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#fortschrittsglaube
kunstplaza · 2 years
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keuchend-flau · 3 years
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Island of Lost Souls (USA 1932)
Der Film basiert auf dem Roman The Island of Dr. Moreau von H. G. Wells aus dem Jahr 1896. Vom Budget her ist Island of Lost Souls vergleichbar mit den ebenfalls von Universal Studios produzierten Dracula und Frankenstein (beide 1931). Dass er im europäischen Raum so gut wie unbekannt ist, liegt vor allem an Problemen mit der Zensur. Island of Lost Souls wurde bei seiner Veröffentlichung in zwölf Ländern gleich komplett verboten. In Deutschland lief er weder im Kino noch im Fernsehen.
Edward Parker ist ein Schiffbrüchiger, der von einem Frachter aufgelesen wird und durch widrige Umstände auf einer unkarthografierten Insel landet. Dort hat Dr. Moreau seine Forschungsstation, wo er daran arbeitet, die Evolution zu beschleunigen und Tiere in intelligente, sprechende und anatomisch menschenähnliche Wesen zu verwandeln. Diese Mischwesen, die früher Affen, Wildschweine oder Panther waren, leben in einer dörflichen Gemeinschaft mit einem Affenmenschen (Béla Lugosi) als Anführer. Er leitet als Sayer of the Law auch eine gespenstische, im Fackelschein abgehaltene Zeremonie, in deren Verlauf die von Dr. Moreau festgelegten Gesetze als ritueller Sprechgesang wiederholt werden:
What is the law? Not to run on all fours. That is the law. Are we not men?
What is the law? Not to eat meat. That is the law. Are we not men?
What is the law? Not to spill blood. That is the law. Are we not men?
His is the hand that makes. His is the hand that heals. His is the House of Pain.
Das House of Pain ist der gefürchtete Operationssaal, in dem Moreau ohne Narkose unter den Schreien der Kreatur seine Experimente durchführt. Es gibt so gut wie kein Blut zu sehen, keine expliziten Grausamkeiten und trotzdem erzielt der Film durch das, was angedeutet wird oder außerhalb des Sichtfelds zu hören ist, eine intensive Wirkung. Charles Laughton als Dr. Moreau zieht alle Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich. Seine dandyhafte Pose und die fast kindliche Pausbäckigkeit lassen eine diabolische Perversität ahnen, die er mit weißem Anzug, Peitsche und dem Gebaren eines Kolonialherren unterstreicht. »Do you know what it means to feel like God?« fragt er Parker an einer Stelle in seinem typisch weichen, bedrohlich leisen Tonfall. Die Pantherfrau Lotha ist Moreaus Vorzeigeprojekt. Sie kann sprechen und ist auf den ersten Blick nicht von einer normalen Frau zu unterscheiden. Moreau ist offensichtlich sehr daran interessiert, sie und Parker zusammenzubringen. Als ihr wieder Krallen wachsen, konstatiert er enttäuscht: »The stubborn beast flesh keeps creeping back.« Unter all den verlorenen Seelen ist es die des Doktors, die sich am weitesten von den Grundsätzen der Humanität entfernt hat. Island of Lost Souls ist ein fiebriger Albtraum, bei der blinder Fortschrittsglaube und Größenwahn in einer nihilistischen Diktatur münden. Als Moreau die eigenen Gesetze missachtet, wenden sich seine Geschöpfe gegen ihn, deren aufgestaute Wut ihm im House of Pain einen grausamen Tod bescheren.
Die Dualität von Tier und Mensch, beziehungsweise die Erörterung der Frage, ob sich überhaupt eine vermeintlich höherstehende Spezies über eine andere stellen darf, war H. G. Wells Motivation für seinen Roman. Er fühlte sich dem Tierschutz verpflichtet und sah generell den zukünftigen Weg der Menschheit pessimistisch. Wells registrierte mit Genugtuung, dass der Film in Großbritannien verboten wurde, da er ihn verabscheute und der Meinung war, der Fokus auf die Horrorelemente übertünche die philosophischen Ansätze.
Island of Lost Souls ist ein früher, außergewöhnlicher Horrorfilm, der Grenzen austestet und eine geistige Verwandtschaft mit Frankenstein und dem ebenfalls 1932 erschienen Freaks aufweist. Mit Abstand von beinahe 90 Jahren lässt sich sagen, dass Island of Lost Souls sehr wohl mehr darstellt als tumbes Exploitation-Kino und seine Themen nichts an Aktualität verloren haben.
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eugenvontrotta · 7 years
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Der Mensch bezwingt den Kosmos, VEB Maschinelles Rechnen, Potsdam #germany #brandenburg #potsdam #mosaic #glassmosaic #gdr #ddr #ddrkunst #gdrart #eastgermanart #fritzeisel #astronaut #kosmonaut #spaceship #spaceman #fortschrittsglaube #rechenzentrumpotsdam #travel #traveller (hier: Rechenzentrum Potsdam)
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die-1970er · 3 years
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Foto: Magnussen, Flohmarkt während der KIELER WOCHE auf dem Rathausplatz, 1973.
In den siebziger Jahren mischten sich Fortschrittsglaube und Konsumkritik. Eine Ergebnis davon war eine Nostalgiewelle und Flohmärkte, auf denen man begehrte Sammlerobjekte finden konnte.
