Entferntes ahnen
1.
Ich habe in eine russische Familie eingeheiratet, muss also Pilze sammeln wollen und können. Ich will, kann auch einsammeln, aber bestimmen kann ich nicht. Ich erkenne bis heute nicht, wie ein Steinpilz dem anderen gleicht. Seit 30 Jahren versuche ich, dafür ein sicheres Gefühl zu entwickeln, es geht nicht. Anders gesagt: Auch zwischen zwei Steinpilzen sehe ich gigantische Unterschiede. Nochmal anders gesagt: ich kann im Unterscheiden nicht gut maßhalten. Für Gleiches bin ich schwer geeignet.
Die Familie kann daran verzweifeln, die kann sich kaputtlachen, dass ich allenfalls Pfifferlinge (das sind die Pilze für die Doofen, die erkennt jeder Hornochse), sammeln kann, beim Rest scheitere ich regelmäßig. Dinge, die mit sich selbst ähnlich sind, erkenne ich nicht. Ich erkenne nicht einmal Rechtschreibfehler, das ist sehr schwer bis unmöglich für mich. Ich erkenne nicht einmal Leute wieder, die sich jeden Tag gleichen.
Ihre weit entfernten Verwandten erkenne ich aber sofort, in Bruchteilen einer Sekunde. Ich erkenne auch sofort die Ähnlichkeit zwischen einer neapolitanischen Kirche aus dem 17. Jahrhundert und einem VW-Käfer von 1973, so wie etwa Panofsky sofort die Ähnlichkeit zwischen einer griechischen Tempelfassade und dem Kühlergrill eines Rolls Royce erkannt hat. Warum man zum Begriff der Ähnlichkeit noch eine Negation parat hält, also auf den Begriff der Unähnlichkeit verwendet, ist erstaunlich, aber um in relativen Affinitäten unterschiedlich Richtungen und Abstände bestimmen zu können, ist es bis auf weiteres hilfreich.
Den Sinn für entfernte Ähnlichkeit nenne ich ein melancholisches Talent und ist nur winziger Teil eines weiterreichenden melancholischen Talentes. Alles was weit entfernt ist und entweder er verlustig oder kommend, abgestorben oder zukünftig registriert wird, ist in Ähnlichkeiten organisiert und unbeständig dem assoziiert, was so nahe vorliegt, dass man es selbst mit seinen Händchen wärmen könnte, falls ihm kalt ist; ist dem Vorliegenden heiß, könnte man ihm frisch Luft zufächern, man könntedas Vorliegende auch das Gegenwärtige nennen.
Das melncholische Talent mit seinem Sinn für entfernte Ähnlichkeiten ist Talent dafür , Entferntes zu ahnen oder entfernte Ähnlichkeiten aufspüren zu können. Zwischen zwei Steinpilzen funktioniert das nicht. Will und soll ich das übernehmen, macht mich das völlig blind und sehr ungeduldig, ich kriege dann springende Füße. Für Informationen bin ich nahezu taub, jedes Rauschen höre ich aber sofort und noch aus weitester Entfernung. Bei Vorträgen, denen ich zuhöre, kann ich inzwischen, nach 30 Jahren und mit harter Disziplin durchaus sagen, was ihr Inhalt war. Aber wo an welcher Stelle ein Form nur minimal entfernt war oder entfernt wurde, das steht grell vor mir. Ich sehe sofort, was das Krawattenmuster eines Redners mit seinem Thema oder was Karl-Heinz Ladeur mit französischen Gerüchen und Filmen und dem Pentagon zu tun hat [vgl. Steinhauer, Bildkontakt, in: Ungewissheit als Chance, hg. von Ino Augsberg). Mein Talent funktioniert leicht zwischen der oben abgebildeten Kommunionsszene von ca. 1495 (die man auf den Staatstafeln Warburgs findet) und diesem Bild hier:
Wenn nur zwei Bilder sich entfernt ähnlich sind, dann geht die Kaskade erst richtig los, weil dann die Ähnlichkeit wie ein kräftiger Motor trachtet und trägt und dabei einen starken Zug entwickelt. Beide Bilder sind dann auch diesem Bild im Bruchteilen einer Sekunde ähnlich:
Das sind drei Bilder, die bilden in der Betrachtung (dem Trachten) eine Kette, eine Operationskette, mit der man alle drei Bilder von alle anderen Bildern phasen- und stellwenweise unterscheiden kann (nicht muss), man kann alle drei Bilder auf diese Weise historisch abschichten und sie mustern. Alle drei sind entfernt ähnlich, also ahne ich schon, dass das oben im Bild von 1495, das Bild des heiligen Hieronymus von Boticelli, bevor ich auch nur den Titel gelesen habe, dass das eine letzte Kommunion oder ein Sterbesakrament zeigen muss und dass die Dame dort im Bad droht, ein letztes Bad zu baden oder dass Barschel einem als Opfer präsentiert werden soll (sei es, um Verschwörungstheorien zu triggern oder um nur in nahen Ähnlichkeiten vor Fehlern zu warnen).
