Text
Versuch #858: Das langweilige Leben
Er wohnt gern allein. Er hat sich sein Leben genauso eingerichtet, wie es ihm gefällt - mit Fotos von New Yorker Hochhäusern an den Wänden, mit einem sich nie ändernden Einkaufszettel, der am Kühlschrank hängt und von dem er nur selten abweicht, mit einer perfekt kuratierten Spotify-Playlist, die ihn aus der Bluetooth-Box begrüßt, sobald er die Wohnungstür hinter sich zumacht. Jeder Wochentag ist durchgeplant, montags macht er sich nach dem Fitnessstudio das am Sonntag vorbereitete Essen warm, dienstags geht er zur Chorprobe und sitzt dann noch mit den anderen bis spätabends bei Subway, mittwochs ist Leg Day, zu Hause macht er dann die Waschmaschine an und liest ein Buch, am Donnerstag geht er mit einer Freundin ins Kino, freitags mit den anderen zwei Freunden in den Club, samstags putzt er die Wohnung und sucht sich ein Tinder-Date, sonntags läuft er einen Halbmarathon - zwei Stunden zehn, das reicht ihm, er hat keine Ambitionen - und kocht Essen, um es einzufrieren. Die Eintönigkeit macht ihm nichts aus, sie beruhigt ihn und gibt ihm Sicherheit.
"Ist es nicht langweilig?", fragt ihn die Kino-Freundin, als sie nach dem Film zusammen die Straße entlang laufen und den Rest aus ihren Bierflaschen austrinken.
"Wieso langweilig?", fragt er zurück. "Ich weiß immer, was zu tun ist, da ist gar keine Zeit, um mich zu langweilen."
Die Freundin schüttelt voller Unverständnis den Kopf. Es trifft ihn nicht, er fühlt nicht den Drang, sich rechtfertigen zu müssen. Es ist sein Leben, er hat es sich so eingerichtet.
Nur am Sonntagabend, nachdem die Wäsche zusammengefaltet im Kleiderschrank liegt, die letzte Box im Tiefkühlfach verstaut ist und die letzte Folge von der neuen Staffel zu Ende ist, und er ins Bad geht, um die Zähne zu putzen - da kommt er kurz ins Straucheln. Ist es wirklich alles, was vom Leben übrig bleibt?
12 notes
·
View notes
Text
Versuch #857: Hier spielt die Musik
Die Musik ist überall, sie schwebt durch die Luft, trifft auf den Brustkorb, auf die ausgestreckten Finger, auf die feinen Haare am Nacken. Sie ist da, fließt in einem nicht endenden Strom, ergießt sich aus den Boxentürmen über die tanzenden Menschen, über das Gras, das Wasser, die Stadt. Sie ist unaufhaltsam, breitet sich immer weiter aus, treibt die Stickstoff- und Sauerstoff-Moleküle durch Raum und Zeit, alles zittert, schwingt, bewegt sich.
Die Menschen auf dem Festivalgelände denken nicht darüber nach, sie können nicht denken, sie sind im Rhythmus gefangen, sie nicken mit dem Kopf und lassen sich treiben, bis sich alle ihre Gedanken auflösen. Es riecht nach Bier und Schweiß, nach Aufregung und Erlösung. Alles ist vergessen - die Steuererklärung und die letzte Familienfeier, die To-Do-Liste vom Montag und die Telefonnummer vom Ex. Alles ist nur noch Musik, nur noch Bewegung, schneller werdend, langsamer werdend, die ganze Nacht hindurch. Die Zeit löst sich auf, spielt nur noch eine einzige Rolle - in ihr entfaltet sich die Musik, aber alles andere bleibt stehen, ist auf Pause, solange wie die Musik spielt.
5 notes
·
View notes
Text
Versuch #856: Samstag in der Innenstadt
Es ist ein Samstag in der Innenstadt, und es ist heiß.
Die Tauben gurren um die Eiscafés herum, die Spatzen hüpfen um die Tauben, warten auf eine herunterfallende Waffel, schauen Menschen auffordernd an. Die Menschen achten nicht auf die Vögel, sie gehen ihren Geschäften nach - eine neue Hautcreme, ein Legoset als Geburtstagsgeschenk für den Neffen, Shorts für den kommenden Urlaub, Brötchen, Blumen, Bubble Tea. Alles ist voll, überall ist nackte Haut zu sehen, Sonnenbrillen, Zigarettenrauch. Jemand spielt Akkordeon, die gleiche Melodie wie jeden Samstag, und immer, wenn sie ans Ende kommt, beginnt sie erneut, als wäre sie ein Symbolbild fürs Leben. Der Akkordeonspieler zwinkert den Passanten zu, als würde er es mit Absicht tun, aber die Passanten tragen Kopfhörer, es läuft die neueste Folge ihres Lieblingspodcasts.
Es ist ein Samstag in der Innenstadt, und das schwarze Zeug zwischen den Straßenbahnschienen und dem Straßenbelag ist weich wie Kaugummi, die Sandalen sinken darin ein wie im Treibsand, aber nur für eine Viertelsekunde, die Menschen gehen weiter, es ist grün. Männer schieben Kinderwagen, während die Frauen am Eingang zur Parfümerie stehen bleiben, um sich die großen Werbeplakate anzuschauen. Aber nein, sie werden nicht aussehen wie Zendaya, wenn sie sich mit dem neuen Lancôme-Duft einsprühen. Sie seufzen, eilen ihrem Mann hinterher, immerhin schläft das Baby noch. Junge Jungs und Mädels laufen in Rudeln durch die Straßen, lachen und trinken Red Bull. Die Mädels sprechen in schrillen Stimmen aufeinander ein, die Jungs tun so, als wären sie derb.
