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Text
Einleitung
Mit diesen Worten macht Robert Habeck, Co-Bundesvorsitzender der Partei Bündnis 90/Die Grünen, im Herbst 2020 auf ein Problem aufmerksam, das bei der Corona-Bekämpfung in der deutschen Politik lediglich eine marginale Rolle einzunehmen scheint: Der Zusammenhang zwischen Klimawandel, Nutztierhaltung und der Entstehung von Pandemien. Aufgrund einer Neoliberalisierung der Natur, wie Rob Wallace sie beschreibt (Wallace, 2016, S. 53) und der damit einhergehenden exzessiven landwirtschaftlichen Produktion mit einer wachsenden Anzahl an Nutztieren verändert und dezimiert der Mensch sowohl tierische Lebensräume als auch ganze Ökosysteme und trägt somit maßgeblich zu einer Übertragung von Viren und der Begünstigung weiterer Pandemien bei (Eßlinger, 2020; Chemnitz/Wenz, 2021, S. 8).
So wird dieser Umstand zwar durch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekräftigt und mit der internationalen Forschungsinitiative ‚Prezode‘ versucht, künftige Pandemien präventiv zu verhindern (Deutscher Bundestag, 2021, S. 7), dennoch lässt die Internetpräsenz der Initiative explizite Maßnahmen in Bezug auf die Nutztierhaltung und der Verhinderung von Zoonosen, d.h. Krankheiten, die zwischen Menschen und Tieren übertragen werden, gänzlich vermissen. Bis heute hat weltweit kein Land konkrete Reduktionsziele für die Nutztierhaltung festgelegt bzw. mit einer umfassenderen Strategie verfolgt (Chemnitz/Wenz, S. 42). Dabei schätzt die internationale Organisation für Tiergesundheit (OIE), dass 60 Prozent aller beim Menschen existierenden Infektionskrankheiten als Zoonosen gelten können, Tendenz steigend (Chemnitz/Wenz, 2021, S. 32). Um dem Aufkommen weiterer Pandemien entgegenzuwirken, sei es Wallace zufolge notwendig, „[…] [to] end the livestock industry as we know it“ (Wallace, 2016, S. 80-81). So soll letztlich auch laut den Herausgeber*innen des ‚Fleischatlas‘ 2021 die gesamte „gesellschaftliche Infrastruktur“ (Chemnitz/Wenz, 2021, S. 42) des Konsums tierischer Produkte nachhaltig verändert werden. Demnach scheinen auch die Durchsetzung des lang diskutierten Verbots über die Tötung männlicher Küken in Deutschland ab 2022 (dpa, [FAZ], 2021) oder die perspektivische gesetzliche Verankerung des Empfindungsvermögens nichtmenschlicher Tiere in Großbritannien nicht weitreichend genug zu sein [Im Rahmen dieser Forschungsarbeit wird die Bezeichnung ‚nichtmenschliche Tiere‘ gewählt, um den Prozess der Dichotomisierung, der Menschen von anderen Tieren abgrenzt, nochmals deutlicher aufzuzeigen und zeitgleich zu hinterfragen.] (o.A., [tagesschau], 2021). Denn der weltweit hohe Konsum tierischer Produkte macht laut UN-Ernährungsund Landwirtschaftsorganisation immer noch einen Anteil von 14,5 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen aus (Eßlinger, 2021). Besonders problematisch sind dabei industrielle Tierhaltungssysteme, die sich durch eine geringe Vielfalt nichtmenschlicher Tiere auszeichnen und durch den engen Kontakt auch für den Menschen eine Gefahr darstellen (Chemnitz/Wenz, 2021, S. 33; vgl. Hinchliffe, 2018). „But it seems to be a risk agribusiness is willing to weather for the immediately cheap manufacture of its products“ (Wallace, 2016, S. 59).
Es scheint daher kaum verwunderlich, dass die COVID-19-Ausbrüche im Jahr 2020 in unzähligen Fleischfabriken und Nerzfarmen auf der ganzen Welt an diverse Skandale der letzten Jahrzehnte erinnern, die erneut ohne weitreichende Konsequenzen für die Nutztierhaltungsbranche bleiben (ebd., S. 6). Denn die daraus entstehenden Kosten und Probleme werden häufig schlichtweg externalisiert: An Beschäftigte von Schlachthöfen, Landwirt*innen, Konsument*innen oder (Nutz-)Tiere. In Ställen oder Schlachtbetrieben ist die Gefahr einer Ansteckung des Menschen demnach mehr als 100-mal so hoch wie in demselben Umfeld ohne Tierkontakt, ganz zu schweigen von den Konsequenzen für nichtmenschliche Tiere (Wallace, 2016, S. 60, 64; Chemnitz/Wenz, 2021, S. 31). Im Rahmen dieses Forschungsvorhabens wird daher versucht, Licht ins Dunkel zu bringen und die Bedürfnisse dieser menschlichen sowie vor allem nichtmenschlichen Akteur*innen hervorzuheben, um sich zu fragen, wie ein Raum oder gar eine Welt aussehen könnte, in der nicht nur Menschen, sondern auch nichtmenschliche Tiere Teil einer Vorstellung der wechselseitigen sowie kollektiven Fürsorge wären (Binder/Hess, 2019, S. 9).
