philosophenstreik

[philosophenstreik]

das motiv auf dem cover von rogan brown passt optimal zur vielfältigkeit auf unserem planeten, um den es nun einmal geht hinter dem von heidi sorg und christof leistl gestaltetem cover. sehr angenehme und unaufgeregte gestaltung, die gerade deshalb die aufmerksamkeit auf sich zieht. (rezension zum buch im vorigen beitrag)

[philosophenstreik]

das erwachen der erde

wie das leben unseren planeten formt

sachbuch von ferris jabr

erschienen 2025

im verlag antje kunstmann

isbn: 978-3-95614-627-5

(von tobias bruns)

fast wie ein theaterstück hat dieses sachbuch drei "akte": gestein, wasser und luft. allerdings nicht wie im klassischen sinne stehen sie für anfang, mittelteil und ende. sie sind drei hauptteile: gestein ist der brocken erde, der planet, das wasser ist dass, was große teile dieses planeten bedeckt und die luft, das, was ihn umgibt innerhalb seiner atmosphäre und überall in diesen drei sphären findet leben statt - vom kleinsten mikroorganismus über den menschen bis hin zum wal - oder je nach zeitalter jedwedes anderes leben. in einer art symbiose lebt der planet mit seinen einwohnern und hat sich so zu dem entwickelt, was er heute ist, ein lebensfreundlicher punkt mitten im all. zumindest in unserem sonnensystem hat dies aus verschiedensten gründen keiner geschafft. und wenn auch menschen weltweit seit urzeiten die erde als lebendiges system anerkennen, so tat die wissenschaft dies lange jahrzehnte des letzten jahrhunderts nicht - möglicherweise eine erklärung dafür, warum der menschgemachte klimawandel solange nicht ernst genommen wurde... in seinen drei "akten" arbeitet sich jabr durch die erde hindurch bis in den himmel hinein. überall - wahrhaft überall scheint es leben zu geben, leben, dass die erde wie wir sie heute kennen durch ihre verschiedensten funktionen und wechselseitigen beziehungen geformt haben. mikroben und plankton, elefanten, bisonherden oder der mensch. jabr durchforstet alles, durchforscht alles und bringt es näher mit faszinierenden fakten, mit faszinierenden menschen die immer dabei sind die welt ein stück weit zu retten oder besser zu machen.

an sich ist der titel etwas irreführend, denn die erde ist nicht am erwachen sondern schon seit ewigkeiten wach... erlöschen wird sie auch erst, wenn sie in der sonne verglüht, doch bis dahin hat sie sich sicherlich schon mehrfach regeneriert und der mensch war einmal ein gast, denn nach allen katastrophen, die planet erde bereits erlebt hat, kam die erholung und neues leben entstand. jabr beleuchtet anhand wissenschaftlicher erkenntnisse und toller projekte wie der mensch den planeten bereitsverformt hat und wie der mensch ihn wieder in form bringen kann. er schreibt dabei sehr persönlich, bringt viel von sich selbst, seiner beziehung, seinem leben ein. ein wirklich erweckendes buch - "das erwachen des lesers" wäre vielleicht ein treffenderer titel...

[philosophenstreik]

ruhe in frieden sebastião salgado

einer der besten fotografen aller zeiten ist von uns gegangen! nun ruhe er in frieden, dieser mann, dem die erde und das leben auf ihr so wichtig war...

[philosophenstreik]

anneka beatty zeichnet verantwortlich für das titelbild und die gestaltung, die schlicht und ganz simpel gehalten den roman doch sehr gelungen auf dem cover spiegelt - wenn auch mit einem ungewöhnlichen wellengang. an künstlerischer freiheit sollte man in diesem fall nicht rütteln, aber vielleicht sind es einfach die verschiedenen wellen, die die autoren des kollektivs elen fern aussenden... (rezension zum roman im vorigen beitrag.