Es ist ein Samstag in der Innenstadt, die Sonne knallt auf die hellgrauen Betonwände, auf die schlaffe milchweiße Oberschenkel-Haut, die aus den Shorts herausschaut, auf die braungebrannten Arme eines Rennradfahrers, auf die Nasen von kleinen Hunden, die an ihren Leinen die Fußgängerzone entlang gezerrt werden. Frauen in bodenlangen Röcken betteln für ihre Kinder, Männer ohne Beine betteln um ein Abendessen, aber niemand achtet auf sie, nun ja, sie achten schon darauf, ihre Telefone, Guess-Papierbeutel und Portemonnaies fester zu halten.
Es ist ein Samstag in der Innenstadt, die Luft ist drückend warm. Ein Sturm zieht auf.
2 notes
·
View notes
Text
Versuch #854: Der Arbeitstisch
Sein Arbeitstisch ist ein Chaos, und jedes Mal, wenn er mal wieder eine Überschrift liest, dass ein überfüllter Tisch zwar Geschäftigkeit simuliert, sie aber eher behindert, fühlt er sich schlecht. Aufräumen kann er trotzdem nicht, er kann sich nicht dazu bringen, die ganzen Papiere zu sortieren, auch wenn dort schon längst bezahlte Rechnungen liegen und Behördenbriefe, die er einfach nur abheften müsste. Er hat Angst davor, was dazwischen liegt - vielleicht würde er dort eine vergessene Überweisung finden oder eine Aufforderung dazu, zu einer bestimmten Uhrzeit hier oder da zu sein. Auf diesen Schub von Schuldgefühlen hat er keine Lust. Oder einen Urlaubsgruß von einer Freundin, mit der Ansicht von Bali, Goa, Malediven. "Schau, wo ich mich gerade am Strand ausgestreckt habe." Postkarten sollten verboten werden.
Den größten Berg auf dem Tisch bilden Notizbücher. Er hat Dutzende davon, einige komplett leer, einige zur Hälfte beschrieben, einige mit nur jeweils zwei-drei Wörtern auf den ersten paar Seiten, dann leer. Überall hat er Notizbücher, in jeder Jackentasche steckt eins, und wenn er nach Hause kommt, zieht er es heraus, tippt die Sachen daraus in den Laptop ein. Dann nimmt er ein Notizbuch vom Tisch, steckt es wieder in die Jackentasche. Oft ist es dann nicht das gleiche, was vorher drin war. Eigentlich müsste er sie mal alle durchsehen, die komplett leeren in eine Kiste oder eine Schublade stecken, und nur die halbvollen nutzen, bis sie alle voll werden, damit er sie nochmal durchsehen und wegwerfen kann. Eigentlich.
Zwischen den Papieren, den Notizbüchern, Kopfhörern, Stiften, Handcreme-Minituben, Post-Its stehen Teetassen. Diese kann er natürlich ganz gefahrlos entfernen, das tut er auch oft, mit einer kraftvollen Bewegung sammelt er vier Stück ein und bringt sie in die Küche. Aber das bringt nicht viel, denn schon am Ende des Tages werden es wieder einige sein, vielleicht sogar mehr als vorher.
Er blickt nochmal auf seinen Arbeitstisch und denkt "es ist ein Trauerspiel". Dann ärgert er sich, dass er in solchen abgedroschenen Phrasen denkt, und geht in die Küche, um sich einen Tee zu kochen.
0 notes
Text
Versuch #853: Networking
Sie hasste diese Cocktail-Partys, von der ihre Abteilungsleiterin dachte, es wäre die beste Idee fürs Networking. Fünfzig bis hundert Gäste, Anzüge mit Krawatten, Kleider, Häppchen aus Käse mit Weintrauben, kleine aufgespießte Sandwiches, mit Sardellen gefüllte Oliven, Weißweinschorle, Old Fashioned, Aperol, eine Jazz-Band mit Sängerin, die mal stilvolle Cover-Versionen ins Mikro hauchte, dann wieder aussetzte und stumm das Tambourin gegen die linke Handfläche schlug, Kellner in weißen Hemden und schwarzen Westen darüber, das Haar streng nach hinten gekämmt.
Diese Partys fanden mehrmals im Jahr statt, wurden "Team-Event" genannt, Anwesenheit wurde erwartet - außer wenn man ein Kind vorschieben konnte, für das man keinen Babysitter gefunden hatte. "Ja, gute Babysitter sind schwer zu finden", sagte die kinderlose Abteilungsleiterin dann. Außerdem wurde erwartet, dass man sich göttlich amüsierte und sich für die "tolle Party" bedankte, noch einen Monat lang zwischen den Meetings darüber sprach, wie viel Spaß das gemacht hatte, und betonte, dass man sich auf die nächste ja schon freue.
Oh, wie sie diese Partys hasste.
Natürlich ging sie immer hin, sie arbeitete darauf hin, die Abteilungsleiterin in nicht allzu langer Zeit zu ersetzen, oder zu beerben, sobald diese endlich wegbefördert würde. Jedes Mal kaufte sie sich vorher ein neues Cocktail-Kleid, in Weinrot, Marineblau, Himmelblau, Meergrün. Nach der Party brachte sie es dann in einen Second-Hand-Shop, die Verkäuferin kannte sie schon.
"So ein schönes Kleid, das muss Ihnen ja ausgezeichnet stehen, wollen Sie das sicher nicht behalten?"
Nein, sie wollte die Kleider nicht behalten, damit sie es aus Versehen nicht nochmal zu so einer Party anzog, und andere Anlässe hatte sie andere Kleider, die sie ihre "privaten" Kleider nannte. In ihnen fühlte sie sich nicht eingesperrt und eingehegt, in ihnen konnte sie lachen und essen. In den Cocktail-Party-Kleidern konnte sie stehen, ein Glas in der Hand halten, lächeln und abgedroschene Management-Wörter benutzen. Vielleicht mal eine gewitzte Bemerkung machen, um einen Abteilungsleiter zu beeindrucken. Der fuhr dann mit dem Ellbogen in die Seite seines Stellvertreters und machte ein anerkennendes Gesicht.
