Tumgik
photospoemsthings · 6 years
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aber das sagte ich nicht laut
dann saßen wir in ihrem schräg in einem grünstreifen geparkten auto, aber wir stiegen nicht aus. vier elektrisch verriegelte türen schirmten den schreienden herbstabend ab. Die straße war von den glühbirnengelben lichtflecken der strasenbeleuchtung verschmutzt. flechtenartig überzog draußen der nächtliche raufreif das gras und einen augenblick glaubte ich, ihm beim wachsen zusehen zu können; die kristallisationsprozessen des eises als spuren auf der haut zu fühlen zu können, als reste, die der tag ließ, in seinem abebben. aber das sagte ich nicht laut. seit zehn minuten stiegen wir nicht aus. wir sprachen vom august an den flussbänken, der trockenheit und verhinderten küssen, und ich war dankbar über jede möglichkeit, die ein einzelner satz bot. verspätet trug meine erinnerung scharfgezeichnet schwarze kernschatten in das überlaufende arbeitsgedächtnis des sommers. erst am bahnsteig küsste ich sie. vorher brachte ich es nicht über mich. zufallsverteilt lag weinrotes laub unter dem schweren, braunen leder meiner sich entfernenden stiefel. eine woche lebte ich vom regen und allem, das ausbuchstabiert war in den verbindungslinien unseres schweigens.
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photospoemsthings · 6 years
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die ungeduld meiner hände
in einer umgestürzten mülltonne fanden wir, von erfrorenen wespenkörpern umlagert, eines nachts die stumme asche meiner kindheit. abermals sprach in meinen schläfen dieses niedergestrecktsein zwischen lose verbundenen städten. entfernung war eine frage der zeit geworden, eine frage der reizschwelle, denn die zeit und meine entfernung zu ihr: das alles fiel unter einen mir unbekannten begriff. wer hatte wann, zu welchem zeitpunkt und aus welchen gründen, beschlossen zwischen uns apshaltschwarze straßen und die grün-parzellierten zersiedelungen rückseitiger städte auszurollen; warum blühte in ihren augen das licht. so als stünde ein gewitter dahinter, ein restpotential.
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photospoemsthings · 6 years
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anfangsbestände
ich wartete. noch immer stellte ich mich schlafend. südlich meiner geebneten sehnsucht stand sie vor dem hölzernen dunkelbraun des fensterrahmens und von ihrem keine armspannweite breiten, durchgelegenen bett aus sah ich, meinen schlafwarmen oberkörper in ihre richtung gedreht, wie sie sich langsam anzog, den blick in das hell des tages gerichtet, ein flüsternder blick, reglos. als zwei gekrümmte, kohlschwarze linien verliefen die träger ihres bhs über ihr weißes schulterblatt. in den raum fiel ein trüber streifen licht, das milchig war, fast wie greifbar zwischen zwei zitternden fingern und viel morgenkalten nebel geschluckt hatte. draußen wurde der stetige wandel des lichts zu einer hörbaren größe. anschwellender verkehr, kindergeschrei; ein steifer wind stieß durch die äste der birken. in der raunenden hellhörigkeit der alten wände begann das haus zu erwachen. ich wartete. der wurmstichige himmel war ein unbeschriebenes blatt in dessen haarrissen ermüdet die schwarzen herden der zugvögel lagerten, standbilder, völlig reglos in der gläsernen luft, windstille zeichen. vielleicht dachte ich an die wortlosigkeit am ende jeder nacht. und ich dachte, es müsse in meiner sprache liegen; es sei meine sprache, willensstark und trotzdem leise, ein beschützerinstinkt vor dem abrieb der wortstämme und der aushöhlung aller sätze. eine sprache, die sie nicht sprach. sie schwieg vor dem dunkelbraun des fensters in den raum hinein. ins weiße. zug um zug. erst an diesem sonntag sprachen wir wieder, in der fußgängerzone: durch unsere verspiegelten körperschemen hindurch, hinter kühlem schaufensterglas, bezugsfertige paradiese betrachtend, im led-schimmer. und ihre hand lang in meiner und in diesem tag war alles, was ich war, ein statistisches rauschen. eine abweichung.
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photospoemsthings · 6 years
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Balaton
„aber sie musste sich eingestehen dass es für sie auch schwierig geworden war zu verstehen worüber sich die jungen jetzt streiten die hatten doch jetzt alles arbeit selbstständigkeit freiheit und jeden sommer nach kroatien“     - paradies fluten, Thomas Köck
 An den Balaton, jedes Jahr im August. Meine ganze Kindheit lang und darüber hinaus habe ich meine Sommer reizarm und behütet an einem von Menschen überfüllten, dunkelblauen quasi-Meer mit deutschem Essen und Filterkaffee (immer in Reichweite) verbracht. Ein Meer, das keines ist. Als sei die Schöpfung an diesem Ort nur halb abgelaufen, in ihrer Hochphase unterbrochen worden, und aus diesem Grund war für mich Zufriedenheit dort nur in einer lauen, abgemilderten Zwischenform möglich. Keine Trauer, nie. Ein beinahe meditativer Zustand nach außen gekehrter Anspannungen. Zerfallsprodukte. Einfache Derivate des Glücks. Noch heute ist meine Erinnerungen von heißer Augustsonne mit der Familie durchzogen. Ich sehe vielfarbige, grelle Lichtreflexe und orangerote Nachbilder der Sonne in den Ecken meines Sichtfelds. Das Frühstück im Parkcafe am Seeufer. Klirrendes Vogelgeschrei in den blattgrün ausgeschlagenen Baumreihen, die die Straßen säumen. Zwölfstündige Autofahrten, ich zusammen mit meiner Schwester auf der Rückbank zwischen Rücksäcken, Aluminiumkoffern, Tennisschlägern und zusammengerollten, rosaroten Luftmatratzen eingepfercht, und immer nur einen Fingerbreit von der Grenze zum Schlaf entfernt. Dieser dämmriger Halbschlaf, den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, nur von der Monotonie des Motorengeräuschs, dem beruhigenden Wegbeschreibungs-Gemurmel meiner Eltern und dem Rascheln der großformatigen Straßenkarte auf dem Beifahrersitz durchkreuzt. Die damals noch schneebedeckten bayrischen Alpen, die sich blass vor einem wolkenlosen, hellblauen Himmel erhoben. Meine Mutter, die sich vom Beifahrersitz umdreht und uns gekochte Eier aus einer gelben Plastikdose reicht. Wir halten an einer Landstraße, damit mein Vater rauchen kann. Bei Garmisch gefleckte Kühe am Straßenrand, jedes Mal. Irgendwann eine Passkontrolle. Österreichische Bundespolizei. Nein, nichts zu verzollen, was denn auch. Dann die sanft grün auslaufenden Hügel hinter Wien. In Wellen. Die parallel mit der Straße verlaufenden Stromkabel schneiden sich in Unendlichkeit. Ein Gefühl, als hätte man sich querfeldein über die Landkarte bewegt und sei an einem völlig von Zuhause verschiedenen Ort plötzlich wieder aus dem Erdboden aufgetaucht. Und irgendwann gegen Abend: Ungarisch auf den blauen Metallschildern der Autobahnabfahrten, diese so fremde und knarzende Sprache aus langkettigen, umlaut-durchzogenen Phantasiewörtern. Eine Sonderform von Sprache, nur Eingeweihten vertraut. Übergroße Summen in bunten, länglichen Banknoten, die ich als Spielgeld kennenlernte – so leicht waren sie verschleudert und so einfach aufzutreiben. Die orange Abendsonne auf der Windschutzscheibe. Schwarze Mückenkadaver. Die Langweile eines beetgesäumten, rechteckig angelegten Ferienortes, durch den ich mich schon mit acht Jahren mit verbundenen Augen hätte navigieren können.
20-- setze ich dem ein Ende. Das Jahrtausend war jung, aber jetzt schon durchlebt und verbraucht wie eh und je. Ich war gerade sechzehn Jahre alt geworden und, ich fand, zu kleingewachsen und kindlich für mein Alter; gerade deshalb sprach ich nie über irgendetwas, das mein Äußeres betraf. Meine dünnen, blassen Arme, meine fettig rötlichen Haare oder die im Juni hervorgebrochene Sommersprossigkeit meines kantigen, bartlosen Jungengesichts mit dem Muntermal an der Wange. Meinen Eltern erzählte ich, Maschas Familie habe mich auf eine Woche in ihr Ferienhaus in Kroatien eingeladen. Von dort würde ich sie – wenn es sich ergab – ja einen Tag in Ungarn besuchen können. Mein Vater schwieg beim Abendessen und schenkte mir etwas später einen zerlesenen Jugoslawien-Reiseführer mit einigen Rotweinflecken auf dem Einband und alten, vergilbten und inzwischen völlig wertlosen Geldscheinen darin. Meine Mutter protestierte einige Stunden lang etwas halbherzig. Weigerte sich, mich in ihrem blauen Skoda in die zu meinen Klavierstunden in die Kreisstadt mitzunehmen, sodass ich nachmittags eine Stunde lang in der dunstigen Hitze des morschen Haltestellenhäuschens sitzen und auf den zweiten Bus des Tages warten musste (man wusste nie genau, wann, aber er kam). Doch schließlich ließen sie beide die Sache mehr oder weniger wortlos auf sich beruhen.
Natürlich war nichts davon wahr. Mit der Ausnahme vielleicht, dass Maschas Eltern tatsächlich ein kleines, ziegelbedecktes Haus in Hanglage an der Küste bei Dubrovnik besaßen. Mit einem von Kapernsträuchern und ausufernden Unkrautbeeten bewachsenen Gartenstreifen und aus dem obersten Stockwerk, von Maschas Zimmer aus, sah man die Bucht, dunkelblau und im Rhythmus der Wellen lichthell blinkend. Einzelne Boote darauf und ein Wald aus zierlichen Sonnenschirmen im kilometerlangen, beigebraunen Sand. Drei rostig verbogene Fahrränder, seit unzählbar vielen Sommern am angekettet am brusthohen Metallzaun zur Straße hinaus. Und niemand hatte den Schlüssel. Ungenütztes Inventar. Nach der Schule hatte sie mir Fotos des Hauses gezeigt. Das und den Polaroidfoto-verwaschenen Anblick ihres dicken, dunkelrot sonnenverbrannten Vaters mit nacktem Oberkörper vor ein paar dunkel gegrillten Fischen auf dem Grill stehend und dabei ernster blickend als es in der Situation angebracht gewesen wäre, kannte ich. Mehr kannte ich nicht. Der Rest war eine ins Epische ausformulierte Wunschvorstellung, die ich in einer hinteren Gegend meines Kopfes beständig bei mir trug.
In diesem August brach eine Hitzewelle über ganz Mitteleuropa herein, deren Auswirkungen noch bis in den Herbst hinein spürbar waren (die Kursschwankungen am Agrarmarkt, die Wasserknappheit im Südsudan!). Auf den Autobahnen brach ölschwarz feuchtglänzend (und dabei staubtrocken) die Asphaltschicht auf. Die Luft kochte dickflüssig und war wie zum Schneiden, schleimiges Sonnenlicht hüllte die Welt in eine Art Zeitlupen-Atmosphäre aus Apathie und dehydrierter Benommenheit. Im Altenheim, in dem meine Schwester arbeitete, standen zweimal am Nachmittag die orangeweißen Notarztautos quer in der Einfahrt, Autotüren wurden heftig auf- und zu geschlagen und Tragen und große rote Taschen in den efeubewachsenen, zweistöckigen Flachbau getragen. Bei Nürnberg entgleiste ein schlangenähnlicher, schneeweißer, vollbesetzter ICE und die Ursache war unklar. Man sprach von menschlichem Versagen und irgendwo im Sommerloch begann in einer öffentlich-rechtlichen Talkshow eine Diskussion über eine mangelhafte deutsche Fehlerkultur. Im Nahen Osten fielen Bomben. In der Zeitung las ich, dass der Eifelturm bei großer Hitze um bis zu einem halben Meter in die Höhe wuchs. Die Ursache dafür lag in den physikalischen Wärmeeigenschaften von Eisen, wusste der Artikel, aber das interessierte mich nicht. Was ich wusste, war nur, wie sehr mir das alles gefiel. Die Sonne verbrannte mein eckiges Gesicht, die Felder jenseits des windschiefen Jägerzauns waren öde und verbrannt und in etwas Entfernung versanken die Kirchtürme der Nachbardörfer und die Scheunen an den Landstraßen gläsern im kontrastarmen Sommertagesdunst. Es war tröstlich, zu wissen, dass der größte Teil der Welt sich außerhalb meines Kopfes abspielte, dass ich im Grunde außenvor und ein zu vernachlässigender Faktor war. Die Sonne war ein Gasplanet und unfassbar heiß und aus unserer Perspektive ein runder Lichtfleck. Wasser war nicht zum trinken und Pflanzen nicht da, um schön und eine Zierde zu sein. Das Atom kannte keinen Sinn. Die Wolkenfetzen, die im überdehnten, hohen Himmel schwammen folgten dem Wind und sonst keinem. In so einer Stimmung beginnt der Teil der Geschichte, in dem ich unzufrieden werde. Der Wind blies außer Landes. Ich war hier. Hier war der Ort, an dem ich blieb.
