Pflaume-Zimt-Tee in der Nacht
Ein Schmetterlingseffekt-AU, in dem Adam und Leo sich eines Nachts nach vielen Jahren der Funkstille unverhofft wiedertreffen und einiges zu besprechen haben — und in dem der Spatenschlag nie passiert ist, weil... naja, jemand zuvor gekommen ist.
→ für @silverysnake, entstanden im Rahmen des Secret Spatort Promt Exchanges 2023 von @spatortprompts
→ zu finden auch auf ao3
@silverysnake: vielen, vielen Dank für diesen Prompt! Das hat mir wirklich extrem viel Spaß gemacht, mich in diese alternative Welt hineinzudenken. Und ich bin auch sehr froh, dass es mich so kurz vor Jahresende doch noch dazu „gezwungen“ hat, auch in dieser Spatort-Zwischenzeit noch etwas zu schreiben, danke also auch dafür! Ich hoffe, dir gefällts! <3 (ich packe deinen Prompt hier nochmal mit rein, ich hoffe das ist ok!)
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Prompt: Wie wäre es gewesen wenn Adam nicht weggelaufen wäre? War Roland vielleicht nicht so gewalttätig gegen seinen Sohn? Oder vielleicht doch und irgendetwas hat Adam trotzdem in Saarbrücken gehalten? Ist der Spatenschlag so passiert oder nicht? Und wenn wir hier schon alles über den Haufen werfen: wären Adam und Leo wirklich beide zur Polizei gegangen und hätte das ganze vielleicht ganz anders aussehen können?
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Pflaume-Zimt-Tee in der Nacht
Er schlägt den Kragen hoch, zieht die Mütze tief in die Stirn. Es ist eisig kalt und es regnet, einen kalten, dicktropfigen Dauerregen, der den Gehweg in eine kleine Seenlandschaft aus Pfützen verwandelt hat. Er macht einen großen Schritt, um einer der Pfützen auszuweichen, zieht den Autoschlüssel aus der Jackentasche und lässt sein Auto aufleuchten in der Nacht. Im Auto ist es kalt, fast noch ein bisschen kälter als draußen. Er streicht sich die regenfeuchten Haare aus der Stirn und lässt den Motor an. Die Adresse muss er nicht nochmal nachgucken. Danziger Ring 20, er kennt die Gegend.
Der Schlaf hängt ihm noch in den Gliedern, die Muskeln sind schwer und träge, als sträubten sie sich mit aller Kraft gegen diese ungeheuerliche Störung der Nachtruhe. Raus aus dem warmen Bett, hinein in die kalte Nacht. Sein Handy stand nur auf Vibrieren, steht es immer, aber er hat es trotzdem gehört. Viele Dämonen seiner Kindheit ist er losgeworden mit der Zeit, aber nicht den Fluchtinstinkt, das Allzeit-bereit-Sein. Und ein bisschen ist es ihm sogar recht gewesen heute Nacht. Sein Bett ist nicht mehr dasselbe, seit Stefan nicht mehr da ist. Er findet es leer und sinnlos jetzt, kann seiner Wärme nichts mehr abgewinnen. Also nicht, dass er nicht selbst Schluss gemacht hätte, es ist schon okay so, besser so. Aber ans Alleinsein, daran muss er sich erst wieder gewöhnen. An die Stille. An die Leere. An die Einsamkeit. Die scheiß Einsamkeit. Manchmal, wenn er abends im Bett liegt, fühlen sich die Wände seines Schlafzimmers so eng an, als hinge die Einsamkeit auch in ihnen, wie ein Schimmel, der sich unter der Tapete ausgebreitet hat. Als wollten sie näher kommen, ihn ersticken, ihn erdrücken, ihn begraben unter der Einsamkeit. Dann lieber hier. Nur er, der Regen, die Scheibenwischer und die nachtleeren Straßen. Und ein Ziel.
Es ist ein unscheinbares, durchschnittliches Mehrparteienhaus, grau — so wie alle Häuser in der Nacht. Doch man sieht gleich, dass hier etwas anders ist, selbst wenn man die Autos, die am Gehweg vor dem Haus parken, noch nicht bemerkt hat. Denn die Fenster — in den anderen Häusern dunkel zu dieser nachtschlafenden Zeit — sind hell erleuchtet hier. Nicht alle, aber ungewöhnlich viele, vor allem oben im dritten Stock. Und dann die Autos. Man bemerkt es nicht sofort, weil das Blaulicht ausgeschaltet ist, aber es sind fast alles Polizeifahrzeuge. Ein Streifenwagen, ein Polizei-Bulli, ein weißer Bulli, zwei dunkle Kombis — Zivilfahrzeuge vermutlich — und daneben, wie um die ganze Szenerie ganz und gar unmissverständlich zu machen, ein Leichenwagen. Er hält auf der gegenüberliegenden Straßenseite, kurz vor der Einfahrt zum Garagenhof, weil er sich nicht sicher ist, ob es okay gewesen wäre, sich einfach zur Polizei zu stellen. Er zieht den Schlüssel ab, schaltet das Licht aus und stößt die Tür auf. Bloß gar nicht erst zögern. Er hastet durch den Regen, rüber zur Nummer 20.
Die Haustür steht offen, der Flur ist hell erleuchtet. Er hat keine Ahnung, was ihn oben erwarten wird, man hat ihm nichts gesagt. Gedämpfte Stimmen dringen hinab, irgendetwas schweres wird über den Boden geschoben. Er war noch nie an einem Tatort. Also na ja, bis auf… Er schiebt den Gedanken weg, steigt stattdessen noch etwas zügiger die Treppe rauf, die ganz nass und rutschig ist von den vielen Schuhen, die hier heute Nacht schon auf und ab gelaufen sind und den Regen reingeschleppt haben.
Vor der Wohnungstür steht ein uniformierter Polizist und mustert ihn mit undeutbarem Blick. Neben ihm auf dem gesamten Treppenabsatz verteilt zahllose Taschen, Koffer, Beutel voller Utensilien, Gerätschaften.
Er kramt seinen Dienstausweis aus der Jackentasche und hält ihn dem Beamten hin. »Sie hatten angerufen?«
Der Gesichtsausdruck des Beamten verändert sich, wird mit einem Mal kollegial. Er bückt sich, zieht aus einem der Koffer etwas plastikverpacktes hervor, reicht es ihm wortlos, wendet sich in Richtung Wohnungstür und ruft: »Der Kollege vom Jugendamt ist da!«
In dem Beutel stecken ein weißer Schutzoverall und zwei blaue Schuhüberzieher. Das bedeutet dann wohl, dass er das anziehen soll. Er ist gerade beim zweiten Überzieher angekommen, als eine ebenfalls schutzoverallte Frau in der Tür erscheint.
»Heinrich, Kripo Saarbrücken«, sagt sie und streckt ihm die Hand entgegen. »Danke, dass sie so schnell kommen konnten. Der Kleine ist im Kinderzimmer und schläft.« Sie presst kurz die Lippen aufeinander, legt den Kopf ein wenig schief. »Zum Glück«, setzt sie dann hinzu.
Sie ist noch jung, ungefähr in seinem Alter, denkt er und sieht mindestens genau so müde aus, wie er sich fühlt. Er folgt ihr hinein in den Wohnungsflur. Die Einrichtung ist etwas spartanisch, aber ordentlich — er kennt da auch anderes. Sie gehen am Wohnzimmer vorbei, in dem er bei einem schnellen Blick mindestens noch vier bis fünf weitere Overalls erspäht, drei von ihnen stehen über irgendetwas — oder irgendjemanden — gebeugt, versperren die Sicht darauf. Besser so vielleicht. Auf den Rückseiten ihrer Overalls steht, so wie auf dem der Kommissarin und anders als auf seinem, ‚Polizei‘ und bescheuerterweise lässt das sein Herz schneller schlagen. Absurd. Saarbrücken ist zwar nicht gerade als Kriminalitätshochburg bekannt, aber so idyllisch, dass es nur einen einzigen Kriminalkommissar bei der Mordkommission gäbe, ist es dann auch nicht.
»Hier drin«, sagt Kommissarin Heinrich leise. Sie stehen vor einer dunklen Holztür am Ende des Flures. Auf ihr kleben bunte Buchstaben, die den Namen ‚Matteo‘ bilden.
»Wir konnten keine Angehörigen ermitteln«, sagt Kommissarin Heinrich.
