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wort-schaetzchen-blog · 9 days ago
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Rezension: Stephanie Schuster, Die Wunderfrauen (Trilogie)
Stephanie Schuster erzählt in ihrer dreibändigen Romanreihe vom Leben vierer Frauen, das sich in der jungen Bundesrepublik entfaltet. Nicht spektakulär, sondern im Rhythmus der kleinen Entscheidungen, der Umwege, der leisen Aufbrüche.
Im Zentrum steht Luise Dahlmann, eine Köchin mit Unternehmergeist, die Anfang der 1950er-Jahre den Entschluss fasst, einen eigenen kleinen Laden zu eröffnen.
Schusters Figuren sind keine Ikonen des Fortschritts, sondern Frauen, die das Leben formt. Neben Luise haben wir Helga, zunächst Lernschwester, die Ärztin wird; Annabel, Hausfrau mit kulturellem Anspruch, hadert mit ihrem Ehemann und sucht ihren eigenen Ausdruck; Marie, Vertriebene aus Schlesien, bringt Heimatlosigkeit und neue Perspektiven ins Spiel. Was diese vier verbindet, ist weniger Ideologie als gegenseitige Solidarität.
Die Autorin verzichtet auf große Gesten. Stattdessen fängt sie die Details des Alltags ein: das Misstrauen gegenüber Frauen mit eigenen Plänen, die Risse im Bild der heilen Familie, die langsamen Verschiebungen im Rollenverständnis. Dabei bewegt sich die Handlung von Band zu Band weiter durch die Zeit, von den 1950ern über die Aufbruchsphase der 1960er bis hin zu den politischen und persönlichen Herausforderungen der 1970er-Jahre.
Was die Trilogie lesenswert macht, ist ihre Unaufgeregtheit. Schuster gelingt es, historische Atmosphäre zu schaffen, ohne sie zu überinszenieren. Das Lokalkolorit - Starnberg und die Gegend um den Starnberger See - wird spürbar, aber nie klischeehaft. Gesellschaftliche Entwicklungen wie Selbstbedienungsläden, das Frauenbild in der Medizin oder die neuen politischen Bewegungen werden eingebettet in persönliche Geschichten, ohne zu aufdringlich didaktisch zu wirken.
Nicht alle Dialoge wirken real, nicht jede Wendung ĂĽberrascht. Aber die Romane tragen etwas, das in der zeitgeschichtlichen Unterhaltungsliteratur selten geworden ist: Respekt fĂĽr die Lebensleistung ganz normaler Menschen. Es ist eine stille Form der Anerkennung, die der Trilogie ihren Ton gibt.
Wer sich fĂĽr Frauenbiografien interessiert, fĂĽr die Nachkriegszeit aus Perspektive des gelebten Alltags, findet hier eine warmherzige, ernsthafte, gut recherchierte LektĂĽre.
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wort-schaetzchen-blog · 16 days ago
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Rezension: Joanna Glen, "Maybe, Perhaps, Possibly"
Joanna Glens neuer Roman erzählt von zwei Menschen, die sich vorsichtig aus dem Innersten ihres je eigenen Lebens lösen – ohne große Worte, ohne dramatische Wendungen, aber mit einem genauen Blick für das, was Nähe bedeutet, wenn Sprache nicht reicht.
Addie lebt mit ihrer Mutter auf einer kleinen britischen Insel. Sie näht Brautkleider, hilft bei der Mutter bei Frauen-Retreats, schwimmt oft – doch innerlich fühlt sie sich fremd in dieser Welt. Auf der benachbarten Insel Ora versucht Sol, nach dem Tod seiner Mutter zur Ruhe zu kommen. In einem stillen Gebetshaus sucht er Halt, nicht so sehr im im Religiösen, sondern im Rückzug. Zwei Figuren, die nichts voneinander wissen, aber beide mit Verlust, Schweigen und einem Gefühl der Unbehaustheit ringen.
Glen verhandelt zentrale Themen leise, aber deutlich: Verlust, Nähe, Sprachlosigkeit, vorsichtige Selbstbehauptung. Sie zeigt, wie schwierig es sein kann, sich mitzuteilen und wie oft das, was nicht gesagt wird, genauso viel bedeutet wie das, was ausgesprochen wird. Die Sprache zwischen Addie und Sol bleibt begrenzt, fast vorsichtig und gerade darin liegt ihre Wirkung.
Als die beiden einander begegnen, entsteht keine klassische Liebesgeschichte. Es beginnt ein vorsichtiges Annähern über kleine Gesten, Beobachtungen, geteilte Stille. Nach dem Moment, in dem sie sich näherkommen, folgt kein lineares Weiter, sondern - passend zum Titel des Romans - ein tastendes Hin und Her. Gerade dieses Zögern macht den Reiz der Geschichte aus, hofft man docj immer wieder, dass sich Addie und Sol am Ende doch wirklich füreinander entscheiden.
Eine wichtige Rolle nimmt in diesem Roman die Natur ein: Die Landschaft ist nicht bloße Kulisse. Die Inseln, das Meer, das Wetter, die Vögel - all das spiegelt die Innenwelt der Figuren. Glen nutzt die Natur nicht zur Illustration, sondern als Resonanzraum für Einsamkeit, Sehnsucht und gelegentliche Klarheit.
