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fabiansteinhauer · 5 months
Text
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Diagonale Wissenschaft
1.
Einen Text nicht aus demjenigen heraus zu erklären, was mit ihm zu tun hat, sondern aus demjenigen heraus erklären, was mit ihm nicht(s) zu tun hat, nicht(s) zu tun haben will und nicht(s) zu tun haben soll, das würde ich eine diagonale/ transversale Wissenschaft nennen. Das ist eine Wissenschaft, die den Kreuzungen und Versäumungen nachgeht, einer verkehrenden Effektivtät von Texten und anderen Zügen. Eine diagonale Wissenschaft geht Assoziationen nach, die widerständig und insistierend sind, die 'durchgehen', aber nicht glatt, nicht gut geschmiert, nicht ohne zu stocken. Diese Assoziationen können auch Abwendungen sein.
Ein Text ist noch auf andere Weise effektiv als durch ein Mitzutunhaben. Ein Text ist nicht nur durch und im Kontext effektiv, nicht nur durch Resonanz, nicht nur durch die Begriffe und Referenzen, die ihn inspiriert haben, ihn hervorgebracht haben sollen oder ihm folgen sollen. Das ist noch andere Effektivität, sowohl in die Richtung seiner Zukunft als auch in die Richtung seiner Vergangenheit. Da ist das, was manche als Verdrängung begreifen wollen. Da ist das, was Klossowski in einem Kommentar zu Bachofen als Übertrumpfen erwähnt; da sind die (modernen) Operationen der Übersetzung und Reinigung, die Latour am Anfang seines Buches über die Verfassung der Moderne beschreibt. Das gibt es Hyperreferenzen, rhetorische Ensemble, es gibt das Futter und die Verdauung eines Textes. Es gibt Dispositive. Es gibt die Aporie, Paradoxie und die Passage, die wiederum kommt als Tunnel, Pass, kreuzungs- und kurvenreich vor. Ein Text sitzt einer sedimentären Geschichte auf. Her ist gesetzt wie hergewirbelter Staub. Ein Text ist zensiert, verlogen, ein Ersatz, frisiert und ins Wahre gebogen, gefällt oder aber über den Tisch gezogen.
2.
Akademische Übungen erklären in einer Systemkultur einen Text aus demjenigen heraus, was mit ihm zu tun hat und lassen alles weg, was weder zu diesem Text gehört, ihm also eigentümlich verbunden sein soll oder aber mit ihm zu tun haben sollen, wie Clubmitglieder miteinander, nicht aber mit dem Personal zu tun haben. Ab einem gewissen Grad, eher schnell als langsam, wird die Verbindung des Textes hermeneutische Inzucht, obschon man doch ganz züchtig unterscheiden will, womit der Text zu tun haben soll und womit der nicht zu tun haben soll, was ihm eigen und was ihm fremd sein soll.
Oskar Bülows Text liegt in einem gekachelten, klinischen Raum, dessen Wände leicht abwaschbar sind und dessen Türen elektronische Schiebetüren sind, die geräuschlos auf und zu gehen, noch bevor man meint, sie darum bitten zu müssen, sie wissen es immer vorher. Dieser Text liegt dort gut beleuchtet und zusammen mit den anderen Texten, deren Autoren ihn gelesen und zitiert, dann entweder ihm zugestimmt oder ihm widersprochen haben. Das liegt das eigene Bündel, der Bund desses, was miteinander zu tun hat und mit anderem nichts zu tun, nichts zu schaffen hat. Man muss die Situation nicht als hermeneutische Inzucht begreifen, man kann das auch als die klinische und gekachelte, leicht abwaschbare, damit allem dem durch und durch gewissenhafte akademische Rekonstruktion der Bedeutung dieses Textes begreifen. Mir geht das auf den Sack - und das einzig Gute daran ist, dass es völlig irrelevant ist, was uns gefällt oder nicht gefällt, was uns auf den Sack geht oder aber nicht.
3.
Bülows Text ist für das Lob des Richteramtes bekannt geworden. Welche beiden Richter fallen einem spontan ein, wenn man an deutsche Gerichte im 19. Jahrhundert denkt? Mir fallen spontan zwei Richter an, einer vom Anfang des 19. Jahrhunderts und einer vom Ende des 19. Jahrhunderts. Der eine ist der Dorfrichter Adam. Natürlich steht am Anfang dieses seltsam systemfixierten Jahrhunderts ein Adam. Am Ende steht der Dresdner Richter Schreber vor meinen Auge. Adam und Schreber klammern als populäre Figuren meine Vorstellung vom Richter im 19. Jahrhundert. Der eine ist alles andere als sittlich, dafür ist der andere paranoid-schizophren noch dazu (wenn ich mich an die richtige Version der Schizophrenie erinnere). Bülows Bewertung, das meine ich im doppelten Sinne, also die Art und Weise, wie er das Richteramt bewertet und wie er dafür bewertet wird, das steht in einem Verhältnis zu solchen Richtern, also sowohl zu einem Bild des Richters, wie Kleist es liefert, und zur Realität eines Richters, wie Schreber sie liefert. Das ist ja ein seltsames Verhältnis, das ist Spannung. Ob es ein Missverhältnis ist? Das Missen ist ja auch Begehren, hieße also noch nicht viel, wenn man dieses Verhältnis ein Missverhältnis nennt. Bülows Vorstellung eines Richteramts steht nicht nur zu diesen beiden Richtern in einem schrägen Verhältnis. Vergleicht man das, was er schreibt, mit demjenigen, was Albrecht Mendelsohn-Bartholdy um 1906 herum über das Imperium des Richters schreibt, dann steht auch das in einem, vorsichtig gesagt, schrägen Verhältnis zueinander. Kurz gesagt: Erklärt man sich Bülows Text aus allem dem heraus, was mit diesem Text zu tun hat, erscheint das, was er schreibt als klar und normal. Was soll denn daran schräg sein? Liest man den Text aus demjenigen heraus, mit dem dieser Text nichts zu tun hat, auch nichts zu tun haben will und nichts zu tun haben soll, dann ist das ein sehr sehr sehr schräger und verdrehter Text, deutlich Phantasy-Literatur, auch wenn explizit keine Orks und Elfen auftauchen.
Ist ein bisschen so, wie wenn man Senf einmal mit Würstchen ist, dann schmeckts. Ist man Senf mit Honigmelone schmeckts nicht. Das erstaunt erstaunlich viele Akademiker nicht. Manche erstaunt das, dazu gehöre ich. Die Selbstverständlichkeit, die Plausibilität, die klare Erklärbarkeit, das Einrasten der Rezepte, das als Rezeption genügen soll: das ist vielen das Ziel der Arbeit, nicht das Problem der Arbeit. Bei anderen ist es eher anders herum. Energeia und enargeia, die beiden leicht verwechselbaren (Vor-)Ladungen dessen, was wahrnehmbar sein soll, die sind schon eine Herausforderung, nicht unbedingt ein Problem, aber doch das, was die Arbeit herausfordert, die mit interessant erscheint und die einer archäologischen Geste entspricht.
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