Er nickt. »Kann ich ein paar Sachen von ihm mitnehmen?«
»Klar«, sagt sie. »Geben Sie mir nur Bescheid, was. Und er soll bitte nicht gewaschen werden. Wir würden ihn morgen gerne noch kriminaltechnisch untersuchen lassen.«
Im Zimmer ist es dunkel. Im Schein des vom Flur hereinfallenden Lichts findet er den Schalter zu einer kleinen Lampe, die auf der Kommode steht. Sie taucht den Raum in ein schummriges, warmes Licht. Matteo liegt im Bett und schläft tatsächlich tief und fest. Er selbst wäre bei dem ganzen Kuddelmuddel draußen auf dem Flur ja schon zehnmal aufgewacht, denkt er bei sich. Aber er ist eben auch er.
Er findet eine kleine Tragetasche, packt ein paar Klamotten aus der Kommode hinein, ein Bilderbuch, das er auf dem Boden findet, einen Stoffhasen, der neben Matteo im Bett liegt und einen kleinen Plastikdino, der neben ihm auf dem Nachttisch steht. Dann zieht er sich vorsichtig die Kapuze vom Kopf und geht vor dem Bett in die Hocke. Falls Matteo jetzt aufwacht, sollte der fremde Mann, den er dann zwangsläufig sehen wird, zumindest nicht auch noch völlig weiß-vermummt sein. Er schlägt die Decke zurück und hebt ihn dann behutsam aus dem Bett. Matteo seufzt ein wenig und lässt ein tiefes Atmen hören, aber als er ihn auf den Arm nimmt und gegen seine Schulter legt, lässt Matteo seinen Kopf in seine Halsbeuge sinken und schläft weiter. Er schultert den Beutel mit Matteos paar Habseligkeiten und geht leise zurück in den Flur. Die Kommissarin ist verschwunden, also geht er in Richtung Wohnzimmer, nimmt auf dem Weg noch Matteos Jacke von der Garderobe und bleibt dann in der Wohnzimmertür stehen. Dort stehen immer noch vier Leute, den Rücken ihm zugewandt.
»Frau Heinrich?«, fragt er.
Sie dreht sich um und er hält ihr die Jacke und den Beutel mit Matteos Sachen hin. »Sie hatten gesagt, ich soll Ihnen noch —«, beginnt er, doch er kommt nicht weiter.
»Adam?!«, fragt eine Stimme. Eine Stimme, die er unter Tausenden erkennen würde.
Das Herz rutscht ihm in die Hose. Also doch. Er hätte das mit dem Germanistikstudium durchziehen sollen damals, denkt er. Oder er hätte gehen sollen — damals, später, irgendwann, nur raus aus dieser Stadt, so wie er es immer gewollt hat. Wer weiß, was dann geworden wäre, was aus ihm geworden wäre, wo er jetzt wäre… In jedem Fall wäre er jetzt ganz sicher nicht ausgerechnet hier.
»Leo?!«, erwidert er, weil was soll er auch sonst sagen. Er kann ja nichts anderes tun, als so zu tun, als ob die Möglichkeit, Leo hier heute zu treffen nicht das erste gewesen wäre, an das er gedacht hat, als er zum Tatort eines Tötungsdelikts gerufen wurde. Aber es fühlt sich eh an, als würde jemand anderes das sagen. Dieser erwachsene Mann vom Jugendamt nämlich, der hier im Türrahmen steht mit einem frisch verwaisten Kind auf dem Arm und der einen Plan hat, für das Kind, für sich, der sein Leben auf erstaunliche Weise im Griff hat, mehr oder weniger zumindest. Und er selbst steht nur unsichtbar daneben, wie ein verschreckter 25-jähriger, dessen Leben ungelebt an ihm vorbeizieht und der nie wieder den Mut hatte, den er ein einziges Mal nur in seinem Leben aufgebracht hat.
»Was machst du denn hier?«, hört er Leo fragen. Auch er steckt in einem weißen Overall — natürlich —, aber Adam erkennt ihn trotzdem sofort. Kein Schutzoverall dieser Welt könnte verhindern, dass er dieses Gesicht erkennt — und wenn es noch so überrumpelt aussieht.
Adam deutet mit dem Kopf in Richtung des schlafenden Matteo an seiner Schulter. »Ich bin beim Allgemeinen Sozialen Dienst«, sagt er leise. »Jugendamt.«
Leo hebt die Augenbrauen. »Seit wann denn das?«
»Im Januar vier Jahre«.
»Oh...«, sagt Leo. Ob nur dazu, dass Adam beim Jugendamt arbeitet oder doch auch ein wenig dazu, dass sie ganz offensichtlich seit mindestens vier Jahren nicht mehr miteinander gesprochen haben, weiß Adam nicht, aber er kann es sich schon denken.
Die anderen Polizisten inklusive Kommissarin Heinrich haben sich wieder dem etwas, das da hinter dem Sofa liegt, zugewandt. Leo indes macht ein paar Schritte auf ihn zu — er steht immer noch in der Tür, weil er nicht weiß, ob er hinein darf ins Wohnzimmer und ob er das überhaupt wollen würde.
»Wir haben uns...«, setzt Leo an.
»Lange nicht gesehen«, vervollständigt Adam seinen Satz, obwohl das natürlich maßlos untertrieben ist. Sie haben sich wirklich seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Seit vor Leos Hochzeit nicht. Und die muss mittlerweile schon über sechs Jahre her sein. Alles, was er seitdem über Leo weiß, weiß er von sozialen Medien, von WhatsApp-Statussen oder von seiner Mutter, die manchmal Leos Mutter bei Aldi trifft.
Leo nickt. »Ja«, sagt er nur.
Einen Moment lang sehen sie sich etwas ratlos an. Wie zwei ehemals beste Freunde eben, die sich seit Jahren nicht gesehen haben und das aus dem einzigen Grund, dass sie sich vom Leben irgendwie haben auseinander treiben lassen.
»Was macht ihr jetzt mit ihm?«, fragt Leo schließlich und sieht Matteo an.
»Bereitschaftspflege«, sagt Adam. »Also das heißt, sobald wir jemanden gefunden haben. Meine Kollegin telefoniert gerade rum.«
Leo nickt. Sieht Matteo einen Moment lang an. »Oh Mann«, sagt er. »Und bis dahin? Fährst du mit ihm erstmal ins Jugendamt?«
Adam schüttelt den Kopf. »Ich glaub, ich setz mich mit ihm einfach ins Auto und warte. Sie findet bestimmt bald wen.«
»Oh, ihr...«, beginnt Leo. »Du kannst auch... warte mal.« Er dreht sich zu seinen Kollegen um. »Ich bin mal kurz unten, ja?«, sagt er und bedeutet dann Adam, mit ihm zu kommen.
Vor der Wohnungstür streift Leo sich mit einer geübten Bewegung Handschuhe, Overall und Schuhüberzieher ab. Darunter trägt er dunkle Jeans, ein graues T-Shirt und eine dunkelblaue Stoffjacke.
»So«, sagt er, nachdem er die Schutzkleidung in einen bereitstehenden Müllsack gestopft hat, richtet sich auf und lächelt Adam etwas schief an. »Komm. Du kannst deinen unten ausziehen.«
Adam folgt Leo die Treppe hinunter und denkt dabei, wie sehr Leo immer noch genauso redet und genauso aussieht wie früher, wie immer schon. Nur noch etwas kantiger ist er jetzt, bärtiger, erwachsener — an den Schläfen ist er sogar schon ein wenig grau geworden. Aber seine kurzen braunen Haare sehen immer noch genauso weich und fluffig aus wie früher, seine Augen sind immer noch sanft und ozeanfarben und wie immer ein bisschen sorgenvoll, auf seiner Nase sitzen noch immer diese kleinen Sommersprossen, die ihm so unendlich vertraut sind. Und vor allem sieht er immer noch gut aus. So unendlich, unfassbar gut. Adam schüttelt innerlich den Kopf, schüttelt die Gedanken ab. Absurd, denkt er, nach sechs Jahren, ach was, nach fünfzehn.
Unten angekommen spannt Leo den großen Regenschirm auf, der neben der Tür lehnt, hält ihn über sie drei und führt sie zu einem der Bullis.
»Du kannst dich mit ihm hier reinsetzen«, sagt er, während er die große Schiebetür aufzieht. »Ist vielleicht ein bisschen gemütlicher. Unser mobiler Arbeitsplatz, wenn wir unterwegs schonmal den Grundsachverhalt anlegen wollen, Sachstandsanfragen stellen, Bildmaterial sichten oder sowas. Oder einfach kurz Pause machen.«
Er lässt Adam mit Matteo zuerst einsteigen, klappt dann den Regenschirm zusammen, steigt ebenfalls ein und zieht die Tür hinter ihnen wieder zu.
Drinnen ist wirklich ein kleiner Arbeitsplatz. Ein Klapptisch, auf dem ein Laptop und ein paar leere Tassen stehen, um ihn herum vier Sitze, eine winzige Küchenzeile, endlos viele Schubladen und Schränke und ganz hinten eine Sitzbank. Ein bisschen wie in einem Wohnmobil, nur irgendwie sachlicher, behördlicher, zweckoptimierter.