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firstmoveronline · 5 years
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Technologie: Wenn Touchscreens töten Nur weil sich eine Technologie in einem Bereich durchgesetzt hat, ist es nicht ratsam sie überall einzubauen. Wie blinder Fortschrittsglaube zehn US-Matrosen zum Verhängnis wurde .... mehr lesen: Sueddeutsche.de (Quelle)
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Bauhaus? Aber: Wow!
Applaus für eine Zeitreise zu Fortschrittsglaube und Formbewusstsein, für eine eindrucksvolle Demonstration der Bedeutung von Peter Behrens, Henry van de Velde & Mies van der Rohe und für eine konzentrierte Schule des genauen Sehens. Im Bauhausjubiläumsjahr 2019 Applaus für das Projekt “Bauhaus im Westen” und #bauhauswow!
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Der kritische Claqueur durchschaut das Bauhaus.
Tag 1: Krefeld
Nicht umsonst steht Krefeld in Nordrhein-Westfalen im Mittelpunkt des Bauhaus-Jubiläums: Als ein wichtiger Wirkungsort des gebürtigen Aacheners Mies van der Rohe sind in Krefeld drei erhaltene Bauten dieser überragenden Architekten-Koryphäe zu besichtigen. Die beiden Villen Haus Esters und Haus Lange sind als zusammenhängendes Museum einladender Ort für die Präsentation von Gegenwartskunst und der Mies van der Rohe-Business Park will sich Kraft seiner Aura als einziger realisierter Fabrikbau des Namenspatrons heute als hochwertiger Büröstandort etablieren. Doch die #bauhauswow-Tour beginnt mit einer Überraschung: Bildhauer Thomas Schütte hat für das Jubiläumsjahr eine Pavillonskulptur im kleinen Kaiserpark errichtet, in der bis zum 27. Oktober Krefelds große Vergangenheit als kreative Seidenstadt beleuchtet wird.
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Der Thomas Schütte-Pavillon.
Statt des beim Thema Bauhaus erwartbaren Flachdaches, kommt der Pavillon als eine Art Pagode daher, statt mit Beton und Stahl für die Ewigkeit kommen als Baumaterialien Holz und Kupfer zum Einsatz: Diese simple, im inneren in acht Teilräume gegliederte Raumskulptur hat durchaus ihren Charme, der zusätzlich durch die Erläuterungen der extrem kenntnisreichen Kraft hinter dem Trägerverein Projekt MiK gewinnt: Christiane Lange ist Urenkelin des Bauherrns von Haus Lange und als Historikern engagierte Streiterin für die Erforschung der Bedeutung Krefelds in der Moderne. Sie ist es, die den Besucher – mit etwas Glück – gleich in doppelter Form, persönlich und als Teil der ausgestellten Videointerviews begrüßt.
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Versuch eines Kugelpanoramas im Zentrum des Thomas Schütte-Pavillons
Vielfalt und (post)modernes Probieren
Über Mies van der Rohe hinaus wirkten auch zahlreiche andere Bauhaus-Gestalter in Krefeld – der guruhafte Kunstlehrer Johannes Itten oder Lilly Reich, die in der Ausstellung vor allem durch die Fotos der von ihr und van der Rohe gestalteten Messepavillons beeindruckt, sowie zwei weitere Dutzend Charakterköpfe, die in der Ausstellung in einer kleinen Porträtgalerie gewürdigt werden.
Ein gängiges Missverständnis möchte Christiane Lange gerade rücken: Das Bauhaus war nicht nur Strenge und Perfektionismus, sondern mit den vielen Autodidakten in seinen Reihen, Seiteneinsteigern und Großmäulern auch in “einer charmanten Weise inkompetent” – und deshalb gerade durch seine unkonventionelle Kühnheit so wirkmächtig. Vielleicht teilt das Bauhaus mit seinem forschenden Trial-and-Error und dem Prinzip der Disruption unter dem Einfluss großer neuer technischer Potentiale (Massenfertigung, Baustoff Stahl, Standardisierung), einen Geist, den gegenwärtig auch die Startup-Szene unter dem heutigen Eindruck der Notwendigkeit der Weltneuerfindung im Digitalen prägt.
Beeindruckende Regionalgeschichte
Aus heutiger Perspektive staunt man ungläubig über den vergangenen Reichtum und die kreative Kraft Krefelds und steht ratlos vor der Frage, wie ein Wirtschaftszweig so kontinuierlich niedergehen kann. Die Ausstellung ist auch im Zusammenspiel mit dem von sozialen Spannungen geprägten Stadtbild ein Denkanstoß dazu, was passiert, wenn die Leitindustrie einer Stadt erlischt. Während bürgerliche Villenpracht rund um den Kaiserpark immer noch von Reichtum zeugt, sieht man auf dem Weg durch die Innenstadt eine Kommune, die sich (gefühlt wie Wolfsburg ohne VW) auch mit einer offenen Drogenszene, mit hohem Leerstand und baulichen Verfall auseinandersetzen muss.
Klein, oho, aber teuer.
