme ich mich direkt und frage mich, wie so oft, ob ich etwas falsch gemacht habe mit der Stadt, mit unserem Leben zwischen Straßen und Gewimmel. Damals hatte ich über das Land nachgedacht, damals mit dem ersten dicken Bauch und weil ich mir nicht richtig vorstellen konnte, wie Kinder in der Stadt groß werden. Ich selbst kannte nur diese seltsame Landkindheit mit dem weiten Blick, den Fellhaufen am Straßenrand und den ständigen Auto- und Busfahrten, Wocheneinkäufen, kläffenden Hunden beim Vorbeigehen an Höfen und ständigen Arbeiten an Haus und Hof, mit denen man nie fertig ist. Und jetzt habe ich ihnen das alles vorenthalten. Aber vielleicht ist dieses Leben nur so verheißungsvoll für sie, weil sie seine kurzen Lichtmomente kennen, in denen sich alle Mühe geben, so wie ich an den ersten Tagen in der alten Heimat weich und rührselig werde, dann aber nach und nach erinnere und wieder verstehe, warum ich hier weg musste. Vielleicht muss ich aber auch endlich lernen, dass es kein richtig oder falsch gibt, zumindest nicht in diesen Dingen, dass sich der Ausgang von Alternativen nicht vorhersagen lässt, dass niemand erfährt, wie es mit Kindern gewesen wäre, die es nicht auf die Welt schafften, mit verpassten Liebschaften, Jobs oder Anstrengungen, denen wir den Rücken gekehrt haben. Sich solche alternativen Pfade des Lebens vorzustellen, kann einen Sonntagnachmittag vertreiben, aber man sollte sich nicht verheddern in den Wenns und Danns, denn im Grunde liegt man immer falsch mit seinen Vorstellungen. Und es gibt oft gute Gründe für den Weg, den wir am Ende gegangen sind.
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Geheimniswahrer
ich habe ein Buch  gelesen. Frau Paula Trousseau. Was mich an ihm so rührte, war die nüchterne Darstellung eines Lebens, das doch ein Geheimnis bleibt, dass sich Entscheidungen dem Verständnis entziehen und dass mitunter Menschen eine wichtige Rolle spielten, die davon gar nichts ahnen. 
Bei mir sind es oft Träume, die solche verborgenen Wichtigkeiten offenbaren. Ich träume manchmal von Menschen, die vor vielen Jahren eine nicht besonders große Rolle in meinem Leben gespielt haben, die sich aber tief mich hineingegraben haben. Manchmal bin ich selbst überrascht davon, wer da auftaucht, in welcher Weise und Heftigkeit. Ich trage, die Bilder, die ich mir damals von jemandem machte, immer noch mit mir herum, wie ein altes Andenken, dessen Bedeutung niemand außer mir kennt. 
Paula Trousseau offenbart sich erst im Tode. Sie vermacht einem früheren Liebhaber, an den sie immer wieder als den besten alle Menschen dachte, all ihre Bilder und er kann nichts mit der ihm zugedachten Rolle anfangen und weist das Erbe von sich. 
Wahrscheinlich rührt mich diese Geschichte deshalb so, weil ich auch eine Geheimniswahrerin bin, und in einer Familie aufwuchs, in der nicht geredet wurde. Alle trugen ihre Wichtigkeiten unter der Zungen und schluckten sie schließlich runter. Die Herzen in meiner Familie waren fast alle sogenannte Mördergruben. In ihren stapelten sich die unangenehmen Dinge, die Scham, die Fehler, die verpassten Chancen. Wahrscheinlich trug die DDR-Diktatur ihren Teil zu dieser Verschwiegenheit und der Missachtung von Gefühlen und Bedürfnissen bei. Aber es ist auch viel Menschliches in diesem Verhalten. 
Besonders früher, als Kind, als Jugendliche.war mein Herz übervoll von Dingen, die ich nicht aussprechen konnte weil ich es nicht gelernt hatte. Voll von Sorgen, Wünschen, Untergangszenarien und einem Klumpen intensiver, verhedderter und schmerzender Gefühle.
