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Hemmingsteins Morgengeschreibsel
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Eine Kaffeetasse voll Geschichten, Gedanken, Getippe.
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morgengeschreibsel · 7 hours ago
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Versuch #848: Das Café am Strand (4)
Als er nach Hause kommt, ist es spät am Abend. Seine Schicht diese Woche ist bis "open end", aber es ist ein Donnerstag, und außerdem ist es mit Sonnenuntergang richtig kalt geworden, also haben sie kurz nach neun zugemacht. Er hat die leeren Flaschen eingesammelt und in die Pfand-Kisten gesteckt, hat die Gläser mit den langsam schmelzenden Eiswürfeln auf ein Tablett gestapelt und in die Küche gebracht, hat die Liegen abgeklopft, den Sand vom gepflasterten Gehweg gefegt, die Kaffeemaschine ausgeschaltet, sich von den anderen beiden verabschiedet, die noch da geblieben sind, weil sie als Festangestellte für das Abschließen zuständig waren. Dann hat er sich auf sein Fahrrad gesetzt und ist den schlecht beleuchteten Weg in die Stadt gefahren.
Jetzt sitzt er in seiner kleinen Wohnung, wärmt seine vom Fahrradfahren kalt gewordenen Finger auf, fragt sich, was er jetzt noch machen soll. Er will noch nicht schlafen, dafür ist es ihm zu früh, er würde dann auch viel zu früh aufwachen, und seine morgige Schicht wird auch "open end" sein, wobei das am Freitag wirklich spät werden kann, und er will nicht durchhängen. Deswegen geht er in den Eingangsbereich zurück, klopft seine Schuhe nochmal richtig aus, sieht einen kleinen Sandsturm dabei aufsteigen, zieht die Schuhe nochmal an, geht auf die Straße. Es ist kühl, aber nicht kalt, und er weiß, dass es sich wärmer anfühlen wird, wenn er schneller läuft. Er geht los, ohne zu viel nachzudenken. Hier sind die Straßen hell beleuchtet, nicht so jämmerlich wie unten am Fluss, wo das Strandcafé liegt, und überall gibt es leuchtende Werbeplakate und neonfarben blinkende "Open"-Schriftzüge. Er hat kein bestimmtes Ziel, er läuft einfach ziellos umher, mitten durch die Innenstadt, immer den hellsten Schildern nach. So wie er auch lebt - einfach von Schild zu Schild, von Tag zu Tag, ohne zu viel nachzudenken. Er versucht, zu berechnen, wie viel Geld er heute verdient hat, und für wie lange das reichen würde, wenn er es sparsam ausgeben würde. Eine Woche? Wohl kaum. Dann versucht er, zu berechnen, wie viel Geld er bis Oktober verdient haben wird, wie viel er ausgegeben haben wird, und ob das über den Winter reicht. Aber er schafft es nie auf mehr als zwei zusammenhängende Gedanken, bevor das nächste leuchtende Schild ihn herausreißt, also gibt er es auf und läuft einfach weiter, biegt ab, läuft geradeaus, immer den Straßenlaternen nach. Auch wenn es ein kalter Donnerstagabend ist, ist auf den Straßen viel los, aber die anderen scheinen im Gegensatz zu ihm zielgerichtet zu laufen, von Bar zu Bar zu ziehen, irgendeinen vorausgeplanten Weg zu verfolgen. Das findet er witzig und lächelt leicht. Er verfolgt nie einen vorausgeplanten Weg, nicht, wenn er es verhindern kann. Sein Weg muss zufällig sein, damit er sich davon nicht eingeengt und eingepfercht fühlt.
Eine Stunde zieht er ziellos umher, dann kommt er wieder zu Hause an, läuft die Treppe hoch, zieht die Schuhe aus, spürt den Sand, den er vorher ausgeklopft hat, durch die Socken hindurch. Was für ein Leben, denkt er, dann geht er ins Bad, um zu duschen.
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morgengeschreibsel · 1 day ago
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Versuch #847: Das Café am Strand (3)
Er hat nicht vor, für immer in diesem Strandcafé zu bleiben, auch wenn es jetzt schön ist, sonnig und mit leichter Brise vom Fluss, den man von diesem Fake-Strand aus nicht sehen kann. Es riecht nach Waffeln vom Eisstand, und im dichten Gebüsch hinter dem Café zwitschern Vögel, so laut, dass sie alles andere übertönen. Ja, jetzt ist es schön hier, jetzt gefällt es ihm, hier zu arbeiten, aber vermutlich wird es schon im Herbst ungemütlich werden, er kann sich nicht vorstellen, dass die Gäste, die jetzt die Beine in den Liegestühlen ausstrecken, auch im Winter kommen werden. Er weiß gar nicht, ob das Café im Winter überhaupt offen haben wird, ihm ist es gar nicht eingefallen, danach zu fragen - bis zum Winter wird er sich etwas anderes gesucht haben, etwas wo man drinnen arbeitet und nicht die Gläser und Flaschen der Gäste zwischen den Liegen im Sand einsammeln muss.
Er weiß auch, dass er nicht sein ganzes Leben von Job zu Job ziehen können wird. Irgendwann wird er sich etwas suchen müssen, bei dem er Krankengeld bekommt und Urlaubstage hat, etwas, wo er nicht spontan an jedem Tag der Woche zu jeder Zeit einspringen können muss. Vielleicht wird er sich etwas in einem Büro suchen, etwas, wo er einen eigenen Schreibtisch haben wird. Ein Mal hat er sich für einen Telefon-Hotline-Job beworben, da hätte er auf jeden Fall einen Schreibtisch gehabt. Wäre das nicht etwas für den kommenden Winter?