Manche Leser mögen das als zu vage empfinden, einige Nebenfiguren bleiben blass. Doch "Maybe, Perhaps, Possibly" ist kein Roman, der auf Auflösung hin erzählt. Er interessiert sich für das Dazwischen, für das, was entsteht, wenn zwei Menschen sich ernsthaft begegnen, ohne sich sofort festzulegen.
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Ein leiser, ernsthafter Roman über zwei Leben in Schwebe und die Frage, ob Vertrauen möglich ist, ohne dass man sich erklärt. Joanna Glen gibt uns keine Antworten, aber sie schafft eine Atmosphäre, in der Leser sich in der Offenheit wiederfinden können.
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wort-schaetzchen-blog · 16 days ago
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A generation of kids growing up without reading books isn’t just a generation that reads less — it’s a generation slowly losing the muscle for empathy. Because books aren’t just stories. They’re training grounds for imagination, for slipping into someone else’s life, someone else's grief, joy, fear, or mess. They teach you to sit with feelings that aren't yours. Without that, how do you learn to care about people who aren't like you? How do you build a world where you pause before judging, listen before reacting, understand before dismissing?
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wort-schaetzchen-blog · 1 month ago
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Ein Handtuch, das bleibt: Happy Towel Day
Am 25. Mai erinnern Leser und Science-Fiction-Fans weltweit an Douglas Adams, den Autor des Kultromans The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy, mit einem Alltagsgegenstand, der in Adams’ Universum zur poetischen Konstante wurde: dem Handtuch.
Im Roman wird das Handtuch als das nützlichste Objekt im interstellaren Reisegepäck beschrieben. Es lässt sich als Decke verwenden, als Segel für kleine Boote, als Waffe, als Notkleidung, als Signal oder zur Verteidigung gegen bedrohliche Kreaturen. Wer sein Handtuch dabei hat, gilt in der Galaxis als jemand, der auch mit anderen Unwägbarkeiten fertig wird. Das Handtuch wird zum Zeichen einer Welthaltung, die Pragmatismus mit Ironie verbindet, Vorsorge mit Selbstironie, Chaosbewältigung mit lakonischer Würde.
Der Towel Day entstand 2001, zwei Wochen nach dem überraschenden Tod des Autors. Es war ein Vorschlag aus der Leserschaft, der sich eigenständig verbreitete und bis heute Bestand hat. Kein Verlag, keine Stiftung, keine mediale Kampagne treibt ihn voran. Vielleicht ist gerade diese Entstehungsgeschichte typisch für Adams’ Werk. Seine Romane karikieren Systeme und Ordnungen, sie entziehen sich der Heldenreise und feiern den Umweg, das Missverständnis, das Misslingen.
Ein Handtuch am 25. Mai zu tragen ist mehr als eine Hommage. Es ist eine stille Allianz mit dem Denken in Paradoxien, mit dem Humor als Überlebensstrategie, mit dem Zweifel an der großen Erzählung. Es erinnert an die Möglichkeit, Sinn zu finden, ohne ihn zu behaupten. An die Freiheit, eine Frage zu stellen, auch wenn man die Antwort schon kennt - zum Beispiel in der Form der Zahl 42.
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wort-schaetzchen-blog · 1 month ago
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Rezension: Silvia Hildebrandt, "Am Hof des purpurnen Königs"
Ein historischer Roman über Richard II., den letzten Plantagenet-König auf dem englischen Thron, verspricht eigentlich ein hohes Maß an politischer und psychologischer Komplexität. Silvia Hildebrandt, geboren 1985, ist studierte Germanistin und Historikerin und hat nach eigenen Angaben sogar eine wissenschaftliche Arbeit über Richard II. verfasst. Umso größer ist das Erstaunen über das Ergebnis dieses Romans, der all das vermissen lässt, was man von einer solchen Autorin erwarten dürfte: literarische Sorgfalt, historische Tiefe, erzählerische Disziplin.
Die Handlung folgt Richard von seiner Kindheit bis zu seiner politischen Katastrophe. Eine interessante Figur, zweifellos. Doch was Hildebrandt daraus macht, wirkt blass und oft unfreiwillig komisch. Die Figuren bleiben schemenhaft, ihre Beweggründe sind oft unklar oder künstlich hergeleitet, die Sprache ist über weite Strecken gestelzt, die Dialoge wirken hölzern oder pathetisch. Statt historischer Atmosphäre gibt es erklärende Einschübe, ausufernde Selbstbespiegelung und modern anmutende Gedankengänge, die kaum in das spätmittelalterliche Umfeld passen.
Die Hauptfigur – mutmaßlich als sensibel und innerlich zerrissen angelegt – bleibt seltsam unglaubwürdig. Ihre Eigenheiten wirken nicht als Ausdruck einer historischen Persönlichkeit, sondern als literarischer Versuch, moderne psychologische Zuschreibungen rückwirkend in ein höfisches Umfeld zu projizieren. Ob beabsichtigt oder nicht: Der Tonfall verrutscht, die Figur bleibt konstruiert.