Wenn ich nun meine Tochter zur Schule bringe und wir den Weg zwischen den Bäumen entlanggehen, erkenne ich mich in ihr wieder (derselbe Ernst, der Hang dazu, sich Sorgen zu machen, die übergroße Angst vorm Versagen) und versuche, ihr ein paar ihrer Geheimnisse zu entlocken, damit sie nicht so schwer an ihnen trägt. Es sind Offenbahrungsmärsche, in denen ich ihr von meinem Klumpen erzähle und davon, dass es besser wurde, als ich lernte, darüber zu sprechen. 
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Zeitverfluggeschwindigkeit
Mir scheint, es ist eingetreten. Das, von dem ich schon als Kind immer mal wieder gehört habe und vor dem ich mich fürchtete. Lange dachte ich, es sei nur eine Art Mythos: Die Zunahme der Zeitverfluggeschwindigkeit  mit dem Alter. Meine Zeit verging vor wenigen Jahren deutlich langsamer. Selbst die Kleinkindjahre meiner Kinder erlebte ich langsam, ausgedehnt und momentintensiv. Wenn jemand sagte: Wie schnell sie groß werden, oder? Wie die Zeit vergeht... Die Zeit rast, sagte ich meist nichts, lächelte nur in dem Bewusstsein, dass ich gesegnet bin. Es wäre mir schäbig vorgekommen, zu sagen: Meine Zeit nicht, sorry.  
Aber nun vergeht auch meine Zeit schneller, trotzdem die Esszimmeruhr seit Tagen auf Viertel vor Neun steht. Ich habe die Befürchtung, nichts mehr zu schaffen, die Kinder beim Wachsen zu verpassen, wenn ich beim Ausräumen der Spülmaschine trödle, nicht mehr all die Dinge aufschreiben zu können, die ich sagen wollte, nicht mehr die Anforderungen des Alltags in den lausigen 24 Stunden bewältigen zu können. 
Wie machen die Menschen das, deren Zeit schon immer so schnell verging? Finden sie sich damit ab und trösten sich damit, immer diese Sätze zu der schnellen Zeit zu sagen? Oder versuchen sie, die Zeit wieder anzuhalten, zu verlangsamen? Vielleicht durch Achtsamkeitsübungen? Ameisen beim Wandern beobachten? Schnecken züchten? Weg vom Phone, hin zur Natur? Mit langweiligen Menschen stundenlang über die Aufzucht von Planzen reden? Angler begleiten? Stricken lernen? Ich werde es auf jeden Fall versuchen. Der Tod soll es nicht zu einfach mit mir haben. 
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Schlüssel
Der Schlüsselbund wird kleiner. Das Schuljahr ist zu Ende. Ich nehme Abschied von Kindern, indem ich sie in Kisten greifen und Glück ziehen lasse, indem wir bauen und spielen und uns sagen, wie schön es war. 
Meine Prüfungen sind überstanden, mein Arbeitsvertrag entfristet. Wenn man in der Mitte des Lebens noch mal gewagte Schwenker vollzieht, dann fühlt sich das ein bisschen an wie damals, als ich noch nicht viel von den eigenen Grenzen wusste, als ich noch dachte, die Welt läge mir zu Füßen, ich könnte alles machen und werden, was ich will. Und wenn ich diesen Schwenk schaffe, denke ich, kann ich vielleicht auch noch mal Jura studieren oder Psychologie, zumindest wenn ich will, kann auswandern, berühmt werden, eine Erfindung machen, auf die die Welt gewartet hat oder mir Flügel wachsen lassen. Aber nur wenn ich möchte und vielleicht möchte ich ja gar nicht. 
Lehrerin sein, besonders in einem Fach ohne Noten und Stress, bei dem die einzige Mission die ist, Kinder zu kritischen Humanist*innen zu machen, ist bislang die sinnvollste Tätigkeit, der ich nachging und von der ich am stärksten das Gefühl hatte, etwas bewirken zu können. Ich frage mich, ob es sich ähnlich sinnvoll anfühlt, Politik zu betreiben. Wahrscheinlich nicht. Zu wenig Spaß und zu langsam die Veränderungen, wenn überhaupt. 