Aber darüber wird er im Herbst nachdenken, wenn es nicht von Tag zu Tag wärmer wird, sondern kälter, wenn die Sonne nicht mehr jeden Tag etwas später untergeht und die Abende nicht mehr endlos scheinen. Jetzt will er noch nicht einmal daran denken, in einem Büro zu sitzen und sich von unzufriedenen Kunden durch ein Headset volllabern zu lassen. Er will lieber daran denken, einen möglichst guten Latte Macchiato hinzubekommen, nicht nur mit einem Herzchen oder einem Blattmuster auf dem Milchschaum, sondern mit etwas Ausgefallenerem. Wenn am Tresen mal wieder nichts los ist, schaut er sich bei YouTube Videos an - ein Drache oder eine Katze als Latte Art, das wäre doch lustig. Und was er den Winter über machen wird - darüber wird er im Oktober nachdenken.
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morgengeschreibsel · 3 days ago
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Versuch #846: Das Café am Strand (2)
Er erinnert sich nicht gern an seine Kindheit und Jugend. Jetzt, mit vierundzwanzig, erzählt er natürlich die lustigen Geschichten auf Partys - wie er mit Kumpels in irgendwelche leerstehenden Garagen eingebrochen war, wie er einen Hund aus einem halbgefrorenen Teich gerettet hatte, wie der komische alte Mann besoffen auf dem Rasen den Häusern gedroht hatte, alles in die Luft zu sprengen und eine Granate aus Wehrmacht-Zeiten in der Hand hielt. Die Granate ging nicht in die Luft, der Alte wurde von der Polizei zum nächsten Krankenhaus gefahren, aus dem er nie wieder zurückkehrte, der Hund starb an Unterkühlung, in den Garagen gab es nur alten Krempel, den man nicht mal als Altmetall verkaufen konnte.
Jetzt sind es alles nur halb vergessene, ausgeschmückte Geschichten, damals war es sein Leben. Er lief durch die Straßen der Siedlung, um die Werbeprospekte in die Briefkästen einzuwerfen, allein gegen den zwischen den Häusern säuselnden Wind, dachte über die Schule nach, über das eine Mädchen aus der Parallelklasse, mit dem roten Top beim Sportunterricht. Alles war deprimierend, aussichtslos, die Schulstunden genauso wie die Wochenenden, das Draußen genauso wie das Innenleben des Hauses, in dem er mit seinen Eltern lebte.
Jetzt ist alles anders. Jetzt geht er gutgelaunt zu dem Strandcafé, nicht nur weil er muss, nicht nur um seine Miete zu bezahlen, so wie er damals mit den miesen Werbeprospekten das Geld für Zigaretten verdiente, nein, er geht zum Strandcafé, weil die Kollegen nett sind, weil es mehr Spaß macht, den Duft vom frischen Kaffee einzuatmen, als den vom mit Käse überbackenen Schweinefleisch beim Griechen, wo er vorher gearbeitet hat, auch viel mehr Spaß macht, als Laufschuhe an ambitionierte Freizeitjogger zu verkaufen oder O2-Internet-Verträge an alleinstehende Rentnerinnen. Er geht zum Strandcafé, lässt sich als erstes von einem Kollegen einen Espresso machen, zieht dann die Schürze an, trinkt den Espresso auf einmal aus, stellt sich dann hinter die Theke, immer gut gelaunt, immer ausgeschlafen. Er denkt nicht mehr an seine Vergangenheit, nicht, wenn er es verhindern kann.
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morgengeschreibsel · 4 days ago
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Versuch #845: Das Café am Strand
Er findet es grundsätzlich witzig, in einem Café zu arbeiten, das eine Strandbar sein will, obwohl der Fluss einige Hundert Meter entfernt ist. Irgendwie gefällt ihm der Gedanke, dass jemand sich vor Jahren gedacht hat, es wäre eine gute Idee. Eigentlich ist es eine gute Idee, es kommen viele Leute vorbei, holen sich eine Rhabarber-Schorle, setzen sich in die Liegestühle, die überall verteilt im Sand stehen. Bei Sonnenschein wird es schnell voll, auch wenn es kalt ist, und erst recht, wenn es warm ist - und das obwohl man das Wasser vom Café aus nicht einmal sieht.
Er denkt, es wäre noch witziger, wenn sie einen Pool hätten, und wenn sie eine richtige Cocktailbar hätten, nicht nur eine Kaffeemaschine und einen Kühlschrank für Bier und Wein. Er kann es sich gut vorstellen, wie er dann im Sommer von der Theke aus den Pool beobachtet, an dem Frauen in Bikinis sitzen und Sex on the Beach mit Schirmchen in den Händen halten. Aber bis die Besitzer des Cafés so etwas umsetzen, ist er schon lange weg.
Er hat natürlich nicht vor, sein Leben lang hier zu arbeiten, auch wenn es nett ist und er, wenn er zu Hause ist, manchmal den Sand aus den Schuhen ausklopft und dabei lächelt. Er wird sich schon etwas anderes finden, er findet immer etwas anderes, und das hier muss schon sein zehnter oder fünfzehnter Job sein, obwohl er erst vierundzwanzig ist. Nach ein paar Monaten wird ihm meist langweilig, etwas geht ihm auf die Nerven, und er sucht sich etwas Neues. Sein allererster Job war an der Tankstelle einige Straßen vom Haus seiner Eltern entfernt, dort putzte er nach der Schule die Autos, dann trug er nebenbei noch Zeitungen aus, räumte Regale im Supermarkt ein, ging mit dem Hund des Hausarztes Gassi... Wobei das natürlich keine richtigen Jobs waren, es gab meist keinen Arbeitsvertrag und das Geld hat er am Ende des Tages auf die Hand bekommen. Für einen Schuljungen war das ein sehr erwachsenes Gefühl.
Aber hier im Café am Fake-Strand, wie er es im Kopf nennt, fühlt er sich viel besser, als in dem griechischen Restaurant von vor drei Monaten. Manchmal nimmt er nach seiner Schicht auch eine Flasche Radler aus dem Kühlschrank und setzt sich auf einen der Liegestühle, zieht die Schuhe aus und vergräbt die Zehen in dem Sand. Wenn es hier bloß auch noch einen Pool gäbe...