Besonders irritierend ist das Missverhältnis zwischen Anspruch und Ausführung. Hildebrandt bringt offenkundig großes Interesse für das Thema mit, sie kennt die Quellenlage und die historischen Kontexte – und doch entsteht daraus kein stimmiger Roman. Fachwissen ersetzt eben keine erzählerische Gestaltungskraft. Hier fehlt es an literarischer Substanz, an sprachlichem Feingefühl, an dramaturgischer Balance.
Wer sich für Richard II. interessiert, greift besser zu Shakespeare oder zu einer gut geschriebenen Biografie. Am Hof des purpurnen Königs verfehlt sein Ziel – nicht aus Mangel an Kenntnis, sondern an literarischer Umsetzung. Es bleibt ein Roman, der viel weiß, aber wenig erzählt.
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wort-schaetzchen-blog · 1 month ago
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Rezension: Kaliane Bradley, "The Ministry of Time"
Kaliane Bradleys Debüt "The Ministry of Time" ist ein vielschichtiger Roman, der Elemente aus Science-Fiction, historischer Fiktion, Romanze und Bürokratiesatire verbindet. Wer sich auf diesen Hybrid einlässt, entdeckt ein klug konstruiertes Spiel mit Identität, Zugehörigkeit und der Frage, was Vergangenheit im Heute bedeutet.
Im Zentrum steht eine namenlose Ich-Erzählerin, eine britisch-kambodschanische Regierungsbeamtin, die im Rahmen eines geheimen Zeitreiseprojekts einem „Expat“ zur Seite gestellt wird: Commander Graham Gore, ein Offizier der Franklin-Expedition, der 1845 in der Arktis verschwand. In Bradleys Zukunft wird Gore nicht gerettet, sondern in die Gegenwart transferiert - zusammen mit anderen Sterbenden aus der Geschichte, die nun unter staatlicher Aufsicht „integriert“ werden sollen.
Der Roman lebt von der Spannung zwischen der spröden Erzählerin und dem höflichen, aus der Zeit gefallenen Gore. Bradley nutzt diese Konstellation, um Machtverhältnisse zu untersuchen - zwischen Mann und Frau, Kolonialgeschichte und Gegenwart, staatlicher Kontrolle und individueller Nähe.
Die Autorin selbst, Jahrgang 1988, lebt in London. Kaliane Bradley hat kambodschanisch-britische Wurzeln und arbeitet neben dem Schreiben als Literaturwissenschaftlerin, Redakteurin und Regierungsberaterin. Ihre Texte wurden in Granta, The White Review und anderen Zeitschriften veröffentlicht. Dass sie selbst an der Schnittstelle von Kultur, Politik und Verwaltung arbeitet, spiegelt sich spürbar in der atmosphärischen Dichte und Sachlichkeit des Romans.
Stilistisch ist der Text geprägt von einem nüchternen, oft lakonischen Ton. Die Sprache ist präzise, gelegentlich trocken, aber immer kontrolliert. In ruhigen Momenten entfaltet sich eine feine Melancholie, die durch das Setting - ein staatlich reguliertes Zeitreiseprojekt - noch verstärkt wird.
Dennoch gibt es einige Dinge, die nicht so recht passen. Die Nebenfiguren bleiben blass, politische Fragen werden aufgeworfen, aber nicht vertieft. Der Roman will vieles zugleich sein - Sci-Fi, psychologisches Porträt, postkolonialer Kommentar - und erreicht nicht in jeder Linie die gleiche Tiefe.
"The Ministry of Time" ist kein Roman, der Antworten liefert. Er stellt Fragen - ernsthaft und mit einem feinen GespĂĽr fĂĽr das, was zwischen Menschen unausgesprochen bleibt.
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wort-schaetzchen-blog · 2 months ago
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Rezension: Colleen McCullough, "The Thorn Birds"
Colleen McCulloughs Familienepos erschien 1977 und wurde rasch zu einem Welterfolg. Der Roman erzählt die Geschichte der irischstämmigen Familie Cleary, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Australien auswandert. Über mehrere Jahrzehnte hinweg entfaltet sich ein weitgespanntes Panorama aus Pflicht, Schuld, unerfüllter Liebe und den Zwängen traditioneller Rollenbilder - eingebettet in die raue Weite des fiktiven Landguts Drogheda.
Im Zentrum steht Meggie Cleary, das einzige Mädchen unter vielen Brüdern, und ihre lebenslange Bindung an den katholischen Priester Ralph de Bricassart, eine Beziehung, die zwischen Zuneigung, Macht und Verbot changiert. Es ist keine klassische Liebesgeschichte, sondern vielmehr das Ringen zweier Menschen mit ihren inneren Grenzen, gesellschaftlichen Vorgaben und dem Wunsch nach einem anderen Leben.
McCullough schreibt mit epischer Ruhe. Ihre Sprache ist zugänglich, aber nicht simpel, gelegentlich pathetisch, dabei immer getrieben von dem Wunsch, große Gefühle und komplexe moralische Fragen in erzählerische Form zu bringen. Der Roman lebt weniger von literarischer Raffinesse als von emotionaler Kraft und erzählerischer Ausdauer.