Kurz hatte ich mit dem Gedanken gespielt, an den Busbahnhof zu gehen und in den erstbesten Bus zu steigen. Egal wohin. Nach Frankreich. Kroatien. Nach Polen. Zwanzig Stunden in einem schlecht klimatisierten, nach verschwitzter Kleidung riechendem Fernbus, zusammen mit jungen polnischen Männern und Frauen, beinahe in meinem Alter, die im Sommer ihre Familien in der Heimat besuchten, bei sich hilflose Erzählungen aus Deutschland und einen Großteil ihres Ersparten – so stellte ich mir das vor. Etwa hundert Meter, bis dahin, wo die mehrspurige Hauptstraße des Dorfes unsere unscheinbare Wohnstraße kreuzte und vorbeidonnernde LKWs und Familienautos aus der Stadt die dort sommerheiß flirrende Stille der Seitenstraße zerschnitten, war ich in der prallen Mittagssonne gegangen. Dann aber hatte ich es mir anders überlegt, war umgedreht und langsam zurückgelaufen (ein Gefühl wie rückwärtslaufen, arm an Zielen) und hatte fünf Minuten später wieder in der schattigen, besenreinen Kühle unserer Küche gestanden. An einem wohnhaften, bekannten Ort, an dem es sich aushalten ließ und meine Anwesenheit etwas war, ja, einen Wert hatte; mehr war, als nur schmückendes Beiwerk. Ich war ein integraler Bestandteil dieses Ortes. Meine Eltern und ich. Wir lebten in einer häuslich eingenischten Abhängigkeit, die mich und sie an die mit sonnenwarmer und nachsichtig lächelnder Leere angefüllten Sonntage (wir könnten noch Radfahren gehen und abends Tatort, zu viert vor dem Fernseher) band, uns band an die schweren, dramatischdunkelgrauen und dichten Gewitterwolken über den leuchtend gelben Maisfeldern, an die monologisch-repetitiven Gespräche über das ewig in Planung bleibende Umgehungsstraßen-Projekt mit dem alten Nachbar-Ehepaar durch die kopfgroßen Löcher in der Ligusterhecke und an das stündliche Vorbeibrausen der halbschnellen, roten Regionalzüge, das als starker Luftzug gegen die geschlossenen Fensterscheiben drückte, als in den Boden abgeleitete plötzliche Vibration. Ich war gebunden. Ich war jenseits aller Grenzfälle und Unbestimmbarkeiten, in vollkommender Schärfe und Eindeutigkeit, ich war, wo ich hingehörte. Aber ich war auch ratloser als jemals zuvor. Warum war das so? Und warum ich?
Das Geld für die Reise, das ich in der Hosentasche meiner über den Knien fransig abgeschnittenen Jeans getragen hatte, legte ich auf eine der unteren Treppenstufen im Gang, von einer braunen Riemensandale meiner Schwester beschwert. Dort blieb es. Erst als meine Eltern Tage später fragten, woher ich all das Geld habe, rührte ich es wieder an. Ich verstecke es unter einer Werkbank im stickigen, chaotischen Hobbykeller meines Vaters, der praktisch ungenutzt war, seit dem Samstag im Herbst vor vier Jahren, an dem er beim Sägen beinahe einen Finger verloren hatte und ein Teil seiner Hand nun ohne Gefühl war, sodass meine Mutter ihm morgens am Frühstückstisch beim Zuknöpfen seiner Manschettenknöpfe helfen musste. Als es zum Unfall kam, war mein Vater gerade damit beschäftigt gewesen, mir und meiner Schwester einen Hasenstall aus altem, mit rot gepunkteter Tapete überzogenem Sperrholz zu bauen. Ich weiß bis heute nicht, was ihn dazu bewegt hat. Sicher: Haustiere waren unser Wunsch gewesen, für ein paar Jahre. Aber inzwischen waren sie ein in die Jahre gekommener Wunsch, der ein Verfallsdatum auf seinem formlosen Körper trug. Seine Bemühungen waren zu einer Zeit gewesen, in denen wir beide dem Wunsch nach Haustieren entwachsen oder im Begriff waren, es zu sein. Dieses beständige Zu-spät-sein vor der Welt, das allen in meiner Familie gemein ist.
So also kam es, dass ich zehn Tage im August alleine verbrachte. Beschäftigte mich mit einem Modellbausatz mit dem Titel „Dein eigener Wetterballon“, mit mir selbst, mit der Hausbar meines Vaters. Damit, einen schmalen Essayband über Fotografie-Theorie zu lesen (den ich in Wahrheit kein bisschen verstand, „die Aura als einmalige Erscheinung einer Ferne“) und einen Ratgeber über Sexualität in der Ehe, den ich unter dem Gästebett gefunden hatte, in dem zwar noch nie ein Gast geschlafen hatte, in das sich aber meine Mutter jede Nacht gegen drei Uhr zurückzog, um noch etwas Schlaf zu finden. Ich  ging am staubtrockenen, sonnenverdorrten Donauufer radfahren, solange bis mir salziger Schweiß (mit weißen Resten von milchig-fettiger Sonnencreme vermischt) brennend in die Augen floss und versuchte in einer einsamen, stundenlang nachglimmenden, beinahe tropenheißen Nacht mit dem verlorengeglaubten Personalausweis meiner Schwester Zigaretten am Automaten an der Hauptstraße zu ziehen. Es funktionierte nicht. In der darauffolgenden Nacht versuchte ich es halbherzig erneut. Der Automat blinkte, kurz hatte ich Hoffnungen, aber auch dieser Versuch blieb erfolglos, das LED-Feld, rechteckig klein wie die Schwarzgrüne Leuchtanzeige eines Taschenrechners, zeigte nur eine altbekannte Fehlermeldung. Autorisierungsversuch fehlgeschlagen! Ich gab es auf und beschloss, mir die Sache aus dem Kopf zu schlagen. Als ein Streifenwagen in die Straße einbog, war ich bereits außer Atem um die nächste Straßenecke verschwunden, voller Wachheit im Kopf und dem unbedingten Bedürfnis, an den heckengesäumten Ortsrand zu rennen und den fleckigen, liladunklen Nachthimmel nach Sternen abzusuchen. Über der Landschaft kreiste ein Hubschrauber, dem ich – den Kopf in den Nacken gelegt und schwer atmend – sehr lange folgte. Sein Kreisen wirkte auf mich so steuer-, ziellos und verwirrt auf mich wie das konfuse Geflatter von Mücken um unsere elektrische Laterne auf der Gartenterrasse bei Nacht.
Ich saß in der offenen Wohnzimmertür, die in den Garten hinausführte. Mein Kopf lag leer und abwesend im Schatten des Zimmers, meine Beine angewinkelt in einem weichgezeichneten Parallelogramm aus pastellgelbem Sonnenlicht. Ich hatte die aluminiumfarbene Espressokanne auf den Herd gestellt, mir ein Glas Orangensaft eingeschenkt und versuchte zu lesen, brachte es aber nicht fertig, meine Augen auf die enggedruckten Zeilen und die gelblichen Seiten des Buches zu heften. Auf der aufgeschlagenen Seite stand: „Und dies war die Sekunde, in der T wusste, dass keine Rettung mehr gab, die in einer rückwärtsgerichteten Bewegung bestand. Sie musste weitergehen.“ Auf der über unser Hausdach gespannten Hochspannungsleitung saßen kleine, schwarze Vögel, deren Arten ich nicht kannte. Eine Wespe schwirrte surrend durchs Wohnzimmer. Es war still wie an einem verlassenen Bahnsteig bei Nacht. Irgendwann einmal hatte Mascha von einem alten Roman erzählt, der von einem französischen Mann handelt, der aus irgendeinem Grund in Algerien lebt. Er macht sich nicht viel aus seinem Leben. Jedenfalls erschießt er irgendwann – wie aus dem Nichts – einen Araber am Strand. Der Strand ist gleisendhell, er ist wie betrunken und die Sonne sticht. Später weiß er nicht mehr, was in ihn gefahren ist, warum er so gehandelt hat, wenn er auch ganz anders hätte handeln können. Handeln ins Leben geneigt oder zumindest mit böswilligem Vorsatz. Ich denke, alles was ich in diesem Roman verstehen könnte, wäre wie wenig (wie federleicht) eine einzelne getroffene Entscheidung wiegt, da man an einem Tag so viele Entscheidungen fällen kann wie Gedanken schnell sind. Dass überhaupt jede meiner Sichtweisen in der nächsten, x-beliebig aufkommenden Stimmung sofort wieder in sich selbst zerfällt. Und wie gefährlich ein Sommer sein kann. In seinem hitzigen Andauern und seiner brachialen Gewalt, Beschlossenes zu vernichten.
In der Küche erzählte das Radio in einem ernstem, nasalen Tonfall, wie in einer unteren Verwaltungsabteilung des Verkehrsministeriums öffentliche Gelder veruntreut worden waren, indem ein Beamter einen selbsternannten Elfen-Experten zur energetischen Neueinstellung besonders unfallträchtiger Autobahnabschnitte beauftragt hatte. Der Kaffee auf dem Herd kochte und füllte die Küche mit einem leicht metallischen Verbrennungsgeruch, ich stand auf. Ein dicker, vorbeiziehender Wolkenstreifen verdunkelte die Sonne im blauen Himmelsquadrat des Dachflächenfensters.
Mir wurde klar: Die Tage hier verliefen so namenlos und ohne Ereignisse, wie sie es aller Wahrscheinlichkeit nach auch für meine verreiste Familie taten. In derselben Sekunde, nur räumlich weit entfernt. Eine Vorstellung, die ich irgendwie genoss. Jeden Morgen leerte ich den Briefkasten, der im braunen Rasenstück des Vorgartens stand, und türmte die Rechnungen an meinen Vater auf einen Stapel in seinem zugestellten Arbeitszimmer. An einem Sonntag, als ihre Abreise genau eine Woche entfernt lag, hatte ich vergessen einkaufen zu gehen und aß einen Tag lang nur Cornflakes mit Sojamilch. Der EDEKA an der Hauptstraße hatte geschlossen, ebenso der Bäcker, bei dem wir nur noch aufgrund eines Gutscheins kauften, da ein Lehrling im Lieferwagen ein halbes Jahr zuvor den Spiegel unseres neue geleasten AUDI-SUVs abgefahren und den matten Chromlack an der Fahrertür zerkratzt hatte. Meine Mutter hasste den Bäcker und seine Angestellten, wenn sie das Geschäft betrat, so hatte sie stets ein eisernes Lächeln in ihr Gesicht betoniert, wartet und bestellte mit betont höflicher Geduld und angespannter Nachsicht. Nur ihre – laut meiner Schwester – wahnhafte Obession für Rabatte, Gutscheine und vielfarbige, glänzende Plastikkundenkarten verbot ihr, damit aufzuhören, dort zu kaufen. So war das.
Der Fernseher erzählte von einer Sprache im brasilianischen Regenwald, die keine Zahlen kannte und keine Wörter, um Farben auszudrücken, und ich fragte mich, wie die Welt heute aussähe, wenn ein Newton oder Kant im brasilianischen Urwald geboren worden wäre. Hinein in diese Sprache.
Gegen Spätnachmittag begann es abzukühlen. Regen schwoll an. Der blau wolkenverhangene Himmel schien die Giebel der Häuser zu berühren. Immer wieder bogen Autos in unsere Straße ein und ich fragte mich, warum. Was wollten sie hier? Lange Regenfäden fielen durch die hellen Lichtkegel der Abblendlichter, die an der halbdunklen Wand in unserem offenen Wohnzimmer vorbeihuschten wie verwundetes Wild. In den Ecken des Raumes sammelte sich meine Langeweile und starrte mit öden Augen aus der Dunkelheit zurück.
Irgendwann klingelte das Telefon. Ich sprang auf, ließ es jedoch einige Sekunden lang läuten, unentschlossen vor der weißen Holzkommode im Gang stehend. Erst dann hob ich ab und sagte „Ja?“ Meinen Namen nannte ich nicht, eine Gewohnheit, für die mich meine Eltern rügten seit ich das Telefon bedienen konnte. Ich hatte spät sprechen gelernt und im Grunde glaubte ich, es bis heute nicht gelernt zu haben. Erst einige Momente der Stille, aber ich wusste sofort, wer am anderen Ende der Leitung war. Ob ich rüberkommen wolle. Ich sagte, ja. Was hätte ich sonst sagen sollen. Dann hob ich an, noch etwas zu sagen, ließ es aber bleiben. Ein weißblauer Blitz schnitt eine landkartenhafte Bruchstelle in den verregneten Himmel und tauchte für einen Augenblick die Ecken des Wohnzimmers in ein grelles, auf der Netzhaut nachbrennendes Licht. Sie frage: „Wann?“ Ich sagte: „Gleich, später, ich muss sehen.“ Und meinte: jederzeit und sofort.
Zehn Minuten später stand ich in einem fremden Wohnzimmer und klammerte ich mich an eine kalte, halbvolle Bierflasche so wie man – einbeinig dastehend – einen festen Punkt am Boden sucht, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Durch die breite Fensterfront sah ich unser angrenzendes Haus mit vorgezogenen Vorhängen im Dunkel des Gartens liegen. Die durch Glas abgeschirmte Nacht schwieg, von hier drinnen aus fiel der Regen beinahe lautlos: ein weltumspannender Bildschirmschoner. Und mir war, als atme unser Haus in unruhigen Seufzern wie ein schlafendes Tier. Jemand drückte mir eine zweite Flasche in die Hand. Auf dem Sofa lachten ein paar Erwachsene gellend. Jemand sprach über den Sechstagekrieg. Mascha sagte, die beste Art durch Deutschland zu reisen, wäre unterirdisch. Ein tausend Kilometer langer Tunnel. Man muss nichts sehen. Es ist still. Dunkel. Steril. Von A nach B ohne einen einzigen Störfaktor. So muss es sein.  Ich wollte gehen und wusste nicht, wie. Mein regennasses Haar tropfte auf die Steinfliesen. Ich starrte auf den staubgrauen Abdruck eines Bilderrahmens, der dort offenbar einmal an der weißen Wand gehangen haben musste, und konnte meinen Blick nicht lösen, als läge dort die Welt. Die Musik wurde laut und dröhnend. Mein Gesicht fühlte sich taub an. Meine Gliedmaßen wie zu lange und nutzlose Anhängsel eines zu nichts guten Körpers: wohin damit? Ich wanderte im Raum umher. Mascha stand neben mir, ich hätte sie gerne berührt. Egal wie. Mein Arm streifte ihren, aber sie gewann daraufhin einen Zentimeter an Abstand. Ein Zufall, sagte ich mir und alle Wahrscheinlichkeit. Etwas lag ihr an mir, nur wusste ich um Himmels Willen nicht, was das sein konnte.
Zeit verging. Ich trank weiter. Jemand nahm mir mit sanftem Nachdruck mein Glas aus der Hand und stellte es ganz oben auf ein Eck des Küchenschranks. Eine so entmündigende Geste, die mich in den Boden schrumpfen ließ, mich und meine eins zweiundsiebzig. Ich schämte mich. Jemand fragte etwas, ich verstand ihn nicht, ich sagte: ja. Ich öffnete die Haustür, ging über ein paar Treppenstufen nach draußen, stand auf dem Asphalt, blickte in den verwaschenen Himmel, das Wort Zeitzone lag mir auf der Zunge. Da stürzte ich und schlug hart mit dem Kopf auf einem Rinnstein auf. Es wurde Nacht.