Das einzige, was ihr an den Partys gefiel, war das Gefühl, mit dem sie danach ins Taxi stieg. Sie lehnte sich dann im Sitz zurück, schloss die Augen, zog auch schon mal die Schuhe aus, schaute aus dem Fenster auf die nächtliche Stadt, während die angesammelte Anspannung und das professionelle Lächeln von ihr abfielen.
0 notes
Text
Versuch #852: Partynächte (2)
Sie geht selten auf Partys, freitags ist sie nach der Arbeit viel zu müde, und sonntags muss sie eigentlich immer im Garten ihrer Eltern mithelfen, deswegen geht sie samstags immer rechtzeitig ins Bett. Aber dieses Mal hat eine Freundin sie überredet, und nun sind sie in einer bunten Gruppe im Club. Bunt, weil die Leute so verschieden sind, und auch, weil es eine Motto-Party ist.
"Wow, das ist ja ein knalliges Gelb", sagt jemand anerkennend.
Sie hat sich das Top extra für die Party gekauft, und es steht ihr nicht wirklich, aber die Farbe ist sogar zwischen dem Neonpink und Feuerrot der anderen ein Blickfänger.
Im Club ist es voll und laut, und nach einer Weile fällt ihr auf, dass sie die Lautstärke und das Gedränge genießt. Mit all der Arbeit der letzten Wochen hat sie ganz vergessen, wie viel Spaß es macht, unter Menschen zu sein. Unter unbekannten Menschen.
Als sie sich einen Drink holt - Rum-Cola, und oh, sie wird es bestimmt noch bereuen - entdeckt sie den Typen in einem orangen Hemd und einer salatgrünen Chino. "Wieso hat jemand wohl so etwas im Schrank?", fragt sie sich, dann erinnert sie sich daran, dass sie den silbernen Minirock, den sie trägt, ja auch ganz hinten im Schrank noch liegen hatte, ohne genau zu wissen, woher.
"Lustiges Hemd", sagt sie, schreit sie über den Beat hinweg.
Er lächelt.
"Tolles Gelb", sagt er.
Am nächsten Tag wacht sie früh und müde auf, das sind natürlich die Auswirkungen von den drei Rum-Cola. Hätte sie nicht lieber etwas ohne Koffein trinken können? Ihr Kopf tut weh, und sie ist hungrig, aber da sie gestern, statt einkaufen zu gehen, auf der Suche nach etwas Buntem zum Anziehen war, ist ihr Kühlschrank leer. Nachdenklich läuft sie durch ihre kleine Küche, versucht, herauszufinden, ob der Abend die Kopfschmerzen und die Müdigkeit wert war. Ja, doch. Und der Typ, Micha, der war ja auch ganz nett. Wäre es nicht lustig, ihn wiederzusehen? Was hat sie schon zu verlieren?
Sie geht zurück zu ihrem Bett, wo das Telefon am Ladekabel hängt, stöpselt es ab, scrollt durch die Kontakte.
"Ja?", fragt Michaels verschlafene Stimme.
"Hi. Schon wach?", fragt sie zurück. "Wollen wir irgendwo frühstücken gehen?"
1 note
·
View note
Text
Versuch #852: Partynächte
Er erinnert sich an gestern, an die Party.
Es war laut, aber laut ist keine besondere Auszeichnung für eine Party, alle Partys sind laut. Es war bunt, und das war schon etwas besonderes - nicht das immerwährende Schwarz, sondern Hellblau, Neongrün, Pink. Er erinnert sich an eine Frau, die ein leuchtend gelbes Spaghetti-Top und einen silbernen Minirock trug. Ihre Stiefel waren aber schwarz, oder?
Jede Woche geht er feiern, und die Erinnrungen verschwimmen ineinander, es gibt kaum etwas, das einen Samstag von einem nächsten oder vorhergehenden unterscheidet. Die Musik ist immer laut und auch immer gleich, die Drinks sind immer eiskalt und auf eine übernatürliche Art erfrischend, die Menschen sind überall dieselben, und er selbst ist einer von ihnen.
Aber war gestern etwas anders?
In seiner Erinnerung geht er in die bunte Welt zurück, denkt an die Frau - nicht die im silbernen Minirock - die eine Federboa um die Schultern trug. Pink? Lila? Er weiß es nicht mehr, weiß nur, dass die Frau sehr gut aussah, so gut, dass sie auch für McFit hätte Werbung machen können. Doch sie verschwindet wieder, während die andere zurückbleibt. Annika? Wieso kennt er ihren Namen?
Sein Kopf brummt, so wie er jeden Sonntagmorgen brummt, nichts von den Erinnerungen ergibt Sinn, und das muss es auch nicht, er wird es bis zum Abend sowieso vergessen, so wie er es jede Woche vergisst.
Er hat mit Annika getanzt, so viel steht fest, hat ihr mindestens ein, zwei Rum-Cola gebracht, und ihr gelbes Top leuchtet jetzt noch in seinem Unterbewusstsein. Aber er will jetzt nicht darüber nachdenken, er hat so viele andere Sachen, über die er nachdenken muss - Frühstück, Fahrt ins Fitnessstudio, der Pflichtanruf bei seiner Tante, Waschmaschine. Annika passt da überhaupt nicht dazu.
Dann klingelt sein Telefon. Auf dem Display steht: "Annika".
"Ja?", fragt er unsicher.
"Hi. Schon wach? Wollen wir irgendwo frühstücken gehen?"
