Tumgik
#Jahrzeittafeln
Text
Das Lachen der Kinder
Tumblr media
Das jüdische Ghetto in Eisenstadt
Synagoge Kobersdorf, Schloßgasse 25, 7332 Kobersdorf
Tumblr media
Die jüdischen Gemeinden
‚Hochfürstlich Esterhazy Schutzjuden‘, nannten sie sich stolz, die vorwiegend orthodoxen Juden, die sich in sieben burgenländischen Gemeinden, von Eisenstadt bis Kobersdorf, von Frauenkirchen bis Deutschkreutz angesiedelt haben, nachdem sie von Joseph I. aus Wien vertrieben wurden. Die Esterhazys nahmen sie auf, verlangten zwar Steuern, gewährten aber Schutz - zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts keine Selbstverständlichkeit. Die Hochblüte jüdischen Lebens in Südwestungarn war um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erreicht, als stolze achttausend Nachfahren Abrahams, Isaaks und Jakobs hier ihre Heimat fanden. ‚Schutzbriefe‘ regelten Rechte und Pflichten. Die Lebenssituation der seit der Angliederung Südwestungarns an Österreich jüdischen Neo-Burgenländer änderte sich erst im März 1938 dramatisch, als der Gauleiter Tobias Portschy die Absicht bekundete, ‚die Agrarreform, die Zigeunerfrage und die Judenfrage mit nationalsozialistischer Konsequenz zu lösen‘.
Tumblr media
Die Synagoge von Kobersdorf
Am 20. April 1938 poltern SA-Schergen an der Haustüre des Kobersdorfer Rabbiners Simon Goldberger, dessen Frau zu diesem Zeitpunkt erst drei Wochen nach Niederkunft ihres dritten Kindes ist. Dunkle Schneewolken liegen über dem Tal, die Familie ist um den Holzofen in der Küche ihres kleinen Hauses versammelt. Es ist einer der vier ‚Mittleren Tage‘ des Pessach-Festes, Chol HaMoed genannt, und der Rebbe erzählt die Geschichte, als die Juden aus Ägypten auszogen und im Meer auf dem Trockenen gingen und Lieder sangen. Gerade als sich seine Frau an die Zubereitung des Mahles macht, hören sie Stiefeltritte an der Türe. Der Mob hat die Zwangsdeportation beschlossen und man ist dabei, sie gründlich zu exekutieren. Sie zerren den Rebbe, die Frau und die Kinder ins Freie, werfen sie auf die Pritsche eines Lastwagens, plündern den Hausrat und brausen los. Lautes, höhnisches Gejohle dringt aus den Häusern ringsum. Nahe der ungarischen Grenze hat die Fahrt ein Ende. Die Teufelsgesellen schmeißen die Goldbergers, samt Möbel auf den gefrorenen Waldboden. Ein eisiger Schneesturm fegt über die vor Kälte zitternden Kinder hinweg. Vor ihren Augen wird der wehrlose Vater zu einem blutenden Fleischklumpen geschlagen. Nachdem die Peiniger auch noch den Babys, deren Finger und Zehen bereits abgefroren waren, die Decken, mit denen sie notdürftig verhüllt waren, klauen, verfügen sie sich ins nächste Wirtshaus um den Erfolg der Amtshandlung gebührend zu begießen. Das ‚Judenpack‘ überlassen sie ihrem Schicksal. Der schwerverletzte Rabbiner indes schleppt sich und seine Familie über die einige Meter entfernte Grenze nach Ungarn und bittet dort um Asyl.
Tumblr media
Jom Kippur
Dieses schaurige Ereignis steht am Beginn einer langen, unerträglich langen Reihe an Verbrechen, mit der die braune Kloake das Land überzog und die Welt in die Hölle führte. Der Rebbe von Kobersdorf, seine Frau und seine Kinder überlebten die Shoa nicht.
Der Geschichte des Simon Goldberger wurde jüngst ein neues, spätes Kapitel hinzugefügt. Dem Direktor des jüdischen Museums Eisenstadt gelang im Oktober 2019 am Jüdischen Friedhof in Kobersdorf ein sensationeller Fund: Der zerbrochene Grabstein eines Genisa-Grabes, in dem, laut Inschrift, dreizehn Tora-Rollen der nahegelegenen Synagoge bestattet wurden. Mit ‚Genisa‘ werden sowohl Räume als auch Gräber bezeichnet, in denen koschere, in Gebrauch befindliche Schriften und/oder liturgische Gegenstände begraben und so vor fremdem Zugriff geschützt werden. Mit ungelenker Schrift ist auf dem Grabstein das Datum der immerwährenden Schande von Kobersdorf eingraviert: ‚יום ג’ דחו”ה מ”פ תרצח‘, was so viel wie ‚Z(wi)sch(en)f(eier)t(ag) von P(esach) 698‘ heißt - oder 20. April 1938. Der Rebbe hatte sein Ende vorhergesehen.
Tumblr media
Der Genisa-Stein
Das burgenländisch-jüdische Leben verbrannte auf den Scheiterhaufen des Holocaust. Nur fünfundvierzig Überlebende fanden nach dem Krieg den Weg zurück in ihre alte Heimat. Heute leben hier nur mehr eine Handvoll davon.