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Positiv in Gedanken
Im Hof begegnet mir der Nachbar, der immer stehen bleibt, wenn wir uns über den Weg laufen und der mir dann dieselben Sachen erzählt, weil er vergessen hat, dass er sie schon erzählt hat, bzw., dass er sie mir schon erzählt hat. Er schwankt. Denn es sind dreißig Grad und er sitzt Nachmittags gern in der Kneipe gegenüber. Außengastronomie. Mit Bier. Als ich einmal vom Testzentrum kam, bin ich an ihm vorbei. Aber da hat er mich nicht erkannt, denn der Hausflur, in dem wir uns sonst treffen, war nicht um mich herum. Er erkennt mich nur an unserem Hausflur. Fünfzig Jahre, sagt er und als könne er es selbst kaum glauben, nochmal: fünfzig Jahre wohne er schon in diesem Haus. Vor viereinhalb Jahren sei seine Frau gestorben. Heute zieht der Pate seiner ältesten Tochter aus. Sein ganzes Leben in Charlottenburg. siebenundsiebzig Jahre lang. Seine Tochter ein paar Straßen weiter. Die andere Tochter noch ein Stück weiter weg. Dort hätte er mal hinziehen können. Aber nee. Ist schön hier, sagt er und ich kann es mir leisten, ist viel wert. Und die siebenundneunzig Stufen hoch in den vierten sind mein Sport. Ohne diese siebenundneunzig Stufen würde ich schon in der Grube liegen, sagt er. 
Er redet gerne von Zahlen, denke ich, wie mein Sohn, der das Zählen und Rechnen entdeckt und dem die Augen leuchten, wenn es Millionen heißt, Abermillionen, Zillionen, Trillionen, Monstillonen. Vielleicht war der Nachbar damals Techniker, Ingenieur, als die Frau noch lebte und er nicht so oft rüber in die Kneipe durfte. Nur Sonntags. Gegen die kleinen Schmerzen des Lebens. Drei, vier Bierchen. Mehr nicht. Kurze nur bei besonderen Anlässen. 
Hauptsache, sagt er, meine Töchter sind in der Nähe. Familie ist das Wichtigste, fügt er noch hinzu und wendet sich zur Tür. Er ist in einem Alter, in dem man niemals ohne eine schnelle Weisheit aus einer Unterhaltung hinausgeht. Dann wendet er sich noch einmal um: Ich sage immer: bleiben Sie negativ, aber positiv in Gedanken. 
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Eine Ansammlung unzähliger Geheimnisse
Ich schaue andauernd aus dem Fenster, als suchte ich dort nach irgendetwas. Meinen Kindern geht es gut, keine Sorge, sie haben nicht zugenommen, sie haben einander und einige anderen Kinder gesehen. Wir spielen Fußball wenn die Sonne scheint. Wir trinken genug Wasser, putzen brav die Zähne und kochen jeden Tag. Die Hausaufgaben sind immer gemacht. Es geht immer weiter. Jeden Monat schlagen wir das Kalenderblatt um und schauen auf die anstehenden Termine. Nur manchmal zwischen den Terminen kommt mir mein Leben so klein und kurz vor, manchmal alle Menschen auf der Straße wie Ameisen. Vielleicht reden wir am Tisch zu viel über das Weltall, über die Tiefsee, vielleicht haben wir uns ein wenig in Geschichten verheddert. Vielleicht sind die Abstände einfach zu groß geworden. 
Wie viele Bücher wiegt das Leben? Wie viele Verletzungen? Wie viele verzweifelte Momente? Wie viel mal Lachen? Wie oft musstest du dich zusammenreißen, um nicht zu weinen? Was kostet das alles? Was bist du bereit zu geben? 
Ich war immer nah an der Depression gebaut. Ich erinnere mich noch gut, wie ich einmal meiner Mutter sagte, dass ich mich nicht erinnere, jemals glücklich gewesen zu sein. Wie viel Überwindung mich diese Offenbarung kostete, als könnte ich plötzlich allen Schmerz teilen. Aber dann war die Tür wieder zu.  