[philosophenstreik]

wenn die welse kommen

roman von elen fern - matthieu ruf, aude seigne, anne-sophie subilia und daniel vuataz

erschienen 2025

im kommode verlag

isbn: 978-3-905574-49-4

(von tobias bruns)

die welt steht unter wasser - und das nicht nur ein bisschen. in einer ehemaligen großstadt in der schweiz, in der nur noch in den oberen teilen der wohntürme gelebt werden kann, die wie inseln aus dem wasser ragen, arbeiten die beiden taucher boris und salōmon daran relikte und reichtümer aus besseren tagen aus dem wasser zu holen. an sich arbeiten sie selbstständig, doch nun will die ortsvorsteherin ihre dienste in anspruch nehmen, um nach wichtigen objekten zu tauchen, die elementar wären, für die zeit, wenn das wasser wieder verschwindet, eine utopie, die sie nicht als hoffnung aufgeben will. doch dass die welt unter wasser steht ist nicht das einzige problem: jedesmal, wenn die kirchenglocken läuten fliehen die menschen in ihre wohnungen, die schifffahrt wird eingestellt und riesige, gefährliche welse "überfallen" die stadt. zeitgleich verschwinden die kinder, die scheinbar dabei sind auf den waldinseln, die aus dem wasser ragen, eine neue anarchische gesellschaft bilden. boris und salōmon versuchen all dem auf den grund zu gehen...

dass der meeresspiegel steigt und früher oder später einige landstriche im wasser versinken ist an sich schon keine dystopie mehr, sondern einfach nur ein fakt, dass jedoch selbst die schweiz dauerhaftes opfer dieser fluten wird dann schon eher... doch es geht dem literaturkollektiv elen fern hier auch garnicht darum, dass etwas tatsächlich möglich ist - abgesehen davon könnte man die szenerie an jedem beliebigen ort spielen lassen - vielmehr ist es eine art gedankenspiel dieser gruppe über eine gesellschaft nach der katastrophe. wie funktioniert eine solche gesellschaft? was wird sich ändern? wird es eine revolution geben? wie verhalten sich die kinder derer, die diese situation überhaupt erst herbeigeführt haben? was sind es für gesellschaften, die sich da in den oberen etagen der gebäudeinseln entwickeln? und dann ist da natürlich immer wieder der nachhall der vergangenheit, die erinnerungen an geliebte orte, die nun wohl für immer verloren sind. der roman ist entstanden im zuge eines forschungsprojekts, ob es möglich wäre, dass literatur bei der zukünftigen stadtplanung helfe. wenn man den roman nun liest, könnte man zu dem schluss kommen, dass dem so sei, was aber die lektüre ohne diese fragestellung, sondern einfach nur als roman, den man lesen möchte angeht, lässt sich durch den entstehungszweck des buches vielleicht erklären, dass es einige recht zähe passagen gibt. dennoch eine interessante herangehensweise für eine geschichte und obwohl der roman gleich vier autoren hat, erscheint er wie aus einem guss...

[philosophenstreik]

ein schlichtes cover, wunderbar mit klassischen mustern bestückt und sehr passend zum Inhalt ohne auch nur das geringste zu verraten...ein wirklich sehenswertes cover zu einem lesenswertem buch. (rezension im vorigen beitrag)

[philosophenstreik]

cave 72

roman von fann attiki

erschienen 2025

im lenos verlag

isbn: 978-3-03925-043-1

(von tobias bruns)

jeden abend treffen sich die vier freunde verlass, ferdinand, didi und stephan im cave 72, der kleinen bar von der sogenannten maman nationale um über alles mögliche zu sprechen und dabei gut und viel zu trinken. die bar ist berühmt und schon fast eine institution. als eines tages der mit einem der männer verwandten minister in ungnade des regimes fällt, wird ein komplott geschmiedet, welches die bar und die vier männer in ihren mittelpunkt stellt. sie werden terroristischer umsturzpläne bezichtigt. einer nach dem anderen wird verhaftet, auch maman nationale, dessen bar kurzerhand geschlossen wird unter dem vorwurf ein terroristisches nest zu sein. allerdings hat das regime nicht damit gerechnet, welche reaktion die schließung gerade dieser bar und die verhaftung vierer unschuldiger männer auf die bevölkerung nicht nur in brazzaville, sondern über das ganze land land hinweg hat, denn das komplott scheint einfach zu offensichtlich...

ein wunderbarer mit viel ironie geschriebener roman über das leben in einem land, das von einem unrechtsregime regiert wird, das immer wieder versucht die dinge so zu biegen, wie es ihm gerade passt - natürlich ohne dabei rücksicht auf die bevölkerung zu nehmen... ein korruptes system, dass seine zukunft frisst, um den status quo zu erhalten, wie es in einigen ländern der welt bis heute gibt und ein roman, der als weckruf gelten sollte für die menschen in den ländern, die sich gerade heute auf den weg in diese richtung bewegen... es sind nicht wenige... ganz große literatur, die uns fann attiki hier schenkt und ein riesiger lesespaß trotz sehr ernster thematik. man möchte den roman fast direkt noch einmal lesen...