Als ich in meinem Bett erwachte, die Bettdecke wie mit Nachdruck und von fremder Hand ganz akkurat auf meine beiden Schultern gelegt, fielen mir nur Bruchstücke des Abends ein. Ich ging zum Fenster und stützte mich mit beiden Armen auf der Fensterbank auf. Draußen ließ der Herbstwind die Erde und unser Haus wanken. In der mit Blättern und abgebrochenem Astwerk übersäten Einfahrt stand das Auto meiner Eltern unter der kahlen Pappel und für einen Moment zweifelte ich, ob sie überhaupt jemals fort gewesen waren. Kurz war ich mir sicher, niemals allein gewesen zu sein. Aber auch das ging vorbei. Es war in Wahrheit nur ein Anfang gewesen.
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photospoemsthings · 6 years
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orte/ umgebensein
so besprachen wir hinter einer schutzschicht aus vorwelt ergebnisoffen den alterungsprozess des sichtbaren teils des sonnenlichts
du hattest verstohlen die hände über das warme fell dieses gestrandeten monats in den winden gelegt (im tiefschlaf des häusermeers diese blinde suche nach feuchtgrasiger erlösung)
bei licht betrachtet auch der himmel ein vermögensobjekt vakuumverpackt
später null-wertiges schweigen als wir schon tief in die lecken stadtkerne geregnet waren und man uns nach einer herkunft fragte die keine sein soll (noch immer nicht)
dann eine handvoll ortlosigkeit in den satellitenschüsseln totsubventioniert ufern meine bleichen zwischenräume in deine tote muttersprache aus
nichts zeichenhaftes schläft mehr in den langen gängen der zukunft meine handgreifliche müdigkeit liegt auf ungegangener strecke (in erschöpft roter unsagbarkeit)
und an den straßenbahnfenstern kondensiert fiebrig milchgebend die nacht (die taube gelbheit meiner lider)
schließlich öffnen sich landschaft und fallendes licht die rückseite des tages (entgegen der marktkäfte zeichne ich die statik unserer wortgrenzen an die abgewandte seite deiner nachtstirn)
wie geschriebenes befallen uns die abdrücke der zugvögel im überdehnten chromhell des himmels
warum ich nur jetzt gerade an die absolute symmetrie die überlappung aller körper dachte (dein gischtweißes schulterblatt dein sichtkreis aus brandung das sprechende in deinem schlaf)
und das schattenmeer das sich regt unter der zellhaut im weit baumverzweigten blau meiner tagvenen (es spricht) von der kühle dem einsamen trennenden im unscharfen grundriss der dinge
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photospoemsthings · 7 years
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Sommer
Inzwischen war die Sonne fast zwischen den Bäumen am Gartenende verschwunden und die Erwachsenen hatten beharrlich versucht, uns zu überreden, zwei Stockwerke nach oben in mein Schlafzimmer zu laufen, uns die Zähne zu putzen, uns aus den von grünen Grasflecken und dunkelbrauner Erde schmutzigen Klamotten zu schälen und uns bettfertig zu machen. Vergeblich. Zunächst.
Denn wir beide wussten, dass heute der längste Tag des Jahres war. Wussten, dass die orangegelbe Sonne noch einige Stunden über den Hausdächern, Straßenkreuzungen und Sattelitenschüsseln unterwürfig glühen, sich verbrauchen würde, bevor der Tag endgültig in seinen letzten hoffend harrenden Zügen lag. Wussten, dass noch etwas Zeit blieb. Wir wussten es und wir waren so wach wie wir noch nie zuvor in unseren kurzen Kinderleben wach gewesen waren. Warum konnte man nicht in alle Richtungen gleichzeitig rennen? Warum schlief der Mensch? Wozu gab es die Nacht?
Das kurzgeschnittene, stachlige Gras begann schon abzukühlen und mein wacher, jedoch vollkommen leerer Kopf lag in ihrem weichen Schoß mit einer verspielt kindlichen Unschuld, die in dieser Geste schon etwas Großes, Ungeheuerliches ahnte, ein unbewusstes Rauschen des Hintergrunds, dieses Große aber nicht weiter benennen kann; ein Herüberstrahlen und fiebriges Wetterleuchten, weil ihr die Begriffe fehlen. Es gab nichts, dass man hätte tun, nichts dass man hätte sagen oder fragen müssen. Wir wussten das.
Die Sonne sank noch ein Stück.
Deutschland 2003 und ich in einem Alter, in dem mir das Wort Hitzewelle, dass ich mit meinem Vater in einem nachmittäglichen Fernsehbeitrag gehört hatte, eine unbestimmte Angst eingejagt hatte, da ich mir vorstellte, wie die Sonne unser zweistöckiges Haus in Flammen setze, meine kleine Schwester im Kinderwagen in der unbegreiflichen Hitze ertrank und der pechschwarze Teer im Hof bei den Garagen flüssig wie Schmelzwasser wurde.
Auf der Terrasse das lang in unseren Ohren nachhallende Klingen von Weingläsern, heiseres, angeheitertes Gelächter der Erwachsenen, sie machten Witze über uns, sie lachten uns aus, und etwas abseits im halbdunklen, warmen Sommerabendlicht: Wir, im Gras sitzend und über das Aussterben der Sterne rätselnd. Rote Riesen, auch das ein Begriff, in einem Fernsehbeitrag gehört, in der größten brennenden Mittagshitze bei geöffneter Terrassentür, mit weißen, engmaschigem Fliegengitter davor und an der Fensterscheibe hatte sich eine unheimlich laut brummende, türkis schimmernde Libelle die Flügel eingeschlagen; und weil sie nicht dazulernen gekonnt hatte, war Aufgeben für sie unmöglich gewesen und am nächsten Morgen hatte ich ihren regenbogenfarben glänzenden Körper deshalb mit seinen langen, hauchdünnen Flügeln auf dem Fenstersims gefunden, dem Tod zwar noch immer eine feste Form gebend, aber innen leblos und bald schon im Gegenlicht der Nachmittagssonne in der Luft wiegender Staub. Wir hatten sie schön gefunden, nur fanden wir keine Worte, die präzise gewesen wären, schön allein sagte ja auch wirklich nichts aus.
Sie küsste mich auf die Stirn und wir gingen in die Dunkelheit, in Richtung der abendstill daliegenden Straße, verließen den Garten durch das angelehnte Gartentürchen neben dem wuchernden, fürchtetragenden Johannisbeerstrauch und dem Lavendel. Ein eng gesetzter Ausschnitt der Natur. Ein Ort. Ein Rahmen, den man über die Dinge schieben konnte, um sie etwas bedeuten zu lassen. Wir waren dankbar darüber.
Unsere alten Fahrräder lehnten schief am Zaun, ein morscher, flechtenbewachsener Jägerzaun, wespenzernagt. Wir hatten sie beide von unseren älteren Geschwistern vererbt bekommen, mit verbogenen Rahmen und platten Reifen; damals, als kein Geld da gewesen war, und wir beide waren zu jung gewesen, um dafür auch nur die geringste Form von Verständnis aufbringen zu können. Wir hatten nicht verstanden, wie die Dinge lagen. Inzwischen verstanden wir.
Sie stieg auf ihr Rad und ich merkte plötzlich, dass sie fröstelte, unter den Trägern ihres weißen, grasfleckigen, leicht im Wind wehenden Sommerkleids, dass mich irgendwie an einen Engel erinnerte, sah man angedeutet ihre aufgestellten Nackenhaare und ihre Gänsehaut. Aber sie sagte nichts. Und ich hätte vorschlagen wollen, bleiben wir doch hier, meinen Arm um sie legen wollen, und …
Die Wohnstraße lag vor uns, zu beiden Seiten mit geparkten Familienautos verengt, ihre glänzenden Karosserien waren heiß von der Sonne, doch abgesehen von uns war kein Mensch zu sehen. Nur ihre Fahrzeuge standen hier, abgestellt, angeleint, dösend auf ihre treuen Besitzer wartend.
Radfahren war eine Art der Fortbewegung, der ich lange treu blieb. Ich machte lange keinen Führerschein und als ich ihn hatte, nütze ich ihn nicht. Ich hatte schlichtweg keinen Bezug zur Geschwindigkeit als reale, materielle Größe. Zu dem bedrohlichen Gedanken, meine Geburtsstadt verlassen zu müssen und mich an einem Ort wiederzufinden, der anderes Blut durch seine Straßen pumpte, hinter dem eine andere Logik des Funktionierens, ein anderer Mechanismus steckte.
Auf der rostfarben angestrichenen Stahlträgerbrücke donnerte ein roter Regionalzug über unsere Köpfe hinweg, vor dessen in einem Sekundenbruchteil anschwellendem Lärm ich erschrak, hochschreckte, und fast vom Sattel gerissen wurde. Sie lachte. Grün und dunkel waren ihre Augen. Wir waren unter der Brücke hindurch gefahren, das Benzinartige und Harte in der Luft verschwand, ich drehte mich um. Die Waggonfenster des schnell davoneilenden Zuges waren LED-weiß erleuchtet, Menschen saßen aneinandergedrängt, über Bücher oder Zeitschriften gedrängt oder verloren abwartend nach draußen starrend. Schon waren sie außerhalb meines Blickfelds.
Vogel-Silhouetten wie Scherenschnitte aus schwarzem Papier in den sprießenden grünen Baumwipfeln und auf den hölzernen, windschiefen Strommasten. Huschende Katzen im Schatten der sorgsam gepflegten Vorgärten. Hundegebell. Blütengelber Pollenstaub in den Einkerbungen des trockenen, dunkelgrauen Asphalts, in denen sich bei Regen tiefe Pfützen bildeten, die die dicken Regentropfen mit kleinen, sich kreisförmig ausbreitenden Wellen füllten. Wir passierten die über den Zaun herabhängenden Holunderbüsche neben dem einstöckigen, efeuüberwucherten Pfarrhaus. Ich dachte daran, wie wir vor ein paar Jahren Holunderblüten gepflückt und daraus Limonade gemacht hatten, die am Ende völlig ungenießbar gewesen war, weil ich in meiner Begeisterung den Zucker mit Salz verwechselt hatte.
Wir fuhren weiter. Schreiende Babys in ihren Gitterbetten in den heißen Schlafzimmern hinter gekippten Fenstern und zugezogener Jalousie. Mehrstöckige, schattige Einfamilienhäuser, alle in derselben Farbe und Bauart, eine Art toskanisch inspirierter Retortenstil.
Die Bäume hatten sattgrün ausgeschlagen und standen in abendlich flimmernder Helligkeit und Reichtum.
Erwachsenes Gelächter, auch in anderen Gärten, überall gleich. Wie digital kopiert. Die gleiche Szene wieder und wieder in Endlosschleife nebeneinandergesetzt.
Der ferne, herbeigewehte Geruch von Holzkohle und Zigarillos, der in der milchigen Handschrift des Windes lag.
Langeweile und Ziellosigkeit. Ungerichtete Hitze meinem Inneren, hinaus ins Äußere strebend. Wärme in ihrem Blick, das über den Asphalt ausgeschüttete Gegenlicht ließ sie blinzeln. Sie drehte sich während der Fahrt um und lächelte mich über den silbernen Lenker meines Fahrrads hinweg an.
Der Himmel leuchtete lila – ein unruhiges Farbrauschen wie auf in der Dämmerung aufgenommenen Fotografien – und war grenzenlos und durchzogen von zartdünnen Schleierwolken. Von irgendwoher tastete ein großer, kreisrunder Lichtkegel in seiner in die Dunkelheit abfallenden, konturlosen Tiefe. In sich ruhende Spannung. Geladenheit. Noch immer waren keine Sterne zu sehen.
Die Luft roch nach flüssigem Teer und hatte etwas Schimmerndes, das irgendwie fremd war, nicht in unsere Breiten zu passen schien. Man hätte sich der Länge nach in die Mitte der Straße legen, die Arme weit von sich strecken und den zwei parallelen Kondensstreifen am Himmel folgen wollen. Den zurückgekehrten Zugvögeln.
Aber das taten wir nicht, wir folgten der Straße hinunter zum See. Um uns das unscharfe Licht der tiefstehenden Sonne. Wir auf unseren Rädern, in den Fahrtwind gelehnt, in die Pedale tretend, und mit dem ungedachten aber vorhandenen Entschluss irgendwann einmal umzukehren – zu irgendeiner Zeit. Alles hatte seine Zeit.
Das nun vor uns liegende, nadelbaumgesäumte Kiesufer des Sees war wie die Straßenzüge menschenleer. Ein kleines Boot mit herabhängendem, weiß leuchtendem Segel war in einiger Entfernung am Steg vertaut. Wir lachten, schoben unsere Räder neben uns her, blickten in den Himmel. Und abermals küssten wir uns, wussten nicht, was wir taten, hakten uns ineinander, zogen uns gegenseitig näher heran. In wenigen Wochen würde ich dreizehn werden und war alles und nichts. Aber sie zeichnete, kannte Schauspieler mit Namen und spielte Klavier und immerhin hatte ich sie.
Hinter dem See war die Sicht frei. Über der leicht bewaldeten, sanft abgerundeten Bergkuppe zeichnete sich die klinisch rein in die Höhe emporlodernde Lichtsäule des internationalen Flughafens ab, ohne dass Genaueres erkennbar gewesen wäre. Irgendwo das ein Flugzeug im Ladeanflug. Wir fragten uns, wie es war, nach Amerika zu fliegen. Wie es war, langestreckte, halb durchsichtige, weiße Wolkenfelder von oben durch ein beschlagenes, bullaugenförmiges Fenster zu betrachten. Innerhalb einer warmen Hülle, in einem engen Sitz zu sitzen, umgeben von sibirischer Kälte und Unterdruck und dünner, nicht mehr atembarer Luft. Für Stunden abgekapselt von allem zu sein.
Aber dann endete dieser unendlich lange Tag, wie wir ihn gekannt hatten. Einfach so und aus dem Nichts. Dieses instabile, nicht ineinanderpassende Amalgam, das sich Wirklichkeit nannte.