Das ist Witterung, ein melancholisches oder ein meteorologisches Talent. Man nennt das auch ein polares Talent, ein bipolares Talent, ein manisch-pressierendes Talent. In Bezug auf Aby Warburg spricht man auch von einem paranoiden und schizoiden Talent.
2.
Der russischen Familie kann ich perfekt beim Tragen helfen, auch dabei, die Pilze in Empfang zu nehmen, die zu reinigen, zu trocknen, einzulegen und sie zu kochen, beim Essen bin ich erst recht dabei, gerne und herzlich.
Bei der Betrachtung, die sie brauchen, kann ich ihnen bis heute nicht gut helfen, bei der Bestimmung der Pilze: das geht nicht, das ist lebensgefährlich. Ich kann Objekte auf bestimmte Weise nicht abzeichnen, schaffe es nicht einmal, das Coca-Cola Logo aus dem Gedächtnis so auf das Papier zu bringen, das beide einander gleich sind. Irgendwas verwechsel ich im Abzeichnen, tausche etwas aus: Vorbild und Abbild sind in meinen Zeichnung immer nur entfernt ähnlich. Will man aber wissen, welcher Linienschwung Sigmar Polke mit Giulio Romano oder aber ein Tempotaschentuch mit einem hessischen Teilchenbeschleuniger verbindet, bringe ich das leicht auf das Papier, in Sekunden, sehr leicht. Das ist für mich nicht nur kein Problem, ich mache das auch sehr gerne, vor allem auch dann, wenn es anderen hilft zu sehen, was sie nicht sehen.
Dieses Talent ist auch ausgebildet worden, mit diesem Talent habe ich gleich am Beginn des Studiums angefangen, mich für Aby Warburg zu interessieren, der dieses Talent auch hatte. Wer das hat, erkennt es bei anderen sofort. Im kunsthistorischen Studium in Passau ist das teilweise, aber nur schwach (katholisch gezügelt und rationalisiert) ausgebildet worden. Im Jurastudium versuchen die Ausbilder, einem dieses Talent sofort auszutreiben, sehr streng. Sie nehmen jeden Kommafehler zum Anlaß um einem zu beweisen, dass man nichts Entferntes ahnen und keine entfernte Ähnlichkeit sehen dürfe, weil man sonst kein Examen bestehen würde. Abwägungen in Klausuren des öffentlichen Rechts: ein Schlachtfeld, in der jede Entfernung vernichtet werden soll, immer nur beim Thema bleiben. Das ist ok so, man kann ja ein Doppelstudium machen und versuchen, sowohl naheliegende Ähnlichkeiten als auch fernliegende Ähnlichkeiten gut bestimmen zu können - und man kann lernen, die sehr gut examinierten Juristen zu bemitleiden.
Die beste Ausbildung habe ich darin, dann auch gleich sehr intensiv, erst bei Bazon Brock bekommen, unter anderem in einer Lehrveranstaltung, die explizit auch Aby Warburg gewidmet war und den Titel trug: Beruf Zeitungsleser. Brock stellte am Anfang die These auf, er habe den Beruf des Spiegellesers erfunden und wolle nun ein Semester lang die Studierenden darin ausbilden, wie man Bilder in Zeitungen liest. Also kaufte er Montagsmorges sämtliche Tageszeitungen, die er am Bahnhofskiosk in Elberfeld bekam und dann entfaltete er siezwischen 14.00 und 20.00 Uhr im Unterricht vor den Studierenden. Er las Fotos und Grafiken, sie mussten mitlesen. Er kam von einzelnen Gesten Demonstrierender zu Giotto oder Dante, von Straßenszenen in Brüssel zu holländischen Malerei, von Aufnahmen vom G7-Gipfel in Genau zu Hieronymus Bosch und so weiter und so fort.
Brock, wie Warburg, bildete dabei in Archäologie aus, darin, die Gegenwart erstens so zu betrachten, als sei sie bereits 500 Jahre vorbei - und ihre Aktualität als Oberfläche zu behandeln, nur als Oberfläche, aber immerhin zeigt sich auf der Oberfläche ein mimetischer Reflex weitreichender Vorgänge. Leichte Wellen eines tiefen und vergangenen Seebebens vielleicht.
Diese Lehrveranstaltung dauert bei Brock nur ein Semester lang (danach musste dringend noch anderes beigebracht werden). Die Leute mussten auch Referate halten, zu Warburg oder Panofksy, zu Wind oder Carlo Ginzburg. Brock ist ein unerbittlicher Pädagoge, der läßt die Leute nicht gehen, bevor er ihnen nicht irgendetwas mitgegeben hat. Wenn es gar nicht klappt, lädt er sie eben zum Essen oder einen Schnaps ein, sonst ist der total verzweifelt. Die Ausbildung war, vorsichtig gesagt, nicht schlecht.
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