Was das Buch besonders macht, ist die Verbindung zwischen psychologischem Kammerspiel und Landschaftsepos. Die australische Natur - Hitze, Staub, Feuer, Dürre - ist mehr als Kulisse: Sie spiegelt innere Zustände, verstärkt Konflikte, unterstreicht Einsamkeit. Die Figuren kämpfen nicht nur mit familiären Erwartungen, sondern auch mit einer Umgebung, die keine Rücksicht kennt.
Die Geschichte greift zentrale Motive auf: das verbotene Begehren, das Opfer für die Berufung, das Scheitern weiblicher Selbstbestimmung, die Macht der Mutterfigur, das Schweigen der Männer. Und doch sind die Charaktere nicht bloß Träger dieser Themen, sondern entwickeln individuelle Prägungen und Brüche. Meggie ist keine passive Figur, sie sucht ihren Weg, auch wenn er oft in Sackgassen führt.
Nicht alle Figuren sind gleich nuanciert gezeichnet. Einige, wie Ralph oder die Matriarchin Mary Carson, wirken bewusst überzeichnet, beinahe biblisch in ihrer Wucht. Hier zeigt sich der Einfluss der großen klassischen Erzähltradition, aber auch die Nähe zur großen Fernseherzählung, die das Buch später selbst wurde.
"The Thorn Birds" ist ein Roman, dem man seine Entstehungszeit anmerkt. Vieles daran wirkt heute konventionell oder überhöht. Und doch liegt in seiner melancholischen Grundstimmung und seiner Ernsthaftigkeit ein erzählerischer Reiz, der bleibt: die Frage, wie viel ein Mensch bereit ist, zu opfern - für Glaube, Liebe, Familie oder Stolz.
Ein Buch voller Pathos und Tiefe, das an seine Leser den Anspruch stellt, sich auf ein groĂźes GefĂĽhl einzulassen, ohne Ironie, aber mit innerer Konsequenz.
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wort-schaetzchen-blog · 2 months ago
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Rezension: Stephen King, "Carrie"
Mit "Carrie" begann 1974 eine der bekanntesten literarischen Karrieren der Gegenwart. Stephen Kings Debütroman ist schmal, roh und strukturell ungewöhnlich - ein Frühwerk, das bereits zentrale Motive seines späteren Schaffens ankündigt: Außenseitertum, Gewalt, Macht und das Grauen, das in der Alltäglichkeit wurzelt.
Im Mittelpunkt steht die siebzehnjährige Carrie White, ein stilles, unscheinbares Mädchen, das von ihren Mitschülern verspottet und von ihrer religiös-fanatischen Mutter unterdrückt wird. Als Carrie entdeckt, dass sie telekinetische Fähigkeiten besitzt, verschiebt sich das Kräfteverhältnis langsam, zunächst unmerklich, dann katastrophal.
King wählt eine fragmentarische Erzählform, die sich aus Zeitungsartikeln, wissenschaftlichen Berichten und inneren Monologen zusammensetzt. Diese formale Vielfalt verleiht dem Text einen dokumentarischen Ton, der die Handlung rückblickend rekonstruiert und damit Spannung auf andere Weise erzeugt als ein klassisch linearer Plot. Der Leser weiß früh, dass etwas Schreckliches geschehen wird - das Interesse liegt nicht im Was, sondern im Wie und Warum.
"Carrie" ist kein subtiler Roman, will es auch nicht sein. Doch unter der Oberfläche der Grausamkeit, des Bluts und der Vergeltung liegt ein präzises Gespür für soziale Dynamiken. King zeigt, wie systematisch Ausgrenzung funktioniert - nicht nur durch offene Gewalt, sondern durch Gleichgültigkeit, Feigheit und stille Komplizenschaft. Carries Wut ist nicht unverständlich, ihre Eskalation kein bloßer Effekt.
Auffällig ist, wie sehr King in diesem frühen Werk bereits mit Themen arbeitet, die sich durch sein gesamtes Œuvre ziehen: die Angst vor der Andersartigkeit, die Zerbrechlichkeit von Autoritäten, die zerstörerische Kraft des Verdrängten. "Carrie" ist ein Roman über weibliche Ohnmacht und zugleich ein zutiefst verstörendes Bild davon, was geschieht, wenn diese Ohnmacht in Macht umschlägt.
Dass die Gewalt am Ende so total ist, so vernichtend, wirkt heute vielleicht überzeichnet. Doch Kings Darstellung bleibt in ihrer Anlage konsequent: Die Katastrophe ist nicht das Ergebnis einer plötzlichen Laune, sondern die logische Folge eines langen sozialen Versagens.
"Carrie" ist kein perfektes Buch, aber ein eindrucksvolles. Es ist roh, aufgeladen, voller Unruhe und gerade deshalb bemerkenswert. Ein DebĂĽt, das bereits mehr ist als ein Genre-Experiment: ein literarisches Psychogramm der Ausgrenzung mit bleibender Wirkung.
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wort-schaetzchen-blog · 2 months ago
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"I have lived a thousand lives and I’ve loved a thousand loves. I’ve walked on distant worlds and seen the end of time. Because I read."
- George R. R. Martin
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wort-schaetzchen-blog · 2 months ago
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Rezension: Benjamin Myers, "The Offing"
Benjamin Myers’ Roman "The Offing" ist ein stilles Buch über einen unspektakulären Sommer und gerade deshalb eine berührende Meditation über Sprache, Freiheit und das Wachsen in einer Welt, die sich gerade erst vom Krieg erholt.