Ein meerblaues Auto stand schief geparkt neben dem Straßengraben, wo eine rote Metallkette das Ende der schnurgerade Stichstraße markierte und der naturbelassene Bereich um das u-förmige Seeufer begann. Schwarze Mückenwolken schwebten über der im Sonnenlicht glitzernden Wasserfläche. Wir waren geblendet und sahen zu Boden, wo lila und rote Lichtflecken auf meine Netzhaut einbeschrieben waren. Ein Schild, „Müll abladen verboten!“, steckte schief in der lockeren Erde, ihr Duft von Tannennadeln vermischte sich mit dem humusartigen Geruch tieferer, schwarzer Erdschichten. Im Gebüsch raschelte es. Wir betrachteten den Wagen von allen Seiten, gingen darum herum, eine alte Limousine mit kastenförmigem Kofferraum, beugten uns über die staubigen Fensterscheiber neben dem Beifahrersitz. Die Reifen der Limousine waren offenbar durchlöchert worden. Sie war von allen Seiten mit roten Rostflecken überzogen, die wie Flechten auf seiner scheinbar lebendig atmenden Außenhaut zu wuchern schienen. Um das Lenkrad war eine Art brauner Pelzüberzug gespannt, das Autoradio schien herausgerissen worden zu sein, gelbe und rote Kabel hingen aus dem im Amaturenbrett klaffenden Loch, wie Adern, nutzlos in alle Richtungen abstehend, eine Anatomie des Gewesenen. Sie fragte mich: „Weißt du noch? Im Sommer, als wir im Zelt… das Lagerfeuer?“ „Ja“, sagte ich und sah sofort danach zu Boden, wo unsere Schatten ineinanderliefen und eine Verbindung aus überlappenden Körpern, den wogenden skelettartigen Baumwipfelschatten, den vorbeieilenden Wolkenformationen und den Spiegelungen des Wassers formten.
Da hörten wir das Winseln. Zum ersten Mal und plötzlich war es hier. Im ersten Moment waren wir nicht sicher, von woher es kam, aber dann wussten wir es, eine Ahnung hatte uns ereilt und sie war die erste, die diese Ahnung laut aussprach, die sich zusammennahm und einen klaren Gedanken fassen konnte. „Es kommt aus dem Kofferraum“, sagte sie und es klang ausdrucklos und heiser, Worte die keine Lebendigkeit in sich hatten, bloß trocken und bestimmt waren. Ein jammerndes, hundehaftes Winseln, von der es umgebenden Blechhülle unnachgiebig gedämpft, zum mundtot sein verdammt. Als ich meine Hand auf die Karrosserie des Autos legte, war sie noch immer kochend heiß, erschrocken zog ich meine Hand zurück.
Zunehmende Julidunkelheit fiel aus der Höhe auf die ruhige Lichtung um den See herab.
Als ihr auffiel, dass das Kennzeichen des Wagens fehlte, beschlich uns ein Gedanke und der war dominant, schwer und tauchte den See in eine Stimmung, die nicht aufgrund des Winselns im Kofferraum, sondern aufgrund der Erwachsenen und ihres um den Esszimmer hallenden Lachens, aufgrund der Weingläser, des Lippenstifts der Frauen, des Zynismus Erwachsenen, ihren Gesprächen über die Börsenkurse, den Krieg im Irak und ihres Vermögens, etwas darzustellen zu können vollkommen grausam und traurig und aussichtslos war. Ich stürzte in mich selbst hinab. Sie sagte nichts. Unsere Fahrräder lagen umgestürzt im Gras. Irgendwie bedrohlich. Ein Vorderrad drehte sich noch, langsamer und langsamer. Vereinzelte gelbe Blumen im Gras verteilt. Das Murmeln des Seewassers und Reste von fettiger Sonnencreme im windzerzausten Haar.
Ich krempelte meine kurze, ausgebleichte Jeans mit den abgenutzten Nähten noch ein Stück höher, zog meine Sandalen aus und watete steif über den scharfkantigen, kühlen Kies in den Uferbereich des Sees hinab. Was tat ich da? Wozu? Das Wasser war kalt und frisch und unmittelbar. Hier und jetzt wäre ein Ort gewesen, an dem man sich hätte wohlfühlen können, aber die Szene hatte all Leichtigkeit und ihre Gedankenleere verloren. Ich stand da im kniehohen Wasser, war ganz und gar ziel- und ideenlos. Inzwischen war die Sonne fast untergegangen. Ein oranger Sonnenrest blitze zwischen den Windrädern und Hügeln am Horizont. Rutschig waren die schweren, runden, algenbewachsenen Steine, auf denen ich einen festen Stand suchte und ihn nicht fand. Ich überlegte, ob es wohl irgendwie möglich war, Luftlöcher in die ohnehin zerkratzte Kofferraumabdeckung zu stechen, doch mir fiel keine Möglichkeit ein, uns fehlte der Plan und das Werkzeug. Irgendetwas musste man tun.
Wir stiegen auf unsere Räder und fuhren wortlos und langsam zurück. Warum hatten wir uns damals nicht beeilt, was waren unsere Gedanken gewesen? Auch heute fällt mir kein Grund dafür ein. Höchstens dieser: Wir hätten einen Schritt rückwärts tun sollen.
Die Schatten unserer Räder in der Mitte der Straße wurden erst meterlang, sodass wir auf eine Art uns selbst überholt hatten, ein rotes Glühen im Nacken, dann verschwanden sie ganz.
Als wir atemlos in den Hof vor dem Haus meiner Eltern einbogen, standen die Erwachsenen am Zaun, sie lachten nicht mehr, sie sprachen nicht. Dunkelheit um ihre ernsten Gesichter, einige flackernde Kerzen auf dem Esstisch auf der Terrasse, unbeständige Lichtpunkte, die es nicht schafften, das Dunkle zu vertreiben. Das Gras feucht von der Nacht.
„Wo seid ihr so lange gewesen? Macht das nie wieder!“ Sie riefen schon von fern. Doch ihre Sätze zogen durch uns hindurch. Was wir waren war mehr, was wir kennengelernt hatten. Wir rechtfertigen uns nicht. Wir dachten an den See. Sie fragten, ob wir auf den Mund gefallen seien.
Dann schickten sie uns zu Bett. Ohne Widerrede. Jetzt bloß keine Diskussion. Da lag ich in verschwitzen Klamotten in meinem Hochbett und starrte durch das leicht geöffnete Fenster nach draußen. Sie atmete unruhig auf der Matratze, die wir auf dem Zimmerboden ausgebreitet hatten, wälzte sich hin und her. Ein halber Mond erleuchtete unseren Garten, ein Lichtstrahl schien blass ins Zimmer hinein. Nach Stunden fand ich einen Schlaf, der zwischen Traum und Wachsein angesiedelt war, einen vorübergehenden Zustand, um zu denken und am Leben zu bleiben. Und das Letzte, an das ich dachte war, dass dieser Tag ja wirklich ein unendlich langer sein würde. Dass er andauern würde bis in die Nacht.
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photospoemsthings · 7 years
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Räume 11
Elf Jahre sind vergangen. Der alte Mann ist inzwischen dreiundachtzig Jahre und etwas über siebeneinhalb Monate alt. Er lebt, von dieser Möglichkeit hat er Gebrauch gemacht. Aber das Haupthaus hat er nie wieder betreten. Draußen regiert glühender Spätsommer den namenlosen Tag. Zeit wirkt. Die Hecken sind über die Ufer getreten. In den blattgrünen Büschen explodiert wirres Vogelgeschrei. Am Horizont impft ein Fernsehturm die wattigen Schleierwolken. Die Felder der nahen Umgebung wurden mit Beton übergossen und bilden jetzt die grau glänzende Parkfläche eines großen Einkaufszentrums, das bei Dunkelheit den schwarzen Nachthimmel mit weißen, kreisrunden Scheinwerferkegeln betastet und wie eine schwere Maschine sein untergründiges Brummen, Stimmengewirr querfeldein über das Land schickt. Wohl gibt es Licht, aber keine Stille mehr.
Nach zehn Jahren, auf zwei oder drei Wochen genau – als ob sie nur eine Woche auf Urlaub in der Toskana weggewesen wären, ganz ohne weitere Erläuterungen – biegt ein gebrauchter weißer Mercedes-Sportwagen behutsam und mit heruntergelassenen Fenstern durch das offene Tor in der Einfahrt. Er kommt zum Stehen. Wir hören wie die Anschnallgurte gelöst werden und der Mann die Handbremse anzieht. Die Frau, der inzwischen einige, nur minimal gekrümmte Falten um ihr spitzes Kinn mit hastigen Bleistiftlinien ins Gesicht gezogen sind, öffnet die Beifahrertür und schält sich aus der engen Fahrerkabine heraus. Sie streckt sich ächzend, es ist eine lange Fahrt gewesen, eine ganz ungeheure Reise, spreizt die Finger in den nahtlos blauen Frühlingshimmel. Sie riecht Grasduft in der Kühle des Vormittags. Zielstrebig stakst sie einige Schritte und schließt das Metalltor. Inzwischen hat sich auch der Mann aus dem Wagen gewunden. Er ist deutlich gealtert, sieht aus wie mindestens fünfundsechzig, dabei ist er vielleicht Anfang fünfzig.  
In den pedantisch sauber geputzten Fenstern des Nebengebäudes kleben bunte Aufkleber, die die Form von schemenhaften Vogelumrissen haben, die Gardinen sind nicht zugezogen. Trotz der Aufkleber liegt eine am Fenster erschlagene Amsel in einem der sprießenden Beete unter der Fensterreihe, doch wird sie überwuchert, überall frische Knospen und helles Gelb, und deshalb weiß der Mann nichts von der toten Amsel. Ansonsten hätte er sie entfernt, sie eventuell sogar neben der Straße in zehn Minuten ein kleines Loch ausgehoben und sie begraben. Er ist sanft und er hat Zeit, viel Zeit. Er sieht nicht mehr so wie früher. Vor Jahren hat er zu lang in die Sonne geschaut, ein unermesslich heller, schmerzender Punkt in der rechten Ecke der Windschutzscheibe in Fahrtrichtung. Er war dem Paar hinterhergefahren, gefolgt, eine Ahnung hatte ihn beschlichen über ihren Aufenthaltsort. Natürlich völlig haltlos, jeder noch so vagen Grundlage entbehrend. Die faserigen, wattigen Reste eines Tagtraums auf einer sonnenwarmen Bank unter einem Kreuz am Feldweg. Warum hatten fast neunundsechzig Jahre verstreichen müssen, bis er sich zum ersten Mal Hals über Kopf in so völlig sinnfreies, nicht auf mehr als einem gedanklichen Anflug wurzelnden, Unterfangen zu stürzen? Warum war er bisher so vernünftig gewesen und warum hatte er diese Vernunft kurzzeitig vom einen auf den anderen Moment verloren? Das sind Fragen, die er sich stellt.
Sie stellen einen geflochtenen Weidenkorb mit zwei Flaschen Wein, weißem Brot, grünen und schwarzen Oliven und geräuchertem Schinken auf seine Türschwelle. Eine schmucklose Karte liegt außerdem darin. Herr S. steht mit Füllfederhalter geschrieben darauf. Dann gehen beide ins Haus. Der Schlüssel passt anstandslos ins Schloss, allein der Türrahmen ist ein wenig verzogen, mit ein wenig Druck gibt die Tür nach und das Haus sein Inneres frei. Einen Moment später treten sie ein.
Etwas abseits von alldem, hinter dichten Hecken, in einer der safrangelben Neubauten in Nachbarschaft, toskanischer Stil, mit großer Steinterrasse, feiert eine Familie Geburtstag. Gedämpft läuft eine CD mit Kinderliedern. Luftballons tanzen an Schnüren neben der Eingangstür bedächtig im böigen Wind. (Die ganze Gegend ist gleichsam ein großer Windkanal: von den Alpen her bis zu den Mittelgebirgen – geomorphologisch betrachtet.) Das Haus ist neu, die Familie noch jung. Ihr Sohn wird fünf Jahre alt. Zwei Freunde im selben Alter hat er eingeladen, eigenhändig zwei bunte Einladungskarten in zwei verschiedene Briefkästen geworfen. Sie rennen ausgelassen lachend durch den Garten. Eine Girlande ist quer unter dem Glasdach des Wintergartens gespannt. Leere Kuchenteller und halbvolle Gläser mit oranger Limonade stehen auf dem Tisch. Später werden alle angeben nichts gesehen zu haben. Der Vater steht rauchend am Gartenzaun und lächelt in sich hinein, den Kindern seinen Rücken im weißen Hemd zugewendet, eine Hand in der Hosentasche, in Gedanken noch beim letzten Projektabschluss (in Sambia). Die Mutter hat sich mit Migräne in das ruhige, abgedunkelte Schlafzimmer unter dem Dach zurückgezogen, trägt eine schwarze Schlafmaske über den Augen und tut als schlafe sie, wahrscheinlich in der Hoffnung, ihren eigenen Körper auf diese Weise überzeugen zu können. Keiner wird irgendeine Aussage machen können. Nur eines der Kinder mit heller Stimme, fast dürr, tiefgrünen Augen und eine ständig laufende, stumpfe Nase, wird etwas gehört haben. Einen erstickten Schrei. Gegen achtzehn Uhr. Aber es wird ungehört bleiben und ganz allein deshalb, die Erinnerung an ebenjenen Schrei als alter Mann noch mit sich tragen.
Im Internet ist ein Familienfotos der drei zu finden. Vor einer hohen, sahnigen Torte mit vor Gelatine glänzenden, gezuckerten, roten Erdbeeren darauf. Der Junge schwenkt einen ebenso roten Luftballon durchs Bild und streckt dem Fotografen seine Zunge heraus. Alle grinsen geradewegs in die Kamera, ein gewundener Schriftzug unter dem Foto als Bildunterschrift. Jonas, 2017. An irgendeiner Wand hängt es als Kalenderfoto für den Monat April, wird aber nur noch selten wirklich aufmerksam betrachtet.
Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Für uns steht das fest.
Sattes Grün legt sich über die Baumreihen der schnurgeraden Alleen. Die Sonne steigt und sinkt im Wechsel. Sterne sind weißflackernde Punkte, in die lückenlose Schwärze des Himmels geklebt. Dem Mond kommt eine untergeordnete Bedeutung zu.