Wenn der Himmel düster ist, rutsche ich manchmal in der Zeit ab, flutsche einfach ein paar Stockwerke hinab, bin im Wald, bei den Bäumen, streiche durch das Fell der Katzen, bin wieder unsichtbar wie damals im Gebüsch, wo ich Gebisse von Verstorbenen fand, die ich hütete wie einen Schatz. Wie kommt die Farbe her, mit der unsere Welt gestrichen ist? Von MamaPapa? Von der Sternenkonstellation bei der Geburt? War es der Ort mit seinen grauen Häusern und den zum Sterben geborenen Tieren? Man weiß es nicht. Die Wissenschaftler haben nur diese eine Wahrheit in zahlreichen klinischen Studien bestätigen können: Jeder Mensch ist eine Ansammlung unzähliger Geheimnisse. 
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Das triviale Jucken
Männer betrügen ihre Frauen, Frauen betrügen ihre Männer. Das älteste Jucken der Welt, das triviale Bedürfnis, geliebt und begehrt werden zu wollen, der Alltags mit seinen niederschmetternden und lusttötenden Verpflichtungen.... all das lässt sich schwer für Jahre unter einem Dach einsperren. Nur der Umgang mit den Übersprungshandlungen ist verschieden. Manche wedeln nach ein paar Bauchschmerzen mit der Hand und sagen: Fuck it, das Leben ist zu kurz, um für das bisschen Körper alles hinzuschmeißen. Manche zerbrechen Dinge, schreien, schmeißen Türen, fliehen zu Freunden/Verwandten und schreien noch lauter, um es sich irgendwann noch einmal zu überlegen und es dem anderen dann bei jeder Gelegenheit vorzuhalten und ihn für immer zu erniedrigen, manche rächen sich, treiben es noch bunter und machen Videos, stellen die online, sind für immer weg und voller Hass, manche fallen in einen sauren Topf mit Selbstmitleid, und fragen sich, was denn mit ihnen falsch ist, warum sie verdammte Scheiße noch mal einfach nicht genügen, aber der wahrscheinlich größte Teil der liierten Menschheit macht die Augen ganz fest zu und tut sich den Gefallen, nichts bemerkt zu haben, um all den Unannehmlichkeiten wie dem Geschrei und dem kaputten Geschirr zu entgehen. Denn wie soll man all dieses Wissen und die konkrete peinliche Vorstellung dieser unbeholfenen und nicht mehr ganz jungen Körper mit den guten alten christlichen und sonst welchen Werten und Versprechungen vereinbaren? Eben. All das umgehen die, die wegsehen, mit den Kindern in den Zoo gehen und vorm Affengehege stehenbleiben. Sie lachen laut auf. Der Mensch ist eben doch zu großen Teilen des Tages ein wenig vernunftbegabtes Tier. In ihm schlägt ein warmes, lautes Blut, das sich nicht mit der Vernunft, den Geboten und dem Streben nach einem guten, braven Leben begnügen will, das die saubere Oberfläche durchbohren und wenn nötig zerschneiden will.