Im Zentrum steht der sechzehnjährige Robert, Sohn einer Arbeiterfamilie aus Durham, der kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufbricht, um „die Welt zu sehen, bevor er hineingerät“. Was folgt, ist keine abenteuerliche Reise, sondern ein gemächlicher Gang durch die nordenglische Landschaft, der in der Begegnung mit Dulcie mündet, einer älteren Frau, die allein in einem abgelegenen Haus an der Küste lebt. Sie nimmt ihn auf, ohne viele Fragen zu stellen, bietet ihm Essen, Wein, Gespräche - und öffnet ihm unmerklich den Blick für ein Leben jenseits des Gewohnten.
Myers erzählt diese Geschichte mit großer Zartheit. Seine Sprache ist einfach, doch von poetischer Kraft, durchdrungen von Naturbeobachtungen, Geräuschen, Gerüchen. Die Landschaft wird nicht Kulisse, sondern Resonanzraum für das, was zwischen den beiden Figuren geschieht. Es ist kein Entwicklungsroman im klassischen Sinn – Robert wird nicht „erzogen“, sondern darf sich, ganz unaufgeregt, entfalten. Dulcie erweist sich dabei nicht als Mentorin im üblichen Sinne. Ihre Klugheit, ihre Lebensfreude, ihre Vergangenheit als Literatin und Liebende formen das Gegenüber, ohne es zu dominieren.
Ein zentrales Thema des Romans ist die Sprache, nicht nur als Mittel zur Kommunikation, sondern als Ausdruck von Freiheit, Bildung und Zugehörigkeit. Dulcie führt Robert behutsam an Lyrik heran, an Ausdrucksmöglichkeiten jenseits des Arbeitsjargons, in dem er aufgewachsen ist. Es ist kein belehrender Prozess, sondern ein Angebot - ein poetischer Freiraum, den Myers mit großer Genauigkeit beschreibt.
Bemerkenswert ist auch, wie uneitel der Roman mit den Gegensätzen spielt, die seine Figuren mitbringen: jung und alt, männlich und weiblich, arm und gebildet, zurückhaltend und exzentrisch. Nichts davon wird betont oder dramatisiert. Stattdessen lebt "The Offing" von einem tiefen Respekt für die Andersartigkeit des anderen, ohne dass daraus eine pädagogische Botschaft wird.
Dass Dulcie eine lesbische Vergangenheit hat, wird beiläufig erwähnt, nicht problematisiert. Es ist einfach Teil ihres Lebens, so wie der Wein, den sie liebt, oder die Gedichte, die sie hortet. Diese Selbstverständlichkeit macht den Roman zeitlos: Er behauptet keine Werte, er lebt sie still vor.
"The Offing" ist ein Buch über Zwischenräume – den Sommer zwischen Kindheit und Erwachsensein, den Abstand zwischen Kriegsende und Neuanfang, die Lücke zwischen zwei Menschen, die sich nicht gesucht haben, aber einander finden.
Myers gelingt das seltene Kunststück, große Themen (Freiheit, Bildung, Trauer, Freundschaft) in einem Ton zu verhandeln, der nie aufdringlich wirkt. Sein Roman wirkt nach, nicht durch Handlung, sondern durch Haltung: ein stilles Plädoyer für das aufmerksame Leben.
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wort-schaetzchen-blog · 2 months ago
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Rezension: Amanda Peters – The Berry Pickers
Mit The Berry Pickers legt Amanda Peters ein Debüt vor, das in seiner stillen Intensität lange nachwirkt. Behutsam erzählt sie die Geschichte eines Verschwindens, das tiefe Spuren hinterlässt - bei einer Familie, die Jahr für Jahr auf den Feldern der US-amerikanischen Ostküste Beeren pflückt, und bei einem Kind, das nichts von seiner Herkunft weiß.
Im Zentrum des Romans stehen zwei Lebenswege: Der der kleinen Ruthie, die als junges Mädchen spurlos verschwindet, und der von Joe, ihrem älteren Bruder, der sein ganzes Leben lang die Wunde dieses Verlustes mit sich trägt. Peters entfaltet diese beiden Perspektiven mit ruhiger Konsequenz und verzichtet auf spektakuläre Wendungen oder melodramatische Zuspitzungen. Stattdessen vertraut sie auf die Kraft der Erinnerung, der Sprachlosigkeit und der kleinen, manchmal kaum wahrnehmbaren Handlungen, die Menschen für immer prägen können.
Amanda Peters verwebt dabei klassische Erzählmuster wie das des verlorenen Kindes, der gefundenen Familie und der lebenslangen Suche nach Identität. Ohne je formelhaft zu wirken, macht sie sichtbar, wie prägend diese Erfahrungen sind - für diejenigen, die zurückbleiben, ebenso wie für jene, die unbewusst entwurzelt wurden.
Auffallend ist die Schlichtheit von Peters’ Sprache. Ihre Sätze sind klar gebaut, frei von Ornamenten, und gewinnen gerade dadurch an Eindringlichkeit. Emotionen werden nicht behauptet, sondern entfalten sich leise aus dem Erzählten. Das verleiht dem Roman eine große Authentizität: Der Schmerz, die Hoffnung, die latente Wut und die leisen Sehnsüchte ihrer Figuren erscheinen nicht als literarisches Konstrukt, sondern als unausweichlicher Teil ihrer Existenz.