Einige Tage später ist die Tochter des alten Mannes aus Kopenhagen zurückgekehrt. (Übers Wochenende, mit einem Mann, der ihrem Vater nicht sonderlich gefallen würde, wüsste er von ihm). Sie will den alten Mann besuchen, hat jedoch keinen Erfolg. Sie steht vor verschlossener Türe. Sie wartet ungeduldig. Irgendwann, nach einer halben Stunde oder vielleicht sind es auch nur zwölf Minuten gewesen, gibt sie es auf. Steigt nachdenklich in ihr Auto und fährt. Später wird man ihren Zettel in seinem Briefkasten finden. Unter anderem.
Sein Auto: verschwunden. (Es wird kurze Zeit später an der luxemburgischen Grenze aufgefunden.) Aber er: wie verschluckt. Sein Körper bleibt für immer unauffindbar. Toter Staub in der milchigen Handschrift des Windes.
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photospoemsthings · 7 years
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Räume 10
§ 78
Verjährungsfrist
(1) 1Die Verjährung schließt die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) aus. 2§ 76a Absatz 2 bleibt unberührt.
(2) Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht.
(3) Soweit die Verfolgung verjährt, beträgt die Verjährungsfrist
1.         dreißig Jahre bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind,
2.         zwanzig Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren bedroht sind,
3.         zehn Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als fünf Jahren bis zu zehn Jahren bedroht sind,
4.         fünf Jahre bei Taten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind,
5.         drei Jahre bei den übrigen Taten.
(4) Die Frist richtet sich nach der Strafdrohung des Gesetzes, dessen Tatbestand die Tat verwirklicht, ohne Rücksicht auf Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind.
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photospoemsthings · 7 years
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Räume 9
Sie werden gefasst, natürlich. Aber so unvorstellbar das klingt (im Deutschland des einundzwanzigsten Jahrhunderts), sie können fliehen. Aus dem Gerichtssaal.
Die Gerichtsverhandlung wird aufs erste vertagt.
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photospoemsthings · 7 years
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Sand
„Auch das Tote bildet Muster.“      - Träumen, Karl Ove Knausgard
*
Heute Morgen war ein Paket geliefert worden. Oder war es gestern? Ich ging an die Tür, weil meine Freundin auf dem Sofa lag und einfach nicht wach zu kriegen war. Ich schwor mir, mich später darum zu kümmern. Vielleicht wollte sie nicht wachwerden, vielleicht war sie es schon. Ich öffnete also missgelaunt die Tür, erst einen Spalt, dann, als ich mir sicher sein konnte, wer es war und vor allem, wer nicht, sperrangelweit. Im Gang stand der Paketbote, hatte einen unmotivierten Gruß gemurmelt, ich unterschrieb und er drückte mir einen quadratischen Karton in die Hand. Viel schwerer als erwartet war das Paket, förmlich dicht, gewichtig wie schwere Luft. Ansonsten war das Treppenhaus leer. Eine gezackte Linie gelblich-sandfarbenes Sonnenlicht von der halb heruntergezogenen Jalousie am kurzen Ende des Ganges fiel auf die Schwelle der Wohnungstür und ein wenig Staub schwebte träge vor meinen müden Augen, wie er es sonst nur in der dickflüssigen Luft von langen Autofahrten in der Sommerabendsonne tat.
Schon den ganzen Tag war ich fiebrig gewesen. Wie hinter einer beschlagenen Glaswand erschienen mir die Dinge in meiner Wohnung, die etwas Windschiefes und Geducktes an sich hatte. Ich nahm die Dinge getrennt und scharf abgegrenzt voneinander wahr, als seien sie gewaltsam aus ihren gewöhnlichen Zusammenhängen gerissen worden. Die Zeiger der schwer tickenden Uhr, die durcheinandergeratenen Buntstifte im Köcher auf dem kleinen Schreibtisch mit der Glasplatte am Rande des Zimmers, das schräg durch die Fensterfront einfallende, irgendwie verwaschen regenleuchtende Licht, das von einem nahenden Gewitter kündete, nervös aufgeladen und zerfahren. Und in was für einer aufgekratzten Stimmung ich schon in den Sekundenbruchteilen während des Wachwerdens gewesen war!
Erst als ich den gelben Kleintransporter unten auf der Straße um die Ecke biegen hörte, fiel mir auf, dass das Paket nicht für mich bestimmt war. Ich konnte mich auch nicht erinnern, auf etwas zu warten oder etwas bestellt zu haben. Ich wollte nichts mehr. Was brauchte ich denn? Es musste also ein Irrtum vorliegen, das lag auf der Hand. Unter dem roten „Vorsicht zerbrechlich!“-Schriftzug aus kantigen Druckbuchstaben, prangte unsere Adresse, aber darunter stand ein Name, der mir gänzlich unbekannt war. Keiner meiner Verwandten trug diesen Namen. Ich kannte auch keinen Nachbarn, der so hieß. Und das obwohl es ein ganz gewöhnlicher Name zu sein schien, unglaubwürdig gewöhnlich.
Etwas ratlos schleifte ich das Paket, das mir plötzlich tonnenschwer vorkam, ins Wohnzimmer, wo meine Freundin sich noch immer schlafend stellte. Ich ging nicht zu ihr hin. Kurz überkam mich eine Lust, sie anzufassen, sie zu küssen, sie aus ihrem Nicht-Zustand zu reißen, notfalls mit Gewalt. Ich tat auch das nicht, ich weckte sie, oder sollte ich es enttarnen nennen, nicht. Wahrscheinlich um es ihr leichter zu machen. Wahrscheinlich um ihr die Scham zu ersparen. Die Scham, meines Wissens darüber, dass sie in Wahrheit nicht wirklich schlief; dass das eine Maske war, mit der sie sich zu schützen glaubte. Doch war ich mir sicher, dass sie mich beobachtete. Durch ihre Augenlider rötlich eingefärbtes Licht: Bilder, ich damit beschäftigt, das Paket in der Mitte des Wohnzimmers hin und her zu wenden, auf der Suche nach dem kleinsten Hinweis. Bemüht, aber vergeblich.
Sand, 3. Stock, diese Straße
Einfach nur Sand stand im Namensfeld des weißen Paketaufklebers. Sonst nichts. Kein Vorname. Keine weiteren Angaben. War das überhaupt ein Name? Gab es jemanden, der so hieß? Je länger ich das Wort betrachtete, desto unwirklicher schien es mir, wie der herausstrahlende Schein aus einem anderen Land oder einer anderen Zeit. Wie es man an manchen Morgenden auf der leuchtendend blutroten Karosserie seines Autos Saharasand entdeckte, den der Wind über das Mittelmeer getragen hatte, entgegen aller Erwartungen oder Wahrscheinlichkeiten. Oder wie man am Nachthimmel das weißlich flimmernde Licht von Sternen erkennen konnte, die in Wirklichkeit Lichtjahre entfernt schon längst erloschen waren. Ich wüsste nicht, wie ich es sonst beschreiben könnte. Kein Vergleich zielt auf den Kern dieser plötzlichen Verwirrung, die besitz von mir ergriff. Wen hätte ich fragen können? Sie schlief ja immer noch. Oder beobachtete sie mich? Die anderen Parteien des Hauses, meine Nachbarn, kannte ich kaum. Eine Ähnlichkeit zu meinem und dem Namen des etwaigen Empfängers bestand noch viel weniger. Ich war ratlos und unentschlossen.
Noch stand ein verloren wirkender Vollmond am Himmel. Wind warf sich mutlos gegen das Fenster. Die milchige Handschrift eines zu Nebel zerfaserten Kondensstreifens wand sich am Horizont, der neblig und wie gehaucht war. Als ich an das Fenster ging und es öffnete, lag eine glänzende Schicht von über Nacht gefrorenem Schnee auf dem Fensterbrett und die drahtigen Spuren von Vogelkrallen waren hineingedrückt. Die Bäume streckten ihre kahlen Äste wie Antennen in den Himmel, ohne irgendetwas zu empfangen – keine Botschaft, nirgends. Riesige, laubarme Baumkronen wie gespreizte Handflächen, kompakte Dunkelheit. Es war einer dieser Tage, an denen es erst gegen Nachmittag ein wenig hell werden würde. Ein kurzes, schwaches Aufbäumen des Lichts und dann ein rasches Erlöschen. Ich blickte durch die gläserne Balkontür zu meiner Linken auf den gegenüberliegenden Wohnblock, ein aufragender betongrauer Quader, dahinter das dunkle Grün des angrenzenden Stadtwalds und strichhaft angedeutet metallene Hochspannungsmasten, die Hand in Hand im Begriff schienen, die Stadt zu verlassen. Ein paar Vögel auf dem Dach des Hauses und wie per Bildbearbeitung in den Winterwind gesetzt. Halbtransparent. Im Vorbeiflug. Die Zimmer hinter den warm erleuchteten Fenstern des Nachbarhochhauses sahen aus wie die blinden Mattscheiben vieler hunderter Fernseher: Testbilder. Durch eines der Fenster sah man einen untersetzten Mann am Herd stehen, auf der mit buntem Geschirr zugestellten Arbeitsplatte saß ein kleines Mädchen und baumelte mit ihren kurzen Beinchen in Richtung Küchenboden. Drei Stockwerke darüber lehnte eine junge Frau am Fenster und rauchte. Daneben ein dicklicher Junge, der hässliche Grimassen zog. Durch die breiten Fensterfronten des Supermarkts im Erdgeschoss des Gebäudes sah man zwei Kassiererinnen in T-Shirts im gleichen Blauton, in dem das Logo der Supermarktkette gestaltet, lustlos über die Fließbänder gebeugt; in Gedanken fügte ich diesem Bild das stetige Piepen der Supermarktkassen und eine genuschelte Lautsprecherdurchsage hinzu. Einzelne gleißend weiße Schneeflächen in den Rechtecken aus kargem Grün, kiesgrauer Matsch auf der mehrspurigen Straße. Ich zog die Vorhänge zu. Die schwarzen Schatten in den Ecken des Wohnzimmers wurden etwas weicher, aber es war als kühlte der Raum schlagartig um ein paar Grade ab. Ich zitterte.
Mein Blick fiel auf meine Freundin, die noch immer, ihren zierlichen Körper leicht zur Seite in Richtung stoffbezogener Lehne gedreht, auf dem Sofa lag. Doch wenn mich nicht alles täuschte, war die dünne Wolldecke ein wenig verrutscht, ein schmaler Streifen nackter Haut kam unter ihrem weinroten Flies-Oberteil zum Vorschein. Ich ging vorsichtig ein paar Schritte auf sie zu, beugte mich hinunter zu ihr. Ihr fast linienhaftes, blasses Gesicht wirkte verschlossen und in sich ruhend, verlebt. Vielleicht schlief sie in Wahrheit ja doch – wer war sie, mich zu täuschen? Wenn ich es recht überlegt, war das nicht ihre Art. Ihr Schlaf hätte alles sein können. Wenn man darüber nachdachte, gab es so viele verschiedene Arten von Schlaf. Schlaf aus Erschöpfung, Schlaf aus Reue, Schlaf aus Schmerz, Schlaf aus Trauer oder Schlaf aus Ahnungslosigkeit. Schlaf um die Zeit und den Raum und das Licht zu töten. Ihr Schlaf war nichtssagend und stumm wie ein ungeöffneter Briefumschlag. Das Bild lückenlos und ohne Makel, ließ keine Spur und keinen Hinweis, der einen Ansatz zur Deutung geliefert hätte. Die Helligkeit ihres Gesichts, die Glätte ihrer hohen Stirn, die Rundung ihres zarten, sandfarbenen Schulterblatts. Der Anhänger ihrer unauffälligen Halskette, ein winziges silbriges Kreuz, baumelte vom schwarzen Polster des Sofas herab. Auch ein paar Strähnen ihres aschblonden Haares, die aus dem lose gebundenen Zopf ausgebrochen waren, folgten der Schwerkraft nach unten. Ihre Lippen waren fest aufeinandergedrückt, als träume sie Träume großer Anspannung, als sei sie nicht hier. Ich fand sie gerade deshalb schön, aber konnte nicht sagen warum. Plötzlich fiel mir ein, dass ich nicht wusste, wann und wie sie letzte Nacht nach Hause gekommen war. Ich hatte vorgehabt zu warten, war aber eingeschlafen, hatte meinen Entschluss nicht durchhalten können, denn ich war von letzter Nacht zu abgekämpft und müde gewesen. Gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig oder etwas später, genau wusste ich das nicht, hatte mich daher die Müdigkeit übermannt, vielleicht war es auch erst nach zehn gewesen. Der Moment des In-den-Schlaf-Fallens war ja immer das, was eine klaffende Lücke in die Erinnerung grub.
Ein paar Minuten verstrichen, ohne dass das Paket mir irgendeinen Hinweis geliefert hätte. Auf und ab laufend, grübelte ich, kam damit jedoch zu keinem Abschluss.
Ein bisschen schuldig fühlte ich mich immer dabei: Das Haus nicht zu verlassen, sich Dinge von mehr oder weniger großer Wichtigkeit in mehrere Lagen aus Plastikfolie, Klebeband und Karton verpackt bis an die Türschwelle zu bestellen, und die Wenigsten verdienten dabei. Es war ein Geschäft der Ausbeutung. Aber zugleich traf zweifellos auch zu, dass kein Leben ohne dieses einem ständig im Nacken sitzende Schuldgefühl mehr möglich war, das vielleicht drängend, aber nicht eigentlich unangenehm war, dazu fehlte ihm das Brennen, die Intensität. Nur kurz flammte da so ein Gedanke der Schuld auf: an der Kasse, beim Zücken der Kreditkarte aus dem schwarzen Kunstledergeldbeutel, beim Wegwerfen einer grünen Plastikflasche Wasser, die von einem gebückt gehenden, sehr alten Mann in abgetragener Jeansjacke aus den Mülleimern in der Nähe des Bahnhofs geangelt wurde. Schuldig war man, wenn man an die Fließbandarbeiter in den weitaufgespannten Hallen dachte und an die Nachrichtenfotos vor bunten Textilbergen zusammengekauerter Näherinnen in Bangladesch. Oder an Meeresvögel, an sandkorngroßen Plastikpartikeln in der Lunge verendete.  An einen in Regenbogenfarben schimmernden Erdölfilm, der mit den Meereswellen auf und ab wogte. Aber schuldig eben nur in Gedanken, nur solange man dachte. Und heute fiel mir das Denken schwer.