Der Ansatz, das 100-Jahre-Bauhaus-Jubiläum mit einer zeitgenössischen Ausstellungsraumskulptur zu feiern, wirkt zwar vor allem mit Blick auf die Gesamtlage der Stadt etwas eitel, gleichzeitig aber auch wie ein Echo des umfassenden Gestaltungsanspruchs des Bauhaus. Zudem klingt in ihm auch nostalgisch die Zeit der großen Weltausstellungen und die Biennale in Venedig an.
Bei allem Verständis und Respekt jedoch für die herausfordende Finanzierung eines solchen Werkes: acht Euro Eintritt für eine symbolisch aufgeladene und gut gemachte, aber letztlich doch sehr übersichtliche Kulturgeschichtsschau verhindern leider eine wünschenswerte Breitenwirkung auch auf die lokale Bevölkerung. Hier wäre ein Pay-what-you-want-Modell sinnvoll und vielleicht auch lukrativer gewesen, um den vermutlich eh geringen Anteil an der Finanzierung des Gesamtprojekts zu sichern.
Einen Besuch ist der Thomas Schütte-Pavillon für alle halbwegs flüssigen Bauhaus-Fans trotzdem wert, vor allem, wenn man sich neben der Architektur auch für die anschmiegsameren Formen der Bauhaus-Gestaltung interessiert. Die #bauhauswow-Gang zieht derweil weiter zur nahegelegenen, berühmten Außenstelle des Kaiser-Wilhelm-Museums...
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[Disclaimer: Mit Modebloggern, Architekturjournalisten, Lokalpatrioten, Kulturredakteuren, Instagram-Helden und Magazin-Machern (w/m/d) führte die #bauhauswow-Tour als Multiplikatoren-Reise organisiert von Tourismus NRW e.V. an drei sonnigen Maitagen nach Krefeld, Essen und Hagen. Der kritische Claqueur arbeitet für Tourismus NRW e.V. und nutzte die Gelegenheit der Begleitung aus persönlichem Interesse außerhalb der Arbeitszeit und ohne Honorar. Die dargestellten Positionen sind seine persönlichen. Dieser Artikel soll alle drei Reisetage abbilden und wird stetig erweitert.]
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verschwoerer · 6 years
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Vor 50 Jahren entging die Schweiz haarscharf einer Atomkatastrophe, als es im Versuchs-Reaktor Lucens zu einer Kernschmelze kam.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Abwürfen der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki strebte auch die Schweiz nach der A-Bombe. In der Waadtländer Gemeinde Lucens wurde hierfür ein neuer Reaktortyp entwickelt. Trotz schwerwiegender Mängel wurde am 21. Januar 1969 der Atomversuchsreaktor um vier Uhr morgens wieder in Betrieb genommen. Kurz nach 17.15 Uhr kam es zur Explosion und Kernschmelze. Die Schweiz schrammte knapp am Grössten Anzunehmenden Unfall (GAU) vorbei.
Der Traum vom eigenen Schweizer Atomreaktor
1946 setzte der Bundesrat die Studienkommission für Atomenergie (SKA) ein, welche den Bau einer Schweizer Atombombe realisieren sollte. Die Atompolitik der Schweiz war in den ersten Jahrzehnten geprägt vom Kalten Krieg. Die Angst vor einem sowjetischen Atomangriff war der Auslöser des Schweizer Atomwaffen-Programms und begünstigte zudem die massive staatliche Subventionierung der Atomindustrie.
An der Genfer Atomkonferenz 1955 stellten die USA den Forschungsreaktor «Saphir» vor, der später von der Reaktor AG in Würenlingen mit der finanziellen Unterstützung des Bundes gekauft wurde. Trotz der Übernahme des amerikanischen Leichtwasser-Reaktors «Saphir» wurde der Bau des in der Schweiz geplanten Schwerwasser-Reaktors «Diorit» weiterverfolgt.
Dieser Reaktortyp sollte mit Natururan angetrieben werden, das im Gegensatz zum hoch angereicherten Uran, auf dem die USA ein Monopol hatten, leichter gekauft werden konnte. Die Natururan-Reaktoren besassen die Eigenschaft, dass während des Betriebs Plutonium erzeugt wird, das anschliessend für die Herstellung von Atomwaffen genutzt werden konnte.1
Der Bau des Forschungsreaktors «Diorit» war ein Gemeinschaftswerk der Schweizer Industrie, das es in dieser Form noch nicht gegeben hatte. Die beteiligten Firmen erhofften sich von der Entwicklung einer eigenen Reaktorlinie einen neuen Absatzmarkt für ihre Industrieprodukte. Gleichzeitig war der Versuchsreaktor ein Prototyp für einen zukünftigen Schweizer Leistungsreaktor, der für die Stromproduktion verwendet werden könnte und damit zu einem Exportprodukt der Schweizer Industrie werden sollte. Am 15. August 1960 wurde der «Diorit» im Eidg. Institut für Reaktorforschung (EIR) in Würenlingen erstmals getestet und am 26. August durch Bundesrat Max Petitpierre eingeweiht.1
«Lucens» als Versuchsreaktor für den Bau von Atomwaffen
Seit der Genfer Atomkonferenz 1955 wurde die Zukunft der Energieversorgung auch in der Schweiz in der Atomenergie gesehen. Zwischen 1956 und 1959 entstanden drei Projektgruppen, die jeweils alle den Bau eines AKWs in der Schweiz planten. Der Bund hatte jedoch nicht genug Geld, um gleichzeitig alle drei Projekte zu unterstützen. Darum einigte man sich darauf, nur ein Projekt zu fördern. In Lucens, am Standort der Westschweizer Enusa, sollte der Reaktor des Deutschschweizer Konsortiums gebaut werden. Das Versuchsatomkraftwerk in Lucens wurde nicht für die Produktion elektrischer Energie gebaut, sondern diente der Entwicklung eines neuen Reaktortyps, der auch für den Bau von Atomwaffen hätte genutzt werden können.
