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Turner
Turners Hände zittern, während er auf seinen Bildschirm starrt. Seine Halsschlagader pocht wie ein Schlangenschwanz, der sich in einem Stacheldrahtzaun verfangen hat. Er reibt sich die schwarz umrandeten Augen. Er reibt sie, bis nur noch helle, flimmernde Formen vor seinem inneren Auge beben. Seine Finger fangen an, auf seine Tastatur einzuhacken. Immer wieder stellt er sich seinen fettbäuchigen Chef beim Eierkraulen vor. Dieses sabbernde, fiese Mettmonster. Sein Hacken wird nun so laut, dass sein Gegenüber, der ebenfalls auf seinen Bildschirm starrt, ihn irritiert beäugt. Turners Gehirn verlagert die rasende Wut in ein unbekanntes Zentrum seines Gehirns, presst das letzte Stückchen Gelassenheit davor und grinst seinen Nachbarn breit an. Offensichtlich zu breit. Denn dieser grinst zwar zurück, aber mit dem Finger schon am Sprühkopf seines Pfeffersprays. Pfefferspray, weil er ein mieses Weichei ist, und von seiner Oma immer noch Schläge auf seinen Po bekommt. Aber er mag das bestimmt.
Turner wusste es von Anfang an. Monate voller Überstunden, kein Schlaf, nur Kaffee, Cola und Kokain. Ab und zu tiefgefrorene Apfeltaschen. Er hatte Hunderte knochendürre Models gecastet, er hatte monatelang den Dreh vorbereitet. Von potthässlichen Locations bis zu überteuerten Schwuchtelfotografen. Während das Mettmonster die Social Media Accounts der Models gestalkt hatte, und sich dabei schon als Big Spender sah. Das ultimative Horrorbild eines Sugardaddys. Turner hatte ihm gegenübergesessen, während er etwas von „Kunde übernimmt nur die Kosten für drei Personen“ und „nehmen sie es nicht persönlich“ und „wir danken ihnen außerordentlich für ihren Einsatz und Aufwand“ und „beim nächsten Dreh sind sie dabei“ schwafelte.
Voller Wucht knallt Turner seinen Laptop zu. Dabei erinnert er sich an den Butterfly-Effekt. Falls der Knall ein Erdbeben ausgelöst hat, tut es ihm nicht leid. Schnellen Schrittes läuft er Richtung Klo, in letzter Sekunde reißt er den Deckel hoch und kleine Apfeltaschenstückchen schießen in die Schüssel. In die Schüssel, neben die Schüssel und um die Schüssel herum. Völlig erschöpft legt er seinen Kopf auf die Brille, während seine Krawatte traurig im Erbrochenen rumdümpelt. Er stellt sich kleine Miniaturbauern vor, die aufgeregt zwischen den Apfelstückchen umher hasten und rufen: „Oh nein, die gute Ernte!“, und dabei die winzigen Hände vor die Münder schlagen, während sie wütende Blicke Richtung Gott werfen.
Enorm dicke und fettige Wulste drehen sich durch den Fleischwolf, je länger Turner hinschaut, desto ruhiger wird er. Das Ganze hat schon eine, fast eine Hypnotisierende, Wirkung auf ihn. Erst nach ein paar Sekunden bemerkt er den irritierten Blick der Fleischerin. Aber es ist ihm egal. Wie angewurzelt bleibt er vor dem Schaufenster stehen.
Monate vergehen. Turner wird aus der Drehtür ausgespuckt und läuft Richtung Arbeitsplatz. Kreidebleich und überarbeitet starrt er auf ein Plakat neben dem Aufzug. „Bad-Taste Motto Party“ prangt in großen roten Lettern auf einem quietschgelben Hintergrund. „Bitte nichts mitbringen, außer guter Laune!“ Ein Lächeln huscht über sein Gesicht.
„Oh, du bist gekommen!“, ruft Antje. Eine Frau, die er eigentlich überhaupt nicht kennt, die aber im Personalbereich arbeitet. Sie drückt seinen Arm, sie hat einen sitzen. Er lächelt, und löst sich von ihr. „Der Chef war heute nicht auf der Arbeit. Eigentlich seltsam, er hat sich so auf das hier gefreut. Wir versuchen ihn auch die ganze Zeit anzurufen, geht aber immer nur die Mailbox ran.“ Sie zieht eine Schnute und schaut ihn ratlos an. Turner wirft ihr einen ermunternden Blick zu: „Er wird schon wiederauftauchen.“.