1 note
·
View note
Text
Versuch #850: Genervt sein
Es nieselt, es hört auf, es nieselt wieder. Es ist gut für die Natur, klar, aber Lukas findet es nervig. Er findet selten etwas nervig, meistens ist er in der Lage, sich mit allem zu arrangieren - aus Versehen die Wäsche zu früh abgenommen und eine noch feuchte Socke angezogen, es zu spät gemerkt, nachdem man schon den ersten Schritt im Schuh hinter die Wohnungstür gemacht hat, den Zug wegen zu kurzer Umstiegszeit verpasst und dann gezwungenermaßen eine Stunde auf einem abgelegenen Bahnhof verbracht, den Eintopf von gestern nicht lange genug in der Mikrowelle gelassen und schon Netflix angemacht, egal, kann man auch lauwarm essen. Es gibt so viele Sachen, die Lukas ohne sich aufzuregen hinnimmt, er zuckt dann immer schicksalsergeben die Schultern, lässt nicht die geringste Spur von Verärgerung zu. Aber der Nieselregen, der nervt ihn.
Er läuft von der Arbeit nach Hause, es ist Sonntag, und in der Straße riecht es nach Rinderrouladen, und dieser Geruch vermischt sich mit dem vom nassen Asphalt, und das nervt Lukas noch mehr. Einen Moment lang versucht er, herauszufinden, was genau ihn stört, Regen ist doch nichts schlimmes, aber die Tropfen gleiten von seiner Brille auf seine unrasierten Wangen, kalt und nass. Er kann es sich erklären, er hat schlecht geschlafen, eigentlich schon die ganze Woche, und die Müdigkeit hat sich aufgestaut, umringt ihn wie eine Mauer aus aufgestapelten Wattebäuschen, und er muss sich immer erst da durchkämpfen, bevor er weitergehen kann. Aber er ist schon oft so müde gewesen, und auch dann hat der Regen ihn nicht genervt, vor allem nicht auf dem Nachhauseweg, nicht mit über 24 Stunden Freizeit vor ihm. Was für eine Rolle soll es spielen, dass es regnet, er hat doch sowieso nichts anderes vor, als im Wohnzimmer auf dem Sofa einzuschlafen.
Er kann das Haus schon von Weitem sehen, nur die Fenster seiner Wohnung kann er nicht sehen, die sind von einem Baum verdeckt. Ist es ein Ahorn? Oder eine Linde? Wie kann es sein, dass er in den drei Jahren, in denen er aus seinem Wohnzimmer auf den Baum schauen kann, noch nicht darüber nachgedacht hat? Er läuft weiter, verscheucht alle Gedanken an den Baum aus seinem Kopf, versucht, im Laufen zu meditieren. Was ist das bloß an diesem Regen, das ihn nervt? Er beobachtet, wie eine Ringeltaube aus einer Pfütze trinkt, wie sie den Kopf anhebt, um das Wasser zu schlucken, wie sie ihn kritisch beäugt, um einzuschätzen, ob sie wegfliegen muss, ihn dann als ungefährlich und weit genug weg einstuft.
Na komm, sagt er zu sich selbst. Das bisschen Regen ist doch kein Problem, die Natur braucht das. Die kalten Tropfen fließen seinen Nacken entlang nach unten, widerlich. Na komm, sagt er. Das ist alles nur eine Frage der Perspektive.
Dann ist es endlich vorbei, er steht unter dem Vordach zu seinem Hauseingang, sucht den Schlüssel heraus, schaut noch flüchtig auf den Baum vor dem Haus, es ist eine Pappel. Eine Pappel, wie konnte er das bis jetzt nur nicht gemerkt haben? Er schüttelt sich kurz, als wäre er ein Hund, als könnte er das Wasser so loswerden. Dann tritt er ins Haus ein, lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Trocken.
0 notes
Text
Versuch #849: Gemeinsam
Sie sind zu viert, sitzen zu viert um den Tisch, sprechen zu viert, alle durcheinander. Sie sind sich nicht im Geringsten ähnlich, haben verschiedenfarbige Haare, ganz unterschiedliche Gesichtsformen, jede von ihnen eine eigene Art Wörter auszuwählen und auszusprechen. Das Restaurant ist voll, mit Menschen und Drinks, aber über dem Lärm hört man trotzdem die immergleiche Restaurant-Playlist.
Weder die Musik noch das Gedränge scheint sie zu stören, sie sitzen an ihrem Tisch und reden, über Arbeit und Urlaub und Geld und Aufräumen, es ist nichts besonderes dabei, und wahrscheinlich werden die gleichen Themen an jedem dritten Tisch um sie herum in der fast gleichen Form besprochen. Sie nippen an ihren Getränken, hören sich gegenseitig zu, warten auf den Moment, wo sie einwerfen können "ja, das verstehe ich, mir ist letztes genau das auch passiert", um eine eigene Geschichte einzuleiten. Sie haben Spaß, vielleicht nicht so, wie sie sich das vorgestellt haben, aber es ist ein entspannender Abend, und jede von ihnen braucht Entspannung mehr als Spaß, jede von ihnen will ihre eigenen Gedankenschleifen unterbrechen, durch etwas anderes ersetzen, auch wenn es nur die Probleme der anderen sind.
Doch sobald sie vom Tisch aufstehen, lässt die Wirkung nach. Die erste von ihnen schaut auf das Telefon - natürlich hat sie es zwischendurch schon gemacht, aber verstohlen - und sieht den verpassten Anruf, weiß schon genau, um was es geht, bevor sie zurückruft, weswegen sie darauf wartet, bis sie im Auto sitzt. Die zweite bemerkt den leichten Stich an der linken Schläfe, der die Migräne ankündigt, und weiß, dass sie jetzt noch eine halbe Stunde hat, um sich zu Hause einzuschließen, die Vorhänge zuzuziehen, sich auf das Bett zu werfen. Die dritte denkt daran, dass sie dieses Treffen einem Date vorgezogen hat, und während der Abend lustig und gelassen war, wird es die einsame Nacht nicht. Die vierte erinnert sich, dass sie keine Eier für den Geburtstagskuchen für ihre Tochter gekauft hat, und eigentlich wollte sie direkt am Morgen mit dem Backen anfangen, statt nochmal einkaufen zu fahren.