https://www.youtube.com/watch?v=72tOeZuftUc
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Erwachsene
Ich weiß noch genau, in welchem Moment ich begriffen habe, dass in jedem Erwachsenen ein ahnungsloses, verletzliches, verunsichertes Kind steckt. Auch in Rechtsanwälten und Buchhaltern. Es war während des Studiums in einem unscheinbaren Moment. Ein Dozent feierte einen Abschied und in dem Zuge begegnete mir eine Dozentin um die Vierzig, die ich als recht harte, unnahbare Person aus dem Seminarraum kannte. An diesem Abend war sie aber privat da. Und aus irgendeinem Grund standen wir kurz in derselben Menschentraube und begrüßten wir uns verlegen. Und das war für mich ein erstaunlicher Moment. Nicht nur, dass man ihr ansehen konnte, dass sie sich chic gemacht hatte und dass dieses „chic“, obwohl sehr dezent, an ihr ein wenig wie eine Verkleidung wirkte, sie wirkte auch erstaunlich unsicher und schüchtern ohne ihren Seminarraum. In dem Moment, als sich unsere Hände berührten, spürte ich - wie einen kleinen Stromstoß - die Einsamkeit und Verletzlichkeit dieser Frau, die ich immer bewundert hatte. Ich spüre, dass sie eine Freundin brauchte und zumindest in diesem Moment keine hatte. Es war eine sehr kurze Begegnung, im Vorbeigehen. Aber in diesem Moment ist mein Bild von Erwachsensein, das vorher schon bröckelte, in sich zusammen gefallen (denn ich war ja inzwischen auch im Grunde erwachsen und das Gefühl, das ich damit verband, hatte sich einfach nicht eingestellt). Ich habe verstanden, dass der Mensch nie fertig ist oder so sicher in der Welt steht, wie es von außen manchmal aussieht, dass wir alle emotional irgendwo zwischen 15 und 25 hängenbleiben. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Musik, die wir in dieser Zeit geliebt haben, für immer einen besonderen Zauber haben wird. Früher habe ich das seltsam und peinlich gefunden, das Festhalten meiner Eltern an der Musik ihrer Jugend. Und nun. Peinlich.
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Das Leben der Menschen
Dort, wo ich aufgewachsen bin, erzählten und sagten sie immer dieselben Dinge. “Muss ja”, “schlimm”, “schreien stärkt die Lungen”, “was uns nicht umbringt, macht uns härter”, “.... kommt ganz nach...”, “.... bettelt um Schläge, “die da oben”, “Steckst nicht drin”.... 
Es gab viele, es gibt sie noch heute. Und in meiner Wahrnehmung dienten sie immer dazu, die wichtigen Fragen und Antworten zu vermeiden. Aber ich höre sie nicht mehr. Ich habe irgendwann angefangen, wegzufahren. In dem Dorf gibt es einen alten Bahnhof. Früher haben Menschen dort gesessen und gearbeitet, haben Schalter und Hebel betätigt, Fahrkarten verkauft, Zeitungen. Aber heute ist da nur noch das verfallene Haus und ein Stück weiter ein neuer Bahnsteig für den Zug. In dem alten Bahnhofshaus will niemand wohnen. Zu nah an den Schienen. Selbst wenn man taub wäre, würde der Boden vibrieren, wenn die Güterwaggons vorbeirattern. Es gab eine Zeit, da fuhr ich fast täglich mit dem Zug. Da gab es die neue Haltestelle noch nicht, nur die alte neben dem verfallenden Haus. Ich studierte und war noch ein Kind zwischen den Orten. Zumindest kommt es mir heute so vor wenn ich an mich selbst zurückdenke. Noch früher, als ich wirklich noch ein Kind war, fuhr ich mit dem Bus. Jeden Tag in die Lehranstalt, die vor der Uni kommt. Und wie um mich jeden Tag zu fragen, ob das wirklich mein Ernst sei, dieses Sache mit der Bildung, hat der Bus bedrohlich geschaukelt und beißend gestunken, war immer überfüllt, weshalb ich oft weite Wege auf mich nahm, um eine Haltestellen früher einzusteigen und so dem Gedränge um die vordersten Plätze zum Einsteigen zu entgehen. Denn ich mochte Wettbewerbe und Konkurrenz nie. Andere spornte es an, ich verlor sofort die Lust. Das änderte sich auch an der Uni nicht. Mein Ehrgeiz konnte nicht geweckt werden. 
Erst jetzt heben sich die Ansprüche an mich selbst. Vielleicht weil die Zeit wertvoller geworden ist mit den Jahren. Vielleicht weil der Tod nicht mehr abstrakt und weit entfernt ist, sondern durch eine chronische Erkrankung und Falten greifbarer. Jetzt gebe ich mir Mühe mit den eigenen Kindern und mit denen, die ich unterrichte, versorge alle, so gut es mir möglich ist, mit Geschichten und Zuspruch, stelle Fragen, gebe Antworten, bringe sie zum Lachen und zum Staunen, ernähre mich gesund, schlafe genug, nehme Vitamine, mache Sport und je mehr Mühe ich mir gebe, desto trauriger macht mich der Gedanke, dass am Ende die Grube wartet und all die Erfahrung und das Wissen und die Erinnerungen mit mir einfahren. 