Leo schaltet eine kleine Leselampe über dem Tisch an, öffnet dann einen der Schränke und zieht eine Wolldecke hervor. »Willst du ihn da hinlegen?«, fragt er leise und deutet auf die Sitzbank.
Adam nickt und legt Matteo vorsichtig ab, schiebt ihm den Plüschhasen als Kopfkissen unter den Kopf und deckt ihn zu.
»Willst du einen Tee?«, fragt Leo und ist schon dabei, Wasser in einen Wasserkocher zu füllen.
Eigentlich mag Adam keinen Tee, mochte er noch nie, aber er will auch nicht, dass Leo wieder geht und wenn er noch Tee macht, dann bleibt er zumindest noch ein bisschen.
»Gerne«, sagt er also, während er nun ebenfalls beginnt, sich aus seinem Overall zu befreien. Er knüddelt ihn zusammen mit den Schuhüberziehern unter einen der Sitze. Dann setzt er sich und zieht sein Handy aus der Jackentasche. Seine Kollegin hat noch nicht angerufen. Er steckt es wieder ein und beobachtet Leo, wie er zwei saubere Tassen aus einem der Schränke holt, die benutzten vom Tisch räumt, auch den Laptop in einer Schublade verschwinden lässt, dann einen anderen Schrank öffnet, darin stöbert.
»Was für Tee willst du? Schwarz, grün, Kräuter...?« Er kramt noch ein wenig im Schrank, zieht von ganz hinten noch eine Schachtel hervor, liest. »...Pflaume-Zimt?« Er dreht sich um, sieht Adam fragend an.
Kurz will er ‚schwarz‘ sagen, weil er seinen Kaffee so immer trinkt und sich das auch für Tee irgendwie richtig anfühlt, aber irgendwie hört er sich dann doch etwas anderes sagen. »Pflaume-Zimt«, sagt er. Vielleicht passt das einfach besser zu dem allen hier. Dem Wasserkocher, der leise rauscht und gluckert, dem Regen, der gleichmäßig aufs Dach des Wagens prasselt, den Regentropfen, die draußen in der dunklen Nacht vom Fenster abperlen.
»Ja, warum eigentlich nicht«, meint Leo und nimmt gleich zwei Beutel aus dem Karton und hängt je einen in die beiden Tassen. Der Wasserkocher rauscht noch einen Augenblick, dann klickt er und ist fertig. Leo gießt das sprudelnd heiße Wasser in die beiden Tassen, bringt sie rüber zum Tisch und setzt sich auf den Platz gegenüber von Adam. Adam schmiegt seine kalten Hände an die warme Tasse. Der süßlich-würzige Geruch des Tees zieht ihm in die Nase und irgendwie ist er tatsächlich froh, diesen Tee ausgesucht zu haben.
»Was ist passiert da oben?«, fragt er — extra leise diesmal, nur für den Fall, dass Matteo am Ende doch irgendwas hört.
»Wissen wir noch nicht so genau«, sagt Leo. »Vom Festnetzanschluss wurde ein Notruf abgesetzt, bei dem aber niemand was gesagt hat. Möglicherweise Suizid. Vielleicht aber auch nicht.«
»Scheiße«, sagt Adam.
Leo nickt.
Adam dreht sich zu Matteo um. Der schläft immer noch friedlich. Aber irgendwann, vielleicht gleich, vielleicht später in der Nacht, vielleicht auch erst am Morgen, da wird er aufwachen und alles wird anders sein, für immer. Und sein altes Leben wird er vergessen mit der Zeit, keine Erinnerung wird ihm bleiben, außer vielleicht hier und da ein vages Gefühl, das er nicht einordnen kann, ein Schmerz, eine Angst, eine Wut, für die er keine Erklärung hat.
»Die arme Maus«, sagt er leise und streckt einen Arm aus, um ihm sanft über den Rücken zu streichen.
»Habt ihr sowas oft?«, fragt Leo.
Adam wendet sich wieder zu ihm um. »Naja, nicht unbedingt so«. Er deutet nach oben in Richtung der Wohnung. »Aber Kinder ohne Eltern, klar.«
Leo zieht am Band seines Teebeutels, schwenkt ihn ein wenig durch seine Tasse. Nimmt vorsichtig einen ersten Schluck. »Miriam und ich lassen uns scheiden«, sagt er dann.
Es ist ein wenig unvermittelt und Adam fragt sich, ob er jetzt durch die elternlosen Kinder darauf gekommen ist. Er sieht ihn prüfend an, aber Leo hält seinen Blick in seinen Tee gesenkt.
»Tut mir leid«, sagt Adam und spielt dann ebenfalls mit seinem Teebeutel, weil er nicht weiß, was er weiter sagen soll.
»Ich dachte echt, uns passiert das nicht«, sagt Leo.
Adam sieht ihn mit gerunzelter Stirn an und legt den Kopf schief. Weil als ob das nicht jedem passieren könnte. Selbst einem Leo Hölzer.
Aber Leo schüttelt den Kopf, wie aus Ärger über sich selbst. »Meine Kinder müssen jetzt jede Woche umziehen.«
»Und wie finden die das?«
Leo seufzt. »Seltsamerweise cool. Also dass sie zwei Kinderzimmer haben und so.«
Adam lächelt. »Ja, das hör ich oft.«
»Ich weiß nicht«, sagt Leo. »Ich hab mir immer gewünscht, dass meine Eltern wieder zusammenkommen.«
»Habt ihr viel gestritten?«
Leo wiegt den Kopf. »Ja«, sagt er dann und klingt ein wenig schuldbewusst. »Schon.«
»Also«, sagt Adam und hebt die Schultern.
Leo nickt nachdenklich. »Hast du welche?«, fragt er dann.
»Kinder?«, fragt Adam und für einen Moment erscheint ihm der Gedanke vollkommen absurd. Woher sollte er schon Kinder bekommen? Aber dann lächelt er und nimmt noch einen Schluck von seinem Tee. »Dreiundzwanzig«, sagt er dann.
»Was?!«
Adam nickt und unterdrückt nur mit Mühe ein Lachen. »Ich hab dreiundzwanzig Amtsvormundschaften. Also momentan. Das wechselt aber auch. Insgesamt hatte ich schon etwas über hundert, glaub ich.«
Leo sieht ihn verwundert an. »Dreiundzwanzig? Und die betreust du alle gleichzeitig?«
»Ja«, sagt Adam. »Also naja. Die sind natürlich alle in Pflegefamilien oder noch bei ihren Eltern oder Großeltern, in Wohnprojekten oder im Heim. Ich kümmer mich nur darum, dass es ihnen da gut geht, bekomme Bescheid, schaue ab und zu mal vorbei, kümmer mich um Sachen, je nachdem, was grad so los ist. Eine ist gerade zur Klassensprecherin gewählt worden.« Er lächelt ein wenig verlegen, als er bemerkt, dass er wirklich ein bisschen wie ein stolzer Vater klingt. »Aber es ist am Ende auch einfach viel... Sachbearbeitung«, fährt er schnell fort. »Berichte, Anträge, Berichte, Formulare, Berichte. Ach ja, und Berichte.«
Leo lacht. »Kenn ich irgendwoher.« Seine Wangen sind ganz rund vom Lachen und um seine Augen herum sind diese kleinen Lachfältchen entstanden, die Adam noch immer so gut kennt. Er muss lächeln und nestelt am Saum seines Jackenärmels — nur um eine Entschuldigung zu haben, den Blick zu senken. Leo sieht so schön aus, dass es ihn regelrecht verlegen macht.
»Und bei dir?«, fragt er dann, als das blödsinnige Grinsen wieder ein wenig aus seinem Gesicht gewichen ist, er es wieder wagt, den Blick zu heben. »Wie ist das so? Mordkommission? Immer noch on fire?«
Leo lacht. Hebt die Schultern, fast ein wenig entschuldigend. »Ja«, sagt er. »Eigentlich schon irgendwie.«
Seit Adam Leo kennt, das heißt seit sie dreizehn sind, wollte Leo immer schon nur zur Polizei. Und auch damals schon zur Kripo, zur Mordkommission. Selbst später noch, nach allem. Als wäre er irgendwie dazu geboren worden oder so.