[philosophenstreik]

ein motiv von amaia marzabal ziert das cover von dana spiottas roman "die schönere lüge" im gewohnten kjona-rahmen (noch immer wünschte ich mir, er würde überdacht... ein verlag mit genialem konzept und weitgehend genialer literatur... es ist ein wenig bei der gestaltung so, als würde der suppe das salz fehlen...). dieses motiv, dass marion blomeyer für diesen titel ausgewählt hat ist ein toller griff, denn titel und titelbild zusammen ergeben tollen spielraum zur interpretation und bringt mit sicherheit einige menschen zum kauf. über den Inhalt des romans verrät dieses cover allerdings nicht viel....

[philosophenstreik]

die schönere lüge

roman von dana spiotta

erschienen 2025

im kjona verlag

isbn: 978-3-910372-40-5

(von tobias bruns)

meadow und carrie haben sich in der schule kennengelernt und sind unzertrennliche freundinnen geworden, deren leben immer mehr nur um filme und das filmemachen kreist - in l.a., wo sie aufwachsen ist film natürlich allgegenwärtig. was ihren filmgeschmack jedoch angeht unterscheiden die beiden sich. aber ihr beschluss im oder besser mit film karriere zu machen steht für beide fest. eine lüge meadows, mit carrie nach new york zu ziehen startet das ganze vorhaben. während meadow, die immer eher alternatives kino und ungewöhnliche ansätze mochte nach der schule mit einem dokumentarfilm erste große erfolge feiert, versucht sich carrie mit leichterer unterhaltung und spielfilmen, die den massen gefallen sollen. die beiden bleiben zwar befreundet, aber entfremden sich langsam, auch weil meadow versteckt mit einem bedeutenden aber ziemlich altem hollywoodproduzenten, orson welles, zusammenlebt. während carrie die karriere ihrer freundin weiter interessiert verfolgt, hat meadow eher wenig Interesse an den erfolgen von carrie. der dokumentarfilm, den meadow dann über eine frau namens amy dreht, die vor vielen jahren als unbekannte namens nicole berühmte hollywoodstars anrief und sie nur durch das telefonieren dazu brachte sich in sie zu verlieben, ohne dass sie sich jemals getroffen hätten, gerät plötzlich alles irgendwie aus der bahn.

es ist interessant und sehr abwechslungsreich, auf wie viele verschiedene weisen in diesem roman von dana spiotta erzählt wird, was allerdings manchmal verwirrt, da auch perspektiven immer wieder wechseln und man dazu noch von einer zeitlinie in die andere springt, ohne darauf vorbereitet zu sein. an sich ist film und die welt des films der rahmen dieses romans um zwei freundinnen, die ganz unterschiedliche wege in der filmwelt gehen und der an sich interessantesten protagonistin, der mysteriösen frau, die nur durch ihre gespräche berühmtheiten der filmszene dazu bringt sich in sie zu verlieben, bis sie ein treffen wollen, woraufhin sie den kontakt abbricht... alle erzählstränge, zeitlinien und perspektiven vereinen sich irgendwann - vielleicht etwas spät, denn manchmal wird das ganze etwas zäh und man fragt sich, wozu man das eine oder andere jetzt lesen muss oder ob man vielleicht mal ein Kapitel überspringen könnte (ich persönlich kann so etwas nicht... entweder alles oder nichts...). es macht schlussendlich dann alles einen sinn, doch der weg dahin ist ehrlich gesagt etwas steinig. ihr erster auf deutsch erschienener roman hieß "unberechenbar" (der mir gut gefiel), dieser roman ist unberechenbar... ich bin gespannt auf den nächsten.