Neulich las ich den Kindern ein wunderschön illustriertes Buch vom Leben einer humpelnden Maus vor (Das Stundenbuch des Jacominus Gainsborough). Von dieser Maus wurde das ganze Leben erzählt von der Geburt bis zum Tod. Am Ende war eine Liste von Dingen, die das Leben der Maus ausmachten. Vielleicht ist es unsere Aufgabe in diesem kleinen Menschenleben, unsere Liste möglichst voll und interessant zu machen. Bei der humpelnden Maus sah es etwa so aus:
293 Familienpicknicks
3 Lieblingslieder
1 Begegnung, die wichtiger war, als jede andere
3 oder 4 traurige Abschiede
1 Gefühl der Ohnmacht
1394 Einsichten
19 Geburten, 25 Beerdigungen
3124094780 Erinnerungen
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Einfühlung
Die Kinder haben von dem Frachter im Suez-Kanal erfahren, denn sie schauen nun öfter mal Logo. Als wir darüber sprechen, sagt der Sechsjährige: “Von dem Schiff will man nicht der Kapitän sein.” Nein, sage ich und lache. Das wäre jetzt sehr unangenehm. Und heimlich denke ich: alles richtig gemacht. Wie er sich sofort in andere hineindenken und -fühlen kann. All die Romane, die wir gemeinsam gelesen und bei denen wir mitgefiebert haben, dass wir miteinander sprechen und Dinge von allen möglichen Seiten betrachten und die Tatsache, dass die Kinder so viel miteinander und mit anderen sind, all das macht sie zu mitfühlenden, sich sorgenden Wesen. Wie schön. 
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Die Abwesenheit von geeigneten Ablenkungen knuspert an meinem Nervenkostümchen
Der Kaffee schwappt über, wenn ich ihn durch die Wohnung balanciere und immer wieder Legohindernissen ausweiche. Also wische ich unter mir mit den besockten Füßen und lecke Hände und Unterarme ab, um größere Schweinereien zu verhindern. Wenn man das eigene Leben und alle Gegenstände um sich herum mehr wie ein Gedicht betrachtet oder wie eine kurze Pop-Literatur-Szene, dann nehmen auch die Erregungszustände wieder ab, dann hört die Wohnung wieder auf, Teil von dir zu sein, zu jucken und zu schmerzen oder sich an unangenehmen Stellen zu entzünden, dann werden die Grenzen wieder sichtbar, die feinen, durchlässigen Häute zwischen drinnen und draußen, zwischen Körper und Küche, zwischen Haaren und Teppich. Dann sortiere ich meine Stimmungen, verteile die Schuld, prüfe, was ich noch machen kann, damit sich alles etwas leichter anfühlt: Ohrenstöpsel, Fertiggerichte, tief durchatmen, lange Spaziergänge und immer wieder die Versicherung: Du bist nicht allein. Es ist für alle schwer. Und von den schlimmsten Sorgen bist du verschont. 
Was mir hilft, nicht durchzudrehen: mich selbst für alles Mögliche belohnen (Vollbad, gute Bücher, Schokolade, sinnlose Dinge bestellen), immer rausgehen, sobald die Sonne scheint und die Rückkehr nach Hause so lange wie möglich hinauszögern, Ziele und Ansprüche nach unten korrigieren: Es geht nicht um Glück, sondern darum, ein paar Mal die Woche herzhaft zu lachen, anderen zu helfen, Gedichte, um den Kopf aus dem Grau des täglichen Einerlei zu erheben, ein hitziges Gespräch über Ungerechtigkeiten und kleine Erfolge, wie Zehennägelschneiden und Haarewaschen ohne Tränen. 
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