»Ist das nicht ein bisschen krass?«, fragt Adam. »Sowas«, er deutet nochmal nach oben, »jeden Tag?«
Leo wiegt den Kopf. »Jeden Tag ist es ja nicht. Da ermitteln wir jetzt erstmal dran. Dass wir tatsächlich live an einem Tatort sind, das kommt gar nicht so oft vor. Die ganzen gewöhnlichen, alltäglichen Sachen macht ja der Dauerdienst.« Er hält einen Moment inne. »Nur, naja«, beginnt er dann. »Letztes Jahr hab ich im Dienst einen angeschossen. Das war...« Er hebt die Hände, wie um irgendetwas abstraktes zu verdeutlichen. »Wir wollten auf Grund neuer Indizien einen Verdächtigen nochmal überprüfen… aber als wir in seine Werkstatt gekommen sind, hatte er plötzlich eine Waffe in der Hand. Hat einfach auf meinen Kollegen geschossen. Der Schuss ging in die Wand, aber trotzdem. Da musste ich natürlich schießen. Ich hab auf seinen Waffenarm gezielt, aber beim ersten Mal verfehlt und ihn in die Milz getroffen. Das hätte echt übel ausgehen können.«
»Aber ist es nicht?«
Leo schüttelt den Kopf. »Nein, zum Glück nicht. Aber es gibt dann natürlich trotzdem Ermittlungen, ewige Verhöre, Gespräche. Das war… das war alles schon ein bisschen scheiße.« Er macht eine Pause. »Aber sonst. Ich mag das einfach. Ermitteln, Rätsel lösen.« Er hebt die Schultern. »Naja, außer das mit den Angehörigen«, wendet er dann doch noch ein. »Das kann ich auch nicht immer so gut. Das ist manchmal ein bisschen schwierig, wenn die…« Er presst die Lippen aufeinander, sieht Adam etwas unsicher an. »Aber das weißt du ja selbst irgendwie.«
Adam sieht ihn lang an, stößt dann etwas Luft durch die Nase. Hebt die Augenbrauen. »Ja, könnte man wohl so sagen.«
Für einen Moment sagt keiner von beiden mehr etwas, Leo schiebt nur seine Teetasse von der einen Hand in die andere, während der Regen immer noch unaufhörlich aufs Autodach trommelt. Irgendwann nimmt Leo eine der benutzten Tassen aus der Spüle, legt seinen tropfenden Teebeutel hinein. Adam tut es ihm gleich, nimmt dann noch einen Schluck vom immer noch dampfenden Tee.
»Tut mir leid, dass ich mich nie mehr gemeldet hab«, sagt Leo irgendwann in das Schweigen hinein. »Es war einfach so... Ich wollte immer. Aber dann war Miri direkt schwanger und... irgendwas war immer.«
Adam hebt die Schultern. »Schon okay«, sagt er leise. »Hätte mich ja auch nochmal melden können.« Er dreht die Teetasse in seinen Händen, sieht den Regentropfen dabei zu, wie sie lange Schlieren an der Scheibe ziehen. »Tut mir leid, dass ich nicht da war«, sagt er. »Auf der Hochzeit mein ich. Und auf dem Junggesellenabschied.«
Leo sagt nicht gleich etwas. Erst nach einer Pause dann: »Ja... das... Ich hätte dich gerne dabei gehabt.«
Adam nickt. »Sorry.« Er macht eine Pause, sucht nach Worten, die zwar erklären, aber dennoch vage bleiben, die Wahrheit ein bisschen kaschieren. »Ich war irgendwie...«, beginnt er. »Es ging mir nicht so gut, glaub ich. Ich glaub, ich wollte einfach nicht unter so vielen Menschen sein.«
Vielleicht stimmt das sogar ein bisschen. Aber die ganze Wahrheit ist es natürlich nicht. Die ganze Wahrheit wäre wohl, dass er Leo ganz einfach nicht beim Heiraten zusehen wollte. Und dass er vielleicht auch eh nicht mehr so ganz das Gefühl gehabt hat, als würde er noch so richtig dazu gehören zu Leos Leben. Auf dem Junggesellenabschied hätte er niemanden gekannt und auf der Hochzeit nur Leos Familie. Er ist eh fast ein bisschen überrascht gewesen damals, dass er überhaupt eingeladen gewesen ist, so wenig hatten sie da schon nur noch miteinander zu tun.
Er hat sich immer gefragt, wann das alles eigentlich angefangen hat. Also das mit ihnen. Oder eher, wann es aufgehört hat. Dabei kennt er die Antwort natürlich, will sie nur manchmal immer noch nicht wahrhaben. Nur ob es nun das eine oder ob es das andere Ereignis an jenem Tag gewesen ist, das weiß er wirklich nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Wahrscheinlich, denkt er oft, war es die Kombination, die ungeheuerliche Gleichzeitigkeit von beidem. Ganz früher, ganz am Anfang, da hat er tatsächlich geglaubt, es wäre eine Strafe. Dass es doch falsch gewesen ist, dass deswegen... dass es ein Racheakt war. Von Gott, den Göttern, dem Schicksal, dem Universum. Wie auch immer. Dass es seine Schuld gewesen ist irgendwie. Und das, obwohl es doch eigentlich alles gewesen ist, was er sich immer gewünscht hat. Aber es hat sich alles falsch angefühlt. Das, was sich richtig hätte anfühlen sollen, was befreiend hätte sein sollen, hat sich einfach nur falsch angefühlt. Weil man ja auch nicht einfach erleichtert aufatmen und sein Leben weiterleben kann. Weil stattdessen die Kriminalpolizei kommt und alles auf den Kopf stellt. Weil einen in der Schule alle komisch angucken. Weil die Nachbarn reden und plötzlich mit Kuchen vorbeikommen in der Hoffnung vielleicht irgendein Detail zu erfahren, das sie noch nicht aus den Medien oder der Nachbarschaftsflüsterpost kennen. Er hat ihn immer ein wenig dafür gehasst, dass er mit so einem großen Brimborium aus der Welt geschieden ist, anstatt einfach, wie andere Väter, auf irgendeine gewöhnliche Weise zu krepieren. Autounfall, Herzinfarkt, Krebs. Sowas. Am schlimmsten war es, als die Kripo den Fall nach zwei Jahren ergebnisloser Ermittlungen — also genau dann, als die Nachbarn und die Zeitungen und das Fernsehen den Fall gerade fast ein bisschen vergessen hatten — mit zu Aktenzeichen XY genommen hat. Natürlich haben sie sie gefragt, ihn und seine Mutter, ob das okay ist. Aber was soll man sagen? Nein, wir möchten nicht, dass der Mörder gefunden wird, bitte lassen Sie uns in Frieden? Er hat die Sendung nie angesehen, aber er weiß auch so, dass sie ihn da als liebevollen Familienvater dargestellt haben. Und dass irgendein Laienschauspieler auch ihn selbst gespielt hat. Den traurigen, verwaisten Sohn. Und vor allem weiß er, dass danach regelmäßig Autos mit auswärtigen Kennzeichen im Schritttempo an ihrem Haus vorbeigefahren sind, dass Gruppen Schaulustiger durch den Wald getrampelt sind und mit ihren Digitalkameras Fotos von ihrem Grundstück gemacht haben.
Die Kripo hat auch sie befragt damals, klar. Schließlich hatten sie ihn gefunden. Leo und er. Auf dem Rückweg vom Baumhaus waren sie, sind den Trampelpfad zurück zum Haus entlang gestolpert. Vielleicht wären sie noch länger im Baumhaus geblieben an dem Tag, vielleicht wäre dann alles anders gewesen. Aber es ist schon viel zu spät gewesen, er ist ja mit seinem Vater zum Trainieren verabredet gewesen. Also sind sie runter, zusammen bis zur Weggabelung, da wo es rechts zu Adam ging und links durch den Wald zum Schrebergarten von Leos Opa und von da aus über den Schleichweg runter zur Hauptstraße, zu den Bahnschienen, hinter denen die Hölzers gewohnt haben. Aber dann lag er da. Lag einfach so da. Leo hat ihn zuerst gesehen, weil er voran gegangen ist auf dem schmalen Weg. Hat nichts gesagt, hat nicht geschrien, wie es die Leute in Filmen immer tun, ist nur wie angewurzelt stehen geblieben, ein paar Sekunden lang vielleicht, bis er sich umgedreht hat zu Adam und ihn angesehen hat mit diesem Blick, den er niemals wieder vergessen wird. Mit diesen großen ungläubigen Augen. Und dann haben Sie beide sich nur stumm angesehen — und haben die Welt nicht mehr verstanden.
Er weiß nicht mehr genau, was danach passiert ist. Wie und wann sie zurück zum Haus gekommen sind. Die Minuten, Stunden, Tage danach sind zu einer seltsamen Einheit verschwommen. Sicher ist nur, dass irgendwie die Polizei gekommen ist und auch der Notarzt noch sogar. Obwohl es ja ganz eindeutig gewesen ist, dass er nicht mehr gelebt hat. ‚Mit dem Leben nicht vereinbare Verletzung‘ nennt man sowas wohl, hat er später mal erfahren.