Und so stehen sie da, zwanzig Meter von der Restaurant-Tür entfernt, und doch jede in ihrer eigenen Welt.
"Bis zum nächsten Mal", sagen sie durcheinander, lächeln fröhlich, umarmen sich, aber sie sind nicht mehr da, stehen nicht mehr hier, haben sich aus ihrem gemeinsamen Abend schon längst ausgeklinkt.
Bis zum nächsten Mal.
1 note
·
View note
Text
Versuch #848: Das Café am Strand (4)
Als er nach Hause kommt, ist es spät am Abend. Seine Schicht diese Woche ist bis "open end", aber es ist ein Donnerstag, und außerdem ist es mit Sonnenuntergang richtig kalt geworden, also haben sie kurz nach neun zugemacht. Er hat die leeren Flaschen eingesammelt und in die Pfand-Kisten gesteckt, hat die Gläser mit den langsam schmelzenden Eiswürfeln auf ein Tablett gestapelt und in die Küche gebracht, hat die Liegen abgeklopft, den Sand vom gepflasterten Gehweg gefegt, die Kaffeemaschine ausgeschaltet, sich von den anderen beiden verabschiedet, die noch da geblieben sind, weil sie als Festangestellte für das Abschließen zuständig waren. Dann hat er sich auf sein Fahrrad gesetzt und ist den schlecht beleuchteten Weg in die Stadt gefahren.
Jetzt sitzt er in seiner kleinen Wohnung, wärmt seine vom Fahrradfahren kalt gewordenen Finger auf, fragt sich, was er jetzt noch machen soll. Er will noch nicht schlafen, dafür ist es ihm zu früh, er würde dann auch viel zu früh aufwachen, und seine morgige Schicht wird auch "open end" sein, wobei das am Freitag wirklich spät werden kann, und er will nicht durchhängen. Deswegen geht er in den Eingangsbereich zurück, klopft seine Schuhe nochmal richtig aus, sieht einen kleinen Sandsturm dabei aufsteigen, zieht die Schuhe nochmal an, geht auf die Straße. Es ist kühl, aber nicht kalt, und er weiß, dass es sich wärmer anfühlen wird, wenn er schneller läuft. Er geht los, ohne zu viel nachzudenken. Hier sind die Straßen hell beleuchtet, nicht so jämmerlich wie unten am Fluss, wo das Strandcafé liegt, und überall gibt es leuchtende Werbeplakate und neonfarben blinkende "Open"-Schriftzüge. Er hat kein bestimmtes Ziel, er läuft einfach ziellos umher, mitten durch die Innenstadt, immer den hellsten Schildern nach. So wie er auch lebt - einfach von Schild zu Schild, von Tag zu Tag, ohne zu viel nachzudenken. Er versucht, zu berechnen, wie viel Geld er heute verdient hat, und für wie lange das reichen würde, wenn er es sparsam ausgeben würde. Eine Woche? Wohl kaum. Dann versucht er, zu berechnen, wie viel Geld er bis Oktober verdient haben wird, wie viel er ausgegeben haben wird, und ob das über den Winter reicht. Aber er schafft es nie auf mehr als zwei zusammenhängende Gedanken, bevor das nächste leuchtende Schild ihn herausreißt, also gibt er es auf und läuft einfach weiter, biegt ab, läuft geradeaus, immer den Straßenlaternen nach. Auch wenn es ein kalter Donnerstagabend ist, ist auf den Straßen viel los, aber die anderen scheinen im Gegensatz zu ihm zielgerichtet zu laufen, von Bar zu Bar zu ziehen, irgendeinen vorausgeplanten Weg zu verfolgen. Das findet er witzig und lächelt leicht. Er verfolgt nie einen vorausgeplanten Weg, nicht, wenn er es verhindern kann. Sein Weg muss zufällig sein, damit er sich davon nicht eingeengt und eingepfercht fühlt.
Eine Stunde zieht er ziellos umher, dann kommt er wieder zu Hause an, läuft die Treppe hoch, zieht die Schuhe aus, spürt den Sand, den er vorher ausgeklopft hat, durch die Socken hindurch. Was für ein Leben, denkt er, dann geht er ins Bad, um zu duschen.
0 notes
Text
Versuch #847: Das Café am Strand (3)
Er hat nicht vor, für immer in diesem Strandcafé zu bleiben, auch wenn es jetzt schön ist, sonnig und mit leichter Brise vom Fluss, den man von diesem Fake-Strand aus nicht sehen kann. Es riecht nach Waffeln vom Eisstand, und im dichten Gebüsch hinter dem Café zwitschern Vögel, so laut, dass sie alles andere übertönen. Ja, jetzt ist es schön hier, jetzt gefällt es ihm, hier zu arbeiten, aber vermutlich wird es schon im Herbst ungemütlich werden, er kann sich nicht vorstellen, dass die Gäste, die jetzt die Beine in den Liegestühlen ausstrecken, auch im Winter kommen werden. Er weiß gar nicht, ob das Café im Winter überhaupt offen haben wird, ihm ist es gar nicht eingefallen, danach zu fragen - bis zum Winter wird er sich etwas anderes gesucht haben, etwas wo man drinnen arbeitet und nicht die Gläser und Flaschen der Gäste zwischen den Liegen im Sand einsammeln muss.