Ein blecherner Hustenanfall schüttelte mich. Meine Temperatur musste gestiegen sein, in meinen Schläfen siedete das Blut, mein Hinterkopf pochte unbarmherzig.
Meine Augen brannten und waren müde, sodass es mir schwerfiel, meine Lider offenzuhalten. Trotzdem ließ ich meinen Blick schweifen und betrachtete das Paket erneut, mein Suchen im Raum blieb kehrte stets an diesen einen Punkt zurück. Es schien plötzlich zu pulsieren, zusammen mit meinem Herzschlag, es schien Atem und Leben zu haben, und wirkte als könne es den ganzen Raum des Wohnzimmers in sich einnehmen – als habe es den Glanz der Fotos im Rahmen an der Wand (heraufziehende Wolken und Strand – Sizilien, März 2015) in wenigen Augenblicken restlos in sich aufgesogen.
Das Telefon klingelte. Ich nahm den Anruf an, doch als ich die heruntergeratterte, fast ausgespuckte Begrüßungsformel und die Nebengeräusche, Telefongeklingel, Tastaturgeklapper, eines Call-Centers im Hintergrund hörte, legt ich sofort auf. Und nach einigen Augenblicken der Bedenkzeit, schaltete ich es ganz aus.
In der Zwischenzeit hatte meine Freund in eine zweite Hand unter das plattgedrückte Kopfkissen unter ihrer Wange geschoben. Ich strich ihr erneut eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann beschloss ich zu gehen.
Auf der Schwelle drehte ich mich noch einmal um. Ich stand im Halbdunkel, sie lag im unscharfen Tageslicht-Parallelogramm unter dem Fenster und atmete ruhig. Sie war schön.
„Hanna?“, sagte ich in den leeren Raum hinein, „Ich gehe, aber werde nicht lange fort sein.“ Sie hörte mich nicht, denn sie schlief oder tat als ob, ich wusste es nicht. Ihr kirschroter Lippenstift hatte einen halbmondförmigen Abdruck auf einem der weißen Kissen hinterlassen.
Im Treppenhaus war es kalt und zugig. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch, abgenutztem Linoleum und scharfen Putzmitteln. Ich hatte keine Jacke an und zu meinem Schrecken wurde mir klar, dass ich barfuß war. Ich schob es auf mein Fieber, kein Grund zur Besorgnis, einige Tage der Schonzeit waren nötig: mehr nicht. Mein Weg über die Treppenstufen kam wir unendlich langsam vor. Die Sekunden zerdehnten sich und ich achtete konzentriert auf jede meiner Bewegungen.
Der Mieter in der Wohnung unter mir hatte gräuliches glattrasiertes Haar, widerwärtig aussehende Kotletten, wanden sich um sein scharfkantiges Gesicht. Er stand im Türrahmen und schüttelte entnervt den schwitzigen, rot angelaufenen Kopf. Um seinen Hals zog sich eine tätowierte Cobra, die mit weitaufgerissenes Maul und scharfen Fangzähnen zum finalen Biss ansetzte. Ich dachte an den Ausdruck, finaler Rettungsschuss, aber verwarf meine Gedanken darüber sogleich wieder. Auf meiner trockenen Zunge klebte ein Aber und ein Wann. Nein, er warte auf kein Paket, sagte der Mann, und er habe auch keine Zeit, gar nicht. Hinter ihm, aus dem Raum, der auch in seiner Wohnung der Küche entsprechen musste – denn alle Parteien waren nach demselben Muster aufgebaut – hämmerte lautstarke Musik. Nie wieder Deutschland war in dicken schwarzen Filzstift-Buchstaben, leicht verwischt, hinter ihm auf die Wand geschrieben. Ich entschuldigte mich. Er nickte, als müsse er mir etwas verzeihen, als gäbe es eine Grundlage dafür, und schlug energisch die Tür zu. Sofort stand ich wieder in der Trostlosigkeit des feuchten Hausgangs, dessen Atmosphäre etwas Vorübergehendes, Verfallenes und Kraftloses hatte.
Die junge Frau im vierten Stock verstand meine Aufregung nicht. Sie trug einen weißen Pullover mit blauen Streifen und eine verwaschene Jeans und wippte unruhig vom einen Bein aufs andere. Meine Stimme überschlug sich und kam mir brüchig und substanzlos vor. Meine Nervosität: eine Überreizung ohne Gegenstand. Die Ratlosigkeit. Sie fragte: „Geht es ihnen gut? Möchten sie vielleicht ein Glas Wasser?“ Der besorgte Unterton in ihrer Stimme brachte mich innerlich zu Raserei. Ich wurde wütend, aber schluckte meine Wut hinunter. „Nein, es geht nur um dieses Paket, von dem ich gesprochen habe – um nichts weiter“, sagte ich und fuhr mir durchs Haar.
Ich fühlte meine Stirn. Sie sah mich an. Dann trat sie einen Schritt zurück in ihre Wohnung. Ich stand auf der Schwelle, dann folgte ich ihr. Sie bewegte sich gezielt und automatisch, wie man sich nur in seinen eigenen vier Wänden bewegen kann, und wie ich es nur kann, wenn ich unbeobachtet bin.
„Ich kenne mich aus“, sagt ich, als ich ihr durch den Gang folgte und bereute es sofort. Wie gesagt, alle Wohnungen teilten sich denselben Grundriss. Als ich ihr die wenigen Meter durch den mintgrün gestrichenen Gang folgte, blieb mir Blick auf ihrem wohlgeformten Körper liegen. Ihre Wohnung machte einen außerordentlich chaotischen Eindruck. Schuhe und verschiedenfarbige Jacken stapelten sich neben der Wohnungstüre. Eine mit Farben beschmierte Leinwand lehnte am Türstock. Der kurze Blick, den ich von ihrem Wohnzimmer erhaschen konnte, zeigte ein dunkelhölzernes Hängeregal, das ein wenig schief montiert war und vor Büchern und nicht zuletzt Schallplatten zu bersten schien. Sie sagte: „Sie sollten sich setzen, sie sehen nicht gut aus.“ Dann platzierte sie mich an den schmalen Tisch in ihrer Küche, der aus Pressspannholz gefertigt war und von bunten Acrylfarb-Spritzern übersäht war. Ein paar bauchig leere Tassen mit kaffeebraunen Rändern oder Kaffeepulver darin standen noch auf dem Tisch verteilt, ein überquellender Aschenbecher und ein Glas mit Kronkorken. Ich begrub mein Gesicht in den Händen und ging dem plötzlich in mich gefluteten Schwindel in meinem Hinterkopf nach, als ich aufsah, reckte sie sich soeben, um ein Wasserglas aus dem obersten Fach des Küchenschranks zu holen, ließ den Wasserhahn dann einige Sekunden laufen, bis das Wasser eiskalt war und reichte mir das überschwappende Glas. Ein paar Staubkörner schwammen darin, ich beachtete sie nicht weiter und stürzte das Wasser herunter, dass meinen Kopf vor Kälte schmerzen ließ. Doch das Wasser machte mich ein wenig klarer, ja, ich fühlte mich ein Stück weit nüchterner. Sie stand wortlos auf und schaltete das Licht an. Von der Decke hing eine bloße Glühbirne, die mir rote Lichtreflexe, die noch einige Sekunden auf der Netzhaut haften blieben, in mein Gesichtsfeld zeichnete. In der Ecke neben der Mikrowelle und ein paar halbvolle Weinflaschen stand ein alter Globus aus Glas, auf dem noch zwei farbige, schwarzumrandete Flächen zu sehen waren, die DDR und Jugoslawien hießen. Ich überlegte, wie alt der Globus demnach sein müsste, aber es wollte mir nicht einfallen, die Zahlen verwischten im Inneren meines Kopfes zu formlosen Zeichengebilden. Fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt? Wen interessierte das. Mich, weil ich ein Idiot war, ohne Maß und Ziel oder irgendeine Möglichkeit zu geistiger Fokusiertheit, dachte ich und vergaß es sofort wieder.
Sie hob an, sich eine Zigarette aus der rotschwarzen Schachtel auf der staubigen Anrichte anzuzünden, dann hielt sie inne, stand stattdessen nochmals auf und öffnete ein Fenster. Ich lächelte schwach.
„Sie wohnen hier?“, fragte sie, aber es war eine professionell geäußerte Frage, ganz ohne persönliches Interesse; mehr um etwas in den Raum zu stellen. „Wir sind Nachbarn“, antwortete ich tonlos. Das Hämmern in meinen Schläfen begann erneut. Ich dachte an das Wort Tränengas und Benommenheit. „Wir hätten uns schon lang einmal kennenlernen sollen“, sagte sie und verstumme kurz, „unter anderen Umständen meine ich.“ Ich nickte, aber erwiderte nichts. Auch in ihrer Küche hörte man das meergleiche Rauschen der Straße. Ich stand auf und stützte mich an der Tischkannte ab, hob an zu sagen, vielen Dank für ihre Hilfe, aber ich gehe jetzt, ich komme zurecht.
Doch das Klingeln an der Tür raubte erstickte mir meine zurechtgelegten Sätze auf der Zunge. Sie schob sich an mir vorbei, ich stand am Ausgang der Küche, schritt zielstrebig durch den Gang und öffnete.
An der Tür stand Hanna. Sonnenlicht umrandete ihr glasiges Gesicht. Ein schimmernder Film aus durchsichtiger Erinnerung. Als spräche sie zu mir aus einer ganz anderen Zeit, von einem ganz fernen Ort aus, enthoben, klar. Sie starrte mich ungläubig an. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Wie in einem Scheinwerferkegel. Ich starrte zurück. Mehr aus Trotz. Über die Bergkuppe der Gegenwart zog sich dieses unerklärbare Schweigen. Sie musste sich fragen, was ich hier tat. Sie. Und: Ich, der ich sichtbar war. Der Abstand zwischen uns war groß, nicht weiter zerdehnbar. Ich sagte, entschuldigend: „Hanna, das Paket…“ Sie brach in Tränen aus, bedeckte ihr Gesicht. Ich verstand nicht. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Ich verstand nicht, wie so etwas wie Verstehen überhaupt möglich sein sollte, ohne dass irgendeine Voraussetzung dafür erfüllt war: Ein klares In-Perspektive-Gesetzt-Sein zur Welt, ein Standpunkt und eine Sprache, die nicht nur durch weiße Leere, den toten Abstand zwischen den Zeichen zusammengehalten wurde. Sie machte einen Schritt auf mich zu. Wir waren einander unerklärbar nah. Oder fern. Die Frage war, welche Perspektive man wählen sollte. Das Licht und die Luft um uns herum wurden schwer und matt. Hanna sagte: „Wo bist du die letzten Tage gewesen? Was ist mit all dem Sand?“
Und da holte mich alles ein. Und da wusste ich, dass es nicht um das Paket ging. Sondern um alles darum herum. Es ging um sie.
  **
An einem Morgen einige Tage danach öffnete ich schließlich das Paket. Der Tag war hell und wolkenlos gewesen. Noch immer stand es in der Mitte des Zimmers. Ich hatte es nicht angerührt, seit diesem Tag, der in meinem Denken verblasst und irgendwie aus der Zeit gefallen war. Das Zimmer kam mir vor wie der Teil einer größeren, weitschweifigen Landschaft in deren Zentrum ich stand. Mir war, als schwanke das Hochhaus, ganz leicht, nicht wie ein Erdbeben, eher eine Erschütterung, aber spürbar. Um mich herum brauste die Straße wie heiser und um Unterbrechung bittend. Angestauter Sonnenschein fiel durch die offenen Vorhänge, es schien Frühling zu werden. Alles entwickelte sich. Im Inneren des Pakets, zum Schutz in altes Zeitungspapier gewickelt, fand ich das metallenes Kreuz, das sie an einer Kette um den Hals getragen und nicht einmal zum Schlafengehen ausgezogen hatte. Ich fand ein 9x13cm großes Foto, glänzend, das sie und mich zeigte, in Nahaufnahme am Bug einer dunkelblauen Fähre kurz vor Ancona stehend, ihr Gesicht mit lächelnd zugekniffenen Augen in den steifen, salzigen Wind gehalten und meine Hände von hinten um ihre Hüften geschlungen, im Hintergrund weiße Schaumkronen und aufgepeitschtes Wasser. Was ich zuletzt fand, war ein verschlossenes Glas, angefüllt mit ockerbraunem Meeressand, gesammelt einen Sommer zuvor. Da schloss ich die Augen und fragte mich lange, was hätte sein können, und ob jedes Ende auch zugleich ein Abschluss war.
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photospoemsthings · 7 years
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minimaldefinition eines sonnenuntergangs: in den betäubten wendebewegungen des himmels ist blau verschanzt. dahinter rot. und am tagrand suche ich nach deinem namen.
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photospoemsthings · 7 years
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Räume 8
Ein Ende wäre gefunden. Denn eines Nachmittags ist es soweit.
Schnitt. Schwarzblende. Zoom – Nahaufnahme.