[philosophenstreik]

ein hervorragendes buch (rezension im vorigen beitrag), aber was hat das foto von marc comley, welches ja durchaus sehr gelungen ist, mit dem titel zu tun? verschwinden tut vieles und alles irgendwann, aber das ist wohl auf dem bild nicht erkennbar... oder sollte es einfach nur ein foto vom alten jaffa sein, um das es auch geht, welches das cover ziert? an sich kann lenos cover besser...

[philosophenstreik]

das buch vom verschwinden

roman von ibtisam azem

erschienen 2023

im lenos verlag

isbn: 978-3-85787-839-8

(von tobias bruns)

von heute auf morgen verschwinden alle palästinenser aus den autonomiegebieten und aus isreal - so die grundlegende geschichte des romans. noch am abend sind ariel und alaa zusammen etwas trinken, diskutieren über politik und alltägliches. alaa ist ariels nachbar in tel aviv. ariel ist journalist und arbeitet als korrespondent für eine new yorker zeitung und alaa ist kameramann. sie haben sich seit langem angefreundet und diskutieren viel, da es viel zu diskutieren gibt, denn alaa ist palästinenser und ariel ist jüdischer israeli. als am nächsten tag plötzlich alle palästinenser verschwinden, fällt es auf, da das land nicht mehr funktioniert und so wird davon ausgegangen, die palästinenser hätten einen generalstreik unangekündigt angefangen. ein unglaublicher vorgang, was dazu führt, dass die menschen glauben, das israelische militär oder der geheimdienst wären für das verschwinden verantwortlich. ariel will dem ganzen natürlich als journalist auf den grund gehen, kommt aber nicht weiter. während er intensiv nachforscht und seinen freund alaa vermisst, sein buch findet, dass faszinierende einblicke verschafft und das er entscheidet ins hebräische zu übertragen, werden feierlichkeiten vorbereitet, da der vermeintliche feind nun einfach so, mir nichts, dir nichts verschwunden ist...

da gibt es das geschwätz eines neuen amerikanischen präsidenten, den gaza-streifen von den palästinensern zu befreien und aus diesem teil palästinas eine art riviera des nahen Ostens zu erschaffen, in der es unendlich viele arbeitsplätze gäbe und die reichen und schönen ihren urlaub verbringen könnten... in ibtisam azems roman sind die palästinenser allerdings tatsächlich (aber aus dem kompletten land Israel/palästina) von heute auf morgen verschwunden. doch während der eine überzeugt ist, er könne sein kleines paradies erschaffen, wenn er die palästinenser durch umsiedelung aus ihrem land verbannt, so will die andere zeigen welche folgen es für israel hätte, würden plötzlich alle palästinenser verschwinden und sie zeichnet ein erschreckendes bild. von großer euphorie bis hin zu weniger großer euphorie oder aber angst es könne vergeltung kommen - das ist hier die reaktion der menschen in israel. es scheint, einzig der protagonist und verschmähte linke kämen mit dem verschwinden von vier millionen menschen nicht klar. es ist ein faszinierendes und sehr bemerkenswertes buch der palästinensischen autorin, das lange vor dem angriff der hamas, dem krieg in gaza und vor den ideen trumps veröffentlicht wurde. azem zeigt das ganze spektrum von freundschaftlicher liebe bis hin zu ignorantem hass und legt dabei die ganze liebe zu einem ort mit jahrtausendealter geschichte dar. ich denke, gerade in diesen zeiten, in denen plötzlich gebiete der welt wieder zur disposition der supermächte scheinen, ist dieses buch extremst lesenswert!

[philosophenstreik]

sehr bieder in seinem mobiliar und fast unheimlich, durch das diffuse und doch blendende licht, das den raum durch die gardinen beleuchtet, wirkt das wohnzimmer auf der fotografie von beatrice minda aus ihrer serie "innenwelten". julie august hat es sehr treffend gewählt für die gestaltung des covers von "die familie" und damit schafft sie es mit ihrer cover-komposition, den roman von vornherein auf den punkt zu bringen. ein wahrlich gelungener einband für einen bemerkenswerten roman (rezension im vorigen beitrag)

[philosophenstreik]

die familie

roman von sara mesa

erschienen 2025

im verlag klaus wagenbach

isbn: 978-3-8031-3374-8

(von tobias bruns)