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morgengeschreibsel · 5 days ago
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Versuch #844: Teezeit (2)
Es sieht aus, als würde es regnen, aber es wird nicht regnen, so sah es gestern schon aus - graue Wolken, drückende Luft, aufkommender Wind. Aber gestern regnete es nicht, also wird es auch heute nicht regnen, es wird nur ungemütlich werden, der Wind wird um sich schlagen, wird am Ende die Wolken wegtreiben, bevor sie sich abregnen können.
Das denkt sie sich, während sie auf dem Balkon sitzt, ihre Teetasse in der Hand. Sie hat ihren Morgenmantel an, den, den sie im Winter trägt, aus hellblauem dicken Stoff, der sich anschmiegsam um ihre Schultern legt. Eigentlich wollte sie ihn schon nach dem letzten Waschen wegräumen, dafür den sommerlich-leichten aus dem Schrank an den Haken hinter der Schlafzimmertür hängen, tat es aber nicht, und ist heute froh darüber. Seltsam, wie warm es letztes Wochenende war, als sie genauso teetrinkend auf dem Balkon saß, im gleichen Morgenmantel, nur dass es viel wärmer war, nur dass die Sonne schien, so hell, dass sie die Augen die meiste Zeit geschlossen hielt, die verworrenen rosa-orange Muster beobachtete, die sich vor ihren Augenlidern entfalteten. Nun sitzt sie wieder auf dem Balkon, aber die Sonne ist nicht da, die liebliche, strahlende Wärme ist nicht da, nur die wärmende Tasse in ihren Händen, und der Tee wird schneller kalt, als es ihr lieb ist. Eine Windbö verfängt sich in ihrem offenen Haar, sie stellt die Tasse ab, zieht den Morgenmantel enger um sich, vergräbt die Zehen in den Pantoffeln. Aber es hilft nicht wirklich, sie fröstelt. Sie denkt, dass das sommerliche Gefühl von letzter Woche doch trügerisch war, so wie alles im Leben trügerisch ist. Sie denkt, dass sie das gestern kaum hätte vorhersehen können, dass es heute so unangenehm wird. Dann nimmt sie die Teetasse wieder vom Tisch in die Hand, trinkt den Rest vom inzwischen lauwarmen Tee auf einmal aus, obwohl sie es hasst, ihn so schnell hinunterzuspülen, so als wäre es nur Wasser und keine jahrhundertealte Tradition. In der Teekanne müsste noch eine Portion sein, und nun hofft sie, dass die Kanne die Wärme besser behalten hat als die dünnwandige Tasse. Sie stellt die Tasse zurück auf das silbrig glänzende Tablett, steht auf, macht die Balkontür wieder auf, nimmt das Tablett in beide Hände, geht in die Wohnung hinein. Drinnen ist es wärmer und trockener. Hier kann sie noch eine Tasse trinken, bevor der Tag beginnt.
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morgengeschreibsel · 6 days ago
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Versuch #843: Teezeit
Sie setzt sich mit einer Tasse Ostfriesentee auf den Balkon. Sie trinkt diesen Tee, seitdem sie vierzehn ist, als sie mit ihren Eltern auf Wangerooge Urlaub gemacht hat, dort fand sie die Teezeremonie so "putzig" (es ist damals ihr Lieblingswort gewesen), dass sie das auch zu Hause immer gemacht hat, für die ganze Familie, in dem Teeservice ihrer Großmutter. Auch jetzt trinkt sie den Tee aus der gleichen Tasse wie damals, sie hat das ganze Service geerbt, cremeweiß mit rosa Blumen darauf und natürlich Goldrand. Die Tassen wäscht sie immer noch von Hand, und sie hat noch keine einzige zerbrochen, auch wenn sie nicht alle nutzt - strenggenommen nutzt sie fast immer die gleiche Tasse, die sie nach dem Teetrinken abspült und zurückstellt, zu den anderen fünf, die so feierlich auf ihren zarten Untertassen stehen. Auch das Milchkännchen nutzt sie jedes Mal, gießt eine kleine Menge Milch hinein, stellt es neben die Tasse und die Teekanne und die Zuckerdose, aus der ein verzierter Teelöffel herausragt, auf das Tablett, nimmt das alles mit auf den Balkon, wo sie dann erst den Kandiszucker in die Tasse gibt, dann den schwarzen Tee darüber gießt und dabei auf das leise Knacken der Zuckersteinchen hört, während sie kleine Risse bekommen. Dann setzt sie sich hin, gießt noch ein Milch-Wölkchen in den Tee hinein, lässt ihn so stehen und ein wenig abkühlen, schaut auf die Straße unter dem Balkon, auf der immer irgendjemand irgendwohin eilt. Sie eilt nicht, sie nimmt die Tasse ganz langsam in die Hand, erinnert sich ganz kurz und verschwommen an den immer länger zurückliegenden Urlaub von damals. Der Tee ist stark, bitter und süß gleichzeitig, überhaupt so geschmackvoll, dass sie das niemals beschreiben könnte. Die Tasse landet mit einem leisen Klimpern auf der Untertasse, die Kandis-Kristalle lösen sich langsam auf.
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morgengeschreibsel · 8 days ago
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Versuch #842: Müde
Er ist so müde von der Woche, obwohl er nur drei Tage gearbeitet hat, und auch diese drei Tage nur mittelmäßig, hat sich ins Büro geschleppt, um dort möglichst langsam umherzuwandern und möglichst lange auf den Bildschirm zu starren. Aber er ist da gewesen, hat zwischendurch auf die Anfragen seines Vorgesetzten reagiert, hat für eine Kollegin Kaffee mitgebracht, hat mit einer anderen aus den bodenlangen Fenstern im sechzehnten Stock auf die Straße geschaut, um irgendeine Demonstration zu beobachten.