Er weiß auch, dass er nicht sein ganzes Leben von Job zu Job ziehen können wird. Irgendwann wird er sich etwas suchen müssen, bei dem er Krankengeld bekommt und Urlaubstage hat, etwas, wo er nicht spontan an jedem Tag der Woche zu jeder Zeit einspringen können muss. Vielleicht wird er sich etwas in einem Büro suchen, etwas, wo er einen eigenen Schreibtisch haben wird. Ein Mal hat er sich für einen Telefon-Hotline-Job beworben, da hätte er auf jeden Fall einen Schreibtisch gehabt. Wäre das nicht etwas für den kommenden Winter?
Aber darüber wird er im Herbst nachdenken, wenn es nicht von Tag zu Tag wärmer wird, sondern kälter, wenn die Sonne nicht mehr jeden Tag etwas später untergeht und die Abende nicht mehr endlos scheinen. Jetzt will er noch nicht einmal daran denken, in einem Büro zu sitzen und sich von unzufriedenen Kunden durch ein Headset volllabern zu lassen. Er will lieber daran denken, einen möglichst guten Latte Macchiato hinzubekommen, nicht nur mit einem Herzchen oder einem Blattmuster auf dem Milchschaum, sondern mit etwas Ausgefallenerem. Wenn am Tresen mal wieder nichts los ist, schaut er sich bei YouTube Videos an - ein Drache oder eine Katze als Latte Art, das wäre doch lustig. Und was er den Winter über machen wird - darüber wird er im Oktober nachdenken.
2 notes
·
View notes
Text
Versuch #846: Das Café am Strand (2)
Er erinnert sich nicht gern an seine Kindheit und Jugend. Jetzt, mit vierundzwanzig, erzählt er natürlich die lustigen Geschichten auf Partys - wie er mit Kumpels in irgendwelche leerstehenden Garagen eingebrochen war, wie er einen Hund aus einem halbgefrorenen Teich gerettet hatte, wie der komische alte Mann besoffen auf dem Rasen den Häusern gedroht hatte, alles in die Luft zu sprengen und eine Granate aus Wehrmacht-Zeiten in der Hand hielt. Die Granate ging nicht in die Luft, der Alte wurde von der Polizei zum nächsten Krankenhaus gefahren, aus dem er nie wieder zurückkehrte, der Hund starb an Unterkühlung, in den Garagen gab es nur alten Krempel, den man nicht mal als Altmetall verkaufen konnte.
Jetzt sind es alles nur halb vergessene, ausgeschmückte Geschichten, damals war es sein Leben. Er lief durch die Straßen der Siedlung, um die Werbeprospekte in die Briefkästen einzuwerfen, allein gegen den zwischen den Häusern säuselnden Wind, dachte über die Schule nach, über das eine Mädchen aus der Parallelklasse, mit dem roten Top beim Sportunterricht. Alles war deprimierend, aussichtslos, die Schulstunden genauso wie die Wochenenden, das Draußen genauso wie das Innenleben des Hauses, in dem er mit seinen Eltern lebte.
Jetzt ist alles anders. Jetzt geht er gutgelaunt zu dem Strandcafé, nicht nur weil er muss, nicht nur um seine Miete zu bezahlen, so wie er damals mit den miesen Werbeprospekten das Geld für Zigaretten verdiente, nein, er geht zum Strandcafé, weil die Kollegen nett sind, weil es mehr Spaß macht, den Duft vom frischen Kaffee einzuatmen, als den vom mit Käse überbackenen Schweinefleisch beim Griechen, wo er vorher gearbeitet hat, auch viel mehr Spaß macht, als Laufschuhe an ambitionierte Freizeitjogger zu verkaufen oder O2-Internet-Verträge an alleinstehende Rentnerinnen. Er geht zum Strandcafé, lässt sich als erstes von einem Kollegen einen Espresso machen, zieht dann die Schürze an, trinkt den Espresso auf einmal aus, stellt sich dann hinter die Theke, immer gut gelaunt, immer ausgeschlafen. Er denkt nicht mehr an seine Vergangenheit, nicht, wenn er es verhindern kann.
2 notes
·
View notes
Text
Versuch #845: Das Café am Strand
Er findet es grundsätzlich witzig, in einem Café zu arbeiten, das eine Strandbar sein will, obwohl der Fluss einige Hundert Meter entfernt ist. Irgendwie gefällt ihm der Gedanke, dass jemand sich vor Jahren gedacht hat, es wäre eine gute Idee. Eigentlich ist es eine gute Idee, es kommen viele Leute vorbei, holen sich eine Rhabarber-Schorle, setzen sich in die Liegestühle, die überall verteilt im Sand stehen. Bei Sonnenschein wird es schnell voll, auch wenn es kalt ist, und erst recht, wenn es warm ist - und das obwohl man das Wasser vom Café aus nicht einmal sieht.
Er denkt, es wäre noch witziger, wenn sie einen Pool hätten, und wenn sie eine richtige Cocktailbar hätten, nicht nur eine Kaffeemaschine und einen Kühlschrank für Bier und Wein. Er kann es sich gut vorstellen, wie er dann im Sommer von der Theke aus den Pool beobachtet, an dem Frauen in Bikinis sitzen und Sex on the Beach mit Schirmchen in den Händen halten. Aber bis die Besitzer des Cafés so etwas umsetzen, ist er schon lange weg.