Der Tag zuvor hat ihm zu denken gegeben. Seit acht Wochen hört er schlecht, da klirrt es hin und wieder in seinen Ohren oder er verfolgt ein intensiv-dunkles Brummen durch tastendes Drehen seines Kopfes, sucht es zu lokalisieren, bis ihm ganz bewusst wird: Das Brummen, dieser Ton lebt in einer nicht greifbaren Gegend seines Hinterkopfes, wo Schädel und Innenohr ineinanderlaufen. Der Ton hat die Macht Buchseiten zu übertönen oder die Diskussionsrunde im Fernsehen zu einer neuen Russlandpolitik; zum Glück ist das selten. Die täglichen Infusionen lassen seinen Puls an die Zimmerdecke und die Nacht machen sie zu einem unüberbrückbaren Graben (dieser Drang zum Wachblieben und die Finger anzuspannen und auf das rostige Gurgeln der Wasserrohe in der Wand zu hören), keine seltene Nebenwirkung, nicht weiter verwunderlich (Euphorie, Depression oder etwas dazwischen). Und gestern dann auch noch diese akkurat gefaltete Einladung in seinem improvisierten Briefkasten, unerwartet. Er kann sie in keinen Zusammenhang einordnen, geradezu unlogisch wirkt sie. Eine Einladung zu Tee und kooperativem Austausch. Ergebnisoffen. Immer alles ergebnisoffen. Trotzdem. Er folgt ihr, kann nicht anders. Eine Spur Neugierde hat er sich bewahrt. Und so betritt er zum ersten Mal seit langer Zeit das Hauptgebäude. „Grün, bitte… den Tee, meine ich.“
Das Bambusparkett strahlt eine gemütliche Art von Wärme und Geborgenheit ab. Eine Ruhe liegt in der schlichten Anordnung der Holzdielen. Die Inneneinrichtung in Gelbtönen gehalten, nach einer speziellen Schule, Denkrichtung; die Frau erklärt es ihm fast zu besonnen und gelassen. Ein Taschenrechner und mehrere Ordner und Papierstapel liegen auf dem Küchentisch mit abgerundeten Ecken, offene Rechnungen, Kalkulationen, ein Kostenvoranschlag. Kugelschreiberskizzen – für den Ausbau des Dachstuhls. „Viel Gründergeist. Da hat es mich so überkommen, stehenden Fußes. Natürlich alles noch nicht nach Maßstab. Aber dieses räumliche Potential… Wie das ist, was aufbauen zu können!“, der junge Mann lacht herzlich und fasst seine Frau mit den kalten Gesichtszügen bei der Hand. Ein Achselzucken. Wozu zeigen sie ihm das? Für einen Augenblick verschwindet der junge Mann links in einer Abseite. Erst jetzt fällt dem Besucher auf, dass der junge Mann einen leichten, kamelhaarfarbenen Mantel über seinen hageren Schultern trägt. Schwarze Lederschuhe klackern über das Parkett. Als er sogleich wieder in der Mitte des Raumes steht, hat er seine rechte Hand in der Manteltasche. Ob diese Pflegerin – oder ist es seine Tochter? – ihn immer noch regelmäßig besuche? Der alte Mann bejaht, erst zögerlich, dann hastig.
Der Tee ist kochend heiß, er verbrennt sich die Zunge daran. Über den Rand der Tasse sieht er den beiden ihm gegenüber Aufrechtsitzenden in die Augen. Völlig ausdruckslos und darin identisch wie Zwillinge: ihre Mimik, die Nahtlosigkeit und makellose Perfektion ihrer holzschnittartigen, sanft-entschlossenen Gesichter. An was erinnert ihn das? Und warum? An diese Angst seiner Frau (früher) vor Fotografien, das heißt, dem Fotografiert-werden, warum weiß er nicht. Wie sie sich jedes Mal geziert hat, das scheue, verletzliche Wesen, das sie für ihn letztlich immer geblieben ist; auch wenn er sich gegen solche Zuschreibungen gewehrt hat: sie war ja noch viel mehr. Vor dem Kirchturm auf dem Marktplatz irgendeiner norditalienischen Kleinstadt, hinter ihnen durchquert ein verwischter Fahrradfahrer das Bild – eines der wenigen Fotos und ausgerechnet in dieser verblasst-bildlichen Gegenwart scheint sie kein bisschen heimisch zu sein. So bleibt jedes Teilchen seiner Erinnerung im Einbildungsraum, halbdunkel.
Als die quadratische Uhr mit nur einem Zeiger (kirschrot) an der Wand – sicher unverschämt teuer gewesen, denkt er noch – die volle Stunde anzeigt, erheben sich beide wie auf Kommando. Der alte Mann wird in den Gang geführt, man hilft ihm in seine Jacke, die er mitgenommen hat, obwohl der Rückweg wohl kaum der Rede wert ist, gleichsam nicht existent. Er verlässt also das Haus unter höflichen Floskeln und ratlos wie zuvor.
Da hält er inne und lächelt, für eine Millisekunde breitet sich Erleichterung in seiner Brust aus. Denn was jetzt folgt, ist das Erwachen aus einem bösen Traum, seine Rettung. Über den Himmel jagen Regenwolken wie in Zeitraffer und über die Straße jenseits der Mauer rennt ein schneller, umrisshafter Schatten, Wildwechsel, ein junges Reh. Aber der alte Mann wacht nicht auf. Aus keinem Traum. Vor ihm im Gras liegt seine blutende Katze, ihre Bauchdecke hebt und senkt sich wieder und wieder. Wortlos und mit weit aufgerissenen, fragenden Augen dreht er sich zu den beiden noch in der Tür stehenden um. Die Frau zuckt mit den Schultern, fast entschuldigend. Der junge Mann zieht eine Pistole, zielt aus der Hüfte, und schießt. Einmal. Er hält inne. Atmet ein und aus. Zögert. Nein, kein zweites Mal. Für einen Augenblick friert die Zeit ein. Aktion und Reaktion in sind verzögert. Und die Welt versucht in eine neue Ordnung einzurasten. Kurz passiert nichts. Jetzt ist ein Entwurf gefunden. Eine mögliche Welt. Ja, das hat System, Logik, Kohärenz; das funktioniert:
Der Getroffene fällt in den Schnee und er spürt unglaublich warm rotes Blut an seinen Lenden entlangfließen. Er fühlt seine Haut, herabhängend wie ein schlaffes Segel, schlaflose Dunkelheit hinter seiner Stirn und vor seinen Augen ein Chaos, das nichts Eindruckhaftes mehr bindet. Er ist ganz still. Spürt sein Zusammensacken auf dem nassen Untergrund, der plötzlich unbegreiflich weich ist wie ein Moosbett. Er muss an seinen Atem denken, wie ruhig und kontrolliert er ist; daran, dass das Tor zur Einfahrt heute offen steht. Wir sehen aus der Vogelperspektive zu. Natürlich, nur zu gerne würden wir eingreifen, aber allwissend sind wir schon lange nicht mehr, nicht einmal sonderlich und ehrlich betroffen. Wie der daliegt, niedergestreckt, angewinkelt sind seine Glieder. Die Erwägung dazu, das Motiv ist recht pragmatischer Natur. Komplettierung von Besitz. Zuhause-sein. Der Rest im Verborgenen. Nicht weiter der Rede wert.
„Wir haben ihnen lange genug zugesehen. Aber alles, nein alles müssen wir uns nicht gefallen lassen.“ Körperlichkeit. Gegenwart. Geschwindigkeit. Randständiges. Die Material-werdung von Leben. Offene Prognosen.
Der Jeep wendet auf dem Hof, Kies knirscht unter seinem kraftvollen Allradantrieb, der Motor heult auf, schon ist er verschwunden. Auf der Rückbank werden die übervolle, silberne Aluminiumkoffer von der Fliehkraft gepackt. Er fährt, hat sich die Haare gescheitelt und umgezogen, trägt ein teures Cordsakko. Sie zieht im Innenspiegel ihren roten Lippenstift nach. Niemand hat etwas gesehen und bald wird sich die Ratlosigkeit eines aschroten Sonnenuntergangs über die würfelkleinen Häuseransammlungen senken. Und der Fluss zieht fort. Und alles ist wie immer.
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photospoemsthings · 7 years
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Räume 7
Er schreibt.
Versuch über die Stille
Ruhe und Sturm. Vielleicht muss man ganz vorne ansetzen und versuchen sie über einen Umweg, vom Standpunkt ihres Gegenteils aus nämlich, in Worte fassen: Stille. Natürlich hängt sie am seidenen Faden – so wie bekanntlich zu jeder Zeit alles daran hängt, außer Frage. Der Sinn. Der Unsinn. Und die Beliebigkeit.
Wo haben sie sich vor fünf Jahren gesehen? Und falls es genau hier gewesen ist: Auf wen oder was, dachten sie, bewegen sie sich zu? Wie lange möchten sie leben? Welches einmalige Ereignis hätte die Kraft, diesen Zeitraum zu verlängern?
Eine gewisse Ortslosigkeit, die im Gefunden-sein liegt. Oder dem Glauben daran.
In dieser Landschaft schweigt ein Verbrechen, scheint es.
Rasenflecken. Ein neuer hölzern weißer Zaun. Die Schatten der Vögel im grauen Kies. Ein glänzender Geländewagen, schräg geparkt. Schreiender Streit aus dem Hauptgebäude. Milde Helligkeit. Warme Atemluft. Die Umrundungen der Windräder. (In Zeitlupe.)
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photospoemsthings · 7 years
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Räume 6
Aber natürlich nimmt der Winter ein Ende. Es wäre geradezu töricht gewesen, das zu bezweifeln. Und auf den Winter folgt eine Zwischenzeit, die nach schwarzen, durchnässten Lederjacken riecht, schmelzendem Schnee am Straßenrand und dem Knirschen von grauen Split und knisterndem, grobkörnigem Streusalz; das wirkt wie aus der strukturlos weißem Himmelfläche auf die Erdoberfläche gestürzt, wie über Nacht auskristallisierte Wolken, schneeweiß, musterlos. Diffuses Licht quellt in der Weite über den Stadtrand hinaus zu ihm. Natürliche Verwitterung. Der kalte Wind; Tag und Tag; was das aus ihm macht, denkt er.
Dann kommt der Frühling. Es hat aufgehört zu regnen. Sonne ist da und morgenfeuchte Luft und offene Gesichter. Frisches Gras mit gelben Blumenflecken darin. Um Ostern sitzt der alte Mann morgens in der erfrischenden Kühle der Kirche, in einer der vorderen Bänke und atmet den Weihrauch ein und blickt auf die ineinander laufenden Farbpunkte vorne am Altar, er sieht nur undeutlich. Das helle Holz des schulterbreiten Kreuzes im Hintergrund des Altars, das weiße Priestergewand, Regenbogenfarben von irgendwoher. Keine Tragödie, nirgends.
Etwas später steht der vor der Kirche und um ihn herum ein paar bekannt Gesichter. Seine Freundin aus der Stadt hat ein kleines Mädchen aus der Hand mit rundem Gesicht, blonden Haaren, die zu einem losen Zopf gebunden sind; das Mädchen will sie ungeduldig fortziehen, nach Hause vielleicht. Die Frau, das Mädchen nennt sie Oma, hält noch ein paar Minuten seiner Ungeduld stand; für ein paar Sätze nur. Das Mädchen geht drei Schritte über den Kirchhof. Es hat eine komische Art zu sprechen, zu gehen, den Kopf zu drehen, immer in entgegengesetzter Richtung zu dem, der gerade mit ihm spricht; eine sich nicht lichtende Trübheit im Blick und schließlich fragt sie, woher die vielen Wolken kommen. Entgegen der Erwartungen: auch später kein Regen.  
„Dumm ist sie nicht –  dumm sind ganz andere –, sie denkt nur etwas langsam.“
Zuhause räumt er die ungespülten Tassen und die zerlesene Zeitung des Vortags vom Tisch, kramt ein paar Minuten lang in den vier verschiedenen Schubladen seiner einzigen Kommode, dann zieht er heraus, was er gesucht hat. Einen Bleistift und einen Spitzer. Ein letzter Blick auf die tickende Uhr, es ist kurz nach halb drei. Vor ihm ein Bogen weißes Papier, auf der Rückseite bedruckt, Kopien alter Rechnungen, seine längst vergessene Diplomarbeit, maschinengeschrieben. Er setzt sich hin und schreibt. Aus Lust. Und Laune. Sicher auch Notwendigkeit, aber das geht über das Denkbare hinaus:
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photospoemsthings · 7 years
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Räume 5
Es gibt Tage, da hat der alte Mann keinen Storm. Früher war das anders gewesen. An solchen Tagen setzt er sich in sein Auto, um Radio zu hören, und wenn es kalt wird und die Scheiben beschlagen sind, fährt er ein paar Runden und schaltet dann die Innenheizung an, der gemusterte Kunststoffbezug der Sitze wird warm (diese staubige, elektrisch glühende Art von Wärme im Inneren von Autos). Am Ende parkt er (immer am selben Feldweg) und schließt für eine halbe Stunde die Augen. Er liest dann nicht oder beschäftigt sich sonst wie, sondern döst bloß abgeschlagen vor sich hin. Nasskalter Schneeregen rinnt über die Windschutzscheibe. Vor ihm der dunkle Waldessaum, weißer Nebel, bleiche Fichten, erdig kalte Äcker: wie ein Bühnenbild. Auf dem Feld ein Jägerstand, der höchste Punkt und damit Angriffsziel, wenn es denn blitzen würde.
Da wo der Mann hinfährt, scheint es aus allen Dingen zu dunkeln. Wie schwere Luft liegt ein flimmerndes Gewitter über ihm, wenn er die Augen hebt und aus dem Seitenfenster des Autos sieht. Er erliegt er nachmittäglichen Wintersonne über der Motorhaube. Schließlich und endlich.
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photospoemsthings · 7 years
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Räume 4
Das erste, was ihm auffällt, ist, dass die schwarzweiße Katze mit den hellgrünen Augen fehlt. Wie vom Erdboden verschluckt. Auch auf den Feldern ist ihr schwarzer Umriss vor einem rotviolett glimmenden Sonnenuntergang nicht mehr zu sehen. Auf der warmen Fensterbank, vor der aus man auf die vom Schnee eingehüllten Nadelbäume sehen kann, ist ein Bereich ohne Staub, da wo sie jeden Nachmittag zusammengerollt gelegten hat, seit es kalt geworden ist. Daran denkt er, als er vor seiner winzigen Kochfläche steht und seinen kratzigen Wollschal ein Stück enger um den faltigen Hals schlägt. Raureif liegt im draußen im Gras. Im Haupthaus ist Lärm. An der Küste, liest er, entgleisen die Züge.