Jetzt sind die drei Arbeitstage vorbei, und ein langes Wochenende liegt vor ihm, ein Wochenende, für das er absolut keine Pläne hat, weil er so müde ist, so müde von den Plänen und Aufgaben und Telefonaten und Vorbereitungen.
Er weiß nicht, warum er so müde ist, es kommt ihm vor, als wäre es schon immer so gewesen, als wäre es einfach Teil seiner Persönlichkeit, abends erschöpft auf dem Sofa einzuschlafen, während im Fernseher noch die neueste Staffel von wie-hieß-diese-Serie-nochmal läuft. Er weiß nicht, warum er so müde ist, dabei ernährt er sich doch ganz gut, macht Sport, geht ins Fitnessstudio, trifft sich freitags mit Freunden. Der Arzt hat nur mit den Schultern gezuckt, "die Werte sind alle in Ordnung", hieß es. Und wenn die Werte in Ordnung sind, so ist es vielleicht einfach der Normalfall, und es sind vielleicht alle so müde wie er, vielleicht ist es das Alter. Aber alt ist er noch nicht, er ist noch nicht einmal vierzig, und er kann sich an seine Eltern erinnern, als sie vierzig waren - die waren keinesfalls so müde wie er, die hatten doch das Haus und den Garten und den Skat-Verein, und jeden dritten Tag fuhren sie ihre älteren Verwandten besuchen, Tanten und Großonkel und sonst wen.
Er liegt auf dem Sofa im Wohnzimmer, so wie er bis gerade eben auf dem Bett im Schlafzimmer gelegen hat, versucht, sich aufzuraffen. Wollte er nicht den freien Tag nutzen, um endlich aufzuräumen? Das Bad sieht schon ganz schlimm aus, und über dem Fensterrahmen ist Schimmel an der Wand, und das Bücherregal müsste wieder aussortiert werden, und der Kleiderschrank quillt über vor Sachen, die er sowieso nie tragen wird... Und doch bleibt er einfach auf dem Sofa liegen, schaut aus dem Fenster, beobachtet die strahlend grünen Blätter der Birke vor dem Fenster. Noch fünf Minuten. Oder zehn.
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morgengeschreibsel · 12 days ago
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Versuch #841: Frühlingsabend
Obwohl es tagsüber warm, zu warm war, wird es am Abend kalt. Es weht kein Wind, aber die Luft kühlt sich ab, sobald die Sonne verschwindet, und sogar vorher schon, als die Sonne noch da war, wurde es kalt, sobald man in die länger werdenden Schatten der Häuser trat. Jetzt ist es wirklich kalt, einstellig, und umso kälter, weil es tagsüber fast zwanzig Grad gewesen ist, und der Körper sich daran gewöhnt hat. Dafür hat die Luft eine angenehme Frische, sie duftet nach Flieder und Apfelblüte, nicht so stark wie tagsüber, sondern nur ganz leicht, eine Erinnerung daran, dass es Frühling ist.
Es ist noch nicht dunkel, die Sonne ist gerade eben untergegangen, vielleicht ist sie noch nicht einmal untergegangen, sondern hat sich nur ganz knapp über dem zugebauten Horizont versteckt, aber nein, dafür haben sich die Farben zu sehr verändert, der Himmel ist seltsam durchsichtig geworden, durchsichtig und mit einem Hang zum Violetten, eine Konstellation, die man nur zwei Mal am Tag sieht, abends kurz nach dem Sonnenuntergang und morgens kurz vor dem Sonnenaufgang. Es ist also noch ganz hell, obwohl die Dunkelheit schon in den Ecken lauert, langsam aus dem Gebüsch und von der Nordseite der Häuser her herausfließt.
Eine Amsel fliegt von einem Baum auf, setzt sich auf einen anderen, fängt an zu singen, laut, mit Überzeugung, von weitem sichtbar, ein schwarzer Vogel gegen den hellen, leicht violetten Himmel. Auf der anderen Straßenseite, noch etwas weiter weg, sitzt irgendwo eine Nachtigall im Gebüsch, im Gegensatz zur Amsel vollkommen unsichtbar, dafür umso lauter. Sie wird die ganze Nacht singen, lange nachdem die Amsel mit einem aufgeregten Schnattern wegfliegt, um sich irgendwo zum Schlafen zu verstecken. Wie immer fängt die Nachtigall mit mehreren melancholisch gezogenen Pfeiftönen an, bevor es plätschert, sich kräuselt, dahinrieselt. Es passt zu der kaltwerdenden Luft, es passt zu den immer dunkler werdenden Farben. Die Nachtigall wird noch lange singen, wird sich von nichts davon abhalten lassen, weder von der lauten Straßenbahn, die polternd die Straße entlang fährt, noch von den Menschengruppen, die von den Samstagspartys nach Hause taumeln.
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morgengeschreibsel · 13 days ago
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Versuch #840: Himmelblau
Der Himmel ist so schreiend hellblau, dass man es nicht glauben kann. Es ist ein besonderes Blau, sehr hell und doch nicht milchig, nicht trübe, wie im Hochsommer. Aber transparent ist es auch nicht, es fehlt an Tiefe, an Durchsichtigkeit, es ist nicht so, wie in einer Winternacht, in der man zum schwarzen Himmel schaut und das Gefühl hat, das ganze Weltall zu sehen, mit Hunderttausenden von Sternen, die Milliarden Kilometer weit weg sind. Nein, der Himmel im Frühling fühlt sich an, als hätte ihn jemand auf Karton mit Deckfarbe gemalt, gleichmäßig hellblau, ohne Abweichungen oder Abstufungen, alles exakt gleich hell, gleich blau, wie Vergissmeinnicht-Blüten.