Dann läuft er Richtung Häppchentisch. Zwischen Käsesticks und Salzstangen legt er eine weiße Plastiktüte ab. Vorsichtig zieht er ein silbernes Tablett heraus. Zum Vorschein kommt ein mächtiger Mett Igel. Turner schiebt ihn in die Mitte des Tischs, wischt sich die Hand an der Hose ab und schlendert dann der Tanzfläche entgegen.
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Judika
Herr Finley war ein sehr sensibler Mann. Seine Haut war weiß, dünn, und man konnte das Schimmernde blau seiner Adern erkennen. Er schlief nie gut. Meistens schmeckte ihm sein Essen nicht und seine Augen vertrugen kein grelles Licht. Daher fielen für ihn viele, für selbstverständlich genommene Aktivitäten weg. Zum Beispiel würde man ihm nie an einem Sommertag im Park begegnen. Nie würde man ihn grüßen, während er in einer kleinen, italienisch gehaltenen Gasse zu Abend aß. Er kam aus einer achtköpfigen Familie. Hauptsächlich Brüder, und hauptsächlich Brüder, die ihn für einen Schwächling hielten. Sieben Wochen zu früh hatte er damals das Tageslicht entdeckt. Das Bedauerliche daran war, dass er seitdem nie wieder etwas entdeckt hatte. Ihm war, als würde seine Haut zu dünn sein für die Welt, als würde all das Leid seinen Weg in ihn hineinfinden. Da er eben ein Schwächling war. Abends, wenn das Rot des Sonnenuntergangs die Stadt einfärbte, riss er seine Fenster auf. Der Wind fuhr ihm entgegen, er fuhr ihn an, und Herr Finley schrie zurück. Jede Emotion, die seinen Körper am Tage heimgesucht hatte, brach bei diesem Ritual heraus, und fand ihren Weg zurück in Welt. Und während seine zerzausten Haare in alle Richtungen flogen, und seine weiße Haut rötlich schimmerte, da die Abendsonne sich verabschiedete, stellte er dem Wind tausend Fragen.
Herr Finley arbeitete in einem berühmten botanischen Garten. Die Luft dort war feucht und warm. Jedes Mal, wenn er die Schwelle seines Arbeitsplatzes betrat, war ihm, als würde er in eine neue Haut schlüpfen. Eine Haut, die ihm besser passte, die ihm wirklich ein Schutz war. Die Sonne schien durch das verglaste Gebäude und ein grünlicher Ton legte sich auf alles. Er wuchs zusammen mit seinen Pflanzen.
Auf den Straßen wurde er des Öfteren angepöbelt. Mal wegen seines Teints, mal wegen seines Körperbaus. Sie schubsten ihn, gaben ihm Namen. Es ließ ihn innerlich zerbrechen, doch er ließ sich nichts anmerken. Strammen Schrittes flüchtete er Richtung Heim.
Es war eine kleine Hand, die ihn wieder an das Leben erinnerte. Eine zerbrechliche, von hellster Farbe geprägte Hand, die vorsichtig über die Blüten eines Krokusses strich. Erschrocken zuckte er zusammen. Er hatte vor den Blumen gekniet und ihren lilafarbigen Schimmer betrachtet. „So willensstarke kleine Wesen. Sie brechen hervor und lassen sich von nichts aufhalten.“ Herr Finley schreckte herum und sah in das Antlitz einer jungen Frau. Ihre Haut war seiner so gleich, und ihre Lippen waren so Rot. So Rot wie sein geliebter Sonnenuntergang. „Allerdings, vor allem der Krokus biflorus.“, erwiderte er und stand auf. Er streckte ihr zitternd seine Hand entgegen, und als sie ihre ebenfalls ausstreckte, so war ihm, als wäre es seine.
Die Monate vergingen, der Winter ließ die Stadt erstarren. Nur zwei Personen ließ er verschont. Eine Liebe, so zerbrechlich wie eine Blüte, und so willensstark wie der Krokus, brach aus dem harten Asphalt, und bahnte sich einen Weg in die Freiheit.