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Der Kontrollraum im Test-Atomkraftwerk Lucens, links im Bild die Nuklearzentrale. (Bild: Archiv ETH Zürich/Josef Schmid)
Das Versuchsatomkraftwerk in Lucens wurde in eine unterirdische Kaverne gebaut.2 Wie die Bunker in den Alpen, sollte die unterirdische Kaverne den Reaktor im Kriegsfall schützen. Ein 100 Meter langer Stollen führte in Lucens zu den drei unterirdischen Kavernen für den Reaktor, den Maschinenraum mit den Turbinen und Generatoren sowie zum Lager mit den Brennstäben.
Der Bau der unterirdischen Kaverne erwies sich als viel schwieriger als erwartet. 1963 kam es nach Sprengungen zu Rissbildungen im Fels. In der Folge liefen die Kosten immer mehr aus dem Ruder. Die Kostenexplosion wurde dadurch begünstigt, dass auf die Festlegung eines Kostendachs verzichtet wurde. 1962 waren 64,5 Millionen Franken veranschlagt, letztlich kostete Lucens bis 1969 112,3 Millionen Franken.
NOK, BKW und Co. setzen auf US-Atomreaktoren
Anfang 1964 verkündete die NOK, dass sie einen amerikanischen Atomreaktor importieren werde. Ihr Ziel war es, ein AKW in Beznau bereits 1969 in Betrieb zu nehmen. Aus diesem Grund wollte sie die Entwicklung eines Schweizer Atomreaktors nicht mehr abwarten. Der Import amerikanischer Reaktoren durch die Elektrizitätsunternehmen war für die Schweizer Reaktorentwicklung ein schwerer Schlag. Im gleichen Jahr folgten die BKW mit der Ankündigung des Baus von Mühleberg, die Elektro-Watt mit Leibstadt und die Motor-Columbus mit Kaiseraugst. Die Hoffnung auf ein lukratives Geschäft durch die Entwicklung eines eigenen Schweizer Atomreaktors und dessen weltweiten Export hatte sich in Luft aufgelöst. Georg Sulzer verkündete schliesslich 1967 ebenfalls den Austritt seiner Firma aus der Schweizer Reaktorentwicklung und versetzte damit dem Lucens-Projekt endgültig den Todesstoss.
Betriebsbewilligung trotz schwerwiegender Mängel
Mit dem Ausstieg von Sulzer war das Ende der Schweizer Reaktorentwicklung besiegelt, trotzdem wurde in Lucens weitergebaut. Das Versuchsatomkraftwerk war längst zum nationalen Symbol für den atomaren Traum geworden. Die Firma Energie de l’Ouest Suisse (EOS) bot an, während zwei Jahren das AKW zu betreiben, bis die erste Lieferung des Uran-Brennstoffs aufgebraucht sei, danach sollte der Reaktor stillgelegt werden. Am 29. Januar 1968 wurde in Lucens der erste Atomstrom der Schweiz produziert. Am 10. Mai 1968 wurde das AKW der EOS offiziell zum Betrieb übergeben. Nach einer dreimonatigen Betriebsphase wurde der Reaktor Ende Oktober 1968 für Revisionsarbeiten abgestellt.
Die Abdichtungen des Kühlgebläses, welches das Kohlendioxid im Primärkreislauf zirkulieren liess, funktionierten nicht zuverlässig. Sperrwasser war in den Primärkreislauf eingedrungen. Trotzdem erteilte der Bund Ende Dezember 1968 die definitive Betriebsbewilligung. Das Wasser verursachte bei den Umhüllungsrohren der Uran-Brennstäbe Korrosion. Bei der erneuten Inbetriebnahme behinderte der Rost den freien Umlauf des Kohlendioxids und damit die Kühlung des Reaktors.
Eine Explosion führt zur Kernschmelze in Lucens
Am 21. Januar 1969 wurde der Reaktor in Lucens um vier Uhr morgens wieder in Betrieb genommen. Um 17.15 Uhr gingen die Sirenen los, die Betriebsequipe wurde von einer automatischen Schnellabschaltung des Reaktors überrascht. Kurze Zeit später hörten sie im Kontrollraum eine Explosion im Berginnern. Die Katastrophe im AKW Lucens nahm ihren Lauf. Es kam zur Kernschmelze. Im Innern des Reaktors begann der überhitzte Uran-Brennstab Nr. 59 zu schmelzen, dann zu brennen. Der Schmelzvorgang erfasste auch die benachbarten Brennstäbe.