Die Synagoge von Kobersdorf hat längst ausgedient. Sie wird als Kulturzentrum weitergeführt. Auch die Synagoge in Eisenstadt, die älteste des Landes, dient nur mehr musealen Zwecken. Zeit fegt über Leben hinweg. Erinnerungen verblassen. Das Gedächtnis entlässt das Gewesene ins Nichts. Dass nicht sein soll, was nicht sein darf, verdanken wir dem Instinkt des Judaisten und Grabinschriften-Scouts Johannes Reiss, der in Stein geritzte Botschaften zu deuten versteht. Seine Arbeit ermöglicht es Jenen, deren Verlust ihrer Identität immerwährendes Vergessen droht, Name und Würde zurückzugeben. Steine beginnen zu sprechen, und dem Vergangenen wird Erinnerung geschenkt. Das Geheimnis des Genisa-Grabes von Kobersdorf erzählt die Geschichte des Rabbi Goldberger. Erinnerung wird lebendig und Worte erhalten ihre Bedeutung zurück. Tatsächlich beschäftigen sich weltweit nur eine Handvoll Gelehrte mit diesem nobelpreisverdächtigen Unterfangen.
Tumblr media
Die Jahrzeittafeln und der Geschichtenversteher Johannes Reiss
Ich treffe den Mann auf geweihter Erde: Zwischen den verwitterten Grabsteinen des ‚Hauses der Ewigkeit‘. Mit Bürste und Kreide rückt er den Steinen von Kobersdorf an den Kragen. „Der hier interessiert mich schon lange. Ein Dreier!“, ruft er mir von Weitem zu und deutet auf ein verwittertes, mit Moos überzogenes, dreiteiliges Grabmal. Seine Augen funkeln. Die Steintafeln haben als oberen Abschluss Rundungen. „Das Sterbedatum ist mit 1894 umschrieben. Die Vergangenheit verbirgt sich hinter Rätseln. Das soll auch so sein.“ Mit einem Stück Kreide weißelt er den Stein, dann putzt er mit einem Lappen nach. Wie aus dem Nichts erscheinen auf dem Sandstein Schriftzeichen. Die Ewigkeit wird durchlässig. „Der Name ‚Meier‘… Hier! Und hier!“ Er beugt sich vor um besser zu sehen. Zeichen um Zeichen berührt er mit den Fingern, als wäre er ein Blinder, der zu lesen beginnt. „Leiden! Hier steht ‚Leiden‘! Die anderen Schriftzeichen… Ich verstehe sie nicht. Noch nicht.“ Seine Augen bekommen einen feuchten Schimmer, sie glitzern wie Sterne. Ich sage: „Seit wann kommen Sie hierher?“ „Ich bin hier zu Hause. Manche Steine kann man nur unter gewissen Lichtverhältnissen lesen. Dort drüben!“ In der Nähe einer Tanne steht ein unscheinbares Grab. Er kniet nieder und befühlt den Stein. „Sehen Sie? Ein Hammer.“ Tatsächlich, über der Inschrift sehe ich ein Zeichen, das einem Werkzeug gleicht. „Darunter steht ‚Michael Bauer‘.“ Zärtlich berührt er den Stein. „Ich habe den Mann in der Dorfchronik gefunden. Er galt als behindert und hat mit seinem Hammer auf hölzerne Plättchen geklopft, die an den Haustüren befestigt waren. Er hat zum ‚Schma Jisrael‘ gerufen: ‚In Schul! In Schul!‘“ Wie manisch streift der Gelehrte aus Eisenstadt mit der Hand über Grabsteine und liest aus Vertiefungen, Punkten und Linien. Geschichten, die dem Vergessen überantwortet waren. Indem er Verschüttetes freilegt, macht er Überlieferung begreifbar. „Hier lag der Genisa-Stein. Und dort, dort drüben liegen die Großeltern vom Maler Fuchs!“ „Wie finden die Menschen Sie?“ „Zufall. Übers Internet. Menschen auf der ganzen Welt suchen nach ihren Familien. Ich schenke sie ihnen zurück. Gräber sind Identität. Man muss sie nur zu lesen lernen.“
Tumblr media
Das Haus der Ewigkeit
Herr Reiss hat mir eine verschlossene Welt geöffnet. Leid, Erinnerung, Vergessen, Lebenslust. Wir reichen einander die Hand. Dann setzt er sich in seinen Wagen. Er hat genug gelesen für heute.
Die Straße führt den Abhang hinunter. Hinter mir, zwischen den Gräbern, höre ich ein Geräusch. Zwei Rehe aus dem nahen Wald suchen nach Futter. Trotzdem der Friedhof umzäunt ist, haben sie den Weg hier herein gefunden. Die Dämmerung legt sich über die Gräber und der ausgehende Winter sendet seine letzten Boten vorbei. Dunkle Wolken ziehen über das Tal. Bald wird es Frühling. Trotz der Kälte empfinde ich eine tiefe Wärme in mir. Ich blicke über die Weite der Landschaft, das Schloss, die ebenerdigen burgenländischen Häuser. Weit drüben, etwas verdeckt, stehen die Reste der alten, ehrwürdigen Synagoge. Ich denke an Rabbi Goldberger, seine Frau Paula und die kleinen Söhnchen. Ich starte meinen Roller und fahre zurück nach Wien. Aus einem der umliegenden Häuser höre ich helles Kinderlachen.
6 notes · View notes