Er weiß nicht, wie oft sie sie befragt haben, kann es nicht zählen, so viele Male waren es. Ob sie denn wirklich ganz sicher überhaupt gar nichts gesehen, gehört, bemerkt haben? Wann genau sie zum Baumhaus hin sind, wann zurück und was sie denn da oben überhaupt gemacht haben? Einmal ist die Polizei sogar mit ihnen rauf ins Baumhaus, nur um zu sehen, zu hören, was man hier oben mitbekommt, wenn wenige dutzend Meter entfernt ein Kampf stattfindet. Haben es mit und ohne Kopfhörer probiert, weil Adam und Leo wirklich nicht mehr wussten, ob und wann genau sie Musik gehört haben — jeder mit einem Stöpsel der Kopfhörer zu Leos MP3-Player im Ohr, so wie sie es immer gemacht haben. Aber nein, sie haben nichts gehört, hatten sie wirklich nicht. Da haben sie ihnen schon die Wahrheit gesagt. Nur bei zwei anderen Sachen, da haben sie die Wahrheit ein wenig angepasst, ein paar Dinge aus ihr weggelassen. Das familiäre Zusammenleben, wie das war, hat die Polizei von Adam und seiner Mutter wissen wollen und kurioserweise haben sie beide sich da nicht mal absprechen müssen. Haben instinktiv beide fast haargenau dieselbe Aussage gemacht. Klar, die väterliche Erziehung war streng, ein wenig konservativ vielleicht und ab und zu, wie will man es anders erwarten in einer Familie mit einem Teenager mitten in der Pubertät, klar, da gab es auch schonmal Streit. ‚Streit‘ — eine beliebte Umschreibung für lebensbedrohliche Kindeswohlgefährdung, wie er mittlerweile weiß. Er weiß nicht, ob die Polizei sie wirklich jemals verdächtigt hat — ihn, seine Mutter, Leo. Als Verdächtige haben sie sie nie befragt. Aber wenn sie es gesagt hätten, ihnen die ganze Wahrheit gesagt hätten, dann hätten sie sie ganz sicher verdächtigt, irgendwie dahinter zu stecken. Einen Tyrannenmord begangen zu haben. Und außerdem, was hätte es zur Sache getan, ihnen von all dem zu erzählen — von den Schlägen, den Tritten, den sadistischen Trainingseinheiten, dem Essensentzug, dem Schrank, jetzt, wo es vorbei war. Es hatte und hat nichts mit dem Mord zu tun, so seltsam ihm selbst das auch immer vorgekommen ist. Und irgendwann, da sind die Ermittlungen ja dann sowieso in eine völlig andere Richtung gegangen. Als sie das mit den Banküberfällen herausgefunden haben nämlich, da war dann eh fast nur noch die Rede von Onkel Boris, von Milieu und von Rache.
Und die andere Sache — naja. Das haben sie ihnen natürlich auch nicht erzählt, Leo und er. Von diesem einen kurzen, letzten Moment oben im Baumhaus. Haben es niemandem erzählt, niemals, nicht mal sich selbst genau genommen. Weil sie nie wieder darüber geredet haben. Nicht in den seltsamen ersten Tagen und Wochen, nicht als so halbwegs wieder Normalität eingekehrt war, nicht später, nicht irgendwann, nie. Und er hat nie ganz gewusst, was es war, das sie auseinander getrieben hat. Ob es das war, ob es der Mord war oder ob es das Schweigen war. In jedem Fall ist es nie mehr wie früher gewesen. Sie haben sich noch gesehen am Anfang, klar. Aber am Anfang war da immer der Tod, war da immer die Kripo, war da immer die Berichterstattung. Ganz am Anfang durfte Leo nicht mal mehr alleine raus, ganz besonders nicht mit oder zu Adam, geschweige denn in den Wald, ganz egal in welchen. Weil es ja sein konnte, dass da ein irrer Killer unterwegs war, im schlimmsten Fall sogar einer, der es spezifisch auf die Schürks abgesehen hatte. Also haben sie sich eine Zeitlang immer nur noch in der Schule oder bei Leo zuhause gesehen, was eigentlich auch gar nicht das Problem gewesen wäre — aber es ist einfach nicht mehr dasselbe gewesen. Als ob sie plötzlich nicht mehr wussten, was sie früher — vorher — gemacht haben. Worüber sie geredet haben, worüber gelacht. Irgendwann haben sie sich nur noch in der Schule gesehen, aber auch da immer weniger. Leo hat neue Freunde gefunden mit der Zeit, oder naja: überhaupt Freunde. Hat immer mehr mit den Leuten aus dem Chemie-LK und der Erste-Hilfe-AG gemacht, während Adam mit den anderen einsamen und traurigen Sonderlingen im Philosophiekurs bei Frau Dr. Dürrfeld saß. Und dann — dann war da irgendwann natürlich Julia. Und Adam endgültig abgemeldet.
Und dann ist alles irgendwie so weitergelaufen, an ihm vorbei gezogen... Abi gemacht, auf dem Abiball gedacht, ob sie sich überhaupt noch sehen jetzt. Sich dann doch noch gesehen ab und zu. Aber selten, sehr selten. Noch auf Geburtstage eingeladen gewesen, aber nicht mehr die Hauptperson gewesen, niemanden mehr gekannt irgendwann, irgendwann eine Ausrede gefunden, warum er nicht kommt, irgendwann keine Einladung mehr bekommen. Angefangen zu studieren, Germanistik und Philosophie, studiert und studiert, immer weniger hingegangen irgendwann, sich ein halbes Jahr lang eingeigelt, dann fast doch gegangen, also weg, weg aus Saarbrücken. Das war in dem Jahr, als er über Facebook erfahren hat, dass Leo sich verlobt hat. Mit irgendeiner Miriam, die er nicht mal kannte. Eine Einladung zur Hochzeit bekommen, dann auch zum Junggesellenabschied, mittels Einladung in eine Facebookgruppe mit lauter fremden Namen. Nicht hingegangen, zu beidem nicht, stattdessen wieder ausgeigelt, nicht um zu gehen, nein, aber sich exmatrikuliert und stattdessen einen Therapieplatz gesucht, Taxischein gemacht, ein halbes Jahr Taxi gefahren, Therapieplatz gefunden, das mit dem Taxifahren wieder sein gelassen und ein duales Studium bei der Stadt angefangen. Sozialpädagogik. Das beides, Studium und Therapie durchgezogen, dann beim Jugendamt genommen worden, seitdem da. Seit letztem Jahr ist er verbeamtet, als Inspektor, was ein absurder Titel ist, weil es klingt, als ob er irgendein Geheimagent wäre oder so. Aber er hat sein Leben im Griff, irgendwie. Es ist okay, irgendwie. Der Fall ist selbst in den Hobbyermittlerforen auf die hinteren Seiten gerutscht, er verdient gutes Geld, ist unkündbar bis zum Ruhestand, hatte zwei mehr oder weniger ernsthafte und noch ein paar mehr nicht so ernsthafte Beziehungen. Stefan hat er sogar seiner Mutter vorgestellt und die beiden haben beim gemeinsamen Abendessen über Yoga und Pilates geredet, wovon er keine Ahnung hat. Und doch — irgendwo ist da immer Leo gewesen. Sein bester Freund. Sein eigentlich bester Freund. Der nur irgendwie nicht mehr da gewesen ist. Außer ab und zu im Whatsapp-Status. Oder auf Insta. Mit Baby, Kleinkind, dann wieder Baby, Vorschulkind, Kleinkind. In den grünen Stories, die für die engen Freunde. Er hat sich immer gefragt, was das, ob das was bedeutet. Wen Leo noch alles in seiner Enge-Freunde-Liste hat, ob es ein Versehen gewesen ist oder ob er ihn wirklich noch als das angesehen hat.
Der Regen hat ein wenig nachgelassen, ist noch da zwar, aber sein Prasseln ist sanfter geworden, fast als könnte er bald ganz aufhören. Leo hat die Stirn in Falten gelegt und blickt gedankenverloren in seine Teetasse. Ob er sich auch erinnert? Ob er auch manchmal an ihn gedacht hat? Ob er ihn vermisst hat, so sehr wie er ihn vermisst hat?
»Weißt du, ob noch jemand ermittelt?«, hört er sich fragen. Er weiß nicht, warum. Eigentlich will er das gar nicht wissen. Aber vielleicht will er sie insgeheim irgendwie weiter dorthin manövrieren, in diese Zeit, zu diesem Tag.