Schliesslich explodierte der Reaktor und das radioaktive Material, rund 1100 Kilogramm schweres Wasser, Uran-Magnesium-Schmelze und radioaktiv kontaminiertes Kühlgas wurden durch die Reaktorkaverne geschleudert. Die 60 Zentimeter dicke Wand aus Aluminium, Asphalt und Beton des Sicherheitsbehälters wurde durch den Druck der Explosion weggesprengt. Durch undichte Stellen in der Kaverne entwichen radioaktive Gase. Der Direktor Jean-Paul Buclin erinnerte sich später: «Die Radioaktivität aus der Reaktorkaverne hat sich unvorhergesehen in anderen Lokalitäten verbreitet, sogar bis in den Kontrollraum.3
Knapp am GAU vorbei
Der Anstieg der Radioaktivität liess die schlimmsten Befürchtungen aufkommen. Der Alarmausschuss der Eidg. Kommission für die Überwachung der Radioaktivität wurde benachrichtigt. Zwei Strahlenschutzbeauftragte fuhren während der ganzen Nacht durch die umliegenden Dörfer und massen die Radioaktivität. Sie konnten nur einen geringen Anstieg der Radioaktivität feststellen. Die Reaktorkaverne war radioaktiv verstrahlt, aber die Sicherheitsschleusen funktionierten. Es drang nur wenig Radioaktivität nach draussen. Die Bevölkerung wurde nicht radioaktiv verstrahlt.
Bei der Gründungsfeier des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI) im April 2009 sagte der damalige SP-Bundesrat und Energieminister Moritz Leuenberger: «1969 schrammte die Schweiz knapp an einer Katastrophe vorbei. (...) Die damalige amtliche Verlautbarung sprach lediglich von einem ‹Zwischenfall›. Heute finden wir Lucens auf der Liste der 20 schwersten Reaktor-Pannen der Welt. Das wahre Ausmass der Panne wurde also damals vertuscht und abgewiegelt."4
Lucens als Atomkatastrophe der Stufe 5 (von 7)
Heute wird die Kernschmelze von Lucens auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) auf Stufe 5 (von insgesamt 7 Stufen) eingeordnet und damit als «schwerer Unfall» taxiert, vergleichbar mit dem Reaktorunfall im AKW Three Mile Island in Harrisburg in den USA 1979.
TV-Doku zum Reaktor-Unfall in Lucens https://www.youtube.com/watch?v=Endt3lkaZhw Obwohl die Kernschmelze in Lucens 1969 einer der weltweit schwersten Atomunfälle war, warf der «Störfall» damals in der Öffentlichkeit keine grossen Wellen. Die Atomtechnologie wurde damals noch nicht grundsätzlich hinterfragt. Noch immer herrschte der Fortschrittsglaube. Der Widerstand gegen die AKW erwachte erst in den 1970er-Jahren. Für die Anti-AKW-Bewegung kam der Atomunfall in Lucens um einige Jahre zu früh. Heute ist der Atomunfall von Lucens längst aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Einer der schwersten Atomunfälle weltweit ist damit nahezu in Vergessenheit geraten. Atom-Euphorie, Plutonium und AKW-Sicherheit - das Atomwaffen-Programm der Schweiz war dem Zeitgeist des Kalten Kriegs geschuldet. Die Forschungen im Bereich der Atomphysik wurden damals zivil getarnt, verfolgten aber hauptsächlich einen militärischen Zweck. Der geplante Schwerwasserreaktor in Lucens sollte auch für die Produktion von Plutonium und damit für die Herstellung von Atomwaffen genutzt werden können.
Die Atomindustrie löste sich erst allmählich aus der Abhängigkeit der ursprünglich militärischen Interessen. In der Euphorie des Atomzeitalters gab es bezüglich der Sicherheit der AKW noch fast keine Bedenken. Bei der Kernschmelze in Lucens vom 21. Januar 1969 ist die Schweiz nur knapp einem GAU entgangen. In der Folge hat man versucht, den «Zwischenfall» zu vertuschen und zu verharmlosen (siehe Kasten unten). Die enge Verflechtung von Staat, Wissenschaft und Industrie blieb weiter bestehen und wirkt teilweise bis heute nach.