Er hat natürlich nicht vor, sein Leben lang hier zu arbeiten, auch wenn es nett ist und er, wenn er zu Hause ist, manchmal den Sand aus den Schuhen ausklopft und dabei lächelt. Er wird sich schon etwas anderes finden, er findet immer etwas anderes, und das hier muss schon sein zehnter oder fünfzehnter Job sein, obwohl er erst vierundzwanzig ist. Nach ein paar Monaten wird ihm meist langweilig, etwas geht ihm auf die Nerven, und er sucht sich etwas Neues. Sein allererster Job war an der Tankstelle einige Straßen vom Haus seiner Eltern entfernt, dort putzte er nach der Schule die Autos, dann trug er nebenbei noch Zeitungen aus, räumte Regale im Supermarkt ein, ging mit dem Hund des Hausarztes Gassi... Wobei das natürlich keine richtigen Jobs waren, es gab meist keinen Arbeitsvertrag und das Geld hat er am Ende des Tages auf die Hand bekommen. Für einen Schuljungen war das ein sehr erwachsenes Gefühl.
Aber hier im Café am Fake-Strand, wie er es im Kopf nennt, fühlt er sich viel besser, als in dem griechischen Restaurant von vor drei Monaten. Manchmal nimmt er nach seiner Schicht auch eine Flasche Radler aus dem Kühlschrank und setzt sich auf einen der Liegestühle, zieht die Schuhe aus und vergräbt die Zehen in dem Sand. Wenn es hier bloß auch noch einen Pool gäbe...
3 notes
·
View notes
Text
Versuch #844: Teezeit (2)
Es sieht aus, als würde es regnen, aber es wird nicht regnen, so sah es gestern schon aus - graue Wolken, drückende Luft, aufkommender Wind. Aber gestern regnete es nicht, also wird es auch heute nicht regnen, es wird nur ungemütlich werden, der Wind wird um sich schlagen, wird am Ende die Wolken wegtreiben, bevor sie sich abregnen können.
Das denkt sie sich, während sie auf dem Balkon sitzt, ihre Teetasse in der Hand. Sie hat ihren Morgenmantel an, den, den sie im Winter trägt, aus hellblauem dicken Stoff, der sich anschmiegsam um ihre Schultern legt. Eigentlich wollte sie ihn schon nach dem letzten Waschen wegräumen, dafür den sommerlich-leichten aus dem Schrank an den Haken hinter der Schlafzimmertür hängen, tat es aber nicht, und ist heute froh darüber. Seltsam, wie warm es letztes Wochenende war, als sie genauso teetrinkend auf dem Balkon saß, im gleichen Morgenmantel, nur dass es viel wärmer war, nur dass die Sonne schien, so hell, dass sie die Augen die meiste Zeit geschlossen hielt, die verworrenen rosa-orange Muster beobachtete, die sich vor ihren Augenlidern entfalteten. Nun sitzt sie wieder auf dem Balkon, aber die Sonne ist nicht da, die liebliche, strahlende Wärme ist nicht da, nur die wärmende Tasse in ihren Händen, und der Tee wird schneller kalt, als es ihr lieb ist. Eine Windbö verfängt sich in ihrem offenen Haar, sie stellt die Tasse ab, zieht den Morgenmantel enger um sich, vergräbt die Zehen in den Pantoffeln. Aber es hilft nicht wirklich, sie fröstelt. Sie denkt, dass das sommerliche Gefühl von letzter Woche doch trügerisch war, so wie alles im Leben trügerisch ist. Sie denkt, dass sie das gestern kaum hätte vorhersehen können, dass es heute so unangenehm wird. Dann nimmt sie die Teetasse wieder vom Tisch in die Hand, trinkt den Rest vom inzwischen lauwarmen Tee auf einmal aus, obwohl sie es hasst, ihn so schnell hinunterzuspülen, so als wäre es nur Wasser und keine jahrhundertealte Tradition. In der Teekanne müsste noch eine Portion sein, und nun hofft sie, dass die Kanne die Wärme besser behalten hat als die dünnwandige Tasse. Sie stellt die Tasse zurück auf das silbrig glänzende Tablett, steht auf, macht die Balkontür wieder auf, nimmt das Tablett in beide Hände, geht in die Wohnung hinein. Drinnen ist es wärmer und trockener. Hier kann sie noch eine Tasse trinken, bevor der Tag beginnt.
1 note
·
View note
Text
Versuch #843: Teezeit
Sie setzt sich mit einer Tasse Ostfriesentee auf den Balkon. Sie trinkt diesen Tee, seitdem sie vierzehn ist, als sie mit ihren Eltern auf Wangerooge Urlaub gemacht hat, dort fand sie die Teezeremonie so "putzig" (es ist damals ihr Lieblingswort gewesen), dass sie das auch zu Hause immer gemacht hat, für die ganze Familie, in dem Teeservice ihrer Großmutter. Auch jetzt trinkt sie den Tee aus der gleichen Tasse wie damals, sie hat das ganze Service geerbt, cremeweiß mit rosa Blumen darauf und natürlich Goldrand. Die Tassen wäscht sie immer noch von Hand, und sie hat noch keine einzige zerbrochen, auch wenn sie nicht alle nutzt - strenggenommen nutzt sie fast immer die gleiche Tasse, die sie nach dem Teetrinken abspült und zurückstellt, zu den anderen fünf, die so feierlich auf ihren zarten Untertassen stehen. Auch das Milchkännchen nutzt sie jedes Mal, gießt eine kleine Menge Milch hinein, stellt es neben die Tasse und die Teekanne und die Zuckerdose, aus der ein verzierter Teelöffel herausragt, auf das Tablett, nimmt das alles mit auf den Balkon, wo sie dann erst den Kandiszucker in die Tasse gibt, dann den schwarzen Tee darüber gießt und dabei auf das leise Knacken der Zuckersteinchen hört, während sie kleine Risse bekommen. Dann setzt sie sich hin, gießt noch ein Milch-Wölkchen in den Tee hinein, lässt ihn so stehen und ein wenig abkühlen, schaut auf die Straße unter dem Balkon, auf der immer irgendjemand irgendwohin eilt. Sie eilt nicht, sie nimmt die Tasse ganz langsam in die Hand, erinnert sich ganz kurz und verschwommen an den immer länger zurückliegenden Urlaub von damals. Der Tee ist stark, bitter und süß gleichzeitig, überhaupt so geschmackvoll, dass sie das niemals beschreiben könnte. Die Tasse landet mit einem leisen Klimpern auf der Untertasse, die Kandis-Kristalle lösen sich langsam auf.
