Tumgik
#feel free to run thorugh a translator but there is a small play on words that might not translate so well
stories-by-rie · 3 years
Text
IV Losgelöst
cw for what can be read as a metaphor for depression, für @blitzgeschichten - stilistisch für mich etwas ganz Neues ^^
Wann genau ich den Halt verloren habe, kann ich nicht mehr sagen. Es gab keinen Zeitpunkt, keinen Moment der Erkenntnis, keinen Heureka-Effekt. Irgendwann bin ich morgens aufgewacht und der Gedanke hat sich in meinem Kopf ganz nach vorn geschoben.
Ich bin in diesem Leben nicht mehr verankert.
Schon eine ganze Weile nicht mehr, auch wenn es unmöglich ist zu sagen, wann genau es angefangen hat. Es ist als hätte sich ein Papier zwischen mich und meine Umwelt geschoben - aber so eins zum Basteln. Pauspapier. So hauchdünn, dass ich durchgucken kann. Zu dick, als dass ich irgendetwas berühren könnte. Wenn ich meine Hand ausstrecken muss, um mich irgendwo festzuhalten, dann ist da immer dieses Pauspapier zwischen mir und dem Rest.
Dieses Problem hat eine unheimlich einfache Lösung: Das Papier muss zerstört werden.
Aber haben Sie einmal versucht ein Blatt Papier mit einer Hand zu halten, und mit einem Finger der anderen Hand ein Loch durchzuschlagen?
Das funktioniert nicht. Probieren Sie es gerne mal aus. Solange da keine Spannung drauf ist, wabbelt das Papier nur in der Luft, es gibt ein Geräusch, das erschreckend laut ist, wenn man zu dünne Nerven hat. Und dann hat das Papier einen Knick irgendwo in der Ecke. Das Papier ist also noch ganz, aber jetzt auch noch hässlich.
Ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen. „Wieso zerreißen Sie das Papier nicht? Niemand zerstört Papier so, wie Sie es beschrieben haben. Strengen Sie sich einfach mal richtig an.“
Und darauf kann ich antworten: „Da haben Sie völlig Recht. Aber das Papier ist ja komplett um mich herum, und ich finde den Anfang nicht. Wie soll ich es da also zerreißen können?“
Woraufhin nun eine wilde Diskussion ausbrechen kann. Es gibt schließlich sehr viele Möglichkeiten Papier zu zerstören. Mit Feuer, zum Beispiel. Da ich kein Feuerzeug auf meiner Seite habe, müsste eben von außen jemand ein Loch durch mein Papier brennen. Schon ein kleines Loch würde doch reichen?
Aber dafür müsste ich erst einmal jemanden finden, den ich um diesen Gefallen bitten kann. Das ist gar nicht so einfach, wie Sie es sich jetzt bestimmt denken. Schließlich ist da Pauspapier zwischen mir und anderen Menschen. Das verlangt erstens: Die Person muss mich gut genug kennen, um mich selbst verschwommen hinter dem Papier zu erkennen. Zweitens: Die Person muss mich akustisch verstehen, denn meine Worte kommen nur gedämpft bei ihr an. Was, wenn meine Frage nicht richtig verstanden wird? So einfach ist das gar nicht, wirklich nicht.
Eventuell werden wir uns vielleicht darauf einigen können, dass es wirklich schwer sein kann, Papier zu zerstören. Es braucht Finesse.
Vielleicht helfen sanftere Methoden. Wo Feuer versagt, könnte Wasser helfen. Löst sich Papier nicht in Wasser auf?
Also schlagen Sie vor, dass ich nach Hause gehe und mich in die Badewanne lege. Ein lieb gemeinter Rat, doch haben Sie das ursprüngliche Problem vergessen.
Ich habe meinen Halt verloren.
Zuhause ist immer da, wo ich nicht bin.
Wo auch immer ich bin, ich bin nur zu Besuch.
Es ist eine Diskussion, die ins Leere führt; eine Diskussion, die ich seither täglich mit mir selbst durchgehe. Wie es scheint, muss ich wohl auf meinen Mut warten um nah genug an ein offenes Feuer zu gehen, meine Luft anhalten um in fremde Gewässer zu steigen, oder ausharren, bis die Zeit das Pauspapier auflöst.
Bis sich diese Barriere löst, mich von ihr loslöst und ich somit nicht mehr lose bin, von dem was um mich herum leicht greifbar sein wird.
Bis dahin, zögern Sie nicht näher heranzutreten, und zeichnen Sie mich gern auf dem Papier ab, damit Sie mich nicht ganz vergessen.
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