Vor dem hellblauen Himmel wachsen sattgrüne Blätter, stehen ziegelrote Dächer, fliegen zitronengelbe Schmetterlinge. Aber das Blau des Himmels stört es nicht, es bleibt unveränderlich, nur die Sonne macht es heller, als sie sich immer höher zieht, und nur, wenn man sich ins Gras legt und nach oben sieht, merkt man, dass die Farbe des Himmels doch Abstufungen hat, zur Mitte, zur Sonne viel heller wird, und zum Rand, zum Horizont leicht dunkler, doch den Unterschied merkt man nur, wenn man sich Mühe gibt, wenn man sich die Zeit nimmt.
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morgengeschreibsel · 18 days ago
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Versuch #839: Allein sein
Es war nicht so, dass Jana es sich ernsthaft vorgenommen hatte, sich nicht mehr zu verlieben. Aber nach den letzten drei Beziehungen - jede von ihnen nach etwa anderthalb Jahren beendet, wegen "unüberbrückbaren Differenzen", wie Janas alberne Freundin Susi sagte - dachte sie, dass es besser für sie wäre, sich nicht zu verlieben. Sie löschte die drei Dating-Apps, installierte stattdessen eine Meditationsapp und ging wieder jeden zweiten Tag ins Fitnessstudio, weil sie so gern Pilates machte. Am Wochenende traf sich mit Freunden, wobei das eher selten geschah, weil sie alle mit irgendwelchen Pärchen-Aktivitäten beschäftigt waren. Dann traf sie sich mit Arbeitskollegen, bis ihr auffiel, dass fast alle in ihrer Abteilung jünger als sie waren und dazu alleinstehende Männer. Sie überlegte, einem Verein beizutreten, aber sie hatte keine passenden Interessen, konnte weder singen noch stricken noch Pflanzen züchten. Also verbrachte sie einen Großteil ihrer Wochenenden doch wieder allein, mit Putzen, Lesen, Sport, Fernsehen. Es war nicht schlimm, es waren alles gute Beschäftigungen, Jana erfreute sich an ihrer sauberen Küche und konnte in der Mittagspause die Bemerkung fallen lassen, dass sie das im Feuilleton der im Café ausliegenden FAZ besprochene Buch ja schon zur Hälfte gelesen hatte, woraufhin der Abteilungsleiter, mit dem sie alle paar Monate zum Mittag verabredet war, verstreut nickte.
Jana hatte ein schönes Leben, alles war genau so, wie sie sich das als kleines Mädchen vorgestellt hatte, bis auf die Tatsache, dass es keinen Prinzen darin gab. Doch die erwachsene Jana wusste im Gegensatz zu dem kleinen Mädchen, dass Prinzen grundsätzlich schwierig zu finden und im Allgemeinen gar nicht so zauberhaft waren, komische Hobbys hatten, sich nicht auf irgendetwas festlegen wollten, sich bei den Familienfeiern dumm anstellten, ihren Geburtstag vergaßen, sinnlose Fahrrad-Touren als gute Urlaubsideen und Wurstbrot als geeignetes Abendessen betrachteten...
Nein, es war nicht so, dass Jana es sich vorgenommen hatte, sich nicht mehr zu verlieben, und doch konnte sie es sich nicht vorstellen, es jemals wieder zu tun.
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morgengeschreibsel · 20 days ago
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Versuch #838: Bis dass der Tod uns...
Er schleppt den großen blauen Müllsack zum Container. Er weiß, dass er das ganze Zeug hätte sortieren sollen, dass er es sogar hätte verkaufen sollen. Vieles von dem, was er gerade im Begriff ist, wegzuwerfen, ist nicht wirklich Müll, eigentlich sogar das meiste.
Immerhin hat er die alten Dokumentenordner zum Papiermüll gebracht und nicht einfach in den Restmüll-Container geworfen. Es ist alles dabei gewesen, Briefe und Kontoauszüge, Büro-Notizbücher und Kalender, Fotoalben, alles durcheinander. Er hätte es schreddern können, hat aber beschlossen, dass es egal ist, dass jetzt alles egal ist. Die Bücher, die er aus dem Regal genommen hat, hat er nicht in den Papier-Container gelegt, sondern daneben. Jetzt, wo er mit dem großen blauen Müllsack zum Container läuft, kann er sehen, dass der Stapel schon kleiner geworden ist, dass jemand schon etwas davon mitgenommen hat. Vermutlich würde es auch mit dem anderen Müll passieren, und jemand könnte das alles noch nutzen. Aber das ist ihm egal, er hat den ganzen Rest - CDs, Bilderrahmen, Kugelschreiber, Teller, einen Koffer, einen Locher, Kerzenständer - in mehrere große Müllsäcke gepackt und weggeworfen. Jetzt schleppt er den letzten davon zum Container.
Als Nächstes wird er sich dem Kleiderschrank widmen, er wird unzählige T-Shirts, Hemden, Hosen, Schlipse, Schuhe in die blauen Müllsäcke packen und sie zum Altkleider-Container um die Ecke schleppen. Wie viel Zeug man im Laufe eines Lebens doch ansammelt, wie wenig man davon wirklich braucht, wie wenig davon einem wirklich im Leben hilft.
Monika, eine Freundin, hat ihn vor einer Stunde am Telefon herzlos genannt, als er ihr erzählt hat, dass er die Wohnung ausräumt. "Nur eine Woche nach der Beerdigung!", hat sie entsetzt ausgerufen. Sie hat es nicht verstanden, hat es nicht eingesehen, dass ihn das alles an Julian erinnert, und dass jede Erinnerung so schmerzhaft ist, dass er kaum atmen kann, dass er die Wohnung kaum betreten kann, ohne zusammenzubrechen.