Doch Herr Finley war nicht auf der Welt, um glücklich zu sein. Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben damit verbringen die Vergangenheit zu verarbeiten. Und diese wird niemals tot sein, sie ist nicht mal vergangen. Vorsichtig und verletzlich flüchten sie durch ihr Leben, hoffen auf etwas Besseres, aber geben sich mit dem schlechteren zufrieden. Die lang ersehnte Antwort ist längst auf hoher See verschollen.
Am 16.03.1816 stirbt Judika. Es ist das Jahr ohne Sommer. In diesem Jahr blüht kein einziger Krokus. Judika entscheidet sich dazu, auch unter der Erde zu bleiben.
Als Herr Finley gegen Abend in sein Apartment eintrifft, bebt sein Körper. Je Röter der Sonnenuntergang jedes einzelne Haus einfärbt, desto stärker wird sein zittern.
Mit fiebrigem Blick eilt er zu einem seiner Fenster. Voller Wut reißt er es auf. Diesmal möchte er eine Antwort. Der Wind lacht ihm hämisch entgegen und drängt ihn zurück. Die schimmernde Haut von Herr Finley bebt zu jedem Herzschlag. Es pocht Richtung Fenster. Mit letzter Kraft bewegt er sich dem Wind entgegen, bis dieser ihn in seine Arme schließt.
Es wird die einzige Antwort bleiben, die Herr Finley jemals bekommen hat.
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Foodora
Seit Essen für mich zu einer Sucht geworden ist, sorgt Foodora für meinen täglichen Overkill an zu fettiger Pasta, zu teurem Sushi und sündhaft delikatem Dessert. „Dein Fahrer ist gleich bei Dir“, löst in mir mehr Glücksgefühle aus als sonst etwas. Ich liege in meinem Bett, ich gucke etwas, ich bin faul. Dann klingelt es. Alles freut sich.
Meine Wohnung ist so geschnitten, dass man von der Haustür aus genau zu meinem Bett schauen kann. Also vom Treppenhaus aus direkt in meinem Kopf. Wie ein kleines UFO halt. Jeder Fremde, dem ich meine Tür öffne, kann innerhalb einer Sekunde in mein tiefstes Inneres schauen. Ist das ein getragener Schlüpfer? Macht sie ihren Vibrator eigentlich manchmal sauber? Warum klebt Alufolie an den Fenstern?
Ich lausche den schweren Schritten, die zu mir hochhallen. Erste Etage, zweite Etage, was für ein Trampel. Ich habe das Gefühl anhand seines Ganges, die Farbe seiner Schuhe erkennen zu können.
Dann steht er vor mir. Er ist außer Atem und schnauft. Was für ein Schnauftier. Auf dem Rücken trägt er ein riesiges Magenta farbiges Quadrat. Seine blonden Haare kleben an seiner Stirn und er hat Sommersprossen, so um die 40 Stück. Er könnte glatt die Rolle des Sandmanns spielen. Vorsichtig schaut er an mir herunter. Ich trage einen Hauch von Nichts. Die meisten Leute würden das jetzt unangebracht finden. Ich dagegen stelle mir einfach immer vor, ich wäre im Schwimmbad. Im Bikini. Und das fände niemand schlimm.
Wahrscheinlich ist er jetzt peinlich berührt, wahrscheinlich fragt er sich, wie ein Mensch nur so unordentlich sein kann. Er bückt sich und ich kann seine Futurama Boxershorts erkennen. Dann öffnet er das Quadrat. „Fuck ist das heiß“, flucht er, als er um die sechs Pakete herausnimmt.
Er schaut mir in die Augen. Und dabei hält er mir meine Bestellungen vor die Nase. Eigentlich müsste ich die fiesen Dinger jetzt annehmen. Aber ich kann nicht. Die Situation ist zu seltsam. Er weiß das. Er sieht es doch.
