“Berliner Fernsehturm” * Foto: BernardoUPloud
Nach ihrer gescheiterten Ehe mit Frank Randall findet Claire Beauchamp in Berlin ein neues Zuhause. Doch dann brechen Spannungen zwischen dem zwischenzeitlich aus der EU ausgeschiedenen Großbritannien und der EU aus und alle Inhaber eines englischen Passes werden aufgefordert, das Territorium der EU innerhalb von sechs Wochen zu verlassen … und plötzlich ist Claires Zukunft ungewisser denn je.
Diese Geschichte ist im Rahmen des #14DaysofOutlander Events entstanden, der von @scotsmanandsassenach initiiert wurde.
Kapitel 4: 14 Sekunden (2)
Als Jamies Wagen kurz vor dem Eingang der Galerie hielt, hatte es bereits in Strömen zu regnen begonnen. Der Himmel hatte sich bis ins Schwarze verdunkelt und hin- und wieder war ein lautes Donnergrollen zu vernehmen. Der Fahrer der Limousine parkte nahe des Eingangs und sprang dann mit einem großen schwarzen Regenschirm, auf dem in goldenen Lettern das Logo und der Name des Hotels prangten, schnell aus dem Wagen. Er öffnete Tür auf der hinteren Beifahrerseite und hielt den Regenschirm so, dass Jamie ohne nass zu werden aussteigen konnte. Anschließend begleitete der Chauffeur ihn die wenigen Schritte bis zur Galerie, um dann schnell wieder zum Wagen zurückzueilen, wo er auf die Rückkehr des Gastes warten würde.
Sogleich nach dem er eingetreten war, wurde Jamie von einer freundlichen Mitarbeiterin der Galerie begrüßt. Er bezahlten den Eintritt und erhielt den Ausstellungskatalog. Dann begann er ganz langsam seinen Weg durch die Ausstellung. Es dauerte ungefähr vierzig Minuten, bis er im hintersten Raum der Galerie angekommen war. Schon von weitem sah er das bekannte Foto, das den Maler vor seinem berühmten Werk “Wand” zeigte. Nur ein einziges Mal hatte sich Richter vor diesem Werk fotografieren lassen. Dieses Foto hatte dann das Titelblatt des Kunstmagazins “art” geziert.
Vor genau diesem zwei Meter mal zwei Meter großen Bild saß nun ganz ruhig eine zierlich Frau, deren Kopf von einer nur leicht gezähmten, dunkelbraunen Lockenpracht umgeben war. Vorsichtig und bemüht, so wenig Geräusche wie nur möglich zu verursachen, trat Jamie mit einigem Abstand heran. Es vergingen einige Minuten, dann hörte er die Frau leise schniefen. Sie öffnete ihre Handtasche und suchte ganz offensichtlich hastig nach einem Taschentuch. Jamie griff in die rechte Tasche seines Jacketts und zog eine Packung Tempo-Taschentücher hervor, die er öffnete und der unbekannten Frau entgegen hielt.
“Bitte schön. Bedienen Sie sich.”
“Boston” by chabotphoto
Die Frau wandte den Kopf zu ihm hinauf und sah ihn mit großen, rot verweinten Augen an.
Dann sah sie sogleich wieder hinunter zum Boden.
“Seien Sie nicht beschämt. Ich weiß nur zu gut, wie sehr dieses Bild zur Seele eines Menschen zu sprechen vermag,” sagte Jamie leise.
“Was?” fragte die junge Frau und sah Jamie erneut an.
“Ich meinte das Bild …”
Jamie deutete mit der rechten Hand auf das große Foto, vor dem sie saß. Claire blickte hinüber, dann schüttelte sie den Kopf.
“Ich … ich habe nicht …”
In diesem Moment begann sich der dunkle Seidenschal, den sie um ihren Hals geschlungen hatte, zu lösen und gab den Blick auf ihre elfenbeinfarbene Haut frei. Zu seinem Erschrecken entdeckte Jamie dort mehrere dunkelrot-blaufarbene Würgemale.
James Fraser hatte früh gelernt, seine Emotionen gut zu verbergen. Unter den Menschen, die regelmäßig mit ihm zu tun hatten, war er für die stoische Maske bekannt, die er aufzusetzen vermochte und die nie verriet, was er wirklich dachte oder empfand. Ernst Neuenburger hatte dieses Charakteristikum seines schottischen Freundes einmal als weiteren Pluspunkt für seine diplomatischen Missionen herausgestrichen und gemeint, dass Jamie, wenn er irgendwann einmal keine Lust mehr auf die tägliche Arbeit haben würde, auch als Pokerspieler sehr gut Geld verdienen könnte.