Einen wichtigen Raum nimmt dabei die kulturelle Identität der Familie ein. Peters, selbst Angehörige der Mi'kmaq, webt die Erfahrungen einer indigenen Gemeinschaft ein, ohne sie auszustellen oder zu idealisieren. Statt lauter Anklagen setzt sie auf die stille Darstellung von Ausgrenzung, Entfremdung und den Verlust von Zugehörigkeit - Themen, die in der Erzählung stets mitschwingen, ohne den Ton zu dominieren.
Die Komposition des Romans spiegelt den emotionalen Zustand seiner Figuren wider. Immer wieder unterbrechen Zeitsprünge und Rückblenden die Chronologie der Handlung, so wie die Erinnerung selbst selten linear verläuft. Peters versteht es, Leerstellen und Unsicherheiten zu nutzen, um eine dichte Atmosphäre zu erzeugen, in der das Ungesagte oft mehr Gewicht hat als das Ausgesprochene.
Besonders eindrucksvoll gelingt es der Autorin, die Trauer der Zurückgebliebenen und das diffuse Unbehagen der verlorenen Tochter miteinander zu verweben. Ruthie, die in einer fremden Familie aufwächst, spürt früh eine innere Leere, die sie nicht benennen kann. Joe hingegen, der älteste Bruder, ringt lebenslang mit Schuldgefühlen - ein stilles Beispiel für das Tropus der Geschwisterschuld, das Peters sensibel ausgestaltet. Beide suchen auf ihre Weise nach einem Ort, der Heimat heißen könnte, ohne sicher zu sein, ihn jemals zu finden.
The Berry Pickers ist ein Roman über Verlust, Identität und das unaufhörliche Suchen nach einem Platz in der Welt. Amanda Peters beweist ein feines Gespür für Zwischentöne und leise Wahrheiten. Ihr Debüt erzählt nicht von der großen Katastrophe, sondern von der fortdauernden Wirkung kleiner, kaum wahrnehmbarer Risse - und von der Kraft des Erinnerns, die auch dann bleibt, wenn die Worte fehlen.
Ein leises, tiefgründiges Buch, das gerade durch seine Zurückhaltung anrührt und im Gedächtnis bleibt.
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wort-schaetzchen-blog · 2 months ago
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Rezension: Fannie Flagg, "Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Cafe
Fannie Flaggs Roman Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Cafe, erschienen 1987, ist mehr als ein nostalgischer Blick auf den amerikanischen Süden. Es ist eine vielschichtige Erzählung über Freundschaft, Selbstbehauptung, Rassismus, Homosexualität und die Kraft des Erinnerns, getragen von zwei miteinander verflochtenen Zeitebenen.
Im Zentrum stehen zwei Frauengeschichten: die enge, romantisch geprägte Beziehung zwischen Idgie Threadgoode und Ruth Jamison, die in den 1920er- und 30er-Jahren ein Café führen, das zum sozialen Mittelpunkt der Kleinstadt Whistle Stop wird, und die in den 1980er-Jahren spielende Rahmenhandlung, in der Evelyn Couch durch die Erzählungen der älteren Ninny Threadgoode neuen Lebensmut schöpft. Flagg nutzt damit das klassische Motiv der Altersweisheit und weiblichen Mentorschaft, das den Weg für persönliche Entwicklung eröffnet.
Das Whistle Stop Cafe selbst wird zum Symbol für Gemeinschaftsstiftung durch Essen und steht für eine offen gelebte Solidarität, die ethnische und soziale Grenzen überwindet. Auch der Erzählort (die Kleinstadt als Mikrokosmos) folgt einem vertrauten Muster, wird aber bei Flagg nicht idealisiert: Südliche Gastfreundschaft wird gezeigt, ohne die dunklen Seiten der Geschichte zu verdrängen.
Flagg setzt auf eine vielstimmige Struktur: Zeitungsausschnitte, Briefe und direkte Dialoge ergänzen die personalen Perspektiven und verdichten das Porträt eines Ortes, dessen Geschichte exemplarisch für gesellschaftliche Umbrüche im 20. Jahrhundert steht - von der Weltwirtschaftskrise bis zur langsamen Erosion der Rassentrennung. Damit ordnet sich der Roman auch in die Tradition des strukturierenden Episodenromans ein.
Stilistisch bleibt Fried Green Tomatoes dem klassischen realistischen Erzählen verpflichtet. Flagg schreibt klar, atmosphärisch dicht und mit einem Gespür für Figuren, die oft bewusst an den gesellschaftlichen Rändern angesiedelt sind: Außenseiter wie Idgie oder Sipsey verkörpern das moralische Zentrum der Geschichte, während etablierte Autoritäten oft als schwach oder borniert erscheinen.
Besonders bemerkenswert ist, wie Flagg die heimliche Widerständigkeit ihrer Figuren gestaltet: Idgie lebt jenseits gesellschaftlicher Erwartungen - durch Unangepasstheit, durch Loyalität und durch ihre entschiedene Haltung gegen Unrecht. Ihre Beziehung zu Ruth, die nur angedeutet und nicht explizit thematisiert wird, steht dabei für eine versteckte homosexuelle Liebe, wie sie in der Literatur ihrer Entstehungszeit häufig aus stilistischen und gesellschaftlichen Gründen gewählt wurde.