Bis gestern tat die Wohnung noch so, als wäre sie immer noch ihre gemeinsame Wohnung, aber es stimmte nicht, seit zwei Wochen war es eine dreiste Lüge, seit zwei Wochen war sie nicht mehr ihre gemeinsame Wohnung, seit zwei Wochen lebte er allein in ihr. Bis gestern, nein, bis heute früh standen noch überall Julians Sachen - seine Bücher, seine CDs, seine Lieblingstasse, die Postkarten von Freunden. Die Luft roch noch nach Julian, nach dem Hugo-Boss-Parfüm, das immer noch im Badezimmer-Schrank stand. Das jetzt nicht mehr dort steht.
Bis gestern sah alles wie immer aus, und jedes Mal, wenn sein Blick auf etwas von Julian traf, dachte er für einen Moment, alles wäre wie immer, bis er sich dann erinnerte, dass Julian tot war und nicht nach Hause kommen würde.
Also hat er sich am Morgen in die Wohnung gestellt, die großen blauen Müllsäcke unter der Spüle hervorgeholt, und alles hineingepackt. Nur wenige Sachen hat er behalten - Julians Tagebücher, in die er vielleicht in einigen Jahren, vielleicht nie hineinschauen würde, Julians Lieblingskrawatte, die er ihm vor fünf Jahren zum Geburtstag geschenkt hat, Julians Zeichnungen, die jetzt in einer Mappe im Bücherregal stehen, das eine Buch, das auf Julians Nachttisch gelegen hat. Er muss es am Abend gelesen haben, bevor er am Morgen wie immer viel zu früh aufstehen und zur Arbeit fahren musste, und dann den abbiegenden LKW nicht gesehen hat...
Er hält die Tränen zurück, er weiß, dass er es schaffen kann. Methodisch fängt er oben im Kleiderschrank an, bei den drei Wintermänteln, von denen Julian immer nur den grauen getragen hat, die anderen aus Sentimentalität behalten hat. Als er im unteren Schubfach ankommt, dem mit den Sportsachen, fragt er sich, wie lange Julian wohl gewartet hätte, bevor er den anderen Kleiderschrank, den anderen Arbeitstisch abgeräumt hätte? Zwei Wochen? Vier? Ein Jahr?
Er atmet durch, dann reißt er den nächsten Müllsack von der Rolle ab.
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morgengeschreibsel · 21 days ago
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Versuch #837: Bewegungslos
Die Zeit verfließt, Sekunden werden zu Minuten, Minuten zu Viertelstunden, dann zu ganzen Stunden. Das Leben lässt sich nicht anhalten, aber es lässt sich vertrödeln, wenn man doch im Bett liegen bleibt, statt aufzustehen. Erst ist es kurz vor neun, dann um, viertel nach, halb zehn, zehn... Die Abschnitte, in die wir die Zeit einteilen, verlieren an Bedeutung, wenn man einfach im Bett liegen bleibt, beobachtet, wie das gleichmäßige Grau im Fenster gleichmäßig heller wird, wie die kühle Luft aus dem offenen Fenster die warme, stickige, verbrauchte ersetzt. Man kann sich sogar einbilden, man würde es sehen, wie die Luft direkt am Fenster leicht flimmert. Dieses Flimmern lässt mit der Zeit nach, und nach einer halben - einer ganzen? - Stunde ist die Luft im Zimmer vollkommen ausgewechselt, so frisch, dass es in der Nase beim Einatmen kribbelt. Aber auch dieses Gefühl hilft nicht gegen das Verrinnen der Zeit, gegen das Sich-Fallen-Lassen in die Gedankenlosigkeit, gegen das betäubte Betrachten der Dellen und Hügel auf der Raufasertapete an der Decke. Die Zeit verfließt, und irgendwo tun schwer beschäftigte Menschen etwas, das sie für wichtig halten, während man selbst im Bett liegt, nichts für wichtig hält und demzufolge auch nichts tut. Sekunden werden zu Minuten und Stunden, und man muss aufpassen, dass aus den Stunden nicht ganze Tage werden, aber andererseits muss man das? Das gleichmäßige Grau im Fenster hellt sich auf, erreicht einen Höhepunkt, dann stumpft es wieder ab, wird dunkler. Ist in der Zwischenzeit etwas passiert? Bestimmt.
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morgengeschreibsel · 25 days ago
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Versuch #836: Backsteine
Die rostbraunen, an manchen Stellen fast schwarzen Backsteine findet Michael jeden Tag aufs Neue bedrückend. Als er in diesen Straßen aufwuchs, fand er das nicht schlimm, für ihn gehörten die Backsteine dazu, er konnte es sich gar nicht anders vorstellen, es war genauso selbstverständlich, sie zu sehen, wie für jemanden, der in Manhattan geboren war, anzunehmen, dass es gläserne Wolkenkratzer sind, die eine Stadt ausmachen. Erst jetzt, als Erwachsener, fühlt er die überwältigende Macht der Geschichte, findet die Straßen manchmal unerträglich dunkel und alt, voll von einer Vergangenheit, die er nicht kennt, nicht kennen will. Alles hier hat eine Bedeutung, die vielen Kirchtürme, der Marktplatz, das schiefe Stadttor. So viele Menschen sind an diesen Gebäuden vorbeigelaufen, mal unter der Last des Lebens gebeugt, mal voller Hoffnung. Michael weiß, dass es in jeder Stadt so ist, dass Geschichte überall passiert, in Hauptstädten und Dörfern gleichermaßen, dass jede Straße in jeder Stadt etwas zu erzählen hat, dass über jede Stadt auch etwas erzählt wurde. Und doch denkt er jeden Morgen, wenn er zur Arbeit geht, darüber nach, wer vor ihm diese Straßen entlang gelaufen ist, denkt über Kaufleute und Gesellen nach, über Pferdekutschen und Reiter aus vergangenen Jahrhunderten. Worüber wurde hier früher gesprochen? Welche Geschäfte wurden hier gemacht?