Leo blickt auf. Schüttelt den Kopf. »Nee, glaub nicht. Und ich dürfte ja eh nicht.«
Adam schüttelt schnell den Kopf. »Nein, ich meinte auch nicht... ich dachte nur.«
»Nee«, sagt Leo nochmal. Nimmt einen großen Schluck Tee, schweigt für einen langen Moment. Schaut irgendwo ins Nichts vor sich, in seinen Augen jetzt ganz deutlich dieser sorgenvolle Blick. »Das war alles ganz schön krass«, sagt er schließlich.
Adam nickt. »Ja«, sagt er fast tonlos.
»Manchmal denk ich...«, fährt Leo fort. »...manchmal denk ich, ich hab das damals alles gar nicht richtig verstanden. Oder überhaupt mitbekommen. Also irgendwie natürlich schon. Aber irgendwie auch überhaupt nicht.«
»Ja«, sagt Adam. »Ich auch nicht.«
Sie sehen sich an, ein bisschen ratlos, als wüssten sie beide nicht, was sie sagen sollen. Adam presst die Lippen aufeinander, löst seinen Blick von Leos Augen, sieht irgendwo neben ihm an die amtsstubengraue Schrankwand. Weiß nicht, ob er es sagen soll, ob er es sagen sollte. Aber will es sagen, muss es sagen. Er sieht ihn wieder an, hält den Blick diesmal. »Ich hab dich vermisst«, sagt er dann.
Leo öffnet den Mund, schließt ihn wieder, sieht ihn nur an.
»Auch damals schon«, setzt Adam hinzu. »Danach. Als wir noch in der Schule waren.«
»Ich...«, setzt Leo an, aber sagt dann nichts, presst nur die Lippen aufeinander.
Adam schiebt einen Fingernagel über die Kunststofftischplatte. »Du warst auf einmal irgendwie... nicht mehr da«, sagt er so leise, dass er fast nicht glaubt, dass Leo es überhaupt hören kann.
Doch Leo atmet tief durch, setzt dann nocheinmal an. »Ich dachte... ich wusste nicht, ob du mich noch brauchst.« Seine Stimme klingt ganz klein und dünn.
Adam sieht auf. »Natürlich hab ich dich gebraucht.«
»Aber...«, beginnt Leo, sucht nach Worten. »Ich wusste einfach nicht mehr, wie ich dir helfen sollte. Es war alles so... komisch. So scheiße komisch.«
»Helfen?«, fragt Adam. »Ich... ich hab einfach nur dich gebraucht. Dass du da bist. Dass du mein Freund bist. Dass du... ich weiß nicht... mit mir schweigst. Mich erträgst...«
Leo guckt ihn an und vielleicht ist es nur das dämmrige Licht und die späte Nacht, aber fast könnte Adam schwören, dass da Tränen in Leos Augen sind.
»Es war so...«, setzt Adam erneut an. Und wenn er eben noch vorwurfsvoll geklungen hat, dann klingt er jetzt schon wieder entschuldigend. Weil er es doch auch alles nicht weiß. »Es hätte alles so gut sein können«, sagt er. »Aber es war nicht gut.«
»Ich weiß«, sagt Leo leise.
»Ich wusste nicht, ob ich traurig sein soll oder erleichtert oder wütend oder...« Er hebt hilflos die Schultern. »Und irgendwie war ich alles auf einmal.«
Leo sieht ihn an, mit verkniffenem Gesicht und diesmal ist Adam sich sicher, dass da Tränen in seinen Augen sind.
»Es tut mir leid«, sagt Leo tonlos und streckt dann eine Hand aus, langsam über den Tisch, auf Adams Seite, da wo sein linker Arm flach auf dem Tisch aufgestützt liegt und legt seine Fingerspitzen vorsichtig an den Ärmel von Adams Jacke.
Ein Moment lang betrachtet Adam nur Leos Fingerspitzen, die sich sanft in den steifen Stoff seiner Jacke drücken.
»Ich dachte irgendwie immer...«, setzt er an. »Ich dachte, du bist vielleicht irgendwie sauer auf mich.«
»Sauer?!«, fragt Leo.
Adam legt den Kopf schief, sieht ihn bittend an. Leo wird ja wohl wissen warum.
Leo schüttelt energisch den Kopf. »Ich war doch nicht sauer auf dich. warum... nein. Ich dachte einfach... ich dachte irgendwie, du wolltest mich nicht mehr.«
Adam sieht ihn an. »Ich konnte nicht Leo... ich war so... so überfordert. Ich konnte nicht.«
»Ich weiß«, sagt Leo. »Ich weiß. Es tut mir Leid. Ich hätte dir Zeit geben müssen. Ich hätte... Es war alles… Ich wünschte, es wäre alles anders gewesen.«
Er spricht nicht weiter, starrt nur aus dem Fenster in die dunkle Nacht. Er hat seine Hand zurückgezogen, hält jetzt damit die Teetasse umklammert.
»Was hättest du gemacht, wenn mein Vater nicht ermordet worden wäre?«, fragt Adam.
»Dann hätte ich ihn umgebracht«, sagt Leo, ohne seinen Blick vom Fenster zu lösen.
Adam lacht unwillkürlich auf, aber Leo sieht ihn nur an und Adam fragt sich, ob Leo das womöglich ernst gemeint hat. »Ich meinte im Bezug auf uns«, sagt er dann aber.
»Keine Ahnung«, sagt Leo und seufzt. »Ich weiß es nicht. Wie soll ich das wissen.«
Adams Handy vibriert. Einen Moment lang versucht er, es zu ignorieren, aber es nützt ja nichts. Er zieht es aus der Tasche, sieht Leo entschuldigend an und geht ran.
Es ist seine Kollegin. Sie hat eine Pflegefamilie. Eine ganz nette, er kennt sie, ein etwas älteres Ehepaar mit drei erwachsenen Kindern und einem Kind in Langzeitpflege. Er hat schonmal zwei Kinder da untergebracht. Sie sagt ihm trotzdem nochmal die Adresse und er gibt ihr die Daten von Matteo durch, schildert grob die Umstände. Sie müssen das alles noch in einen Bericht packen bis morgen.
»Und?«, fragt Leo, als Adam aufgelegt hat.
»Riegelsberg«, sagt er.
Leo nickt.
Sie schweigen einen Moment. Adam wendet das Handy in seiner Hand, würde gerne noch etwas sagen, aber weiß nicht, was.
»Kriegst du dann noch mit, was mit ihm wird?«
Adam nickt, erleichtert über die Frage. »Ja, klar.«
»Sag mir mal Bescheid«, sagt Leo. Seine Augen sind wieder klar, er wirkt gesammelt, fast, als wäre nie etwas gewesen.
»Klar«, sagt Adam. »Mach ich.«
Leo kramt etwas aus seiner Innentasche. Eine Visitenkarte. Adam nimmt sie, liest und lächelt. Landespolizeipräsidium Saarland, Kriminalhauptkommissar Leo Hölzer, LPP 213, Erste Mordkommission.
Dann zieht er seinerseits eine Visitenkarte aus seiner Innentasche und gibt sie Leo, lässt ihn einen Moment lang lesen und sagt dann: »Ich hab immer noch meine alte Handynummer übrigens.«
Leo sieht auf und verdreht die Augen. »Ja, ich auch«, sagt er und dann müssen sie beide lachen.
Es hat tatsächlich aufgehört zu regen. Nur der Gehweg ist noch nass, der Rasen vor dem Haus eine einzige große Pfütze. Er streicht Leo über die Schulter zum Abschied, aber nur, weil in den Arm nehmen ja schlecht geht mit Matteo auf dem Arm. Leo verspricht, dass er ihn anruft. Dass sie sich mal wieder treffen. Dass Adam mal seine Kinder kennenlernt. Er dreht sich noch ein letztes Mal um und winkt. Dann öffnet er die hintere Autotür — auf der Seite, wo er für den Fall immer einen Kindersitz stehen hat. Vorsichtig setzt er Matteo hinein, schnallt ihn an, schiebt ihm das Plüschschaf unter den Arm und legt ihm dann die Jacke über, schließlich ist er immer noch nur im Schlafanzug.
Doch er hat gerade die Tür geschlossen, will rumgehen auf die Fahrerseite, als er seinen Namen hört. Es ist Leo. Er dreht sich um. Leo steht da auf der anderen Straßenseite zwischen dem Bulli und dem Leichenwagen und sieht zu ihm rüber.
»Warte!«, sagt er, während er einfach da steht, sich nicht rührt. Wie als wäre er unschlüssig. Wie als wüsste er selbst nicht, worauf. Sieht sich dann um, als ob er prüfen wollte, ob ihn irgendjemand beobachtet. Kommt dann rüber, langsam erst und immer schneller dann. Bis er vor ihm steht und ihn ansieht mit einem ganz sonderbaren Blick. Aber noch bevor Adam sich wundern kann, bevor er sich fragen kann, was das jetzt soll, bevor er irgendwas begreift, da küsst Leo ihn. Küsst ihn, etwas zögerlich erst, aber viel bestimmter dann, legt seine Hände an Adams Gesicht, ist warm und weich und an der Oberlippe ein bisschen kratzig. Schmeckt nach Pflaume-Zimt.