Genau dieser Frage widmet sich auch seit einigen Jahren das interdisziplinäre Forschungsfeld der Science and Technology Studies (STS), welche Streitfragen im Hinblick auf die Interaktion mit Wissenschaft, Technologie, Innovation und Gesellschaft untersuchen (Marres/Moats, 2015, S. 2). Der STS-Ansatz und vor allem die durch Bruno Latour geprägte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) erweitern das Verständnis eines sozialen Miteinanders um nichtmenschliche Aktanten, wie (Nutz-)Tiere, um von dem Einfluss dieser auf die Interaktion zwischen Akteur*innen zu lernen. Nichtmenschliche Entitäten, Ideen und Institutionen werden damit ebenfalls zum Teil des Akteur-Netzwerks unterschiedlicher Akteur*innen. Entscheidend ist dabei, dass Handlungsträger*innenschaft nicht alleine von Menschen ausgeht, sondern von allen sozialen Akteur*innen des Kollektivs, das sich aus Natur und Gesellschaft, aus menschlichen und nichtmenschlichen Akteur*innen zusammensetzt (vgl. Latour, 2007a). In diesem Zusammenhang müssen laut bedeutenden Vertreter*innen der Care-Theorien , die sich wie Maria Puig de la Bellacasa oder Annemarie Mol auch innerhalb der STS verorten, ebenso Fürsorgepraktiken über den „human exceptionalism“ (Mol, 2021, S. 2) hinaus ausformuliert werden, um Verschränkungen und Verwicklungen zwischen Menschen und anderen Aktanten verstärkt einzubeziehen [Eine ausführliche Erläuterung dieser Theorien und der darin implizierten Aspekte erfolgt im Kapitel 2. Doing Theories.] (Binder/Hess, 2019, S. 18; Puig de la Bellacasa, 2017, S. 31). Nur so können letztlich die Bedürfnisse und Belange von Aktanten berücksichtigt und zu einer „decentered conception of human agency“ (Puig de la Bellacasa, 2017, S. 16, 31) beigetragen werden, welche konkrete Praktiken und Handlungen impliziert. Dabei scheint es zentral, im Sinne des „generating care“ (Puig de la Bellacasa, 2017, S. 57), Care genau den Akteur*innen gegenüber zu fördern, denen es weder möglich ist, ihre Bedürfnisse sprachlich zu artikulieren bzw. zu widersprechen (‚speaking back‘), noch sich aktiv zur Wehr zu setzen (vgl. Giraud/Hollin, 2016). Denn diese erfahren besonders häufig Ungerechtigkeiten und werden als subalterne Andere diffamiert (Wirth, 2011, S. 59).
Folglich ist es ein Ziel dieser Arbeit Care gegenüber den Akteur*innen und Aktanten zu fördern, die zwar von den Konsequenzen der Nutztierhaltung am meisten betroffen sind, deren Stimmen jedoch häufig ungehört bleiben bzw. durch machtvollere Sprecher*innenpositionen verdrängt werden. Zuvorderst sollen dabei Care-Praktiken gegenüber nichtmenschlichen Tieren untersucht, aber auch auf andere menschliche Akteur*innen, wie Arbeiter*innen in Schlachtbetrieben, Landwirt*innen und Konsument*innen eingegangen werden. Es wird sich in der vorliegenden Arbeit dafür eingesetzt, alle genannten Akteur*innen und Aktanten im Sinne Donna Haraways als ‚Companions‘ zu begreifen und vor allem (Nutz-)Tiere nicht auf ihre objektivierbare Verwertbarkeit zu reduzieren. Dabei wird sich in der folgenden Untersuchung auf zwei Kontroversen im Jahr 2020 konzentriert, die in engem Zusammenhang mit dem Mensch-Tier-Verhältnis stehen: Zum einen der Corona-Ausbruch im Schlachtbetrieb der Tönnies-Holding in Rheda-Wiedenbrück und zum anderen die Ausbreitung der SARS-CoV-2-Mutation auf dänischen Nerzfarmen. Dabei beschränken sich die Untersuchungszeiträume auf jeweils zwei Wochen nach der Bekanntgabe der jeweiligen Corona-Ausbrüche, d.h. den 17.06.- 30.06.2020 im Tönnies-Fall und den 01.11.-14.11.2020 im Nerz-Fall (jeweils einschließlich Start- und Enddatum). Um die Kontroversen und Handlungskontexte nachzeichnen zu können, wird ein Hauptaugenmerk einerseits auf die digitale mediale Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), Der Tageszeitung (taz), der Zeit und der tagesschau sowie andererseits auf die diskursive Beteiligung der Leser*innen und Konsument*innen gelegt. Hierfür werden sowohl Leser*innenkommentare zu den online erschienenen Artikeln als auch Nutzer*innenkommentare der Facebook-Seiten der Nachrichtenmedien einbezogen [Eine ausführliche Erläuterung zu forschungspraktischen Überlegungen, z.B. bezüglich der Auswahl der Nachrichtenmedien und Untersuchungszeiträume folgt im Kapitel 4. Practicing Research]. So soll letztlich versucht werden, sich im Rahmen dieser Forschungsarbeit der folgenden Forschungsfrage anzunähern:
Inwiefern werden Care-Praktiken in Bezug auf das Mensch-Tier-Verhältnis in medialen Kontroversen rund um die Corona-Ausbrüche in dem Tönnies-Schlachtbetrieb in RhedaWiedenbrück sowie auf dänischen Nerzfarmen im Jahre 2020 sichtbar und wie entwickeln sich diese?
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Wir reden viel darüber, wie wir das Virus eindämmen, wir sollten uns auch ein bisschen Gedanken machen wo eigentlich die wirkliche Ursache dieser Krankheit und von vielen anderen Krankheiten liegt, und die liegt im Tierreich und seiner rücksichtslosen Ausbeutung.
Robert Habeck (Eßlinger, 2021)
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