Doch in diesem Augenblick verließ ihn jedes Joule stoischer Ruhe. Ein Gefühl gerechten Zorns durchflutete seinen gesamten Körper und der Wunsch, denjenigen, der diese Male und die damit verbundenen Schmerzen und Ängste verursacht hatte, zur Rechenschaft zu ziehen, überwältigten ihn beinahe.
Der jungen Frau waren seine Gemütsregungen ganz offensichtlich nicht entgangen. Erschreckt fasste sie sich an ihren Hals und legte dann sofort den Schal wieder um. Anschließend blickte sie erneut hinunter. Tränen tropften jetzt von Claire's Gesicht auf den Boden. Jamie, dem auch das nicht entgangen war, hielt ihr erneut das Päckchen mit den Tempo-Taschentüchern hin.
“Bitte, nehmen Sie das ganze Päckchen.”
Claire griff nach den Taschentüchern.
“Danke.”
“Darf ich mich zu Ihnen setzen?” fragte Jamie und deutete auf die andere Seite der Bank.
Sie nickte.
Vorsichtig und darauf bedacht, ihr nicht zu nahe zu kommen, setzte er sich an das andere Ende der Bank.
Es vergingen einige Minuten, in denen sie beide schwiegen. Doch in James Frasers Kopf rotierten die Gedanken. Was konnte er tun, um dieser jungen Frau zu helfen ohne gleichzeitig seine Mission zu gefährden? Wie konnte er sie ansprechen, ohne ihr scheues Wesen noch mehr zu verängstigen? Auf welche Weise konnte er ihr Vertrauen gewinnen? Und vor allem: Wie konnte er sie davor bewahren, noch weiteren Brutalitäten ausgesetzt zu sein?
Auch in Claires Kopf jagte ein Gedanke den anderen. Wer war dieser Mann? Was wollte er von ihr? Konnte sie ihm vertrauen? War er die Hilfe, um die sie noch vor Minuten in einem mehr oder weniger bewussten Gebet gefleht hatte? Er sah nicht aus, wie ein Engel, eher wie die moderne Version eines hoch gewachsenen Wikingers. Und dennoch hatte er nichts an sich, dass auf sie bedrohlich wirkte. Seine leuchtend blauen Augen vermittelten ein Gefühl von … ein Gefühl von …
Plötzlich unterbrach die sanfte, tiefe Stimme, die ihr zuvor so freundlich die Taschentücher angeboten hatte, ihre Gedanken:
“Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Etienne Marcel de Provac Alexandre. Ich bin Weinhändler und hatte heute in der Stadt ein geschäftliches Treffen.”
Jamie reichte ihr seine rechte Hand.
Claire, die sich ein wenig beruhigt hatte, ergriff sie und antwortete:
“Claire Elisabeth Beauchamp …”
“Hände” by Bru-nO
Normalerweise hätte sie auch den Namen “Randall” angeführt, doch mit diesem Namen wollte sie nie wieder etwas zu tun haben. Ehe sie noch darüber nachdenken konnte, wie sie sich dieses Namens entledigen konnte, unterbrach die Stimme des Fremden erneut ihre Gedanken:
“Oh, auch aus Frankreich?”
“Nicht direkt. Meine Vorfahren sind schon … vor vielen Jahrhunderten … nach England ausgewandert. Kommen Sie aus Frankreich? Sie sprechen so akzentfrei Englisch?”
Jamie musste lächeln.
“Nun, auch meine Vorfahren haben Frankreich schon vor Jahrhunderten verlassen. Dann hat es sie über verschiedene Länder nach Deutschland verschlagen. Ich … ich arbeite als Weinhändler … für ein Unternehmen in Berlin.”
Er griff in die rechte Innentasche seines Jacketts, entnahm ihr ein silbernes Etui mit Visitenkarten und reichte Claire eine davon. Sie nahm die Karte und las aufmerksam. Überrascht hörte sie sich plötzlich fragen:
“Wie weit ist Berlin von hier entfernt?”
Jamie dachte einen kurzen Moment nach.
“Etwas mehr als 6.000 Kilometer Luftlinie, schätze ich.”
“Und wie weit ist es von London nach Berlin?”
“Ungefähr 1.000 Kilometer.”
“Und Sie sind geschäftlich in Boston?”
“Ja, ich hatte ein Treffen mit einem unserer Geschäftspartner.”
Sie nickte.
“Ich möchte nicht indiskret sein, aber darf ich Sie auch etwas fragen?”