1 note
·
View note
Text
Versuch #842: Müde
Er ist so müde von der Woche, obwohl er nur drei Tage gearbeitet hat, und auch diese drei Tage nur mittelmäßig, hat sich ins Büro geschleppt, um dort möglichst langsam umherzuwandern und möglichst lange auf den Bildschirm zu starren. Aber er ist da gewesen, hat zwischendurch auf die Anfragen seines Vorgesetzten reagiert, hat für eine Kollegin Kaffee mitgebracht, hat mit einer anderen aus den bodenlangen Fenstern im sechzehnten Stock auf die Straße geschaut, um irgendeine Demonstration zu beobachten.
Jetzt sind die drei Arbeitstage vorbei, und ein langes Wochenende liegt vor ihm, ein Wochenende, für das er absolut keine Pläne hat, weil er so müde ist, so müde von den Plänen und Aufgaben und Telefonaten und Vorbereitungen.
Er weiß nicht, warum er so müde ist, es kommt ihm vor, als wäre es schon immer so gewesen, als wäre es einfach Teil seiner Persönlichkeit, abends erschöpft auf dem Sofa einzuschlafen, während im Fernseher noch die neueste Staffel von wie-hieß-diese-Serie-nochmal läuft. Er weiß nicht, warum er so müde ist, dabei ernährt er sich doch ganz gut, macht Sport, geht ins Fitnessstudio, trifft sich freitags mit Freunden. Der Arzt hat nur mit den Schultern gezuckt, "die Werte sind alle in Ordnung", hieß es. Und wenn die Werte in Ordnung sind, so ist es vielleicht einfach der Normalfall, und es sind vielleicht alle so müde wie er, vielleicht ist es das Alter. Aber alt ist er noch nicht, er ist noch nicht einmal vierzig, und er kann sich an seine Eltern erinnern, als sie vierzig waren - die waren keinesfalls so müde wie er, die hatten doch das Haus und den Garten und den Skat-Verein, und jeden dritten Tag fuhren sie ihre älteren Verwandten besuchen, Tanten und Großonkel und sonst wen.
Er liegt auf dem Sofa im Wohnzimmer, so wie er bis gerade eben auf dem Bett im Schlafzimmer gelegen hat, versucht, sich aufzuraffen. Wollte er nicht den freien Tag nutzen, um endlich aufzuräumen? Das Bad sieht schon ganz schlimm aus, und über dem Fensterrahmen ist Schimmel an der Wand, und das Bücherregal müsste wieder aussortiert werden, und der Kleiderschrank quillt über vor Sachen, die er sowieso nie tragen wird... Und doch bleibt er einfach auf dem Sofa liegen, schaut aus dem Fenster, beobachtet die strahlend grünen Blätter der Birke vor dem Fenster. Noch fünf Minuten. Oder zehn.
3 notes
·
View notes
Text
Versuch #841: Frühlingsabend
Obwohl es tagsüber warm, zu warm war, wird es am Abend kalt. Es weht kein Wind, aber die Luft kühlt sich ab, sobald die Sonne verschwindet, und sogar vorher schon, als die Sonne noch da war, wurde es kalt, sobald man in die länger werdenden Schatten der Häuser trat. Jetzt ist es wirklich kalt, einstellig, und umso kälter, weil es tagsüber fast zwanzig Grad gewesen ist, und der Körper sich daran gewöhnt hat. Dafür hat die Luft eine angenehme Frische, sie duftet nach Flieder und Apfelblüte, nicht so stark wie tagsüber, sondern nur ganz leicht, eine Erinnerung daran, dass es Frühling ist.
Es ist noch nicht dunkel, die Sonne ist gerade eben untergegangen, vielleicht ist sie noch nicht einmal untergegangen, sondern hat sich nur ganz knapp über dem zugebauten Horizont versteckt, aber nein, dafür haben sich die Farben zu sehr verändert, der Himmel ist seltsam durchsichtig geworden, durchsichtig und mit einem Hang zum Violetten, eine Konstellation, die man nur zwei Mal am Tag sieht, abends kurz nach dem Sonnenuntergang und morgens kurz vor dem Sonnenaufgang. Es ist also noch ganz hell, obwohl die Dunkelheit schon in den Ecken lauert, langsam aus dem Gebüsch und von der Nordseite der Häuser her herausfließt.
Eine Amsel fliegt von einem Baum auf, setzt sich auf einen anderen, fängt an zu singen, laut, mit Überzeugung, von weitem sichtbar, ein schwarzer Vogel gegen den hellen, leicht violetten Himmel. Auf der anderen Straßenseite, noch etwas weiter weg, sitzt irgendwo eine Nachtigall im Gebüsch, im Gegensatz zur Amsel vollkommen unsichtbar, dafür umso lauter. Sie wird die ganze Nacht singen, lange nachdem die Amsel mit einem aufgeregten Schnattern wegfliegt, um sich irgendwo zum Schlafen zu verstecken. Wie immer fängt die Nachtigall mit mehreren melancholisch gezogenen Pfeiftönen an, bevor es plätschert, sich kräuselt, dahinrieselt. Es passt zu der kaltwerdenden Luft, es passt zu den immer dunkler werdenden Farben. Die Nachtigall wird noch lange singen, wird sich von nichts davon abhalten lassen, weder von der lauten Straßenbahn, die polternd die Straße entlang fährt, noch von den Menschengruppen, die von den Samstagspartys nach Hause taumeln.
1 note
·
View note