Er hat die Stadt nie länger als für ein paar Monate verlassen, er ist hier zur Schule gegangen, hat hier Fußball gespielt und mit dem Fahrrad das Umland erkundet, hat hier studiert, hat hier seine erste, zweite, fünfte Liebe gefunden. Natürlich ist er viel gereist, mit dem Rucksack durch Kroatien gewandert, durch Australien getrampt, hat den Karneval in Rio besucht. Aber jedes Mal ist er hierher zurückgekehrt, zu den dunklen Backsteinen, zu den verschnörkelten Gässchen, zu dem breiten Fluss, der die Innenstadt umspült. Warum?
Er erzählt sich, dass er keine heimatlichen Gefühle kennt, dass er es kleinlich findet, eine Ansammlung von Häusern und Straßen "meine Stadt" zu nennen, er würde nie einen Satz mit "Bei uns in..." anfangen, er kennt kein "uns", er fühlt sich nicht verbunden. Nein, jedes Mal, wenn er die schiefen Giebel sieht, will er nur seufzen, woanders hinschauen. Es hat sich so ergeben, dass er hier ist, er hätte genauso gut in jeder anderen Stadt auf der Welt sein können, es ist einfach nur Zufall. Aber warum ist er dann nie weggegangen?
Er stellt sich diese Frage, wenn er abends nach Hause läuft und die vollen Kneipen sieht, die Menschen auf den Straßen. Warum ist er nie weggegangen? Halten ihn nicht doch die alten Backsteine fest? Aber dann setzt er sich auf das Sofa in seiner Wohnung, lässt die Gedanken hinter sich, tut das, was Menschen abends eben so tun - Waschmaschine anstellen, ein Iglo-Schlemmerfilet in den Ofen schieben, das Foto von einem Fjord in Norwegen auf dem Kalenderblatt anschauen. Dann ist die Stadt ganz weit weg, und Michael denkt nicht mehr daran, dass er in einem Haus aus rötlich-braunen Backsteinen wohnt.
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morgengeschreibsel · 26 days ago
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Versuch #835: Die neue Stadt
Das Gefühl, mit dem man eine neue Stadt betritt - egal wie klein oder groß - ist immer aufregend. Man tritt auf den Bahnsteig oder auf den Asphalt des Parkplatzes, und schaut sich um, versucht herauszufinden, ob links oder rechts, wie die Stimmung ist, ob eine unmittelbare Gefahr droht. Dann entdeckt man die bekannten Dinge - die McDonald's Filiale in der Bahnhofsvorhalle, Schilder von InterCity Hotel und Ibis, Menschen mit Backwerk-Kaffeebechern in der Hand. Dann denkt man, dass es gar keinen Unterschied zu all den anderen Städten gibt, in denen man schon mal gewesen ist, man läuft durch die Innenstadt, sucht nach den Wahrzeichen und Sehenswürdigkeiten, findet dm und L'Osteria, dann findet man auch diese eine Kirche, die die Stadt so besonders macht, das Rathaus, die Straße mit den Fachwerkshäusern, das Kunstmuseum. Man läuft an H&M und C&A vorbei, blendet die bekannten Markennamen aus, genauso wie man die Bettelnden und die Seltsamen ausblendet, fokussiert sich auf das, was man eigentlich sehen will - das Schöne, das Sehenswerte. Und während man durch die Straßen geht, entfaltet sich im Kopf eine eigene Stadtkarte, die an einigen Stellen mit der übereinstimmt, die man sich bei Google Maps vor der Reise angeschaut hat, aber an vielen auch überhaupt nicht. Dann ist dort diese eine berühmte Kathedrale, die man schon in Filmen gesehen hat, und in Wirklichkeit ist sie noch größer, noch beeindruckender, auf eine Weise, die man sich vorher nicht hätte vorstellen können. Oder umgekehrt, und die weltbekannte Straße, von der man schon in Romanen gelesen hat, hat man sich ganz anders ausgemalt, und in der Wirklichkeit ist sie mit Pappbechern und Hundescheiße zugemüllt.
Mit jedem Schritt ändert sich das Gefühl, und das Unbekannte, das man bei der Ankunft noch gespürt hat, löst sich auf, man entwickelt einen Sinn für die Stadt, dafür, was hier passiert, wie die Stimmung ist, was zu erwarten ist, in welchen Straßen man schlendern darf und in welchen man lieber schnell abbiegt. Und wenn man die Stadt wieder verlässt, weiß man meistens, ob es sich für einen lohnen würde, nochmal zu kommen, oder ob man lieber doch ein anderes Ziel wählen soll.
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morgengeschreibsel · 27 days ago
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Versuch #834: Die Nachbarin
Über seinem Kopf summt der Staubsauger der Nachbarin. Sie muss eine sehr reinliche Person sein, jeden zweiten Tag saugt sie die gesamte Wohnung, räumt dabei geräuschvoll polternd alle Möbel beiseite, saugt bis an die Wand.
Alex hat nichts dagegen, es stört ihn nicht zu sehr, würde ihn noch weniger stören, wenn die Nachbarin ihre Putzroutine nicht auch an Samstagen um neun starten würde. Anscheinend muss sie nicht arbeiten, zumindest hat sie keinen Job mit normalen Arbeitszeiten, denn jeden zweiten Tag fängt sie um neun an, dienstags wie samstags. Alex hat die Frau schon einige Male gesehen, aber er kann nicht sagen, wie alt sie war, ab einem gewissen Altersunterschied fällt es einem schwer, zu sagen, wie alt die andere Person ist. Alex ist 24, und die Frau könnte gleichermaßen Mitte fünfzig wie Mitte sechzig sein, das kann er überhaupt nicht einschätzen. Bei seiner Mutter ist es auch so - für ihn sieht sie jetzt genauso aus wie vor zehn Jahren, er merkt keinen Unterschied und versteht es auch nicht, dass sie sich selbst inzwischen als Seniorin bezeichnet. Wie kann seine Mutter eine Seniorin sein? Sind Senioren nicht die tattrigen zusammengeschrumpften Rollator-Schieber, die vor jedem Regal im Supermarkt stehen bleiben?