So plötzlich, wie es angefangen hat, so plötzlich hört es auch wieder auf. Nur einen kurzen Moment lang hält Leo Adams Gesicht noch in den Händen. Dann lässt er ihn los, sieht ihn nur an.
»Das hätte ich gemacht«, sagt er. »Ich hätte dich zurückgeküsst.«
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Auf unsere Art (auf AO3, 2184 Wörter)
Nachdem Leo Adams Tasche mit dem Geld gefunden hat, sind die zwei erst einmal auf Distanz gegangen. Als Adam dann aber eines nachts vor Leos Wohnung steht, lässt Leo ihn natürlich rein. Der Samstagmorgen bringt dann eine längst überfällige Aussprache, frische Brötchen und eine knochenbrechenden Umarmung mit sich.
Im Rahmen des Secret Spatort Prompt Exchanges von @spatortprompts habe ich den prompt von @unknownselfstrugglefighter bekommen, so simpel und so schön: Adam x Leo und comfort. Da es auch canon compliant sein soll, hab ich’s nach „Die Kälte der Erde“ angesiedelt und es kommt am Anfang ein kleiiiines bisschen angst (hoffe, das ist okay). Aber generell schreit der Prompt für mich nach einem Samstagmorgen und einer warmen Umarmung.
„Leo?“ Adam räuspert sich und richtet sich vom Sofa auf, doch er erhält keine Antwort.
Es ist so unglaublich ruhig in Leos Wohnung. Durch das geschlossene Fenster im Wohnzimmer hört Adam ab und an ein Auto vor dem Haus vorbeifahren und gelegentlich einen Hund bellen, aber ansonsten ist es an diesem Samstagmorgen überraschend still mitten in der Stadt.
Unter der Decke ist es kuschelig warm. Nur Adams Kopf ragt aus der Decke raus. Seine Beine sind ein bisschen zu lang für die Couch und er musste mit angewinkelten Beinen schlafen, aber das nahm er in Kauf. Alles war besser als noch eine schlaflose Nacht in seinem eigenen Bett, in dem er sich ständig von einer Seite auf die andere drehte und seine rasenden Gedanken im Kopf nicht zum Schweigen bringen konnte.
Als er gestern um kurz vor Mitternacht an Leos Tür geklingelt hat, klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Erst da wurde ihm bewusst, wie dumm seine Aktion eigentlich ist. Er stand hier mitten in der Nacht vor Leos Wohnung, unangekündigt und nach einer etwas zu langen Funkstille. Aber er hielt das alles so langsam nicht mehr aus. Er hörte Schritte hinter Leos Tür, gefolgt von einer Stille, in der Leo bestimmt durch den Türspion guckte, und dann das Geräusch eines umdrehenden Schlüssels. Endlich konnte Adam aufatmen.
Und nun liegt Adam hier auf Leos Sofa nach dem wohl besten Schlaf seit Monaten. Er lässt seinen Blick über die Regale voller Bücher und die gerahmten Bilder an der Wand schweifen. Er atmet einmal tief ein und schließt dabei die Augen.
Alles riecht nach Leo.
Der Fußboden ist kalt unter seinen nackten Füßen, als er vom Sofa aufsteht und zum Fenster geht, um einmal kräftig durchzulüften. Die kühle Morgenluft weht ihm ins Gesicht und pustet ihm dabei eins, zwei unerwünschte Gedanken aus dem Kopf. Heute fühlt er sich schon merklich besser.
„Guten Morgen.“
Adam fährt erschrocken herum und knallt dabei mit seinem Unterarm gegen die Fensterbank. Sein Herz beruhigt sich schlagartig, als er Leo im Türrahmen stehen sieht. „Ich dachte, du wärst weg.“
Leo legt seinen Kopf schief und macht keine Anstalten, ins Wohnzimmer zu gehen. Den Blick in seinem Gesicht kann Adam nicht so ganz deuten. Vielleicht ist er doch genervt, weil Adam ihn letzte Nacht aus dem Bett geklingelt hat. „Nein, ich hab mich fertig gemacht. Ich hol uns jetzt Brötchen. Wenn du magst, kannst du gerne duschen.“
„Ich hab aber gar keine Sachen dabei.“ Daran hat er gestern überhaupt nicht gedacht, mit dem Kopf war er anderswo.
„Du kannst dir was von mir raussuchen, das sollte dir alles passen.“
„Okay, mach ich.“
Leo dreht sich um und klopft dabei zwei Mal gegen den Türrahmen. „Ich bin dann mal weg, sollte nicht allzu lange dauern.“
Und schon steht Adam wieder allein da.
In seinem T-Shirt und Boxershorts wird ihm immer kälter und die Vorstellung einer warmen Dusche bereitet ihm Gänsehaut. Er schließt das Fenster und schüttelt die Bettdecke aus, die Leo ihm noch schnell frisch bezogen hatte. Dann hebt er seine Jeans vom Fußboden auf und geht Richtung Badezimmer.
Ein paar Minuten später prasselt Adam schon heißes Wasser ins Gesicht und er spürt, wie die Wärme langsam in seinen Knochen ankommt.
Dass er umgeben ist von dem Duft von Leos Duschgel, weckt verschiedene Gefühle in ihm. Einerseits kommt da dieses Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit hoch, denn bei Leo hat er sich schon immer so geborgen gefühlt, auch früher schon. Andererseits fühlt es sich verboten intim an, hier in Leos Dusche zu stehen und sein Shampoo zu benutzen.
Hat Adam diese Nähe überhaupt verdient nach all den Geheimnissen, die er vor Leo versteckt hat? Nach all den Dingen, die er ihm neulich an den Kopf geworfen hat?
Als Adam das Wasser abdreht, ist da wieder diese unheimliche Stille und die damit einhergehende Einsamkeit. Und irgendwo in dem Wasserdampf verbirgt sich auch dieses erstickende Gefühl von Verlorenheit. Adam muss hier raus, raus aus der erdrückenden Hitze.
Das Öffnen der Duschtür gibt Adam den ersten Hauch von Freiheit und das Öffnen des Fensters bringt frische Luft für klare Gedanken in das Badezimmer. In dem Spiegelbild erkennt Adam zwar sich selbst, aber er sieht eine verlaufene Version. Das Handtuch, mit dem er gerade seine Beine abtrocknet, ist warm und weich. Als er fertig ist, bindet er es sich um die Hüfte. Bei dem Blick auf seinen kleinen Klamottenberg wird ihm klar, dass er ganz vergessen hat, sich von Leo Sachen rauszusuchen. Mit tropfenden Haaren tappst er also in Leos Schlafzimmer.
Hier ist er noch nie gewesen. Es sieht alles so verdammt ordentlich aus, so wie eigentlich die gesamte Wohnung. Das Bett ist gemacht, die Kissen ausgeklopft und fast schon spießig aufgereiht am Kopfende. Im Vergleich zu Adams Schlafzimmer liegen hier keinerlei Klamotten auf dem Boden, nicht einmal die Socken von gestern.
Es ist also nicht überraschend, dass Leos Kleiderschrank sorgfältig sortiert ist. Adam lässt seine Hand über die Shirts gleiten, die nach Stil und Farbton auf Kleiderbügeln angeordnet sind. Sie klappern leise beim Zusammenstoßen.
Adam entscheidet sich schnell für ein dunkelrotes Langarmshirt, das noch recht neu zu sein scheint. Er streift es sich direkt über den Kopf und ignoriert die nassen Flecken, die seine tropfenden Haare dabei hinterlassen.
In dem Spiegel in der Schranktür sieht Adam dieses Mal ein klares Bild von sich selbst und sein Blick wandert von seinem Gesicht zu dem Shirt, das ihm nur ein kleines bisschen zu groß ist. Nie hätte er früher gedacht, dass Leo mal mehr Muskeln hat als er.
Aber dagegen hat Adam absolut nichts einzuwenden. Dass er schon lange kein reguläres Training mehr macht und daher nicht so sehr prahlen kann mit seinen Muskeln wie Leo, heißt tatsächlich etwas Gutes. Es heißt, dass sein Vater verloren hat. Ein Lächeln huscht ihm bei dem Gedanken über die Lippen.
Adam hat gewonnen.
Als Leo wenig später zurück vom Bäcker kommt, ist der Küchentisch schon gedeckt und Adam ist gerade dabei, zwei Tassen Kaffee zu machen. Die Brötchen schüttet Leo in den Korb und stellt diesen in die Mitte des Tisches. Als er die leere Tüte wegschmeißt, wandert sein Blick einmal Adams Körper auf und ab.