"es gibt keine geheimnisse" ist das mantra dieser familie, die von damián und laura als eltern vierer kinder angeführt wird, wobei eines dieser kinder familiär adoptiv ist. es gibt in dieser familie kein fernsehen und man verbringt die zeit zusammen, man verkriecht sich nicht in seine zimmer sondern ist immer beisammen, man schreibt tagebuch nicht in verschlossenen büchern, sondern so, dass es theoritisch jeder öffnen und lesen könnte, auch wenn das natürlich niemand tun würde und doch sitzt vater damián dann daneben um fehler in orthographie und ausdruck zu verbessern... damián ist wohl anwalt, er liebt gandhi und kommt jederzeit mit einem zitat zu allem auf. er kann allerdings nichts mit redewendungen anfangen. damián weiß genau, was er für seine familie will und dem haben sich alle zu fügen, doch jedes kind sieht es etwas anders und wie es in familien so ist, ist die absolute kontrolle nicht möglich - und doch scheint es, hat damián die zügel fest in der hand, auch als die kinder schon erwachsen sind....

was für eine familie! welch horror für jeden, der sich auch nur vorstellt teil dieser selben zu sein und sich gleichzeitig fragt, wie irgendjemand nicht gegen das alles rebelliert, was hier die eltern den kindern abverlangen...? es sind zustände, die jedem, der nicht solche kontrollsüchtigen, anmaßenden und übergriffigen umstände erlebt hat einfach nicht begreifbar sind (so auch mir)... doch auch wenn hier nicht sexueller mißbrauch oder ähnliches mit übergriffig gemeint ist, so ist doch das extreme verhalten der eltern, die die kinder selbst als erwachsene kontrollieren ja nichts anderes als eine art der vergewaltigung der psyche. es ist ein extremer roman, der mit einem so netten titel daherkommt: die familie. und darum geht es... um eine familie. nur einer, in der freiwillig eigentlich keiner leben will. sara mesa schreibt diesen roman in beeindruckender art und weise, so dass man sich teilweise selbst fragt, wo bin ich gerade? jetzt, morgen, gestern? man merkt es. vielleicht zu spät, so wie vielleicht auch die protagonisten, obwohl immer betroffen, zu spät bemerken in welcher phase ihres lebens sie sich befinden oder befinden sollten... ein beeindruckendes werk. dicht erzählt, beklemmend in der wirkung und den freiheitsdrang herausfordernd! der roman schreit förmlich "lasst mich frei!"

[philosophenstreik]

da scheint eine lawine abzugehen, auf dem bild von bide cui auf dem cover von wie es endet. auch im buch werden diese abgänge angekündigt und durchgeführt. insofern ist das titelbild recht passend. und doch scheint das cover als ganzes etwas unförmig mit seinen vielen linksbündigen objekten - muss soviel das cover zieren? an sich würde man sagen wäre hier weniger mehr.... (die rezension zum roman im vorigen beitrag)

[philosophenstreik]

wie es endet

roman von michèle minelli

erschienen 2024

bei lectorbooks

isbn: 978-3-906913-46-9

(von tobias bruns)

seit langem träumen thierry und seine frau vanessa von einer schönen auszeit mit ihrer tochter evie und dem geliebten kater pizza (so heißt er) in einem berühmten luxus-chalet in den bergen - nun haben sie es endlich geschafft, sie sind da. thierry hat allerdings noch etwas arbeit mitgebracht, denn er muss für das filmprojekt "Theorie von allem" von chris, dem produzenten, mit dem er nun schon sehr lange zusammenarbeitet, noch ein paar szenen zusammenschneiden. aber erst einmal wird genossen, an diesem unglaublichen ort angekommen zu sein. bedienstete sind erstaunt über die menge an essen, dass thierry ins chalet bestellt. auch wundern sich passanten, wenn thierry will mit seiner tochter im schnee spielt - der kater muss währenddessen im zimmer bleiben, nicht dass er abhaut. thierry scheint etwas verwirrt, eines abends vergisst er die zeit bei einem rodelausflug, den er alleine unternimmt und findet kaum noch den weg ins hotel zurück, er fürchtet schon die große angst, die sich seine frau und tochter schon machen müssen. als einen abend ein unwetter aufzieht und der kater nicht aufzufinden ist, läuft thierry verzweifelt um die chalets herum, um den kater, den seine tochter doch so liebt zu finden, er würde kaum eine nacht bei einem unwetter in der kälte überstehen. als er an der rezeption der anlage nach dem kater fragt erntet er nur ungläubige nachfragen nach kater, frau und tochter. als er pizza dann endlich findet kehrt er ins Chalet zurück, doch die familie scheint bereits zu schlafen...