Alex seufzt. Er sollte nicht so über Menschen denken, und er weiß, dass auch er eines Tages alt sein wird, dass auch er eines Tages Hilfe brauchen wird. Die Nachbarin ist fertig mit Staubsaugen, aus der Wohnung über Alex' Kopf ist nichts zu hören, überhaupt ist nichts zu hören, es herrscht vollkommene Stille. Er fragt sich, was die Frau über ihm gerade macht, ob sie ihren Staubsauger nun irgendwo in der Ecke verstaut hat, und sich auf das Sofa gesetzt, um ihre saubere Wohnung zu betrachten? Oder läuft sie gerade mit einem Staubwedel umher, wischt vielleicht die Oberflächen sogar feucht ab, um vollkommene Sauberkeit herzustellen?
Alex kann sich noch erinnern, dass seine Eltern freundschaftliche Beziehungen zu den Nachbarn unterhielten, sich sogar gegenseitig zum Abendessen eingeladen haben, sich Eier und Bohrmaschinen ausgeborgt haben. Er selbst kennt keine einzige Person im Treppenhaus beim Namen, weiß nur, wie sie ungefähr aussehen - die ältere Frau über ihm, der Mann mit Hund ihr gegenüber, Mutter und Tochter auf Alex' Etage, zwei schüchterne Studentinnen unter ihm. Seit über einem Jahr wohnt er in dieser Wohnung, manchmal hat er auch Pakete angenommen, Frau Schmidt von gegenüber und Frau Holsten von unten haben sie abgeholt, ohne ein Wort zu viel zu sagen, die Studentin hat strenggenommen gar nichts außer "Hallo" gesagt, nur die Benachrichtigung in der Hand gehalten, und Alex hat ihr genauso wortlos das Päckchen übergeben. Sind alle Treppenhäuser so? Man geht sich aus dem Weg, grüßt durch Kopfnicken, nimmt und holt bereitwillig Pakete an und ab, ärgert sich über Staubsaug-Gewohnheiten? Und ist es besser oder schlechter, als jeden Vornamen zu kennen, zum Geburtstag und zu Weihnachten zu gratulieren, auch mal nach einer Aspirin fragen zu können, statt nachts zum Apotheken-Notdienst zu fahren? Oder ist es zu viel Verbindlichkeit, zu viel Aufdringlichkeit, zu viel Einschränkung?
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morgengeschreibsel · 1 month ago
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Versuch #833: Die Geräuschkulisse
Die Stadt wacht auf, der Geräuschpegel schwillt so langsam, so unmerklich an, dass es lange Zeit so wirkt, als würde sich nichts verändern. Erst ist alles ganz still, nur gelegentlich hört man ein Auto vorbeirauschen, aber mit jeder Viertelstunde wird es mehr, wird es lauter, und es dauert nicht lange, bis die erste Sirene ertönt. Das Polizeiauto saust vorbei, laut und aufmerksamkeitsheischend. Danach herrscht einige Momente lang Ruhe, als hätten die Geräusche sich vor ihrer eigenen Mächtigkeit erschrocken, bis ein Motorrad auf der langen, geraden Straße beschleunigt.
Es werden mehr und mehr, und ab dem Mittag - es ist Sonntag, sonst wäre der Zeitpunkt natürlich schon viel früher gekommen - wird das Rauschen durchgehend, als würde man an einem Wasserfall sitzen. Zu dem Rauschen kommen immer mehr Geräusche, etwas aus Glas zerbricht auf den grauen Gehwegplatten, ein Hund bellt durchdringend die ganze Nachbarschaft zusammen, jemand wartet auf jemand anderen und kündigt sein Kommen durch kurzes Hupen, immer drei hintereinander, an. Ein Handkarren wird die Straße lang geschoben, es scheppert, knarzt, krächzt. Die Glocken von unsichtbaren Kirchen fangen an zu läuten, versuchen, ihr melodisches Klingeln über die Geräuschkulisse zu legen, es von dem sonstigen Lärm abzugrenzen. Autos fahren, Menschen schreien, Vögel zwitschern.
Im Laufe des Tages wird es immer lauter, die Geräusche nehmen zu, schweben durch die Luft, breiten sich weiter aus. Immer ist etwas zu hören, und nie ist es wirklich still, Stille ist unmöglich, nicht vorgesehen, nicht erlaubt. Die Stadt lebt, sie atmet die Geräusche ein und wieder aus, unaufhörlich.
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morgengeschreibsel · 1 month ago
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Versuch #832: Es blüht
Die Dringlichkeit des Frühlings ist nicht zu verleugnen - alles blüht und duftet und wird grün. Die Obstbäume stürzen sich in die Blüte, erst die weißen wilden Pflaumen, dann die rosa Zierkirschen. Erst sieht man sie, dann riecht man sie, und wenn man näher kommt, hört man das Getümmel von Bienen, die emsig umherfliegen, von Zweig zu Zweig. Alles blüht durcheinander, die Gänseblümchen, Narzissen, Tulpen, Traubenhyazinthen, Blausternchen, Wald-Veilchen, der erste Löwenzahn. Alles hat nur darauf gewartet, endlich loszulegen, endlich die Farben und Düfte, die dicken, glatten, geriffelten, zarten, fast durchscheinenden Blätter auszupacken. Die Natur ist erwacht, die Menschen sind erwacht, sind voller Energie, laufen anders, laufen beschwingter, lächeln mehr, machen Pläne, sitzen abends auf den Balkonen, stauben die Regale zu Hause ab, putzen die Fenster. Alles ist anders, die Luft ist warm und lebendig, frisch, noch für ein paar Monate, noch für ein Mal Frühling.
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