Die Kernschmelze von Lucens als harmloser «Zwischenfall» «Es war eine grosse Pleite, ein totales Fiasko», sagte der ehemalige Direktor der Reaktor AG und der BBC Rudolf Sontheim.3 Der Traum vom Schweizer Reaktor war geplatzt. Die Dekontamination der Reaktorkaverne und die Zerlegung des zerstörten Reaktors dauerten über drei Jahre bis im Mai 1973. Der radioaktive Abfall wurde in rund 250 Fässern von je 200 Litern gefüllt. Die unbeschädigten Brennelemente wurden in die Wiederaufbereitungsanlage der Eurochemic im belgischen Mol gebracht. Die hoch radioaktiven 60 Kilogramm Uran des geschmolzenen Brennelements Nr. 59 wurden zerlegt und in sechs Stahlbehälter verpackt und luftdicht eingeschweisst. Die Anlage wurde von 1991 bis 1992 definitiv stillgelegt, die Reaktorkaverne mit Beton gefüllt. Die sechs kontaminierten Stahlbehälter lagerten weiterhin in der Anlage, bis sie schliesslich 2003 ins Zwischenlager (Zwilag) nach Würenlingen gebracht wurden. CVP-Bundesrat Roger Bonvin, der damalige Vorsteher des Eidg. Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartements (EVED), ernannte am 5. Februar 1969 eine Untersuchungskommission, welche die Ursache des Unfalls analysieren sollte. Es dauerte über zehn Jahre bis diese im Juni 1979 ihren Schlussbericht veröffentlichte. Der «Zwischenfall» bedeutete zu keinem Zeitpunkt irgendeine Gefahr für die Betriebsequippe oder für die Bevölkerung, lautete das Fazit.5 Roland Naegelin, der spätere Direktor der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlage (HSK), stellte 2007 in seinem historischen Rückblick mit Genugtuung fest, Lucens habe den Beweis erbracht, dass die Sicherheitsvorkehrungen einwandfrei funktioniert haben. «Die radiologischen Auswirkungen des Unfalls auf Personal und Umgebung waren vernachlässigbar.»6
FUSSNOTEN 1 Tobias Wildi: Der Traum vom eigenen Reaktor. Die schweizerische Atomtechnologieentwicklung 1945 –1969, Zürich, Chronos, 2003. S. 72. + S. 75. 2 Otto Lüscher: Die Schweizer Reaktorlinie, in: Schweizerische Gesellschaft der Kernfachleute (Hrsg.): Geschichte der Kerntechnik in der Schweiz. Die ersten 30 Jahre 1939 –1969, Oberbözberg: Olynthus, 1992. S. 124 ff. 3 Alexander Mazzara: Der atomare Traum. Explosive Pläne der Schweizer Industrie, Dokumentarfilm, Schweizer Fernsehen, 2003. 29:13 + 1:46 –1:49 4 Moritz Leuenberger: Rede anlässlich der Gründungsfeier des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI) im April 2009. 5 Kommission für die sicherheitstechnische Untersuchung des Zwischenfalles im Versuchs-Atomkraftwerk Lucens (Hrsg.): Schlussbericht über den Zwischenfall im Versuchs-Atomkraftwerk Lucens, 1979. S. 10-2. 6 Roland Naegelin: Geschichte der Sicherheitsaufsicht über die schweizerischen Kernanlagen, 1960 – 2003. Villigen: Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK), 2007. S. 101.
https://www.infosperber.ch/Artikel/Umwelt/Die-Kernschmelze-von-Lucens
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Redaktion Der Tag
‎Reinhard Götz‎ an Netzwerk 26. September um 18:19 ·
Sind wir noch zu retten? Die neue deutsche Abstiegsangst
Politik wird entweder von Hoffnung oder von Angst geprägt. Fortschrittsdenken und Hoffnung war mal stark unterstützende Element, für die Linken. Fortschrittsglaube und Hoffnung sind mit der Diskreditierung des unbegrenzten Wachstumes nicht mehr vorhanden und rechte Parteien werden…
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Mit der Rubrik Lesenswert bietet deutsche-startups.de in Kurzform einen schnellen Überblick über aktuelle Meldungen, Artikel, Reportagen, Interviews und Hintergrundstorys zu Web- und Gründergeschichten, die andere deutsche und englischsprachige Medien oder Blogs verfasst und veröffentlicht haben. Den kompletten Artikel gibt es dann nur auf den jeweils verlinkten Medien aus aller Welt. Offener Brief #DigitalGipfel18: Offener Brief an Wirtschaftsminister @peteraltmaier Dr. med. Paul Brandenburg, Geschäftsführer bei DIPAT Die Patientenverfügung GmbH, schreibt anläßlich des #DigitalGipfel18 einen offenen Brief an Wirtschaftsminister Peter Altmaier. DIPAT Die Patientenverfügung Marco Börries Web-Legende Marco Börries: „Ich will nicht in der Welt leben, in der es nur Amazon gibt.“ Wie der Open-Office-Gründer mit seiner neuen Firma Enfore kleine Unternehmen retten will. OMR Go-Euro Von Tür zu Tür Das Berliner Start-up Go-Euro will Reisen per Zug, Taxi und Flug einfacher machen. Investoren haben den Gründern dafür mehrere Hundert Millionen Euro gegeben. sueddeutsche.de Der Diemer Klaut Sebastian Diemer seine Startup-Ideen von anderen? Sebastian Diemer präsentiert sich als hipper Gründer mit Luxusleben. Doch es gibt eine weniger spaßige Seite. Drei Unternehmer beschuldigen ihn, ihre Ideen kopiert zu haben. Gründerszene Giant Swarm Ein Büro braucht kein Mensch Die 24 Mitarbeiter von Giant Swarm arbeiten in ganz Europa. Es gibt keinen Hauptsitz, sie kommunizieren nur über Videokonferenzen und Chats. Die Welt Einhorn „Reine Profitgier, das ist nicht cool“ Waldemar Zeiler im Gespräch mit Gisela Steinhauer. Deutschlandfunk Kultur Berliner Mythen 3 Myths from the Berlin Tech Ecosystem The stories you hear about Berlin today are like the light from distant stars: they’re coming from the past. Most people still believe you can find 200 m2 