irgendetwas an der geschichte ist von anfang an sehr komisch. man merkt es, es schwingt irgendwo mit. die ganzen kleinen dinge, die passieren, wo man sich denkt "warum?" und dann kommt der moment mit dem die kurze zusammenfassung oben abschließt: der kater geht verloren und die kritischen nachfragen der hotelangestellten. das ist der punkt wo man dann sagt "ich hatte recht", hier ist der beweis, dass da etwas überhaupt nicht stimmt und weiß dennoch nicht was... der leser wird ewig auf die folter gespannt und das ist gut so. die bergidylle war von anfang an trügerisch und endlich soll alles aufgelöst werden, was die ganze geschichte auf einen schlag in eine ganz andere verwandelt. von anfang an subtil angedeutet und dann wie ein paukenschlag - wunderbar geschrieben. ein kurzer roman, aber nicht für zwischendurch, sondern einer auf den man sich einlassen muss.

[philosophenstreik]

zu diesem umschlag gibt es nicht besonders viel zu sagen - das typische groothuis konzeptdesign von wagenbachs kleiner kulturwissenschaftlichen bibliothek: schlicht, nüchtern und immer wieder in einer anderen gediegenen farbe... (rezension zum buch im vorigen beitrag)

[philosophenstreik]

opfernationalismus

erinnerung und herrschaft in der postkolonialen welt

sachbuch von jie-hyun lim

erschienen 2024

im verlag klaus wagenbach

isbn: 978-3-8031-5197-1

(von tobias bruns)

opfernationalismus ist, wie jie-hyun lim hier ausführt, eine spielart des nationalismus, der sich nicht auf heldengeschichten und glorreiche ereignisse bezieht, sondern auf den kollektiven status der nation als opfer anderer mächte - dieser status als opfer wird nach lim als legitimation der nation und ihrer unschuld perpetuiert und auch konstruiert. hyun geht dabei besonders auf die nationen israel, polen, deutschland, korea und japan ein - auf täter und opfer. er untersucht in seinem text, inwiefern holocaust, stalinistische gewaltherrschaft und kolonialismus vergleichbar seien, er untersucht, wie sich nationen bewusst die rolle des opfers überstülpen um sich dadurch einerseits vorteile zu verschaffen und andererseits von eigener schuld und eigener täterschaft abzulenken. er geht sehr intensiv auf polen ein, ein land, welches oft opfer der nachbarmächte wurde, gleichzeitig jedoch deutschland bei der verfolgung der juden unterstützte - dieser teil der geschichte wird allerdings im polnischen selbstverständnis ausgeblendet, so lim - ein erfolg des Umschreibens der geschichte in die exklusive rolle des opfers. ebenso geht er bei japan vor, welches im zweiten weltkrieg große teile ostasiens unterworfen hat und unglaubliche kriegsgräuel beging - traumata unter denen die damals unterworfenen nationen noch heute leiden und hier mit fug und recht einen opferstatus beanspruchen können. doch nachdem die atombomben auf japan fielen, das land kapitulieren musste und die menschen "erwachten", konnten die geschichtsschreiber japans herangehen und erfolgreich aus dem täter das opfer konstruieren und die eigenen taten ausblenden. ein interessanter aspekt, den lim umfassend betrachtet, ist das gegeneinander ausspielen des erlittenen... wer hat mehr gelitten - kann man wirklich dahergehen und den holocaust mit stalins gewaltherrschaft oder dem kolonialismus vergleichen?

nun... es ist ein sehr interessantes und aufschlussreiches buch, manchmal etwas trocken und tatsächlich kann man über einiges auch sehr verwundert sein und vieles ist zu hinterfragen - es gelingt ihm allerdings gut, wie es von ihm beabsichtigt ist, von der eurozentristischen blickweise wegzukommen