Trotz seines warmen Tons ist der Roman kein bloßes Erinnerungsbuch. Vielmehr zeigt er, wie Erinnerung zu einer Kraft der Veränderung werden kann, sowohl im persönlichen als auch im gesellschaftlichen Sinn.
Aus heutiger Sicht mag manches an Darstellung und Sprache vereinfacht oder problematisch erscheinen, insbesondere im Umgang mit afroamerikanischen Figuren oder der Zurückhaltung bei der Darstellung homosexueller Beziehungen. Doch ein Werk wie dieses sollte stets im Kontext seiner Entstehungszeit gelesen werden. Gerade darin liegt sein literarischer und gesellschaftlicher Wert: als Zeugnis einer populären Erzählweise, die weibliche Selbstbestimmung, Freundschaft und Widerstand sichtbar machte.
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wort-schaetzchen-blog · 2 months ago
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wort-schaetzchen-blog · 2 months ago
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Rezension: Bonnie Jo Campbells The Waters
Bonnie Jo Campbells neuer Roman "The Waters" führt tief hinein in eine abgeschiedene, archaische Welt, in der weibliche Autonomie, überliefertes Naturwissen und gesellschaftlicher Rückzug nicht bloß Themen sind, sondern den Alltag der Figuren bestimmen. Die Geschichte entfaltet sich fernab urbaner Lebensrealitäten, mitten in den Sümpfen Michigans, wo das Überleben in enger Verbindung mit Erde, Pflanzen und dem eigenen Körper steht.
Im Zentrum des Romans steht Hermine Zook, besser bekannt als „Herself“, eine herbalistische Heilerin, die seit Jahrzehnten auf einer isolierten Insel im Fluss lebt. Ihre Welt ist geprägt von Naturzyklen, Pflanzenwissen und dem Kampf gegen staatliche Eingriffe. Sie ist keine sanfte Kräuterfrau, sondern eine schroffe, von Schicksal und Entscheidung gezeichnete Matriarchin, die Frauen Hilfe bietet - Hilfe, die nicht selten tabuisiert ist.
Ihre elfjährige Enkelin Dorothy, genannt „Donkey“, wächst in dieser abgeschiedenen Welt auf. Früh verwaist und von der Mutter verlassen, ringt das Mädchen mit kindlicher Neugier und mathematischer Präzision um Halt in einer Welt, die durchzogen ist von Gewalt, Schuld und ungeklärten Geheimnissen.
Campbell verwebt eine fein ziselierte Naturbeschreibung mit einem kritischen Blick auf gesellschaftliche Missstände. Die Sümpfe sind mehr als Kulisse - sie sind Metapher, Spiegel und Charakter zugleich. Die Sprache changiert zwischen lyrischer Beobachtung und nüchternem Realismus. Wer sich an Flannery O’Connor oder Annie Proulx erinnert fühlt, liegt nicht falsch. Campbell schreibt aus der Tiefe des ländlichen Amerikas, ohne zu romantisieren oder zu denunzieren.
Gleichzeitig gelingt ihr der Spagat zwischen feministischer Perspektive und literarischer Zurückhaltung. Herself ist keine Ikone der Emanzipation. Sie ist ambivalent, widersprüchlich, manchmal hart bis zur Grausamkeit. Doch gerade in dieser Uneindeutigkeit liegt die Stärke des Romans.
Die junge Donkey - klug, empfindsam, unangepasst - ist das emotionale Zentrum des Romans. Sie verkörpert den Zwiespalt zwischen Rückzug und Weltbezug, zwischen familiärer Schuld und der Möglichkeit eines anderen Weges. Ihre kindliche Perspektive schützt den Leser nicht vor der Härte des Geschehens, sondern macht es umso spürbarer.
Donkey könnte, so lässt Campbell erahnen, diejenige sein, die sich nicht nur aus dem Dickicht der Sümpfe, sondern auch aus dem Dickicht familiärer und gesellschaftlicher Zwänge befreit. Doch der Roman gibt keine einfachen Antworten - er stellt Fragen, und das mit Nachdruck.
"The Waters" ist kein leichter Roman, weder inhaltlich noch stilistisch. Die Handlung schreitet in teils mäandernden Strängen voran, Dialoge bleiben oft fragmentarisch, und nicht jeder Nebenstrang findet ein befriedigendes Ende. Leser, die eine klare Dramaturgie oder eine klassische Katharsis erwarten, könnten enttäuscht sein.
Und doch liegt gerade in dieser formalen Freiheit der Reiz des Romans. Campbell verlangt Aufmerksamkeit, Geduld und die Bereitschaft, sich auf ein Milieu einzulassen, das auf den ersten Blick fremd wirkt - und auf den zweiten erschreckend vertraut.
Bonnie Jo Campbells "The Waters" ist ein dichter, literarisch anspruchsvoller Roman über weibliche Autonomie, soziale Ausgrenzung und die Macht der Natur. Es ist ein Werk, das verstört, berührt und nachhallt: ein Buch für Leser, die bereit sind, den sicheren Pfad zu verlassen und sich ins Dickicht zu wagen.