apartments for less than €1k/month, pay engineers less than a Community Manager in San Francisco & burn money like it’s 2012 at Rocket! ? These have become tech hub myths in 2018 Berlin, and they are worth debunking. Let’s see what we’ve got… Welcome to The Family Berlin Wie die Techfirmen Berlin verändern Unten am Fluss, wo Friedrichshain auf Kreuzberg trifft, ist Berlin nicht mehr das, was es einmal war. Früher, und das ist jetzt nur so zehn, vielleicht fünfzehn Jahre her, lag dort ein altes Schiff, an Deck saßen Studenten und andere Menschen, die viel Zeit und wenig Geld hatten, sie tranken billiges Bier, das in einem Bretterschuppen am Ufer verkauft wurde, und sahen dabei den Mond über der Oberbaumbrücke aufgehen… Berliner Zeitung Startup Lüge Die Lüge vom digitalen Traum Die Arbeit in einem Start-up gilt vielen jungen Menschen als erstrebenswert. Wie sieht die Realität aus? Ein kritischer Erfahrungsbericht. Forschung & Lehre Dotcom-Blase Wie 2000 die Dotcom-Blase platzte Mit dem Siegeszug des Internets erfasste die Welt Ende der 90er-Jahre ein euphorischer Fortschrittsglaube. Kurz darauf implodierte die New Economy. Aber die besten Ideen überlebten. Capital Startup-Jobs: Auf der Suche nach einer neuen Herausforderung? In der unserer Jobbörse findet Ihr Stellenanzeigen von Startups und Unternehmen. Foto (oben): Shutterstock
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melbynews-blog · 6 years
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Die Einheit der Gegensätze | Rubikon
Neuer Beitrag veröffentlicht bei https://melby.de/die-einheit-der-gegensaetze-rubikon/
Die Einheit der Gegensätze | Rubikon
Eine Erklärung für die Bedeutung von Karl Marx als wegweisender Philosoph, politischer Aufklärer und Kritiker brachte Lenin in die Worte: Er bezeichnete ihn als den genialen „Vollender der drei geistigen Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts in den drei fortgeschrittensten Ländern der Menschheit: der klassischen deutschen Philosophie, der klassischen englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus in Verbindung mit den französischen revolutionären Lehren überhaupt“ kennzeichnete (1).
Was die deutsche Philosophie angeht, war eine der Quellen für Marx‘ Theorie-Entwicklung die Auseinandersetzung mit Hegel, hier zentral mit der Hegelschen Dialektik.
Dabei stieß er auf die der Analyse der Wirklichkeit entgegenstehende Rezeption Hegels in der seinerzeit herrschenden Klasse und ihren Vertretern in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts:
„Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Gräuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffasst, sich durch nichts imponieren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist“ (2).
Marx meinte mit dem Bild des Umstülpens der Hegelschen Philosophie vom Kopf auf die Füße den Bezug der auf den Weltgeist bezogenen Lehre auf die materiell gegebene Realität. Hegels Fortschrittsglaube verdichtete sich im Bild, dass die Geschichte der Prozess der Rückkehr des Weltgeistes, des Geistes der jeweiligen Zeit zu sich selbst sei.
Der gesamte Weltprozessist nach Hegel Selbstentfaltung des Geistes. Die Philosophie hat dieses denkend zu betrachten. Die Selbstentfaltung erfolgt nach dialektischem Gesetz in drei Entwicklungsstufen. Sie bestimmen den Aufbau der Philosophie (3).
Marx beobachtete, dass „die unpersönliche Vernunft der Hegel’schen Philosophie außer sich weder einen Boden hat, auf den sie sich stellen kann, noch ein Objekt, dem sie sich entgegenstellen kann, noch ein Subjekt, mit dem sie sich verbinden kann…“ (4).
Durch Marx‘ Analyse der materiell gegebenen Prozesse des Stoffwechsels der Menschheit mit der sie umgebenden Natur fand er den Boden, der es ermöglichte, die Hegelsche Dialektik mit einem Subjekt in Verbindung zu bringen.
Die Haltung, mit der er auf dieser Basis seine Erfahrungen und Beobachtungen, seine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen systematisierte, war durch Hegel inspiriert:
„Um griechisch zu sprechen, haben wir These, Antithese und Synthese. Für die, welche die Hegel’sche Sprache nicht kennen, lassen wir die Weihungsformel folgen: Affirmation, Negation, Negation der Negation. Das nennt man reden. Es ist zwar kein Hebräisch …; aber es ist die Sprache dieser reinen, vom Individuum getrennten Vernunft. An Stelle des gewöhnlichen Individuums mit seiner gewöhnlichen Art zu reden und zu denken, haben wir lediglich diese gewöhnliche Art an sich, ohne das Individuum. (…) Einmal dahin gelangt, sich als These zu setzen, spaltet sich diese These, indem sie sich selbst entgegenstellt, in zwei widersprechende Gedanken, in Positiv und Negativ, in Ja und Nein. Der Kampf dieser beiden gegensätzlichen (…) Elemente bildet die dialektische Bewegung. Das Ja wird Nein, das Nein wird Ja, das Ja wird gleichzeitig Ja und Nein, das Nein wird gleichzeitig Nein und Ja; auf diese Weise halten sich die Gegensätze die Waage, neutralisieren sich, heben sie sich auf. Die Verschmelzung dieser beiden widersprechenden Gedanken bildet einen neuen Gedanken, die Synthese derselben. Dieser neue Gedanke spaltet sich wiederum in zwei widersprechende Gedanken, die ihrerseits wiederum eine neue Synthese bilden. Aus dieser Zeugungsarbeit erwächst eine Gruppe von Gedanken…“ (5).