Claire sah ihn an und Jamie erkannte dass das Vertrauen, welches er gerade so vorsichtig zwischen ihnen aufzubauen versucht hatte, aus ihren Augen gewichen war.
Doch die junge Frau nickte erneut.
“Sie … Sie sind nicht wegen der Ausstellung hier?” fragte er leise, fast flüsternd.
“Nein,” antwortete Claire ebenso leise und dann floss es, zu ihrer eigenen Überraschung, nur so aus ihr heraus:
“Ich … ich habe nach einem Platz gesucht, an dem … ich in Ruhe nachdenken kann und da die Kirche geschlossen war …”
“Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört habe. Das wollte ich nicht.”
Jamie machte Anstalten, sich vorsichtig zu erheben. Doch zu seiner Überraschung hatte Claire schnell ihre Hand auf seinen Arm gelegt, als wollte sie ihn zurückhalten. Wollte sie das? Sie wusste es selbst nicht.
In diesem Augenblick erklang aus den Lautsprechern in der Decke die Stimme jener freundlichen Mitarbeiterin, die Jamie begrüßt hatte. Sie wies die Besucher der Galerie darauf hin, dass man in Kürze schließen würde.
Jamie sah Claire an.
“Was werden Sie jetzt tun?”
Er brauchte nicht auf eine verbale Antwort warten, ihre Augen verrieten ihm, dass sie es nicht wusste.
“Darf ich Sie zum Abendessen einladen, Frau Beauchamp?”
Was wollte dieser Mann von ihr? Konnte sie ihm vertrauen? Oder versteckte sich hinter seinem Altruismus eine ganz andere Absicht. Auch Frank hatte sie einmal vertraut … Aber was, wenn er ihr wirklich nur helfen wollte? Was, wenn er wirklich nur freundlich sein wollte? Vielleicht weil der Gedanke an die ebenfalls französischen Vorfahren eine Art Verbundenheitsgefühl aktiviert hatte? Hatte sie irgendeine Chance? Hatte sie eine bessere Alternative? Claire nickte.
“Danke.”
Jamie erhob sich und wartete, bis auch Claire aufgestanden und ihre Handtasche genommen hatte. Langsam gingen sie in Richtung des Ausgangs. Durch eines der großen Schaufenster sahen sie, dass der Regen, der vor einigen Stunden begonnen hatte, die Stadt zu bedecken, sich sukzessive zu einem regelrechten Unwetter ausgewachsen hatte. Jamie griff zu seinem Smartphone und wählte die Nummer des Chauffeurs. Kurz darauf erschien Carl mit zwei großen schwarzen Regenschirmen vor der Galerie und gemeinsam liefen sie schnellen Schrittes zum Wagen.
“Schwarz und Weiß” by Pexels
“Zum Hotel, Mr. Alexandre?”
“Ja, Carl, zum Hotel.”
Claire sah Jamie verwundert an.
Doch er legte ihr kurz beruhigend eine Hand auf den rechten Arm:
“Zu meinem Hotel gehört ein wunderbares Restaurant. Ich bin gestern gekommen und fliege bereits morgen wieder nach Berlin zurück. Ich hatte keine Zeit, andere Restaurants zu entdecken.”
Eine halbe Stunde später saßen sie an einem Tisch im Restaurant des Hotels und hatten das Abendessen geordert. Claire hatte sich entschieden, dass sie die gemeinsame Zeit, die vor ihnen lag, nutzen würde. Sie hatte nichts zu verlieren und so begann sie, Jamie bzw. Etienne, auszufragen. Wie seine Familie nach Deutschland gekommen sei? Ob er in Deutschland aufgewachsen sei? Hatte er studiert? Hatte er Geschwister? Wie lange arbeitete er bereits für das Unternehmen, welches ihn nach Boston geschickt hatte? Machte ihm der Beruf Freude? Wollte er diesen Beruf sein ganzes Leben lang ausüben?
Während sie aßen und redeten, ließ Claire vorsichtig ihren Blick über seine Hände schweifen. Er trug keinerlei Ringe. Die Frage, ob er verheiratet sei, schien sich also zu erübrigen. Jetzt sah er sie fragend an. ganz offensichtlich hatte er etwas gemerkt.
“Glashütte Original Panomatic Date“ by GFP via WikiMediaCommons
“Sie tragen eine sehr schöne Uhr, Etienne,” sagte sie und hoffte, dass er nicht bemerken würde, dass ihre Aufmerksamkeit nicht dem Schmuckstück an seinem linken Handgelenk gegolten hatte. Bereits im Wagen hatte sie gesehen, dass er eine Armbanduhr mit einem blauen Zifferblatt trug, welches mit der Farbe seiner Augen harmonierte.