„Du hast das doch bestellt, oder?“, fragt er verunsichert. Man könnte für das kommende Szenario Tausende Beschreibungen finden. Vielleicht „Die Gelegenheit beim Schopfe packen“, oder aber auch „Den inneren Irren freilassen“. Fünf, vier, drei, zwei, eins, Go. „Magst du Pizza?“, frage ich. „Klar“, erwidert er, komplett aus dem All geschossen. „Dann darfst du mitessen.“, ich packe ihn, leicht aggressiv, aber auch sanft. Seine Lippen sind salzig, es waren ja auch fünf Etagen. Es sind vier Schritte bis zum Bett, wenige Handgriffe um einander auszuziehen. „Verh��test du?“, keucht er, „Also hast du ein Kondom?“ „Wir haben Aioli?“, keine Ahnung was ich da sage. Er schaut mich verständnislos an: „Nee, ich meine nicht Gleitgel, ich meine halt einfach ein Kondom, oder sowas.“ An meiner Postkartenwand habe ich mal ein Kondom auf gehangen. Es trägt stolz die Aufschrift „Like a virgin“. Ich habe es damals mit einer Reiszwecke festgemacht. Vorsichtig inspiziere ich das Loch. Ok, alles unbeschädigt, alles unbedenklich.
Dann lieben wir uns. Zwischen Pizza und Pasta und Dips. Ich denke an ihn, ich denke aber eigentlich auch an alles. An das große Ganze. Ob das Weltall mich wohl abstoßend findet? Oder einfach unglaublich mutig und Krass?
Als wir fertig sind ist es dunkel. Er zieht sich an. Seine Haare stehen in alle Richtungen, die Kräuterbutter hat bei ihnen eine Art Gel-Effekt ausgelöst und er sieht aus wie ein Drummer. „Würd dir ja gerne dein Essen gratis geben, aber du hast über Paypal bezahlt.“, sagt er schuldbewusst. „Kein Ding“, ich ziehe meine Beine ganz nah an meinen Körper und schaue ihm beim Anziehen zu. Er küsst mich zum Abschied auf die Stirn und dann trennen sich unsere Wege. Ich lege meinen Kopf auf die Knie und lächle. Dann stopfe ich mir ein Pizza Brötchen rein, nehme die Like-a-virgin’s Verpackung und hänge sie wieder auf.
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Von der Kunst sich Anzupassen
Mein Onkel war ein Anpassungskünstler. Egal wo er war, egal mit wem er war, er schaffte es immer sich unmerklich in den Hintergrund zu rücken. Trotzdem wirkte er nie fehl am Platz. Meistens stand er, rauchend, am Rande des Geschehens. Mir war es immer unbegreiflich gewesen, wie eine Lunge so viel Nikotin verschlingen konnte. Warnte man ihn vor den Konsequenzen dieses massiven Konsums, kam einem der Satz „Du kommst da eh nicht lebend raus“, eingepackt in einer dicken Rauchwolke, entgegen geschwebt. Er wirkte, als wüsste er alles über die Welt, als hätte er jeden Kontinent bereist, jede Erfindung getestet und jede Frau geliebt. Seine ruhige, aber dennoch äußerst majestätische Aura legte sich in sämtliche Räume, in die er eintrat. Sie breitete sich aus, krabbelte in die letzten Winkel und füllte lückenlos alle Nischen aus, während mein Onkel mit den Vorhängen des Raumes eins wurde, und man ihn nur dank der aufziehenden Nebelschwaden seiner Zigarre erkannte. Umso schmerzlicher war es, als mein Onkel starb und die Räume kühler nicht sein konnten. Es passierte an jenen heißen Sommertagen, die Grillen zirpten und die Luft stand still. Drei Kinder spielten in den Ruinen eines moosbedeckten, verlassenen Schlachthofs, als dieser zu brennen anfing. Als man die drei aufgelösten Würmchen später fragte, wie sie den Flammen entkommen waren, erzählten sie von einem rauchenden Mann im Anzug, er hätte sie gerettet und wäre mit den Flammen eins geworden.
Ich war nie künstlerisch begabt gewesen, doch ich wurde das Gefühl nicht los, ihm etwas schuldig zu sein. Am 4. Oktober. 1965 entstand sein Tapetenmuster-Gemälde. Nie war ihm jemand näher gewesen, als all die Muster der Tapeten und Vorhänge, der unzähligen Säle und Wohnzimmer, in denen er sich, zusammen mit seinem Zigarrenrauch aufgelöst hatte.
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