An Heiligabend verlässt der alte Mann das Haus. Zieht die Türe hinter sich zu. Bis auf das Knarren von derben Winterstiefeln, die durch den hohen Schnee schleichen, ist es vollkommen still. Der alte Mann trägt Mütze, den Schaal tief im Gesicht, deine Hände sind lederhandschuhbedeckt. Er hat sich rasiert und unter dem Mantel trägt er ein weißes Hemd. Jetzt geht er durch das weit offene Tor, auf das öde Haltestellenhäuschen zu. Ein zerrissenes Plakat, das für ein Volksfest wirbt, flattert daran im Wind. Mit dem Bus fährt der alte Mann in die Kirche des Nachbarorts. Um sich nicht zu langweilen, liest er still die Gebete in einem italienischen Liturgiebuch mit, in der vorletzten Reihe der hölzernen Kirchenbänke sitzend: Così sia. Ein Kinderchor, jedes Kind trägt eine rote brennende Wachskerze vor sich her, singt. Er lächelt und etwas wie Sehnsucht bahnt sich seinen Weg durch die Bänke zu ihm. Seine Tochter kommt nicht zur Kirche. Er trifft sie eine Stunde später. Sie sind nicht allein. Es gibt ein Festessen (mehr oder weniger). Als ihn seine Tochter gegen zwölf Uhr zurück auf den Hof fährt und ihn unter einer flüchtigen Umarmung aus der klimatisierten Wärme ihres silbernen VWs entlässt, ist das Tor zur Einfahrt verschlossen und ein massiver Steinbrocken liegt in der Mitte der Einfahrt. Er stammt wohl aus dem Straßengraben, denkt der Mann. Es ist klirrend kalt. Gegen Abend hat es nochmals geschneit, im Scheinwerferlicht glitzernder Neuschnee liegt auf den Metallstäben des Tors, auf der obersten Mauerreihe. Der alte Mann zittert und blickt eine Sekunde ratlos auf den Stein. Das Tor ist verschlossen. Er denkt an nichts. Das Denken setzt erst wieder ein, als er zwanzig Minuten später auf seinem Bett liegt. Seine weichen Gesichtszüge sind noch etwas konturloser geworden, sie zerfließen fast. Ärgerlich, sagt er laut zu sich selbst. Wirklich ärgerlich. Er nimmt sich vor, es nicht verstehen zu können. Aber er versteht es doch.
Am nächsten Morgen wird er früh geweckt. Draußen kreischen die Vögel und etwas anderes ist da, es tobt. Draußen ist noch dunkle Nacht. Erst als er sich schlaftrunken zum Fenster schleppt und einen Blick riskiert, kann er das Geräusch richtig einordnen: Motorenlärm. Schwere Motorräder und hämisch lachende Stimmen. Hochgewachsene, schwarze gekleidete Gestalten stehen in seiner Einfahrt. Ein paar von ihnen sind vermummt, haben Halstücher tief in ihre verlebten Gesichter gezogen. Eine wie zur Faust geballte Atmosphäre aus Zigarettenqualm und Kälte, einem mehrmals aggressiv aufheulendem Motorrad. Der alte Mann hört langsame Schritte im Kies. Jemand marschiert geradewegs auf seine Tür zu. Er verschließt die Tür. Dreht den Schlüssel zweimal herum. Nur ein paar Zentimeter Luftlinie und eine mehr oder weniger dicker, moosgrüner Holzverschlag trennen ihn von allem da draußen. Was ist nur los? Der Eindringling hämmert mit der flachen Hand gegen die Haustür. „Mach auf! Mach schon!“ Einen Teufel wird er tun. Sein Körper ist erstarrt; wie versteinert, zur Eis geworden. Sein Mund vollkommen ausgetrocknet, so dass das Schlucken weh tut. In seinen Schläfen pocht es laut und unnachgiebig. Eine Aufforderung – zu was? Fast muss er lachen über die Aufforderung, die da vor seiner Türe kundgetan wird, so selbstverständlich, klar. Aufmachen. Was sonst. Das macht ihn wütend. Dass man etwas sagt und automatisch erwartet, er wird dem folgen. Angst hat er. Vieldeutig das alles. Verworren. „Wir wollen nur reden!“
„Ich weiß nicht. Ich glaub, die haben es auf mich abgesehen“, sagt er einige Tage später halblaut, als könne er es selbst nicht ganz glauben, und starrt auf die teigbraunen, süßen Kuchenbrösel am oberen Rand seines Tellers. Sie sitzen am aufgeräumten Tisch einer fremden Küche. Eine Kanne mit dünnem Kaffee dampft auf der Anrichte, daneben ein zusammengeknülltes Geschirrtuch. In der Ecke ein kleinformatiges, buntes Heiligenbild hinter Glas. Die Frau mit der herzlichen Stimme hat einen Namen wie er normal ist für Menschen in ihrem Alter, Geburtsjahr 1944. Agnes, Ingrid… oder nennen wir sie Anna. Sie kennt den Mann seit frühesten Zeiten, seit der Realschule (seit Ende der 70er sie dann stud.phil; und sie verloren sich aus den Augen). Jetzt lacht sie, nur um ihn aufzuheitern. Sehr wissend. Anna sagt: „Ach das red‘ dir mal bloß nicht ein. Ich hab sie gesehen, neulich bei dir. Nette Leute. Grüßen ganz freundlich, haben sich sogar erkundigt nach dir.“ „Erkundigt?“, fragt er verwundert und es klingt nicht wie eine Frage, tonlos. „Aber sicher“, sagt sie eilig und mit Nachdruck, „In deinem Alter und so weit draußen, ganz allein. Telefonanschluss hast du ja immer noch keinen…“ Kurz schweigt sie, zögert und tupft sich die welken Lippen mit einer Serviette ab. „Vielleicht ist es gar nicht schlecht so. Dann ist jemand um dich. Falls mal was ist, kann ja sein…“
Als er zurückfährt kommt ihm ein Auto mit gefährlich hoher Geschwindigkeit entgegen. Ein schwerer, blitzsauberer Land-Rover-Jeep, der in seiner Breite die ganze Gegenspur einnimmt. Die alten, knorrig schiefen Alleenbäume fliegen vorbei. Er denkt daran, wie vermessen er das findet, so eine Benzinschleuder, ohne jemals auch nur über einen einzigen Feldweg fahren zu müssen. Jeden Morgen fünf Kilometer über Landstraße, dann auf die Autobahn und dann ins Parkhaus. Plötzlich beschleunigt der Fahrer nochmals. Er kennt den Jeep, schießt es dem alten Mann durch den Kopf. Und ehe er diesen Gedanken zu Ende gedacht hat, schwenkt der Jeep mit einem Mal unerwartet aus und rast jetzt auf seiner Spur dahin, in entgegen gerichteter Fahrtrichtung. Ein Geisterfahrer. In Panik reist der alte Mann das Steuer herum. Die Bahnen der Fahrzeuge schneiden sich, der Mann schließt die Augen und krallt die Finger ins Lenkrad, sodass sie blutleer gelblich anlaufen. Für den Bruchteil einer Sekunde hört er nichts, sieht nichts, nimmt nichts war. Nur Schwärze. Dann ein helles Geräusch, wie ein Zug, der ungebremst an einem Bahnsteig vorbeischießt und der ist der Geisterfahrer vorüber. Der alte Mann fährt in eine Einbuchtung und fällt noch über dem Lenkrad erschöpft und kraftlos in sich zusammen. Das Gesicht des Fahrers – keine Leerstelle.
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photospoemsthings · 7 years
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Randbemerkung
Randbemerkung
…und da wusste ich plötzlich, dass ich sie irgendwann einmal in meiner Autobiographie würde erwähnen müssen. Trotz vieler Konjunktive: so viel stand fest und fest stand auch, dass ich manche Fakten nicht würde vergessen können, unverrückbar, präsent, durch die Jahre verhaftet. Sie war ein paar Jahre älter als ich, studierte Germanistik und Kunstgeschichte. Sie war im letzten Semester. Das hat mich anfangs verwundert, ich hatte sie jünger eingeschätzt, nicht Mitte zwanzig, eher in meinem Alter. Sie war unauffällig. Ihre Stimme war von einer Ironie getragen, eine Ironie, die nicht verachtend oder herausfordernd war, ich erwähne das, weil ich in diesen Tagen gelernt habe, dass diese Gefahr durchaus besteht. Ihre Abschlussarbeit, sie hatte letzte Woche begonnen, schreib sie über die Nachwirkungen des Petrarkismus in der Lyrik des Barock und sie trug – und das gab mir wirklich zu denken – den Vornamen meiner Mutter. Diesen Namen, den meine Mutter völlig abgelegt zu haben schien; so wenig gebrauchten wir ihn, er war fremd wie eine Jacke, die man bei Regen von einem Freund angeboten bekommt und, ja, sie schützt immerhin vor der allerkältesten Nässe, aber man fühlt sich schrecklich unwohl darin. Als würde man einen fremden Geruch annehmen und schlussendlich verblassen.
Aber sie fast dreißig Jahre jünger, sie trug diesen Namen jetzt an der Stelle meiner Mutter ins Leben hinein. Wie gefunden und wiederverwendet. Etwas abgenutzt.
Vergangene Woche hatte sie Ranickis Werk über Kleist gelesen, ein grüner Einband, der mir nichts gesagt und keine Neugierde geweckt hatte. Heute war es eine vergilbte und zerlesene Kulturgeschichte des Kusses. Und wie jede Woche war ihr auch heute wieder die Müdigkeit in grob skizzierten, andeutungshaften Linien schwere Müdigkeit ins Gesicht gemalt. In Blaugrautönen in die Falten unter ihren Augen, sie sonst nicht sichtbar gewesen wären; dessen war ich mir sicher. Nachts arbeitete sie – montags und donnerstags – in der Druckerei, die die Tageszeitungen für die ganze Region druckte, faltete buntglänzende Werbeflyer und Extraeinlagen(wie am Fließband), bis vier Uhr morgens oder bis man eben fertig ist. Klar, es gibt nichts monotoneres, sagt sie. Aber man muss nicht denken dabei. Zur Abwechslung. Sie sagt es und gähnt und ihr schwarzer Pullover verrutscht ein Stück, sodass an ihrer warmen Schulter ein Stück grauer BH-Träger sichtbar wird, leicht verdreht und einen Augenblick später schon wieder verdeckt.
Ich war froh, nie gesehen zu haben, wie sie die Zeitung las oder, über ihr bläulich schimmerndes Handydisplay gebeugt, die Nachrichten ihres Freundes beantwortete. Ich sah sie immer nur über ihren Büchern und wäre es anders gewesen: Ich hätte mich abgewendet.
Ich wusste, dass sie jeden Tag zwei Stunden mit dem Zug fuhr und kaum Italienisch sprach, trotz der vier Semester Unterricht. Parlo abbastanza bene. Aber das könnte eine Untertreibung ihrerseits gewesen sein. In diesem Punkt ähnelten wir uns. Ich wusste von der expressionistischen Künstlerkolonie, die es Anfang des 20. Jahrhunderts in ihrem Heimatort gegeben hatte, und diese Tatsache verstärkte mein überzogenes Bild von ihr ins Unermessliche. Weil es mich an die vor grellbunten Farben überlaufenden Ölgemälde Münters denken ließ,  an schief an grüne Berghänge geschmiegte ziegelrote Bauernhäuser in Pastellfarben und an die Kinderzeichnungen nicht unähnlichen ersten Versuche, den sinnlichen Eindruck in abstrakter, bildlich verkörperter Musik einzufangen. Ich wusste, das hatte sie erzählt, dass sie wie ich noch bei ihren Eltern wohnte und dort alles selbstgemacht und -ausgedacht war. Jedes Möbelstück und jeder Einwand gegen ihr Studium…
Dass sie Schemata zum Aufbau griechisch-antiker Tempel auswendig gelernt hatte und in der Minute vor ihrer ersten Klausur ihr Kopf wie leergefegt gewesen war. Dass ich mir deshalb keine Sorgen machen solle. Sorgen nützen nicht viel.
Das war alles, was ich über sie wusste. Alles, was ich in zwei Monaten an Wissen über sie hatte anhäufen können.
Wahrscheinlich sollte ich es an dieser Stelle unterlassen, sie zu beschreiben. Ich will kein gedankliches Abziehbild gestalten, nichts beliebig Austauschbares. Aber das ist alles, was mir gelingen würde. Ihr zimtfarbener Schaal und das Efeugrün ihres dünnen Wollmantels. Ihre an den Wangen sommersprossen-besprenkelte Haut, die etwas dunkler ist als die meine. Kastanienbraune Augen, die trotz Müdigkeit immer hell und wach scheinen.
Wie sie mit manchen in leichtem Dialekt sprach und es mit mir nicht getan hat. Wie sie mit mir also ganz anders gesprochen hat. Und die halbherzige Frage nach dem Warum. (Halbherzig, weil ich die Antwort schon weiß.)
Dieses verspielte Fortleben und ständige Versteckt-sein in der Sprache.
Wenn ich fortfahren würde, so müsste jedes meiner Worte von der Anschauung gedeckt sein. Wie sollten sie das sein? Also fahre ich nicht fort, nicht so. In der großen Ländlichkeit meines Denkens. In den Wendebewegungen, die der nahtlos blaue hohe Himmel über uns macht.
Und dann möchte ich mich hüllen in die einfachsten, konkretesten Begriffe. Gegenstände, Randständiges. Häuser. Unendlicher Verkehr. Alte Bäume vor dem Fenster. Weiße Schneereste. Aufgespannte Distanz. Zwei Stunden Zugfahrt allein mit der fasrigen, schwarzen Dunkelheit, die sich von außen ans Fenster wirft. Wie in den grünen Büschen das helle Vogelgeschrei explodiert. Und dann bekomme ich einen Hass auf, sagen wir zum Beispiel, Zeichentheorie oder Horizontverschmelzungen oder die Wahrheit, dass es nicht möglich sein soll irgendetwas so ganz und gar zu verstehen. Nicht nur in Versatzstücken oder nur ausschnitthaft.
Schnitt. Schwarzblende. Eine Szene in der Halbtotale. Fahles Licht. Zimmerlautstärke.
Aber nichts ist erfunden. Es gibt nicht viel mehr zu sagen. Sie ist aufgestanden. Sie hat gelächelt, einen Verabschiedungsgruß gemurmelt, sie hat sich ihren Schaal über den Hals geworfen und einen ihren Mantel, einen Knopf nach dem anderen, zugeknöpft. Ihren marineblauen Rucksack geschultert. Sie ist über den Kiesweg in Richtung Bibliotheksgebäude gelaufen. Die Luft hat nach Regen gerochen, das Gras war ganz farblos. Das ist Ende Februar gewesen. Und es ist das letzte Mal gewesen, dass ich sie gesehen habe. Und da wusste ich…
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