“Was ist das für ein Exemplar?” fragte sie und hoffte, ihn damit weiter ablenken zu können.
“Es ist eine Glashütte Original. Modell PanoMaticLuna,” antwortete er. Dann schnitt er ein weiteres Stück von seinem Steak ab.
“Sieht teuer aus,” sagte sie und führte dann eine weitere Gabel mit Salat an ihren Mund.
“Sagen wir so, sie war nicht ganz billig,” antwortete Jamie bevor er seinerseits eine Gabel mit dem Fleisch zum Mund führte.
“Sie verdienen also gut?”
Die Frage kam forsch und Claire biss sich fast auf die Zunge. Hoffentlich hatte sie ihn jetzt nicht beleidigt. Doch Jamie schien ihre Bemerkung nicht zu stören.
“Ich habe vor einigen Jahren das Glück gehabt, einen sehr guten Verkauf abschließen zu können und mein Boss hat mich prozentual am Gewinn beteiligt. Davon habe ich mir dann diese Uhr geleistet. Ich … gebe nicht viel auf … so etwas, aber eine verlässliche Uhr wollte ich schon immer haben.”
“Was war denn das, was Sie damals verkauft haben? Es muss ja ganz aussergewöhnlich gewesen sein.”
Beauchamp! Dein vorschnelles Mundwerk wird Dich noch in Unannehmlichkeiten bringen.
Sie wollte sich schon fast entschuldigen, als Jamie zu seinem Weinglas griff, daran roch und dann einen Schluck daraus nahm. Das gab ihm Gelegenheit, einen Moment nachzudenken, ehe er antwortete.
Auch Claire griff nach ihrem Weinglas. Sie sah ihn an und prostete ihm leicht zu.
“Nun,” begann er, nachdem er sein Glas abgesetzt hatte, “ich kann natürlich nicht über Geschäftsinterna sprechen. Aber sagen wir so: Ich habe vor einigen Jahren einige sehr alte Flaschen europäischen Weins ausfindig gemacht und konnte diese dann für jemand anderen, einen Sammler, zu einem sehr guten Preis erwerben.”
Fraser, Du Spinner. Hoffentlich nimmt sie Dir das ab.
Er hatte gelesen, dass solche Geschäfte vorkamen, aber äußerst selten waren. Außerdem fragte er sich, ob seine Antwort überzeugend geklungen hatte. Ja, er hatte sich diese Uhr von einer Prämie gekauft. Doch diese Prämie hatte er nicht für den Fund und Weiterverkauf alter Weinflaschen erhalten. Über Wochen hatte er bei heißestem Wetter mit einer nordafrikanischen Gruppe von Banditen verhandelt, die ein deutsch-österreichisches Archäologen-Team gekidnappt hatten. Nachdem er die zwölf Männer und Frauen endlich in mit einer Gulfstream 650 nach Wien bzw. nach Berlin zurückgebracht hatte, hatte ihm Ernst Neuenburger einen Scheck überreicht. Von diesem Geld hatte er die Armbanduhr gekauft, die er seitdem trug.
Als das Abendessen dem Ende entgegenging, entschied Jamie sich, auf volles Risiko zu spielen.
“Claire, ich weiß, das muss sich jetzt … merkwürdig für Sie anhören. Aber … ich möchte Ihnen gerne helfen. Was halten Sie davon, wenn ich ein Hotelzimmer für sie buche. Meine Firma kann die Kosten übernehmen. Das ist kein Problem. Ich rechne das später mit meinem Boss ab. Sie … Sie müssen heute Abend nicht … zu ihm ... zurückkehren.”
Er hatte leise, fast flüsternd, gesprochen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als würden ihre Ohren klingen. Bevor sie noch antworten konnte, hatte Jamie einen Kellner gerufen und ihn gebeten, bei der Rezeption anzufragen, ob er ein weiteres Einzelzimmer buchen könnte.
Sie sah ihn sprachlos an. Er lächelte nur.
Kurz darauf kam der Kellner zurück und erklärte, dass es wegen des in zwei Tagen stattfindenden Boston Marathons leider keine freien Einzelzimmer mehr gäbe.
“Dann hat sich das also erübrigt, aber vielen Dank für den Vorschlag,” sagte Claire und griff erneut zu ihrem Weinglas.
“Es gibt noch eine andere Möglichkeit,” begann Jamie und griff ebenfalls nach seinem Weinglas, ”in meinem Studio steht ein ausklappbares Sofa. Sie können mein Bett nehmen, ich lasse es neu beziehen und ich nehme das Sofa.”