„Steht dir“, sagt er trocken.
Adam guckt von der Kaffeemaschine auf. „Hm?“
„Rot.“
Adam guckt an sich herunter und legt eine Hand auf seine Brust. Eigentlich ist er eher so der blaue Typ. „Danke. Ist ja schließlich dein Shirt.“
„Ja, eben.“ Nur ganz kurz zeigt sich ein Lächeln in Leos Gesicht, bevor es auch schon wieder verschwindet. Adam wünscht es sich sofort zurück.
Die Kaffeetassen dampfen, als Adam sie auf den Tisch stellt, eine vor Leo, eine an den Platz gegenüber. Wortlos setzt sich Adam, doch er traut sich nicht, mit dem Frühstück zu beginnen.
Zum Glück greift Leo nach dem Brötchenkorb und hält ihn erst einmal zu Adam rüber. Adam nimmt sich ein Brötchen mit Mohn und Sonnenblumenkernen, von denen er einen abpult und sich in den Mund steckt. Er kaut darauf rum und beobachtet Leo währenddessen aus den Augenwinkeln, weil die Stimmung heute Morgen irgendwie anders ist und Adam nach Veränderungen sucht.
Da sind diese angespannten Züge in Leos Gesicht zu erkennen, besonders um die Augen und den Mund. So, als brodelt es innerlich in ihm und er wird jeden Augenblick explodieren.
Und tatsächlich. Leos Faust landet plötzlich auf dem Küchentisch, nicht sonderlich doll, aber doll genug, dass die Messer gegen die Teller klappern. Dann schneidet Leos forsche Stimme durch die Stille, auch nicht unbedingt wütend, aber bestimmt.
„Weißt du, was ich hasse?“
Bei den Worten läuft es Adam kalt den Rücken herunter. Seine Gedanken fangen sofort an zu rasen. Blondierte Haare und immer teuer werdende Brötchen? Geheimnisse, Unehrlichkeit und Feigheit? Was auch immer es ist, eine Stimme übertönt alles andere in Adams Kopf. Und diese Stimme schreit nur ein einziges Wort, immer und immer wieder: mich, mich, mich.
„Wenn jemand zu stolz ist, Hilfe anzunehmen. Oder zu blöd.“
Adam kann nur schweigen. Genauso wie das Brötchen vor ihm liegt er hier in der Küche auch wie auf dem Präsentierteller und kann sich weder vor Leos Worten noch seinem Blick verstecken.
Leo macht einfach weiter. „Wenn jemand so stur ist und denkt, dass ihm niemand helfen kann oder es nicht einmal möchte. Vielleicht ist Hass da das falsche Wort, aber–“ Er seufzt und lässt seine Hände demonstrativ in seinen Schoß fallen. „Ich kann’s nicht nachvollziehen und das frustriert mich. Und ehrlich gesagt kränkt es mich auch, dass du mir nicht vertraust.“
Es kommt noch immer kein Kommentar von Adam. Er wagt es nicht einmal richtig zu atmen.
„Wir sind erwachsene Männer, Adam. Wenn du ein Problem hast, dann sag es mir doch, ganz egal, was es ist. Diese Alleingänge von dir halte ich echt nicht mehr aus.“
„Ich bin doch jetzt zu dir gekommen“, antwortet Adam ganz kleinlaut.
Leos linke Hand wandert zu seiner Schläfe. „Ein bisschen zu spät, findest du nicht? Und jetzt soll ich auch direkt für dich los hüpfen, oder? Du denkst, alles dreht sich in meinem Leben nur um dich. Ich saß hier aber nicht fünfzehn Jahre lang und hab Däumchen gedreht und auf deine Rückkehr gewartet.“
„Ich weiß.“
Doch Leo schüttelt den Kopf. „Nein, Adam, ich hab das Gefühl, das weißt du nicht. Was du zu mir im Krankenhaus gesagt hast, das–“ Er hält inne.
Deiner Welt vielleicht.
Adam starrt auf seine Hände. Er konnte noch nie anderen in die Augen gucken, wenn er sich schämt. Vielleicht erinnert er sich deshalb nicht an die Augenfarbe seines Vaters.
Leo schluckt. „Ich möchte doch mit dir Leben, Adam. Nicht nur für dich. Aber deine Geheimnisse reiten dich immer weiter in die Scheiße rein und irgendwann werde ich dich da nicht mehr rausholen können. Und das mit dem Geld, das–“ Er schüttelt den Kopf. „Wir zwei, du und ich. Das war doch schon immer so, oder nicht? Ich will dich nicht noch einmal verlieren.“
Der letzte Satz sitzt. Adam weiß noch ganz genau, wie schnell sein Herz damals geschlagen hat, als er eine Tasche mit Klamotten gepackt hat und abgehauen ist, ohne seiner Mutter oder Leo Bescheid zu sagen. Von einer Sekunde auf die andere – weg. Drei gebrochene Herzen.
Für eine gute Weile ist es still und nur die auf einmal sehr laut tickende Küchenuhr und Leos Atmen sind zu hören. Ab und an zieht Leo die Nase hoch, ein Zeichen dafür, dass ihm wohl die Tränen gekommen sind. Das war nicht Adams Absicht bei dieser Nacht-und-Nebel-Aktion.
Ganz langsam schaut Adam von seinen Händen hoch und trifft schließlich Leos Blick. Und tatsächlich, seine Augen sind etwas rot und sein Kiefer ganz angespannt vom Zähne zusammenbeißen. Adam sollte seine nächsten Wörter besser mit Bedacht wählen. Er überlegt noch kurz und fasst sich dann ein Herz.
„Ich war noch nie gut dabei, Hilfe anzunehmen, Leo. Das hab ich wohl meinem scheiß Vater zu verdanken.“
Leo nickt. „Verstehe ich. Dass du hier bist, ist ein guter Anfang.“
Adam presst seine Lippen zusammen. „Aber wie du sagst, ich hätte früher zu dir kommen sollen. Es tut mir leid.“
Und da sind sie endlich, die vier Wörter, die ihm noch nie leicht über die Lippen gekommen sind. Die vier Wörter, die Leo mehr als verdient hat, damals wie heute.
„Erzählst du mir nachher alles?“, fragt Leo.
„Erst nachher?“
Leo zeigt auf den gedeckten Tisch. Brötchen, Butter, verschiedene Marmeladen, Käse – alles, was das Frühstücksherz begehrt. „Ich hab Hunger. Du ja bestimmt auch.“
Adam nickt.
„Na also.“ Leo greift nach dem Brötchenmesser, doch seine Hand zögert ein wenig, so als wäre er noch nicht ganz fertig. „Ich wollte dir wirklich keine Standpauke halten, aber–“ Wieder seufzt er. „Ich kann dich halt nicht zwingen, meine Hilfe anzunehmen. Und was dabei rauskommt, wenn du dich abschottest, wissen wir ja nun. Also hoffe ich, dass du nächstes Mal deinen Arsch zusammenkneifst und nach Hilfe fragst. Ganz egal, ob du da in was Großem drinsteckst oder einfach nur deine Waschmaschine kaputt ist. Wir finden eine Lösung, zusammen.“
Und da kann Adam nicht anders. Ohne groß nachzudenken, steht er auf und macht drei kleine Schritte um den Tisch herum, bis er neben Leo steht. Leo guckt zu ihm hoch und atmet noch einmal aus, bevor auch er aufsteht. Sofort legen sich Adams Arme um ihn, die Hände auf seinem Rücken verschränkt.
Diese Umarmung fühlt sich anders an als sonst. Irgendwie befreiter, unbeschwerter, offener. Eine Bitte und ein Versprechen zugleich.
An diesem Samstagmorgen hat Leos Herz schon so einiges durchgemacht. Als er dann auch noch sein eigenes Shampoo in Adams Haaren riecht, macht sein Herz einen kleinen Sprung. Das hier fühlt sich so richtig an, Adam in seiner Wohnung und in seinen Armen.
Ja, Adam bedeutet ihm die Welt – das ist kein Geheimnis.
Leo lässt seine Hände an Adams Seiten runterwandern, wo er ihn ein wenig von sich wegschiebt. „Jetzt iss endlich dein Brötchen und trink deinen Kaffee, der wird ja sonst eiskalt.“
„Jawohl, Herr Hölzer.“ Mit einem zufriedenen Grinsen kehrt Adam zu seinem Stuhl zurück und setzt sich wieder vor seinen Teller. Leo reicht ihm das Brotmesser und dann die Butter.
Und endlich sind sie ihr wieder ein großes Stück näher, dieser altbekannten Zweisamkeit. Eine, die sie genießen können und nicht fürchten müssen.
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