Die von Marx weiterentwickelte Theorie und Haltung bei der Verarbeitung von Erfahrungen lenkt die Aufmerksamkeit der Wahrnehmenden darauf, dass sie die Realität als einen Prozess verstehen können – was ihr am ehesten gerecht wird –, der sich aus Gegensätzen speist.
Im Verlauf dieses Prozesses gibt es nicht-lineare Entwicklungsschübe, die „qualitative Sprünge“ genannt werden, etwa wenn aus einem Weizenkorn eine neue Pflanze wird. Dabei wird der vorherige Zustand aufgelöst, was seine Negation bedeutet. Das kann auch im Prozess der quantitativen Zu- oder Abnahme von Zusammensetzungen geschehen, so zum Beispiel, wenn der berühmte Tropfen ein Fass zum Überlaufen bringt, so wenn man Wasser jeden Tag um ein Prozent erwärmt, was knapp hundert Tage einigermaßen stabil gehen mag, dann aber nicht mehr.
Mit dem analytischen Instrumentarium der auf die Füße gestellten Dialektik sind wir Menschen in der Lage, alle Erfahrungen im Prozess des Lebens rückhaltlos und ohne Scheuklappen wahrzunehmen und unsere Erkenntnisse weiter zu denken, Zusammenhänge und die Entwicklungslogik eines Prozesses und seiner Eingebundenheiten zu erkennen.
Lenin schrieb dazu „Marx’ Philosophie ist der vollendete philosophische Materialismus, der der Menschheit – insbesondere der Arbeiterklasse – mächtige Mittel der Erkenntnis gegeben hat“ (6).
Ob er vollendet ist, sei hier eine offene Frage. Marx schrieb seiner Tochter Jenny ins Poesiealbum „An allem ist zu zweifeln“ (7).
Man kann sich nun allerdings fragen, warum die, die sich auf die Theorie und Herangehensweise von Karl Marx beziehen und bezogen haben, aus diesen mächtigen Mitteln der Erkenntnis nicht mehr gemacht haben.
Nun, dass in der Sowjetunion mit Stalin ein Staatschef auf Lenin folgte, der von Lenin als ,zu grob‘ bezeichnet worden war, erklärt dies nicht alleine. Lenin schrieb:
„Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen. (…) Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden…“ (8).
Auf Stalin folgte die lange Periode bis zum Ende des Kalten Krieges. Man kann sich allerdings wundern, dass die UdSSR, die 1945 bis hinter Moskau nach dem Nazi-Prinzip der verbrannten Erde ruinös zerstört war, und die im Verlauf des zweiten Weltkrieges 27 Millionen Tote zu beklagen hatte, überhaupt so lange hat mithalten und überleben können. Sie wurde auch durch das Wettrüsten des weltumspannenden Imperialismus im Wettstreit der Systeme totgerüstet.
Doch verloren die realsozialistischen Länder und die Kräfte, die sich auf sie bezogen, auch an Politikfähigkeit, weil sie die Dialektik an einem neuralgischen Punkt nicht zu Ende gedacht haben: Wenn man die Realität als einen Prozess erkennt, der sich aus Gegensätzen speist, dann kann man das nur dann wirklich erfassen, wenn man sich selbst auch als Element dieser Realität wahrnimmt.
Der Dialog des Menschen mit sich selbst, die Frage, was könnte gegen meine Über-Zeugungen sprechen, dieser kritische Selbstbezug macht die Erkenntnis erst umfassend wirksam. Es gab Phasen und Elemente kritischer Selbstreflexion, in der DDR wurde etwa der Film „Spur der Steine“ gedreht, dann aber in die Schubladen verbannt (9).
Die eigenen Widersprüche nicht wahrhaben wollen ist eine Gefahr, vor der Marx vermutlich warnen wollte, als er sagte „Wenn das Marxismus ist – ich bin kein Marxist“ (10).
Die Ausblendung der Dialektik im Selbstreflektieren ist eine Gefahr, die im Streit um Querfront und um die Friedensbewegung zu fatalen Verhärtungen geführt hat.
Die alternativen Spektren werden nur dadurch die erforderliche Attraktivität und Stärke gewinnen können, dass sie keine Scheuklappen, Voreingenommenheiten und Selbstgewissheiten leben, sondern im Sinne der Dialektik offen für den Diskurs sind — das Ganze entsprechend der Vision der Linken auf der Basis des Zieles, dass der Mensch kein entrechtetes Wesen mehr sein darf.
Quellen und Anmerkungen:
(1) http://www.praxisphilosophie.de/lenin_karlmarx.pdf (2) K. Marx, Kapital I, MEW 23, 27f. (3) http://www.theologie-examen.de: Hegel – Grundrisse seiner Philosophie (4) K. Marx, Elend der Philosophie, MEW 4, 127ff. (5) ebenda (6) https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1913/03/quellen.htm (7) http://www.vaeternotruf.de/karl-marx.htm (8) https://www.planet-wissen.de/geschichte/diktatoren/stalin_der_rote_diktator/ (9) https://www.kino.de/film/spur-der-steine-1966/ (10) http://www.dearchiv.de/php/dok.php?archiv=mew&brett=MEW035&fn=386-390.35&menu=mewinh
Rubikon Magazin Bernhard Trautvetter Quelle
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merely-a-facade · 8 years
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