Claire stellte ihr Weinglas mit einer solchen Wucht auf den Tisch, dass er glaube, der Stiel würde abbrechen.
“Was glauben Sie eigentlich?!” donnerte sie ihm entgegen. “Ich bin nicht solch’ eine Frau.”
Gern hätte er ihr in der gleichen Lautstärke geantwortet. Doch einige der anderen Gäste sahen sich bereits nach ihnen um und er wollte weiteres Aufsehen um jeden Preis vermeiden.
“Und ich, Claire, bin nicht solch’ ein Mann,” antwortete er in ruhigem, aber sehr bestimmten Ton. Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, fuhr er leise fort:
“Ich habe eine Familie in Berlin und ich … ich reise nicht um die Welt, um an meinen freien Abenden vulnerable Frauen auf mein Zimmer zu locken.”
Er schlug die Hände vors Gesicht und massierte sich leicht die Stirn. Als er wieder aufblickte, sah er wie sie sich leicht schüttelte. Da sie schwieg, sprach er weiter:
“Alles, was ich möchte, Claire, ist, Ihnen helfen. Ich weiß nicht, wer Ihnen die Blutergüsse an ihrem Hals beigebracht hat und ich werde Sie auch nicht danach fragen. Aber ich möchte nicht, dass Sie zu ihm zurück müssen, wenn Sie es nicht wollen. Und ich möchte auch nicht, dass sie bei diesem Wetter und mitten in der Nacht in dieser Stadt umherirren. Ich möchte die Gewissheit haben, dass Sie sicher sind und dass Sie sich in Ruhe ausschlafen. Morgen können Sie dann entscheiden, was Sie weiter tun wollen.”
Tränen rannen über ihre Wangen und schnell griff Claire zu ihrer Serviette, um sie abzuwischen.
“Claire, bitte! Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen helfe.”
Er streckte ihr seine rechte Hand entgegen. Als sie die Serviette beiseite gelegt hatte, ergriff sie sie.
“Danke.”
Jamie winkte dem Kellner und bat, zu veranlassen, dass das Ausziehsofa in seinem Studio hergerichtet und sein Bett frisch bezogen würde. Er bat außerdem darum, die beiden Schlafstellen mit Paravents abzutrennen. Als der Kellner kurz darauf zurückkehrte und mitteilte, dass die Wünsche des Gastes ausgeführt würden, bat Jamie darum, das Dessert zu servieren.
“Lemon Meringue Tart" by la-fontaine
Nachdem sie die Lemon Meringue Tart verspeist und auch den Rest der Flasche Wein geleert hatten, erhob Jamie sich und reichte Claire seine Hand. Gemeinsam gingen sie aus dem Restaurant zur Garderobe, wo sie ihre Mäntel entgegennahmen.
Kurz darauf öffnete Jamie die Tür zu seinem Studio und ließ Claire hineingehen. Als er nach ihr eintrat, sah er, dass der Service seine Wünsche genau ausgeführt hatte. Sein Bett war frisch bezogen worden und auf der Tagesdecke lag ein zweiter Bademantel. Man hatte den Schlaf- vom Wohnzimmerbereich, in dem das Sofa nun zu einem Ausziehbett umgestaltet worden war, mit einem ca. 2 Meter langem Bambus-Paravent abgetrennt. Auch Claire sah sich eingehend um und Jamie meinte auf ihrem Gesicht so etwas wie einen Ausdruck von Zufriedenheit und Entspannung zu erkennen.
Er nahm Claire den Mantel ab und hängte ihn mit seinem in die Garderobe.
“Setzen Sie sich doch,” sagte er und deutete auf einen der Sessel, die vor dem Gaskamin standen. Claire ließ sich mehr in den Sessel fallen, als dass sie sich hineinsetze. Es schien als habe sie mit einem Mal alle Kraft verlassen. Ihr Blick fiel auf den Ehering, den sie, aus purer Gewohnheit, noch immer trug. Sie versuchte ihn abzustreifen, doch es gelang ihr nicht. Von Gefühlen des Schmerzes und der Wut überwältigt, brach sie erneut in Tränen aus und begann zu schluchzen. Jamie, der für einen Moment an eines der Fenster getreten war und auf die Straße hinunter geblickt hatte, drehte sich um und war mit zwei großen Schritten bei ihr. Ohne weiter darüber nachzudenken, kniete er sich vor sie und legte einen Arm um sie.
“Claire,” sagte er leise, “vertrauen Sie mir, wir finden einen Weg. Sie müssen nicht zu ihm zurück.”
Als sie ihn mit ihren verweinten Augen ansah, konnte er diesen Anblick kaum ertragen und zog sie an sich.
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