Kontrolle
um jeden Preis?
Wenn man eine Reizfilterschwäche hat, ist doch davon auszugehen, dass man die Reduzierung von Reizen gutheißen würde.
Wie oft sehe ich Personen, die neurodivergent sind, mit Kopfhörern ihren Alltag bestreiten. Oft haben sie keine Musik auf den Ohren sondern genießen die Ruhe, die der Kopfhörer bietet. Seit einigen Jahren gibt es dazu noch Kopfhörer, die aktiv die Umgebungsgeräusche herausfiltern.
Auch ich besitze solche wunderbaren activ Noise Cancelling Kopfhörer. Außerdem verschiedene Lärmfilter Plugs, die relativ unsichtbar die Welt 8 bzw 16 Dezibel leiser machen.
Neben diesen Möglichkeiten die Geräusche zu reduzieren, die auf einen einprasseln, gibt es visuelle Hilfen. Die Kapuzen der geliebten Hoodies sind da ein Beispiel. Durch sie wird unser (übermäßig) weites Blickfeld reduziert, und damit natürlich auch die Menge der zu bearbeitenden Daten. Wenn ein ADHS Mensch dich unter einer weiten Kapuze her ansieht, schenkt er dir besonders viel Aufmerksamkeit.
Es kommt ebenfalls vor, dass viele von uns Sonnenbrillen tragen, wenn andere noch nicht auf diese Idee kommen. Angeblich haben wir ja zuviele Zapfen und Stäbchen um Auge, weswegen es uns schnell zu hell ist.
Auf die anderen Hilfsmittel zur Reizreduktion will ich an dieser Stelle nicht eingehen. Denn die oben genannten machen mir schon ausreichend Probleme.
Auch ich liebe es, wenn die Welt mal leiser ist. Wenn ich alleine eine Folge meiner Serie ansehe, reduziere ich die benötigte Lautstärke massiv. ABER wenn ich unter Menschen bin, muss ich zwischen angenehmer Ruhe und Kontrollverlust wählen. Ähnlich verhält es sich auch mit der Einschränkung meines peripheren Blickfelds. Genieße ich die reduzierte Menge an Eindrücken und Reizen oder habe ich alles um mich herum im Blick und kann Gefahren schnell und rechtzeitig erkennen
Ich habe gelesen, dass die Menschen mit ADHS Gehirnen in der Vorzeit länger lebten, weil sie Gefahren schneller Bemerkten als die, die voll auf ihre Aufgabe konzentriert waren. Wir waren die Scanner Persönlichkeiten, die immer alles im Blick behielten.
Heute droht nicht ein Tiger aus dem Gebüsch zu springen oder eine Giftschlange in meinem Weg zu liegen. Dennoch ist der alte Steinzeitmensch noch mega aktiv in mir. Permanent habe ich den „Zwang“, alles um mich herum mitzubekommen. Meine Schüler:innen hassen es, dass ich ständig ihre privaten Gespräche mitbekomme oder noch aus dem Augenwinkel erkenne, wenn jemand Faxen macht. Es ist im Klassenzimmer nicht meine Absicht, alles mitzubekommen, es passiert mir einfach.
In anderen sozialen Situationen hingegen, „muss“ ich einfach alles um mich herum mitbekommen. Ich lausche und analysiere, ich beobachte und schlussfolgere… Mit dem Gefühl, dass das sein muss, weil mir sonst eine potentielle Gefahr entgeht! Und das ist nicht real, das wie ich. Dennoch ist da etwas in mir, dass mich warnt: Wenn ich nicht alles mitbekomme, bin ich in Gefahr!
Dazu passt, dass ich mich für alles alleine verantwortlich fühle und nur sehr schwer Verantwortung für etwas abgeben kann. Wenn es dann nicht korrekt ist, passiert mir etwas furchtbares. Das geht nur, wenn die andere Person ganz und für alle deutlich alleine verantwortlich ist und ich aus der Sache raus bin. Zum Beispiel wenn ich meiner Freundin die Buchung von Zügen und Hotelzimmer für die nächste Con überlasse.
Doch vor welcher Gefahr habe ich solche Angst? Oft weiß ich nur, dass die Angst da ist.
Nehmen wir das Einkaufen im Supermarkt. Ich könnte Kopfhörer und eine Sonnenbrille tragen, oder die Kapuze nutzen. Doch wenn ich dann jemanden nicht höre und ihm/ihr im Weg stehe? Wenn ich nicht mitbekomme, dass jemand mit seinem/ihrem Wagen vorbei möchte? … Es klingt albern, doch das sind Szenarien, die in mir für eine so massive Stressreaktion sorgen, dass ich es versuche zu vermeiden. Schon darüber zu schreiben ,verursacht gerade Magengrimmen.
Ist diese krankhafte Form des „Nicht-negativ-auffallen-Wollen“s die Folge eines verdrängten Traumas? Ich verstehe ja, dass mir anerzogen wurde höflich zu sein und rücksichtsvoll. Aber diese Angst, dass etwas ganz schlimmes passiert, wenn ich es vergesse… Wenn ich nicht maske und schauspieler bin ich jemand, dem Schlimmes widerfährt. Tief in mir drin ist das sooooooo fest verankert, dass ich Panik habe, wenn ich unmasken sollte. Woher kommt das? Wie wurde das in mir verankert und viel wichtiger: wie löse ich das wieder?
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Nonverbal
Meltdown.
Ich funktioniere noch. Ich konnte nach Hause fahren und habe alle Verkehrsregeln und Verkehrsteilnehmer beachtet. Aber ich erinnere mich nicht an die Fahrt. Ich weiß, dass 16 Gedankentabs offen sind, kann aber weder auf sie, noch auf Emotionen zugreifen, obwohl ich um sie weiß. Ähnlich ist es mit meiner Sprache.
Ich denke nur noch sehr langsam und wie so oft nicht in Worten. Aber es kommt mir vor, als ob Wörter den Gedanken Realität verleihen... und das geht gerade kaum.
Sprechen kann ich gerade nicht mehr.
Ich gebe die Wörter von mir, die ich hoch kontrolliert in meinem Mund forme. Es reicht, damit meine Frau keine Angst hat.
Tippen auf dem Handy geht nur, indem ich gerade mit der linken Hand das Gerät unter dem ausgestreckten Zeigefinger bewege. An einer Tastatur würde es gerade nicht gehen...
Ein verrückter Teil in mir findet das gerade eher spannend, als gruselig. Und es ist ja auch nicht mein erster Kontakt mit dem Phänomen. Kommt zum Glück nur selten vor.
Nachtrag: Es ist jetzt der Tag danach. Ich sitze an der Tastatur und tippe. Nach einer Nacht und insgesamt 12 Stunden kehrte meine Fähigkeit zur Sprache langsam zurück. Als ich dann arbeiten musste, funktionierte alles ohne Probleme. Die Maske passt halt echt verdammt gut. Zum Glück war heute wenig zu tun und ich muss nicht viel sprechen. Denn außerhalb des Arbeitskontextes fällt es mir noch immer schwer die Wörter, die in meinem Kopf sind auch zu formen. Und das, wo ich doch eigentlich durchgehend rede... Ich bin so froh, dass diese Form des Meltdowns mir nur selten passiert.
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