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wort-schaetzchen-blog · 3 months ago
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Rezension: Joachim Meyerhoff – Man kann auch in die Höhe fallen
Joachim Meyerhoff zählt zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Mit seiner autobiografisch geprägten Buchreihe Alle Toten fliegen hoch hat er sich einen festen Platz in der literarischen Landschaft gesichert. In seinen Werken verbindet er humorvolle Beobachtungen mit melancholischen Reflexionen über das Leben, den Tod und die Vergänglichkeit. Sein neuestes Buch "Man kann auch in die Höhe fallen" knüpft thematisch an seine bisherigen Texte an, schlägt aber zugleich eine neue Richtung ein: Nach den intensiven Erinnerungen an Kindheit, Jugend und Theaterleben steht diesmal die existenzielle Frage nach Rückzug, Neuorientierung und familiärer Bindung im Vordergrund.
Joachim Meyerhoff wurde 1967 in Homburg (Saar) geboren und wuchs in Schleswig auf. Seine Laufbahn als Schauspieler fĂĽhrte ihn an renommierte Theater, zuletzt ans Wiener Burgtheater, wo er bis 2019 Ensemblemitglied war. Mit seinem literarischen DebĂĽt "Amerika" (2011) begann er die Reihe "Alle Toten fliegen hoch", die mit groĂźem Erfolg fortgesetzt wurde.
Nach einem schweren Schlaganfall im Jahr 2018, den er in "Hamster im hinteren Stromgebiet" (2020) verarbeitete, folgte eine Phase der Neuorientierung. "Man kann auch in die Höhe fallen" reflektiert diesen Wandel, ist aber kein klassischer Krankheitsbericht. Vielmehr erzählt Meyerhoff von der Rückkehr in sein Elternhaus, wo er eine Auszeit bei seiner Mutter nimmt. Diese biografische Grundlage verleiht dem Werk seine Authentizität und emotionale Tiefe.
Das Buch beginnt mit der Entscheidung des Erzählers, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Nach Jahrzehnten auf der Bühne kehrt er in das Haus seiner Mutter in Schleswig-Holstein zurück, bezieht sein altes Kinderzimmer und wird Teil eines ländlichen Alltags, der ihm fremd und vertraut zugleich ist. Die Beziehung zur Mutter steht dabei im Zentrum des Romans: Sie ist eine kluge, eigensinnige Frau, deren liebevolle Strenge und humorvolle Art Meyerhoff sowohl herausfordert als auch stützt.
Die Erzählweise ist typisch für Meyerhoff: Er verbindet pointierte Anekdoten mit tiefgründigen Reflexionen, schildert alltägliche Beobachtungen mit scharfem Blick für Skurrilitäten und schafft eine Balance zwischen Komik und Melancholie. Die Rückkehr in das Elternhaus wird zum Ausgangspunkt für eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, dem Älterwerden und der Vergänglichkeit.
Meyerhoff setzt sich in diesem Buch intensiv mit dem Verhältnis zwischen Mutter und Sohn auseinander. Dabei verzichtet er auf idealisierende Rückblicke oder dramatische Konflikte, sondern zeigt eine Beziehung, die von kleinen Gesten, Erinnerungen und unausgesprochenen Emotionen lebt. Auch die Frage nach dem Platz in der Welt – insbesondere nach einer erfolgreichen, aber kräftezehrenden Karriere – zieht sich als zentrales Motiv durch den Roman.
Literarisch bleibt Meyerhoff seinem Stil treu: Sein Schreiben ist assoziativ, humorvoll und von hoher sprachlicher Präzision. Die Mischung aus autobiografischem Erzählen und feiner Ironie erinnert an Autoren wie Karl Ove Knausgård oder Thomas Melle, doch Meyerhoff setzt einen stärkeren Fokus auf die erzählerische Leichtigkeit, die auch schwere Themen zugänglich macht.
Mit "Man kann auch in die Höhe fallen" legt Joachim Meyerhoff ein weiteres eindrucksvolles Werk vor, das sich nahtlos in sein literarisches Œuvre einfügt. Es ist eine nachdenkliche, oft humorvolle Reflexion über Rückzug, Familie und Selbstfindung. Die autobiografischen Elemente verleihen dem Text eine besondere Authentizität, während Meyerhoffs Erzählstil ihn leicht und zugänglich macht. Wer seine früheren Bücher mochte, wird auch dieses Werk schätzen – und vielleicht in den stillen Momenten zwischen den Zeilen die größte Tiefe entdecken.
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wort-schaetzchen-blog · 3 months ago
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Eine Weile standen sie schweigend da und lauschten dem Zwitschern und Rauschen, dem Brausen und Singen und Plätschern in ihrem Wald. Alle Bäume und alle Wasser und alle grünen Büsche waren voller Leben, von überall her erscholl das starke, wilde Lied des Frühlings. "Hier stehe ich und spüre, wie der Winter aus mir herausrinnt" , sagte Ronja. "Bald bin ich so leicht, dass ich fliegen kann."
Astrid Lindgren, Ronja Räubertochter
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wort-schaetzchen-blog · 4 months ago
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